Читать книгу Marilyn Monroe - 1944-1948 - Horst Tran - Страница 3
Die Entdeckung durch David Conover
ОглавлениеNach Jim Doughertys Abreise nach Australien zieht Norma Jeane nach North Hollywood/Los Angeles in die 5254 Hermitage Street zu Schwiegermutter Ethel, der Doc Goddard in der nur wenige Kilometer entfernten Radioplane Company einen Job als Betriebskrankenschwester vermittelt hat. Dort werden vor allem Drohnen produziert, also fernsteuerbare Kleinflugzeuge (´radioplanes´), die den Soldaten als Übungsobjekte für das Abschießen beweglicher Ziele dienen. Geleitet wird die Fabrik von dem Hollywood-Schauspieler und Techniktüftler Reginald Denny.
Norma Jeane will eigentlich nur den Haushalt führen, während Ethel arbeitet, langweilt sich aber und beschließt, vielleicht durch die ´Rosie-the-Riveter´ Kampagne angeregt, in der Radioplane Fabrik arbeiten. Mit der filmund plakatgestützten Kampagne wirbt die US-Armee seit 1941 amerikanische Frauen für die Rüstungsfabriken an. Durch Vermittlung von Ethel wird Norma Jeane am 18. April zunächst als Typistin eingestellt, erweist sich mit 35 Wörtern pro Minute aber als zu langsam, weshalb man sie Fallschirme prüfen und falten lässt, allerdings nicht, wie Marilyn Jahre später in einem Interview betont, solche, "von den Leben abhängen", sondern kleine Fallschirme, an denen die abgeschossenen Drohnen langsam zu Boden schweben. Schon bald wechselt sie in den sogenannten Dope Room, wo sie mehr verdient, nämlich 20 Dollar in der Woche. Ihr Monatseinkommen entspricht damit der Kaufkraft von ca. 1200 Dollar (Stand 2020). Der Dope Room wird firmenintern so genannt, weil ein darin verwendetes Material wie ein Schnüffelstoff die Sinne benebelt.
Am 15. Juni 1944 schreibt Norma Jeane an Grace:
"(...) Ich arbeite 10 Stunden am Tag bei der Radioplane Co. am Metropolitan Airport. Ich lege fast alles auf die Seite, was ich verdiene (um unser künftiges Heim nach dem Krieg bezahlen zu können). Die Arbeit ist wirklich nicht leicht, denn ich bin den ganzen Tag auf den Beinen und gehe nur wenig herum. Ich war schon auf dem Sprung, einen Zivildienstjob bei der Armee zu bekommen, alle meine Papiere waren ausgefüllt, und dann fand ich heraus, dass ich NUR mit Kerlen von der Armee arbeiten würde. Ich war dort für einen Tag, da gab es einfach zu viele Lüstlinge (´wolves´), mit denen ich arbeiten müsste, davon gibt es schon genug bei der Radioplane Co., ohne dass sie gleich eine ganze Armee sind. Der Personaloffizier sagte, er würde mich zwar einstellen, aber würde mir in meinem Interesse davon abraten, also bin ich wieder bei der Radioplane Co. und damit ganz zufrieden (...)."
Zu dieser Zeit ist sie von den Fallschirmen in den Dope Room schon übergewechselt, wo ihr die Arbeit so wenig gefällt, dass sie sich um den zivilen Job bewirbt, auf den sie wegen der "Lüstlinge" aber doch verzichtet, um in den Dope Room zurückzukehren. Rückblickend schreibt sie am 4. Juni 1945 an Grace:
"Ich habe in der Radioplane Company seit Januar nicht mehr gearbeitet. Sie haben mich wiederholt gebeten, zurückzukommen, ich will diese Art von Arbeit aber wirklich nicht mehr machen, weil es mich so verdammt ermüdet. Mir ist alles egal, wenn ich so müde bin."
Zu ergänzen ist, dass sie bis Mitte März der Company noch angehört und wegen ihrer ständigen Krankmeldungen schließlich gekündigt wird.
