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Erstes Kapitel.
Mensch und Gott
ОглавлениеIn unsers Busens Reine wogt ein Streben, sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben. Enträtselnd sich den ewig Ungenannten.
(Goethe)
Yes, there is a god in man.
(Carlyle)
Mensch und Gott sind zwei Vorstellungen – oder sagen wir lieber, um gleich genauer zu reden – Mensch und Gott sind zwei Gedankengestalten (Ideen), die sich gegenseitig hervorrufen und insofern bedingen. Kein Volk der Welt ist bekannt, das nur die eine hegte, ohne sie durch die andere zu ergänzen. Die Forschungen des letzten halben Jahrhunderts haben es – im Gegensatz zu der bisherigen ziemlich allgemeinen Annahme – unwidersprechlich gezeigt: der Gedanke an eine Gottheit und zwar an eine einheitlich vorgestellte (monotheistische), unsichtbare, allgegenwärtige fehlt bei keinem Stamm der Erde, wobei besonders beachtenswert erscheint, daß diese Gottheit zunächst nichts mit priesterlichen Religionslehren und mit Kultus zu tun hat, sondern auf dem dunklen, aus Halbbewußtsein und Unbewußtsein gewobenen Hintergrund des Gemütes als unabweisbare Gedankengestalt mit Naturnotwendigkeit steht und wirkt. Alle Verwickelungen der Vielgötterei, alle grüblerische Bildung von Zwangsglaubenssätzen (Dogmen), alle gottesdienstlichen Wahngedanken sind das Erzeugnis späterer Kulturstufen und lassen meistens die Gedankengestalt des Einen Urgottes unangetastet, wenn auch zurückgedrängt hinter die Buntheit der neuen Vorstellungen. Von diesem Gott redet selbst ein Euripides als von »dem ätherischen Zeus jenseits aller Himmel« ( Frgm. 911), und zu der Zeit des aufsteigenden Christentums sagt ein erbitterter Gegner der neuen Lehre, Maximus von Madaura: »Es gibt nur Einen höchsten und einzigen Gott, ohne Anfang und ohne Ende, dessen in der Welt verbreitete Kräfte wir unter verschiedenen Bezeichnungen anrufen, weil wir seinen wahren Namen nicht kennen .....«1 Ethnologen und Missionare haben nur darum die Tatsache dieser allverbreiteten Eingottsvorstellung erst spät entdeckt, weil die wildlebenden Menschen diesen ihren Gottesgedanken teils aus Scheu, teils aus stumpfer Gleichgültigkeit, unerwähnt zu lassen pflegen.
Welche Unmenge vergeblicher Arbeit, welche Fluten verderblichen Hasses, welche Ströme Blutes hätten wir Europäer uns sparen können, wenn wir es der Mühe wert gehalten hätten, auf den erhabenen Lehrer zu hören, der vor zweieinhalb Jahrtausenden die verborgenen Grundzüge des Menschengemütes entdeckte und als echter Hellene in faßlichen Bildern darstellte! Zwar hat Plato nach und nach auf den geheimnisvollen Wegen einer sich unbemerkt aufdringenden Geistesübergewalt nicht zu ermessenden Einfluß auf unser Denken in seiner ganzen Breite gewonnen; von dem feinst ersonnenen Hirngespinst unserer Theologen bis zu den Forschungen unserer Naturwissenschaft – wir alle sind Platoniker, ohne es zu wissen; doch gerade der Mittelpunkt seines Denkens – die Lehre von den Gedankengestalten – bleibt noch immer ein Spielzeug für Fachleute, anstatt, wie das der Fall sein sollte, unser Leben zu befruchten und ihm Richtungen zu weisen.
Diesen Mittelpunkt bildet die Entdeckung, daß alle Gedankengestalten Schöpfungen des Menschengeistes sind – und ich füge hinzu, des Geistes einzelner begnadeter Menschen, die eine unbeschränkte Zahl von Erscheinungen, Erfahrungen oder Gedanken durch eine derartige Schöpfung zu einer übersichtlichen Einheit zusammenfaßten, wodurch zugleich Licht in die Verfinsterung einer übervollen Vorstellungswelt gebracht und die Last, die das Hirn zu tragen hat, bedeutend erleichtert wird. Nicht einmal die allereinfachsten solcher Gedankengestalten – die Begriffe, unter denen wir die von uns selbst verfertigten Gerätschaften zusammenfassend uns vorzustellen pflegen – sind in Wirklichkeit bloße Namen für vorhandene Dinge: immer ist etwas Dichtung dabei und damit zugleich ein Schwebendes, undeutlich Begrenztes, Wechselndes. Wie staunen wir Ungelehrte, wenn wir in Kluge's Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache von dem uns vertraut anheimelnden Bett erfahren, die indogermanische Wurzel dieses Wortes bedeute »graben«, in weiteren alten Wandlungen dann Grube und Gruft, »eingewühlte Lagerstelle«, und deute in einer anderen Entwickelungsreihe auf Mist und Dung! Forschen wir weiter nach und schlagen z. B. in Bethge's Urzeit (S. 46) oder Meringer's Das deutsche Haus (S. 59 fg.) nach, so erfahren wir, das Wort »Bett« habe ursprünglich Erdhöhlen bezeichnet, die beim Herannahen des Winters als Schutzräume gegraben und der Wärme wegen mit Dungschichten überdacht wurden, um dann jenen urtümlichen Menschen, die sonst ihr Wesen nachts wie tags unter freiem Himmel zu treiben pflegten, als Schlafstätten und auch als Spinnstuben zu dienen. Der heutige Begriff »Bett« – der in Wirklichkeit, wie Plato öfters hervorhebt, eine Gedankengestalt (Idee) ist – hängt also mit dem Worte äußerst lose zusammen, was uns wiederum darauf aufmerksam machen sollte, daß selbst in diesem einfachsten Falle das Ding und die Gedankengestalt sich keineswegs decken, vielmehr letztere sich gleitend den verschiedensten Verhältnissen anpaßt, sich nie in unverrückbare Begriffsbestimmungen einfangen läßt, also das Wesen einer Fata morgana, einer zerfließenden Schattengestalt an sich trägt.