Bei Riese & Hitchens (`The Unabridged Marilyn´) sind Einzelheiten über die Tätigkeit nachzulesen:
"Das (die Arbeit an den Fallschirmen, H.Tr.) war, bevor ich im Dope Room arbeitete, die härteste Arbeit, die ich jemals gemacht habe. Der Rumpf und verschiedene Teile der Drohne waren damals aus Textilstoff, sie verwenden jetzt Metall, und wir haben das Tuch mit einem verhärtenden Material bemalt. Es wurde nicht aufgesprüht, es wurde mit Bürsten eingearbeitet, und es war sehr anstrengend und schwierig. Wir benutzten ein schnell trocknendes Präparat, eine Art Lack, schätze ich, aber schwerer, der Geruch war beißend, sehr schwer zu ertragen an acht Stunden am Tag. Es war eigentlich ein 12-Stunden-Tag für die anderen Arbeiter, aber ich arbeitete nur acht, weil ich minderjährig war. Nachdem das Tuch getrocknet war, haben wir es geschliffen, bis es glatt und glänzend war."
Sie hat nach dieser Darstellung das unangenehme Material also nicht aufgesprüht, wie es in der Literatur immer wieder heißt, sondern mit einer Bürste in einen Textilstoff eingerieben. Laut Interview mit dem Fotografen George Barris von 1962 (´Marilyn: Her Life in Her Own Words´) handelt es sich um eine Mischung von Bananenöl und Klebstoff.
Abweichend vom Brief an Grace heißt im obigen Zitat, dass sie wegen ihrer Minderjährigkeit nur 8 Stunden täglich arbeitet. Immerhin erledigt sie den Job so gut, dass sie mit einer Medaille ausgezeichnet wird. Das kommt bei den Kolleginnen gar nicht gut an. Darüber berichtet Marilyn 1960 im Interview mit dem Schriftsteller Georges Belmont (´Silver Marilyn´):
"Die Arbeit war so langweilig, dass ich sehr schnell arbeitete, um es hinter mich zu kriegen. Sie dachten, dass ich das ganz toll mache. Es gab einen Montageraum für die ganze Anlage, und der Präsident der Anlage rief meinen Namen und gab mir eine Goldmedaille und einen 25-Dollar-Kriegsanleihe für meine ´beispielhafte Einsatzbereitschaft´, wie er es nannte. Die anderen Mädchen waren wütend, als ich das erhielt, und stießen mich an, damit ich meine Kanne mit dem Dope verschütte, wenn ich zum Auffüllen ging. Du meine Güte, sie machten mir das Leben schwer."
Ihr "Einsatzbereitschaft", wenn auch mehr durch Überdruss als durch Hingabe motiviert, ist ein Vorbote jenes Perfektionismus, den sie später als Model und Schauspielerin an den Tag legen wird.
Im späten September oder frühen Oktober 1944 nimmt Norma Jeane sich Urlaub und reist nach Detroit zu Berniece, der sie zum ersten Mal persönlich begegnet. Nach einem jahrelangen regen Austausch von Briefen hat ihre Halbschwester sie eingeladen. Arrangiert wird das Treffen aus der Ferne von Grace, die das Gefühl hat, dass die Schwestern sich endlich einmal kennenlernen sollten. Berniece arbeitet bei DeSoto, einer Abteilung von Chrysler, und ihr Mann Paris bei Ford. Am Bahnsteig wartet das Paar zusammen mit Bernieces Schwester Niobe und Töchterchen Mona Rae auf Norma Jeanes Ankunft und ist von ihrem Anblick nicht schlecht überrascht.
"Ich fragte mich, wer von uns sie zuerst erkennen würde, oder ob wir sie vielleicht übersehen", schreibt Berniece später. "Alle Fahrgäste, die ausstiegen, sahen so gewöhnlich aus. Plötzlich war da dieses große schöne Mädchen. Uns allen entfuhr ein überraschtes Ooohhh! Keiner der anderen Fahrgäste sah aus wie sie: groß, so hübsch und frisch."
Nach Bernieces Erinnerung ist das Wiedersehen sehr herzlich, die Halbschwestern zeigen sich voller Freude, einander endlich kennenzulernen. Sie umarmen sich immer wieder und sagen einander, wie glücklich sie sind. Manchmal reden sie nervös durcheinander, manchmal schweigen sie nur.
"Wir wussten kaum, wie uns geschah", erinnert sich Berniece. "Wir waren beinahe wie zwei Leute, die sich ineinander verliebt haben, scheint mir. Wir waren überwältigt davon, uns endlich zu begegnen. Ich war ganz stolz auf sie."