Da den meisten heutigen Menschen das Denken – namentlich jedes Denken über das Denken – ungewohnt und darum lästig ist, füge ich eine humoristische Anekdote hinzu, die um so mehr anmutet, als sie sich auf Held Hindenburg bezieht2. Der Feldherr hatte eines Abends einen Professor der Philosophie, der als Reserveoffizier sein Hauptquartier durchzog, zu Tische geladen. Im Laufe der Unterhaltung geriet der Gelehrte ein wenig tief in sein Fach hinein, was dem Kriegsmann einige Mühe, zuletzt wohl auch Ermüdung verursachte. Auch hier wußte er sich Rats. »Herr Major, entschuldigen Sie die Unterbrechung! Gesetzt den Fall, ich nehme ein handgroßes Brett, rechteckig oder abgerundet, und ziehe reihenweise 500 kräftige Schweinsborsten hindurch: das darf ich doch eine Bürste nennen, nicht wahr?« – Der erstaunte Gelehrte stottert befangen: »Ohne Frage... gewiß, Exzellenz.« – »Wenn ich aber nur 300 Borsten durchziehe, darf ich dann noch immer von einer Bürste reden?« – Der immer verlegener werdende Fachmann nickt lächelnd seine Bejahung. Nun fühlt der Recke, daß er das Heft in der Hand hält, und steigt zuversichtlich heiter immer tiefer herab mit der Zahl der Borsten; der Philosoph wird zunehmend verlegen und faßt endlich bei 10 Borsten den Mut einzuwerfen, da könne man wohl doch nicht mehr von einer Bürste reden. Unter schallendem Gelächter der Tafelrunde ruft Hindenburg aus: »Da hab' ich wieder etwas gelernt: zu dem Begriff einer Bürste gehört eine Mindestzahl von 11 Borsten!« Der Kriegsmann hatte tiefer gegriffen, als er es selber ahnte, indem er durch ein anschauliches Beispiel aufdeckte, daß selbst unsere allereinfachsten, auf alltägliche Gegenstände bezüglichen Wörter nicht tatsächlichen Dingen, sondern Gedanken entsprechen, und somit auf deutsch am besten als »Gedankengestalten« bezeichnet werden.
Wenn es sich nun mit den einfachsten Dingen menschlicher Erfindung also verhält, wo man doch glauben sollte, die Gestalt der betreffenden Gegenstände und die Gestalt der sie zusammenfassenden Gedanken entstünden zugleich und würden sich genau decken, so läßt sich leicht vorstellen, wie groß der Abstand ausfällt, wenn die Natur selbst die Gegenstände bietet, die unsere Phantasie erst sich aneignen und unser Denken erst einen, trennen und ordnen muß, ehe, wir zu der Erschaffung von Gedankengestalten übergehen können. Es liegt z.B. ein kühnes Gedankengestalten des Menschengeistes in der Aufstellung des einheitlichen Begriffes »Hund«; wissen wir doch heute, daß die Tiere, die wir mit diesem gemeinsamen Namen bezeichnen, von mindestens drei verschiedenen, durch die Wissenschaft auch artlich getrennten wilden Stämmen entspringen und erst durch grenzenlose Kreuzung als Zwischenstufen entstanden sind (siehe Keller); es ist und bleibt unmöglich, eine einheitliche, sicher umgrenzte, unanfechtbare Begriffsbestimmung der Gedankengestalt »Hund« zu geben; Hindenburg's Lehre von den »11 Borsten« käme hier an allen Ecken und Enden zum Durchbruch.
Noch eigenmächtiger gehen wir zu Werke, sobald nicht Dinge, d.h. nicht sinnlich wahrgenommene Erscheinungen, sondern lediglich Begriffe, Empfindungen, Ahnungen usw. den »Stoff« ausmachen, aus welchem wir es unternehmen, Gedankengestalten aufzuerbauen: ich nenne Endlichkeit, Unendlichkeit, Tugend, Sünde, Freiheit, Unsterblichkeit... Alle diese Ideen sind Schöpfungen unseres Geistes, und zwar bei ihrem Ursprung Schöpfungen bestimmter Männer an bestimmten Tagen, die dann nach und nach unter allen denkbaren Verzerrungen und Verballhornungen in den Bestand des allgemeinen Bewußtseins eindrangen, – wobei wohl zu bemerken ist, daß alle feineren Gedankengestalten Besitz einer Minderzahl bleiben, während die Menge davon redet – wie heute von der Freiheit – ohne im mindesten zu ahnen, was damit ausgesagt wird und werden kann.
Nähere Betrachtungen über das hier kurz Angedeutete anzustellen, ist im Augenblick keine Veranlassung; vorläufig liegt mir daran, die eine Tatsache, welche wenig oder garnicht beachtet wird, hervorzuheben: der Begriff Mensch ist in Wirklichkeit ebensowenig wie der des »Hundes« ein festzubannender, auf sicher umgrenzte Tatsachen bezogener; vielmehr handelt es sich auch hier um eine Gedankengestalt, und das heißt, um eine Schöpfung des freidichtenden Geistes. Die im letzten halben Jahrhundert oft erwogene Frage, wann der Mensch entstanden sei? – dürfen wir mit aller Bestimmtheit dahin beantworten: an dem Tage, an dem zum erstenmal ein sinnendes Gemüt seine Erfahrungen in der Weise zu verbinden und zugleich auszuscheiden verstand, daß die Vorstellung Mensch sich ihm deutlich vor Augen aufbaute.
Um Tüfteleien handelt es sich keineswegs, vielmehr um eine Frage von entscheidender Wichtigkeit – nicht weniger entscheidend, weil sie niemals gestellt zu werden pflegt. Wir reden alle geläufig vom »Menschen« und fragen uns niemals, ob dieser Vorstellung ein einheitlicher Begriff entspreche? ob wirklich alle »zweibeinigen Wesen, ohne Flügel« (wie Voltaire spottet) als »Menschen« zu bezeichnen seien? ob dies zu tun einen Sinn habe und irgendeiner brauchbaren Wahrheit zum Ausdruck verhelfe? Die Aroinder nannten, als sie von Norden kommend in die Täler des Indus und des Ganges hinabstiegen, die dunkle Bevölkerung, die ihnen den Weg streitig machte, kurzweg Affen, nicht Menschen, und ihre Führer warnten vor der Vermischung mit ihnen, als einer verbrecherischen Blutschändung mit einem Tier. Taten sie Unrecht daran? und hat nicht der Verfolg der Geschichte jenen weisen Männern Recht gegeben, indem er gezeigt hat, was aus einem zuhöchst begabten, edelmütigen Menschenschlag wird, wenn die Sinne ihn nun doch betören, das Tierblut in sein Menschenblut einsickern zu lassen? Die Gedankengestalt Mensch, die der hellenischen Kunst eine himmelstürmende Steigerung ins Erhabene verdankt, erleidet eine entsprechende Herabwertung ins Bestialische, sobald wir den Neger ihr einverleiben. Heute, wo die Entwicklungslehre sich fast dogmatischen Wert anmaßt, kann die Wissenschaft nicht den Schatten eines Argumentes gegen die Annahme vorbringen, die Schwarzen stammten aus einer anderen Affenfamilie als die Weißen, und wiederum die Gelben aus einer dritten, und die Malaier aus einer vierten. Man weiß ja, daß Goethe so weit ging, jede Gemeinschaft der Abstammung zwischen Juden und Germanen in Abrede zu stellen ( Gespr. mit Eckermann, 7.10.1828). Ich gebe aber zu bedenken, ob wir nicht gut daran täten, noch weiter zu gehen und uns ernstlich zu fragen, ob alle Wesen, die Menschengestalt zeigen, – und seien es auch weiße Europäer nordischer Abkunft –, geistig und sittlich die Bezeichnung Mensch verdienen. Ich gebrauche das Wort »verdienen« nicht im Sinne eines Aburteilens, vielmehr bin ich nur besorgt, die Vorstellung Mensch könne jeden Inhalt verlieren, und es blieben nur die »zwei Beine ohne Flügel« übrig. Wenn nämlich der Stufen von Mensch zu Mensch gar viele sind und zwischen unten und oben eine mächtige Kluft gähnt, dann verlieren wir durch die gewaltsame Vereinigung zu der Gedankengestalt Mensch mehr an Einsicht, als wir durch diese geniale Erfindung gewinnen. Goethe geht uns hier wie immer mit dem Beispiel voran, indem seine bekannte Lehre von der beschränkten und auch dem Grade nach verschiedenen Unsterblichkeit auf ungeheure Unterschiede zwischen Mensch und Mensch schließen läßt. Ich erinnere u. a. an die Worte, die Eckermann vom 1. September 1829 berichtet: »Wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Wirklichkeit (Entelechie) zu manifestieren, muß man auch eine sein.« Auch auf Kant ist hinzuweisen. Das nie rastende Arbeiten seines langen Lebens faßt er dahin zusammen: er habe »lehren wollen, was man sein muß um ein Mensch zu sein« – woraus hervorgeht, daß wir nach Kant's Überzeugung, jedenfalls der Mehrzahl nach, noch keine Menschen sind, mit anderen Worten: wir entsprechen nicht dieser Idee, wie sie in dem Hirne des sinnenden Weltweisen klarest durchdachte Gestalt gewonnen hatte.