Norma Jeane wird durch Detroit geführt und macht mit Berniece und den anderen einen Abstecher nach Kanada, wo sie in Ontario das Zugvogelreservat von Jack Miner besichtigen. Im späteren Oktober erreicht Norma Jeane in Detroit ein Telegramm von Grace aus Chicago, die von Ana Lower erfahren hat, dass Jim bald zurückkehrt. Sie macht sich auf den Weg zu Grace, die in einem Filmentwicklungslabor arbeitet und von Norma Jeane aus der Ferne finanziell unterstützt wird. Wegen zunehmender Spannungen in ihrer Ehe hat Grace sich 1943 vorübergehend von Doc getrennt und ist nach Chicago gezogen. Ihre unter seinem Einfluss entwickelte Neigung zur Trinkerei hat sie mitgenommen, und sie verschlimmert sich in den nächsten Jahren. Am 28. Oktober sendet Norma Jeane von Chicago aus Postkarten an Berniece und an Constance Staub. Ihrer Halbschwester schreibt sie:
"Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr mich unsere Begegnung gefreut hat. Ich möchte euch für alles danken, denn ich hatte eine wundervolle Zeit."
Catherine teilt sie mit, dass sie drei Briefe von "Jimmie" bekommen hat und sich glücklich fühlt. Ihre nächste Station ist Huntington, wo sie Graces Tochter Bebe besucht und deren Freunde kennenlernt. Nelson Cohen, Bebes Ehemann in spe, erinnert sich, dass sie "zu dieser Zeit nicht wie Marilyn Monroe aussah. Ich traf sie nur kurz, sie war aber sehr freundlich und völlig normal." Für eine Freundin von Bebe, Diane DePree Miller, war Norma Jeane "ein gewöhnlich aussehendes Mädchen mit hellbraunem Haar. Sie war sehr scheu und zurückhaltend".
Nach der kurzen Visite bei Bebe (Morgan in ´Marilyn Monroe´: "The visit was brief, but enjoyable") reist Norma Jeane innerlich gestärkt nach Los Angeles zurück.
Am Tag ihrer Rückkehr in den Dope Room wird der 25jährige Corporal David Conover mit anderen Kameramännern und Fotografen von Captain Ronald Reagan, einem Freund von Denny, in die Radioplane Fabrik geschickt. In der Marilyn-Literatur wird in diesem Zusammenhang meist nur der Zeitraum "Herbst 1944" angegeben.
Da Norma Jeane kurz nach dem 28. Oktober Bebe in Huntington besucht und sich dort nur kurz aufgehalten hat und, wie aus dem unten zitiertem Brief an Grace vom 4. Juni 1945 hervorgeht, das Kamerateam "am Tag, als ich nach meiner Reise zu euch wieder zu arbeiten begann" in der Fabrik auftauchte, lässt sich der Zeitpunkt des Ereignisses mit größerer Präzision bestimmen: Die Entdeckung der zukünftigen Marilyn Monroe hat spätestens in der zweiten Woche des November 1944 stattgefunden.
Reagan, der spätere US-Präsident und ein in die 1st Motion Picture Unit der Hal Roach Studios abkommandierter Schauspieler mit drei Dutzend Hollywood-Filmen auf dem Buckel, will den Frontsoldaten demonstrieren, wie tatkräftig sie von patriotischen Mädchen in der Heimat unterstützt werden. Diese Zielsetzung unterscheidet die Aktion von der ´Rosie-the-Riveter´Kampagne, mit der die Armee seit Jahren mit Fotos und Plakaten von Rüstungsarbeiterinnen amerikanische Frauen für die Rüstungsfabriken anwirbt. Erscheinen sollen die Fotos im Armeemagazin Yank. Als professioneller Fotograf mit eigenem Fotostudio ist Conover dafür der richtige Mann.
Liest man die verschiedenen Zeugenberichte, die über dieses Ereignis vorliegen (vier von Norma Jeane/Marilyn und einer von Conover), dann springen einige Unterschiede ins Auge. Um Conovers Rolle bei der Entdeckung Marilyn Monroes zu bestimmen, sollte man diese Berichte vergleichen und so etwas wie einen wahren Kern herausschälen, um eine Vorstellung von den tatsächlichen Umständen zu bekommen. Das ist in der Marilyn-Literatur bisher nicht unternommen worden.