Somit sehen wir deutlich ein, daß es sich bei der Idee Mensch – wie bei allen Gedankengestalten – um eine verschiebbare Vorstellung handelt, die weiter oder enger, bestimmter oder verschwimmender, edelgeartet oder gemein gefaßt werden kann. Den arischen Indern schwebte ein erhabenes Traumbild vor – der vollkommene Mensch sollte, Dank der inneren Läuterung und Steigerung, gleichsam seine Körperlichkeit überwindend, sie abstreifen und »Gott« werden; das Gegenstück hierzu bieten uns die Hellenen, denen einzig der vollkommen schöne, sich harmonisch kundtuende Mensch als wahrer Mensch galt, so daß es auch für die Götter kein Höheres gab als schönen Menschen zu gleichen; dagegen erachteten unsere nordischen Vorfahren nur unerschrockene Helden als Menschen; diesen allein öffnete sich ein Jenseits; wogegen die übrigen Wesen in Menschengestalt den bloßen Naturkräften angehörten, die heute die Welt mit ihrer Geschäftigkeit erfüllen und morgen ins Nichts verweht werden. So unterscheidet sich selbst innerhalb der gleichen Rasse Stamm von Stamm und Menschheitsideal von Menschheitsideal.
Noch verwickelter wird die Frage und noch schwieriger die Aufstellung eines eindeutigen Begriffes Mensch infolge der Tatsache, daß innerhalb der gleichen Gemeinschaft, sei es durch das Einsickern fremden Blutes, sei es durch die Einwirkung veränderter Lebensbedingungen und früher nicht vorhandener geistiger Einflüsse, oftmals Wandlungen stattfinden, dank welchen ein Volk kaum mehr als das gleiche zu erkennen ist. So erleben wir z. B. unter der gesamten Bevölkerung des mittleren und westlichen Europa einen merkwürdigen Aufstieg, der etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts beginnt und bis ungefähr gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts anhält: man glaubt, eine allgemeine Zunahme des Lebensgefühles wahrzunehmen und damit zugleich des Bewußtseins der Menschenwürde; und zwar betrifft dieser Aufschwung alle Stände – den Bauern und Handwerker nicht minder als den Bürger, den Adel, den Gelehrtenstand und den schaffenden Künstler. Auf den langsamen Aufstieg folgt ein schneller Sturz: der entrechtete Bauer wird mißmutig und dumpf, der in die Politik verstrickte Handwerker verliert seine früher so wohltuend auffallende Heiterkeit, der Bürger büßt die Zuversicht und das Selbstvertrauen ein, der Adel beginnt mehr auf Reichtum als auf Ehre zu sehen, die absolut gewordenen Fürsten geraten ins Schrankenlose ..... Dies alles aber betrifft zunächst mehr die äußere Lebenshaltung und den Lebensmut als das innere Seelenleben, welches nicht allein in Deutschland, sondern auch in England, Frankreich, Spanien und Italien während dieser Zeit des Niederganges besondere Blüten zarter Innerlichkeit treibt (Zeitalter der Musik). Nun aber setzt gegen Ende des 18. Jahrhunderts die große Umwälzung ein, welche wohl einstens als die furchtbarste Katastrophe erkannt werden wird, die jemals unser Geschlecht betroffen hat, so daß man sich fragen darf, ob die Menschenwürde überhaupt noch zu retten ist; ich rede von der Mechanisierung und der dadurch bedingten Industrialisierung des Lebens. Wohl wäre es möglich gewesen, von Anfang an diese Entwickelung in andere Bahnen zu leiten, wozu wir Ansätze bei philanthropisch gestimmten Arbeitgebern und bei genialen Arbeitern im Anfang des 19. Jahrhunderts finden – Gedanken, die noch in dem Buche Histoire d'un Ruisseau des edlen Träumers Elisée Reclus hinreißenden Ausdruck fanden; doch hatte inzwischen Satan, in Gestalt der Presse, die Gelegenheit, sein Reich auf Erden zu errichten, schon ergriffen, und vor dem fallenden Gift dieser Scheinseele der brutalen, dummen, ziellosen Maschine sank jegliche gute Absicht tödlich getroffen dahin. Mit dem unbegreiflichen Scharfblick des geborenen Dichtersehers begabt, hat unser Schiller – obgleich er schon 1805 die Augen über diese Welt schloß und also nur die allerersten Anfänge der Umwälzung miterlebte – den verhängnisvollen Kernpunkt getroffen. Er schreibt: »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäftes, seiner Wissenschaft« ( Ästh. Erz., Bf. 6). Schiller's prophetischer Blick bleibt, wie man sieht, nicht am Fabrikarbeiter haften, welcher buchstäblich »ein Rad treibt«, vielmehr umfaßt er unsere gesamte, von mechanischen Methoden und Denkweisen durchdrungene Zivilisation. Und dieser Blick zeigt ihm die unentrinnbare Entwertung des Menschen als Menschen.
Hierbei ist folgendes zu bedenken.