Über ihr Zusammentreffen mit Conover berichtet Norma Jeane in einem Brief an Grace vom 4. Juni 1945:
"Am Tag, als ich nach meiner Reise zu euch wieder zu arbeiten begann, waren dort einige Armeefotografen und machten Filmaufnahmen für eine Armeeübung (´army training´). Die Vorarbeiterin und der Vorarbeiter ließen mich sofort holen, damit die Armeeleute (´army´) Bilder von mir machen. Sie alle fragten mich, wo zum T ich gesteckt habe. Ich sagte, dass ich im
Osten gewesen bin, um meine Verwandtschaft zu besuchen und dass ich dafür beurlaubt worden war. Sie machten viele Filmaufnahmen (´moving pictures´) von mir, und ein paar baten mich um Dates, usw. (Natürlich habe ich abgelehnt!). Es waren alles nette Offiziere und Soldaten. Nachdem sie einige Aufnahmen gemacht hatten, sagte mir ein Armeekorporal mit dem Namen David Conover, dass er daran interessiert sei, Farbfotos von mir zu machen. Er hatte ein Studio auf ´dem Strip´ am Sunset Boulevard. Er sagte, er würde mit dem Leiter der Fabrik eine Absprache treffen, wenn ich einverstanden wäre, also sagte ich okay. Er sagte mir, was ich anziehen und welche Lippenstiftfarbe ich nehmen solle, usw., also habe ich in den folgenden Wochen für ihn einige Male Model gestanden, wann immer er zur Fabrik kommen konnte. Er musste jedes Mal von Culver City kommen. Er ist jetzt bei der First Motion Picture Unit. Später rief er mich eines Morgens in der Fabrik an und sagte mir, dass alle Bilder perfekt geworden sind. Er sagte auch, dass ich unbedingt beruflich als Model arbeiten soll und dass ich sehr gut zu fotografieren bin und dass er noch viel mehr davon machen will. Er sagte auch, dass er viele Kontakte hätte, bei denen ich es auch versuchen kann. Ich sagte ihm, ich würde lieber nicht arbeiten, wenn Jimmie hier ist, da sagte er, er würde warten, also hoffe ich, jederzeit wieder von ihm zu hören. Vor kurzem hat er angerufen und gesagt, dass er noch mehr Abzüge für mich aufbewahrt. Er ist total nett und ist verheiratet und ganz professionell, was mir gefällt. Jimmie scheint die Idee, dass ich als Model arbeite, zu gefallen, worüber ich froh bin."
Laut Interview mit Pete Martin von 1956 haben sich die Dinge so abgespielt:
"Ich war für ein paar Tage krankgeschrieben, und als ich zurückkehrte, machten die Armeefotografen von den Hal Roach Studios, wo ihre Zentrale ist, gerade Aufnahmen, während ich diese Drohnen lackierte. Die Armeetypen sahen mich und und fragten: ´Wo bist du gewesen?`
´Ich war krankgeschrieben´, sagte ich. ´Komm nach draußen´, sagten sie mir.
´Wir machen Aufnahmen von dir.´
´Das geht nicht´, sagte ich. ´Die anderen Frauen hier im Dope Room machen mir Ärger, wenn ich jetzt aufhöre und mit euch gehe.´ Die Armeefotografen gaben aber nicht auf. Sie besorgten eine Sondergenehmigung für mich, nach draußen zu gehen, von Mr. Whosis, dem Präsidenten der Fabrik. Eine Zeitlang machten sie Bilder von mir, wie ich an den Drohnen arbeite; dann fragten sie mich: ´Hast du keinen Pulli?`
´Ja´, sagte ich ihnen, ´zufällig habe ich einen mitgebracht. Er ist in meinem Spind.´ Danach arbeitete ich im Pulli mit den Drohnen. Der Name eines dieser Armeefotografen war David Conover. Er lebt nahe an der Kanadischen Grenze. Er sagte mir immer wieder: ´Du solltest Model werden´, ich dachte aber, er will nur flirten. Ein paar Wochen später brachte er die Farbfotos, die er von mir gemacht hatte, und sagte, dass jemand von der Eastman Kodak Company ihn gefragt hat: ´Wer im Himmels Namen ist dein Model?´"
1960 gibt Marilyn im Interview mit Belmont diese Version:
"Und eines Tages wollte die Luftwaffe in unserer Fabrik Aufnahmen machen. Ich war gerade aus meinem Urlaub zurückgekehrt, als ich ins Büro gerufen wurde. ´Wo bist du gewesen?´ Ich war fassungslos und sagte: ´Ich hatte doch eine Urlaubsgenehmigung!", was auch stimmte. Sie sagten: ´Darum geht es nicht. Willst du für ein paar Aufnahmen Modell stehen?´
Dann kamen die Fotografen und machten Bilder. Sie wollten noch mehr machen, außerhalb der Fabrik, ich wollte aber Ärger vermeiden, weil ich die Arbeit versäumt hätte, also sagte ich: ´Ihr müsst eine Genehmigung besorgen´. Die sie auch bekamen, also stand ich ihnen ein paar Tage lang an verschiedenen Orten Modell, hielt Sachen in der Hand, schob und schleppte Sachen herum..."
Schließlich berichtet Marilyn dem Fotojournalisten George Barris im Jahr 1962:
"Eines Tag kam ein Fotograf vom Army Pictorial Center in Hollywood, um Bilder von Leuten zu machen —er nannte sie Moralverstärker-Typen—, um zu zeigen, dass sie mit ihrer Arbeit in den Rüstungsfabriken ihren Beitrag leisten. Als dieser Fotograf, David Conover, vorbeiging, als ich am Arbeiten war, sagte er: ´Du bist ein echter Moralverstärker. Ich mache Bilder von dir für die Jungs in der Army, um ihre Moral hochzuhalten.´
Zuerst fotografierte er mich in meinem Overall. Als er erfuhr, dass ich einen Pulli in meinem Spind habe, fragte er, ob es mir etwas ausmachen würde, ihn für weitere Fotos zu tragen. ´Ich will den Jungs zeigen, wie du wirklich ausschaust´, sagte er.
Diese Bilder, die er von mir machte, waren die ersten, die jemals veröffentlicht wurden. Sie waren in Hunderten von Armee-Zeitungen zu sehen, einschließlich Yank und Stars and Stripes."
Conovers eigener Bericht in seinem Marilyn-Buch liest sich so:
"Ich ging am Montageband entlang und machte Aufnahmen von den attraktivsten Arbeiterinnen. Keine fiel besonders aus dem Rahmen. Ich kam zu einem hübschen Mädchen, das Propeller montierte, und hob die Kamera vor meine Augen. Sie hatte lockige aschblonde Haare und Flecken auf dem Gesicht. Ich fotografierte sie und ging weiter. Dann blieb ich verblüfft stehen. Sie war schön. Halb Kind, halb Frau, hatten ihre Augen etwas, das mich anrührte und faszinierte."
Die Abweichungen zwischen den einzelnen Darstellungen sind zum Teil also erheblich.
Es liegt nahe, Norma Jeanes Brief an Grace als die Version zu nehmen, die der Wahrheit am nächsten kommt, da sie relativ zeitnah ist (ca. ein halbes Jahr), während die anderen Versionen mindestens elf Jahre später entstanden.
In diesem Brief von 1945 sind es Norma Jeanes Vorarbeiter, die sie "sofort holen", damit die Armeeleute Aufnahmen von ihr machen. Laut Martin-Interview von 1956 wird sie von den Armeeleuten direkt am Arbeitsplatz als potentielles Model entdeckt und kontaktiert. Im Belmont-Interview von 1960 ruft sie ein Vorgesetzter ins Büro und fragt sie, ob sie sich von Armeeleuten fotografieren lassen will. Im Interview mit Barris von 1962 ist es Conover, der sie am Arbeitsplatz fragt, ob sie sich fotografieren lassen möchte. Der Bericht von Conover von 1981 entspricht ziemlich genau Marilyns Darstellung von 1962, er entdeckt Norma Jeane demzufolge im Alleingang, ohne dass andere Armeeleute oder ein Vorgesetzter von Norma Jeane eine Vorauswahl treffen.
Es zeigt sich, dass die in der Marilyn-Literatur immer noch weitgehend favorisierte Version, Conover habe sie selbständig entdeckt, die späteste in der Reihe der Darstellungen ist, die Marilyn selbst davon gegeben hat. Conovers eigene Darstellung erscheint noch später, neunzehn Jahre nach dem BarrisInterview. In der Geschichtswissenschaft gilt der Grundsatz, dass Berichte umso glaubwürdiger sind, je näher sie zeitlich am berichteten Ereignis liegen, sofern nicht zwingende Gründe dagegen sprechen. Warum sollte man das hier anders handhaben? Es macht daher wenig Sinn, ausgerechnet die späteste Version von Marilyn als die authentischste zu nehmen, bloß weil sie sich mit der Version von Conover deckt, um dessen Glaubwürdigkeit es ohnehin nicht gut bestellt ist (Spoto: "Conover was a talented photographer but a patent fabulist, too"), wie in einem anderen Zusammenhang unten noch gezeigt wird.