Jegliche Vollkommenheit – womit ich sagen will, jegliche Erscheinung, die sich der Vollkommenheit sichtbar annähert – erfordert eine gewisse allseitige Abrundung, ein Verhältnis der Teile zueinander, welches ein unabhängiges Sichselbstgenügen innerhalb gegebener Grenzen ermöglicht; allem, was in irgendeinem Sinne des Wortes die Bezeichnung »Kultur« verdient, kommt diese Eigenschaft der Abrundung zu. Hingegen ist ein organisches »Bruchstück« – als welches Schiller den heutigen Menschen bezeichnet – stets ein Zerbrochenes, weil Zusammenhangloses, auf die Willkür Anderer Angewiesenes. Wie großartig z. B. steht der Bauer und überhaupt der Landmann da, in sich selbst abgerundet und in den wesentlichen Dingen sich selbst genügend! Bei allem, was er tut, weiß er genau das Warum und das Wozu; jedes Handeln ist zugleich ein Denken; er dient der Natur, indem er sie seinen Zwecken dienstbar macht, und wird so selber zu einem Stücke lebendiger Natur. Am anderen Ende der Stufenreihe steht der heutige Fabrikarbeiter, dessen Millionenfluten uns zu ertränken drohen. Seine ganze »Arbeit« wird ihm durch Willkür vorgeschrieben; zwar bedarf er dabei meistens des Geschickes, doch eines rein mechanischen Geschickes, und es besteht kein innerer Zusammenhang zwischen Hirn und Hand; alles, was er tut, ist an und für sich zwecklos und erhält erst später, durch die Tätigkeit anderer Hirne, einen Zweck. Daher die Unmöglichkeit für ihn, in seiner Arbeit Befriedigung zu finden; anstatt, wie beim Landmann, Inhalt des Lebens zu sein, bildet für ihn seine »Arbeit« lediglich ein mechanisches Mittel, den Lebensunterhalt zu gewinnen, den Unterhalt also eines anderen Lebens, das aber zu leben er zu müde und zu unvorbereitet ist. Einzig ein planmäßiges, systematisches Entgegenwirken hätte hier die bösesten Folgen abwehren können: mehr als andere hätte dieser mechanische Arbeiter einer edlen Ausbildung des Verstandes und einer reichen Ausfüllung der Phantasie bedurft, dazu gesunder ländlicher Luft und Landbeschäftigung – letzteres fand bei den Anfängen der Weberei in England statt, ersteres wird in dem oben genannten Buch Elisée Reclus' gefordert. Das Gegenteil von dem allen geschah. Nicht allein wurden die Kräfte des Fabrikarbeiters in den ersten Jahrzehnten bis zur Erschöpfung mißbraucht, sondern noch, ehe die Gesetzgebung diesem Übel zu steuern begonnen hatte, war – wie schon oben bemerkt – die Presse in den festbegründeten Besitz ihrer Allmacht gelangt und hatte sich namentlich den Arbeiterstand völlig unterjocht. Vernichtung der Urteilskraft und Entwurzelung der angeborenen Regungen des Gemütes: das waren die Hauptziele dieses Satans. Bekanntlich steht die gesamte Presse, die ich hier im Sinne habe – die weit über den Fabrikarbeiter hinaus neun Zehntel des Bürgerstandes beherrscht – in jüdischem Besitze und Juden wirken auch als Geschäftsleiter, Schriftleiter, Kritiker usw. dabei ausschlaggebend. Ob es wirklich einen jüdischen Geheimbund gibt, der sich die leibliche, geistige und sittliche Zerstörung des Indoeuropäers und mit ihm seiner Kultur zum bewußt verfolgten Ziele gesetzt hat, weiß ich nicht; ich glaube, der bloße Instinkt dieses durch Jahrtausende gezüchteten »plastischen Dämons des Verfalles der Menschheit«, wie Richard Wagner ihn nennt (Erkenne Dich selbst) genügt; um so mehr, da hier, wie sonst überall, seine unmittelbaren Geschäftsinteressen sich mit jenem Ziele decken. Mit grauenerregender Schnelligkeit schoß hier das Unheil in die Höhe; im großen Kriege erblickten wir schon die nackte Lüge als Beherrscherin der ganzen Welt »in triumphierender Sicherheit«. Gestand doch kurz vor Beginn des Krieges ein führender Journalist der Vereinigten Staaten: »Wenn es je einem von uns einfiele, die Wahrheit zu schreiben, er wäre am nächsten Tage brotlos« (Brooks: Corruption in American Politics and Life, 1910, S. 122). Und der Soziolog Professor Ward sagt: »Zeitungen sind einfach Werkzeuge des Betrugs« (a. a. O.). So steht denn die überwiegende Mehrzahl der heutigen Menschheit – die fast ihr ganzes Wissen und Meinen aus Zeitungen schöpft – bereits außerhalb der Möglichkeit, überhaupt Wahres zu erfahren; nicht allein auf den Gebieten der Politik und der Wirtschaft wird sie nach der Willkür jener Drahtzieher irregeführt, vielmehr umgibt sie das Truggebäude einer erlogenen Wissenschaft, einer erlogenen Kunst, eines erlogenen Denkens und eines giftschwangeren Schriftwesens. Verhältnismäßig Wenige sind in der Lage, durch umfassende Bildung, dieser durch die Presse geschaffenen Hölle zu entrinnen und zu Freiheit des Urteils zu gelangen. Die Weisen unter uns haben von Anfang an gewußt, wohin die Vorherrschaft der Presse führen mußte – ja, mußte: es gab kein Entrinnen. Schon im Januar 1813 schreibt Goethe an Reinhard: »Es ist unglaublich, was die Deutschen sich durch das Journal- und Tageblattsverzeddeln für Schaden tun: denn das Gute was dadurch gefördert wird, muß gleich vom Mittelmäßigen und Schlechten verschlungen werden.« Mit diesen wenigen Worten wird der Kern der Sache bloßgelegt: bei einer Erscheinung wie die Presse ist es nicht anders möglich, als daß alle etwa vorhandenen, noch so redlichen und energischen guten Absichten von den schlechten »verschlungen werden«! Ein einziges hätte allenfalls dem sonst unüberwindlichen Übel steuern können: das rechtzeitige tatkräftige Eingreifen einer weisen Staatsgewalt. Auch hier hatte schon Goethe gewarnt: »Nach Preßfreiheit schreit niemand, als wer sie mißbrauchen will« ( Maximen, Ausg. der G. G., Nr. 972). Doch wer hört auf derartige Worte? Die »Freiheit der Presse« ward zum Feldgeschrei aller Parteien, und wer es wagte, eine andere Einsicht zu vertreten, wurde als versteinerter Dummkopf aus dem politischen Leben hinausverhöhnt. Ich verweise zum Vergleich auf unsere Markt- und Warenpolizei. Man überlege sich, welche große Entwickelung diese vor allem in Deutschland im Laufe eines Jahrhunderts gewonnen hat: nicht allein darf gesundheitsschädliche und überhaupt verfälschte Ware nicht zum Verkauf gelangen, sondern auch unschädliche Ersatzmittel müssen bei schwerer Strafe als solche bekannt gemacht werden. Der Staat tut hier seine Pflicht, indem er nach Kräften die gesunde, redliche Gesamtheit gegen die betrügerischen Machenschaften gewissenloser Schwindler schützt und sich nicht durch die Redensart abhalten läßt, das Volk werde sich selber zu schützen wissen. Und doch hätten es die Menschen weit eher verstanden, sich gegen jegliche leibliche Bedrohung zu schützen als gegen das ihnen tagtäglich gereichte seelische Gift. »Denn die Gefahr ist ja bei dem Kaufe von Kenntnissen viel größer als bei Nahrungsmitteln« – wie Sokrates in Plato's Protagoras es bemerkt. Der Staat, der hier versagte, war wert, daß er zugrunde ging.
So steht denn der ohnehin zu einem Bruchstück zerschlagene, der harmonisch abgerundeten Freiheit verlustige Mensch entseelt da, seiner Wahrträume beraubt, voller Neid, doch ohne Hoffnungen, voller Haß und bar jeglicher Liebe. Wir alle kennen die Mitleid und Grauen erregenden Antlitze, deren Stirnen das Brandmal der Ehrfurchtslosigkeit aufgedrückt ward, deren Schläfen wie von einem Dämon der Unfruchtbarkeit berührt sich zeigen, aus deren Augen die Widerspiegelung des Himmels gewichen ist und deren Mundwinkel eine Bitterkeit aussprechen, für die es keinen Trost mehr auf Erden gibt.
Da nun, wie wir festgestellt haben, der Begriff Mensch eine Gedankengestalt (Idee) ist und – wie alle Gedankengestalten – verschiebbar und wechselnd je nach den Hirnen, welche sie gestalten, je nach deren Reichtum oder Armut, je nach deren Edelsinn oder Gemeinheit, so läßt sich leicht denken, wie Verschiedenes selbst innerhalb der selben Völkerfamilie unter einem und dem selben Wort Mensch gedacht und vorgestellt wird. Man versuche, sich die Gedanken des Königs Mohampatuah, am unteren Kongo, abends, nachdem er seinen Vetter eben verspeist hat, über diesen Gegenstand zu vergegenwärtigen und sie dann mit denen des Sokrates, kurz ehe er den Schirlingsbecher leerte, zu vergleichen! Der Unterschied wird kaum größer sein als der zwischen Idee und Ideal des Menschen in den Köpfen – sagen wir – einerseits Liebknecht's, andrerseits Bismarck's. Hieraus folgt, daß wir nicht berechtigt sind, den Begriff Mensch als eine bekannte Größe, noch weniger als Bezeichnung für eine sichere, unbestrittene Tatsache zu verwenden: der Eine erstürmt mit dieser Gedankengestalt den Himmel, von der glühenden Sehnsucht nach Vervollkommnung getrieben, der Andere erniedrigt – gerade Dank seiner Bildung und Verbildung, Dank seiner äußerlichen Zivilisation bei innerlicher Gemütsverrohung – die Vorstellung des Menschen und damit zugleich den Menschen selber bis weit unter die vernunftslose Bestie. Wie Montaigne sagt: Il y a plus de distance de tel à tel homme, qu'il n'y a de tel homme à telle bête (I. 1, ch. 42: es besteht eine größere Entfernung zwischen Mensch und Mensch als zwischen manchem Menschen und manchem Tier).