In puncto Genehmigung für Außenaufnahmen zeigen sich in den Darstellungen ebenfalls Widersprüche. Im Brief von 1945 trifft Conover mit dem "plant superintendent" Absprachen (´arrangements´), vermutlich für Freistellungen von der Arbeit, damit er Norma Jeane in den nächsten Wochen privat fotografieren kann. Von einer Genehmigung für Außenaufnahmen am Tag der ersten Begegnung ist keine Rede. Im Bericht von 1956 sind es Armeeleute im Plural, die aufgrund von Norma Jeanes Weigerung, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, eine Sondergenehmigung herbeibringen, um sie außerhalb des Dope Rooms zu fotografieren. Laut Bericht von 1960 verlangt Norma Jeane von den Armeeleuten, eine Genehmigung für Außenaufnahmen zu beschaffen. Im Bericht von 1962 und im Conovers Bericht von 1981 wird eine Sondergenehmigung dieser Art nicht erwähnt.
Vitacco-Robles schreibt in ´Icon´, Vol. 1, Kap. 6, in diesem Zusammenhang, dass Conover für die Außenaufnahmen in der Fabrik eine schriftliche Genehmigung ("written permission") von ihrem direkten Vorgesetzten ("direct supervisor") einholen musste, weil Norma Jeane sich ohne diese Bedingung "geweigert" habe. Ein solcher Ablauf ergibt sich allerdings weder aus Marilyns diversen Berichten, auch nicht dem Brief von 1945, wenn man diesen genau liest, noch aus Conovers Darstellung. Zudem tituliert Vitacco-Robles Conover als "Captain" und nicht korrekt als einen viel rangniedrigeren "Corporal", vermutlich weil er Norma Jeanes Abkürzung "Cpl" im Grace-Brief irrtümlich deutet.
Merkwürdige Unstimmigkeiten —wenn auch von der Sache her unbedeutend— bestehen zudem darin, wer Norma Jeane am ersten Tag nach ihrer langen Abwesenheit fragt, wo sie denn gesteckt habe. Im Grace-Brief sind es "sie alle" (´they all´), was sich entweder auf die im vorausgehenden Satz erwähnten Vorarbeiter (´leadlady and leadman´) und Armeeleute (´army´) bezieht oder, wahrscheinlicher, nur auf die Vorarbeiter, denn warum sollten sich die Armeeleute dafür interessieren? Seltsamerweise sind es aber just die Armeeleute, die im Bericht von 1956 Norma Jeane danach fragen, und nicht ihre Vorgesetzten. Im Bericht von 1960 ist es wieder ein Vorgesetzter , der Norma Jeane in seinem Büro die Frage stellt. Im Bericht von 1962 wird die Frage gar nicht erwähnt, auch nicht in Conovers Bericht von 1981.
Marilyns Antworten auf die Frage fallen unterschiedlich aus. 1945 und 1960 gibt sie, sicher wahrheitsgemäß, einen genehmigten Urlaub an. Im Interview von 1956 begründet sie die Abwesenheit dagegen mit einer kurzfristigen Krankschreibung (´I was out on sick leave for a few days´). Möglicherweise war das nach ihrer Rückkehr von der Reise in den Osten tatsächlich der Fall, um den vorangegangenen Urlaub in Ruhe ausklingen zu lassen, ohne dass sie es 1945 und 1960 erwähnt.
Conover weicht in seiner Schilderung der ersten Begegnung von den ersten zwei Berichten von Marilyn ab, denen zufolge eine Gruppe von Armeeleuten sie fotografiert hat und der ihnen zugehörige Conover anschließend derjenige ist, der sie mit ihr einen persönlichen Kontakt aufnimmt. Besonders unstimmig ist die Erwähnung von "Propellern", die von Norma Jeane "montiert" werden, als er sich ihr nähert. Mit der Lackierarbeit im Dope Room hat das nichts zu tun. Conovers Aufnahmen von Norma Jeane entstehen vielmehr an anderen Stellen in der Fabrik. Im Belmont-Interview sagt Marilyn:
"(...) also stand ich ihnen ein paar Tage lang an verschiedenen Orten Modell, hielt Sachen in der Hand, schob und schleppte Sachen herum (...)"
Auf Conovers Bildern hält sie einen Propeller auf eine Weise, die im Montageprozess keinen Sinn machen würde, oder setzt einen Schraubenzieher an eine Stelle, wo es gar nichts zu schrauben gibt.
Aus all dem folgt: Conovers Behauptung, sie bei der Montage von Propellern zum ersten Mal gesehen zu haben, kann nicht zutreffen. Seine Darstellung ist ein Konstrukt. Er entdeckt Norma Jeane nicht im Alleingang, sondern profitiert von einer Vorauswahl, die andere Leute getroffen haben. Dieser Punkt ist in der Marilyn-Literatur zu wenig beachtet worden.
Was Marilyns Angabe im Barris-Interview angeht, dass Conovers Radioplane-Fotos "in Hunderten von Armee-Zeitungen (...), einschließlich Yank und Stars and Stripes" zu sehen waren, so trifft das nicht zu. Yank hat keines der Bilder jemals verwendet, weder auf dem Cover noch im Innenteil, auch wenn manche Autoren das Gegenteil behaupten, z. B. Vitacco-Robles in ´Icon´ und Ted Schwarz in ´Marilyn Unrevealed´, wo auf Seite 20 Jim Dougherty am 2. August 1945 auf dem Yank-Cover seine Norma Jeane erblickt — was unmöglich ist, weil es ein solches Cover nie gab:
"The arrangements (Einstellung von Norma Jeane in der Blue Book Agency, H.Tr.) were finalized on August 2, 1945. It was the same day that Norma Jean's (sic) husband, Jim Dougherty, had his first hint of what was happening with his wife. He, and everyone else in the military who picked up a copy of the current edition of Yank, saw Norma Jean's defense plant photo on the cover."
Dass Schwarz auf Seite 17 Conovers Begegnung mit Norma Jeane fälschlich auf "early 1945" datiert, sei nur nebenbei erwähnt.
Stars and Stripes hat, wenn man Rollysons Angabe in ´Marilyn Monroe Day by Day´ Glauben schenken kann, immerhin eines der Bilder verwendet und angeblich ebenfalls am 2. August 1945 auf dem Cover platziert. Allerdings findet sich im Internet weder ein textlicher noch ein bildlicher Beleg für eine solche Publikation. Dass Conover Norma Jeane am 26. Juni 1945 für Yank fotografiert, wird leider auch von Rollyson kolportiert.
Wieso Yank sich quergestellt hat, ist unklar. Möglicherweise lag es an den obengenannten technischen Unstimmigkeiten auf Conovers Fotos (Propeller falsch herum gehalten, Schraubenzieher an sinnloser Stelle angesetzt).
Falsch ist überdies, aus schon mehrfach genannten Gründen, Conovers Datierung der ersten Begegnung auf den 26. Juni 1945 (in ´Finding Marilyn´), seinen 26. Geburtstag. Die seltsame Übereinstimmung von Geburtstag und falschdatierter erster Begegnung kann kaum ein Zufall sein, ist in der Marilyn-Literatur bisher aber nicht bemerkt worden, vielleicht aus Unkenntnis von Conovers Geburtstag. Dass er diese Koinzidenz in täuschender Absicht produziert hat, ist zwar kaum vorstellbar; andererseits muss ihm bei der Niederschrift aber bewusst gewesen sein, dass dieser Tag auf seinen Geburtstag fällt, was ihm wiederum erst recht an dem Tag selbst hätte bewusst gewesen sein müssen.
Wie dem auch sei — er begegnet Norma Jeane bereits sechs oder sieben Monate vorher, nämlich im Herbst 1944.
Von den Mängeln in Conovers Darstellung unberührt ist natürlich sein Verdienst um die individuelle Entdeckung und Förderung von Norma Jeane. Mit hoher Wahrscheinkeit wäre früher oder später ein anderer Fotograf auf sie aufmerksam geworden, aber das ist Spekulation. Als 1946 der Pinup-Fotograf Bruno Bernard, um ein Beispiel zu nennen, in der Nähe seines Fotostudios auf dem Sunset Strip auf sie aufmerksam wird und sie anspricht, ist sie bereits ein geschultes Model mit entsprechendem Styling und Auftreten, was indirekt Conover zu verdanken ist, der ihr mit Rat und Tat diese Richtung weist. "Meine eigene Zukunft mit Norma Jeane war in Gefahr", sagt Dougherty später, "als dieser Armeefotograf seinen Auslöser betätigte." Conover hat ihr Talent mit sicherem Auge erkannt und ihr geraten, zugunsten einer Modelkarriere den schlecht bezahlten Fabrikjob aufzugeben, um bei ihm und anderen Fotografen als Model zu arbeiten. Er bietet ihr 5 Dollar pro Stunde, was eine deutliche Verbesserung ist gegenüber den 20 Dollar pro Woche bei Radioplane.