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Vorläufig genügt uns dieses Ergebnis, indem es uns als Sprungbrett zu der zweiten Frage – derjenigen nach der Gedankengestalt Gott – dient.
Gleich Anfangs sahen wir die Begriffe Mensch und Gott so eng zusammenhängen, daß sie garnicht voneinander zu trennen sind; steigt die Vorstellung von der Menschenwürde, so wird zugleich die Vorstellung Gottes eine würdigere, und umgekehrt. Auch hier hat Plato den Weg gewiesen, indem er zeigte, daß zahlreiche Gedankengestalten paarweise auftreten, und dann ein verschiebbares Gefüge bilden, innerhalb dessen eine jede der beiden Gestalten zu der anderen überquer steht, sie teils ergänzend, teils aufhebend – etwa wie Männliches und Weibliches. So verhält es sich z. B. mit den von ihm eingeführten Vorstellungen Art und Gattung: wer den Begriff Art denkt, kann nicht anders als den Begriff Gattung zugleich denken und umgekehrt, so genau wird der eine durch den anderen gefordert; zugleich sind diese beiden Gedankengestalten derartig gegeneinander verschiebbar, daß jede Art zu einer Gattung erweitert, und jede Gattung zu einer Art zusammengezogen werden kann – Verschiebungen, die wir in den beschreibenden Naturwissenschaften täglich erleben3. Zwischen Mensch und Gott besteht zwar nicht ein gleiches Verhältnis, jedoch immerhin ein vergleichbares: die Beziehungen zwischen diesen beiden Gedankengestalten sind ebenso eng und unlösbar, doch geheimnisvoller und schwer in nüchternen Worten faßlich zu machen. Bei dem Gestaltenpaar Gattung und Art beziehen sich beide Glieder des Paares letzten Endes auf sichtbare Erscheinungen; wogegen es für Mensch und Gott bezeichnend ist, daß dieses Paar die Grenzen der Erfahrung überfliegt (die Fachmänner sagen: transscendiert) und immerfort hinüber und herüber gleitet – aus der Sichtbarkeit in die Unsichtbarkeit, aus der Begreiflichkeit in die Unbegreiflichkeit, aus der Vorstellbarkeit in die Unvorstellbarkeit, und wieder in die Sichtbarkeit, die Begreiflichkeit und die Vorstellbarkeit zurück. Das gerade gehört zum Wesen dieses Gedankengestaltenpaares: der Gedanke Mensch weist vom allerersten Augenblick an, in welchem er gedacht wird, aus dieser Welt hinaus in eine andere, nur geahnte, wogegen der Gedanke Gott jene geahnte andere Welt in diese sichtbare einbezieht. Indem der Mensch sich von der sonstigen Kreatur unterscheidet, maßt er sich Geistesgaben und Eigenschaften des Gemütes an – oder wir können auch sagen, er entdeckt sie in sich – die ihn nötigen, für die neue Würde einen neuen mächtigen Stützpunkt zu gewinnen; wenn das Bild nicht allzu kühn erscheint, möchte ich sagen: er muß in ein früher ihm unbekanntes Element einen Anker (gleichsam nach oben) auswerfen, der ihm nicht nur in den Stürmen des Lebens sicheren Halt bietet, sondern an dem er sich nach und nach immer höher hinaufhissen kann. Dagegen ist es dem Gottesgedanken natürlich und notwendig, hinab in die Welt der Sichtbarkeit, in die Welt des Menschen zu streben, wo allein er Wirklichkeit gewinnt. Oft weisen unsere Mystiker darauf hin, wie genau die Gedankengestalt Gott durch die Gedankengestalt Mensch bedingt wird. Man denke sich den seines Menschtums bewußten Menschen im Weltall nicht vorhanden, der Begriff Gott wird nirgends mehr gedacht, er ist ausgelöscht, als wäre er nie gewesen: mit dem Menschen schwindet auch sein Gott dahin; mit Recht dichtet Angelus Silesius:
Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Werd' ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.
Nicht minder schwindet Gott dahin, sobald der Mensch des Gedankens seiner Menschenwürde verlustig geht; denn die Annahme, ein solcher Mensch müßte dennoch Gott an seinen Werken erkennen, beruht auf einer falschen Voraussetzung. Pascal hat unwiderleglich dargetan, daß die Natur kein Göttliches offenbare, vielmehr Gott sich in ihr nur denen zeige, die Gott schon glauben; denn jede Erscheinung, die der Apologet zum Beweise des Daseins Gottes heranzieht, könne mit gleichem Recht für das Gegenteil angeführt werden ( Pensées, Nr. 242–244, 557 usw.). Der Glaube an Gott geht voran und entsteht, wie gesagt, ursprünglich als Denknotwendigkeit. Es treten mit der Zeit allerhand andere Erscheinungen hinzu: Geisterglauben, Dämonenglauben, Götterglauben mit allen daraus hervorgegangenen Kulten und Observanzen, und – wie wir gleich sehen werden – es pflegt die ursprüngliche Gottesvorstellung vor dem verwickelteren Apparat in den Hintergrund zu entschwinden; ja, es ist für den auf diese Weise gewonnenen Gedanken an Gott bezeichnend, daß er meistens sein eigenes Leben außerhalb der Kulte und Dogmen führt; wird er auch später mit ihnen verwoben, es bleibt doch einem schärferen Auge sein Wesen als das eines fremden Gastes nicht verborgen.