Die Fotos am Montageband hat Conover in Schwarzweiß und mit einer 4x5 Rollfilm Kamera gemacht, sie werden nachträglich koloriert und sind heute in dieser Version bekannt. Für die Außenaufnahmen verwendet er eine 35mm Kamera mit einem Kodachrome Film. Er ist begeistert von Norma Jeanes Girl-next-door-Charme und ihrer natürlichen Begabung für das Posieren, während sie es genießt, im Fokus einer Kameralinse und der Aufmerksamkeit eines Fotografen zu stehen. Nach dem Shooting äußert er den Wunsch, sie in ihrer Freizeit gegen Bezahlung noch öfters zu fotografieren, falls die Bilder so gut ankämen, wie er vermutet. Also gibt sie ihm ihre Telefonnummer.
Den Schwarzweißfilm kann Conover in seinem eigenen Studio entwickeln, den farbigen Kodakfilm überlässt er für diesen Zweck einem Labor von Eastman Kodak. Der für die Entwicklung und technische Prüfung des Films zuständige Inspektor fragt Conover überrascht nach dem ungewöhnlichen Model aus, denn sie wirkt so vital und glücklich, als wäre die Kameralinse ihr Liebhaber. Conover freut sich, dass ein Fotoprofi seine Einschätzung von Norma Jeanes Potential bestätigt. Sie wiederum ist hocherfreut, als Conover in die Fabrik zurückkehrt und ihr mitteilt, wie gut die Aufnahmen ankommen.
Natürlich demonstriert Norma Jeane nicht erst auf Conovers Bildern ihre exzellente Fotogenität. Auch frühere Aufnahmen durch Freunde und Familienangehörige lassen ahnen, was aus ihr einmal werden wird, ganz besonders zwei fast gleiche Fotos von 1941, von denen eines sie im Stil einer Schönheitsheitskönigin zeigt. Ihre Fotogenität muss ihr schon längst klar gewesen sein, als Conover sie in den Fokus nimmt. Mailer schreibt:
"Norma Jean (sic) hat den ersten Brennpunkt ihres Lebens gefunden ausgerechnet in der Linse einer Kamera. Sie muss noch viel lernen, was das Posieren vor einer Kamera betrifft; das Posieren selbst braucht sie freilich nicht erst zu lernen. Sie hat bereits erfahren, was hundert kleine Bewegungen ihres Körpers bei Arbeitern, Soldaten, Matrosen, Fernfahrern und Männern von der Kriegsmarine auslösen."
Conovers Bericht über ein angebliches Liebesverhältnis zu Norma Jeane, das sich aus ihrem weiteren Kontakt ergeben haben soll, ist allerdings zweifelhaft. Sie selbst hat es zu keiner Zeit bestätigt. Unglaubwürdig wirkt seine Schilderung der angeblichen Beziehung vor allem wegen des kitschigen Gehalts mancher Dialoge, die Marilyn übertrieben lüstern präsentieren. Eine Kostprobe bietet diese Szene eines Wiedersehens in einer Hotelbar in New York, 1962:
(Marilyn) "Glaub mir, ich versuche nicht jeden Mann zu verführen, dem ich begegne. Ich möchte nur Sex mit Männern, an denen mir etwas liegt. Das hat mehr Bedeutung und ist nicht nur animalisch. Man will den andern dann wirklich befriedigen. Abgesehen davon ist es für mich die schönste Art, Schlaf zu finden. Meinst du nicht?"
(Conover) Zögerlich stimmte ich zu.
"Dann komm", sagte sie vergnügt und sprang auf ihre Füße. "Gehen wir in meine Wohnung und haben Spaß."
"Warte", sagte ich. "Setz dich. Ich habe noch nicht ausgetrunken."
Vor dem Hintergrund von Conovers Behauptung, schon 1945 mit Norma Jeane an einem Strand Sex gehabt zu haben, macht der Dialog gar keinen Sinn. Erstens wäre die Aussage, dass sie "nicht jeden Mann verführt, dem sie begegnet", siebzehn Jahre nach der ersten Begegnung (Herbst 1944) und dem angeblichem Sex im folgenden Jahr völlig deplatziert. Zweitens hat Marilyn im Laufe ihres Lebens mit so manchem Mann Sex gehabt, an dem ihr persönlich nicht viel lag. Warum sollte sie Conover, mit dem sie ihm zufolge bereits intim war, also den Bären aufbinden, dass sie Sex nur unter dieser Bedingung mag? Und warum sollte sie einen früheren Liebhaber überhaupt davon überzeugen wollen, warum sie auf Sex mit ihm erpicht ist?