Über diesen Gegenstand steht uns nämlich ein reicher Vorrat an zuverlässigen Berichten zur Verfügung; denn jene gleich zu Anfang dieses Kapitels flüchtig erwähnte, unsere Wissenschaft überraschende Tatsache der Allgegenwart des Gottesgedankens auf der ganzen Erde gehört, meiner Überzeugung nach, hierher: es handelt sich zunächst nicht um einen irgendwie gefolgerten, empfundenen, geahnten Schöpfergott – wie unsere Religionsforscher vielfach schließen – sondern vielmehr um einen Gedanken, den auch der einfachste, im Nachsinnen ungeübteste Kopf nicht umhin kann zu denken: daher die ausnahmslose Allgemeinheit des Gedankens und zugleich seine verhältnismäßige Blässe. Der in diesen Fragen noch unbewanderte Leser greife zunächst zu Andrew Lang's The Making of Religion, P. W. Schmidt's Der Ursprung der Gottesidee und zu Leopold von Schroeder's Arische Religion, Band I, von wo aus er den Weg zu weiterer Literatur finden kann. Unter jedem Himmelsstrich, im Norden und Süden wie auf dem Äquator, in Asien und Amerika wie in Australien, Ozeanien und Afrika, allüberall, wo es nur menschenähnliche Geschöpfe gibt, da findet sich die Vorstellung eines höchsten Wesens – die Vorstellung Gottes – gleichsam (wie Lang sich ausdrückt) »eines vergrößerten übernatürlichen Menschen«. Bezeichnend für dieses höchste Wesen ist, daß es stets als gut vorgestellt wird, häufig auch als Wächter der Tugend, der (so z. B. bei den angeblich tiefstehenden Australnegern) Keuschheit, Mitleid, Uneigennutz und Treue gegen das gegebene Wort lehrt. Nicht minder bezeichnend ist aber der geringe Raum, den dieses Wesen im öffentlichen Kult einnimmt, indem es nur auf dem dunklen Hintergrund des Bewußtseins verharrt, während allerhand Geister- und Dämonen- und auch Götterspuk im Vordergrund des Lebens sich breitmacht. Dieser Gott ist zu heilig, um viel im Munde geführt, und zu gütevoll, um gefürchtet zu werden; daher tritt er zurück vor den der Abwehr böser Dämonen gewidmeten umständlichen magischen Riten und vor den den Ahnen und den guten Geistern zu Ehren gefeierten Opferfesten. Je weniger zivilisiert, je freier von Priestertum und von allen Religionsgebräuchen, um so deutlicher wird die Nähe dieses reinen Gottes empfunden, und um so wirksamer erweisen sich die sittlichen Gebote, die auf ihn zurückgeführt werden – als Beispiele nenne ich die Andamanesen-Insulaner und die Buschmänner; mit dem Aufkommen religiöser Gebräuche und namentlich eines Priestertums verdunkeln sich sowohl Vorstellung wie Lehre, da die Menschen nunmehr den Hauptwert auf bestimmte Kulthandlungen, Wortformeln, Opfervorschriften und dergleichen legen. Doch schwindet diese älteste und echteste Gedankengestalt Gott niemals und nirgends ganz hin, kann es auch nicht, weil sie, wie gesagt, einer unentrinnbaren Denknotwendigkeit entspringt und nur dort dem Geiste verloren geht, wo der Begriff Mensch alle Geltung verliert; weswegen dieser Gottesgedanke auf den Gipfeln religiösen Lebens stets wiederkehrt und auch heute Bedeutung besitzt, wie ich bald zeigen werde. Vorher möchte ich noch einen Augenblick bei den guten, viel verlästerten Wilden bleiben.
Lehrreich finde ich es, die Namen zu erfahren, welche die urtümlichen Menschen zur Bezeichnung dieses Göttlichen gebrauchen. Häufig heißt es der Vater, der große Vater, unser allgegenwärtiger Vater, oder der Alte, der Alte des Himmels, der alte Mann (im Sinne eines von jeher Dagewesenen), sehr häufig auch der Gute, der Wohltäter, der große Freund, anderwärts der Himmlische, der Himmelsherr, der Alte im Himmelland, manchmal auch kurzweg der Himmel, seltener heißt es der Herr oder der Meister. Diese naiven Benennungen bedeuten eben so viele Zeugnisse für den Ursprung der Idee eines höchsten Wesens ( Gott) aus der Forderung eines Gegenstückes zu der Idee Mensch. Denn, sich als Mensch erkennen heißt, sich von allem übrigen Leben grundsätzlich unterscheiden und bedeutet den Entschluß, sich als ein Höheres – mit höheren Rechten, Forderungen und Erwartungen – zu behaupten. Dies schließt notwendig in sich die Vorstellung eines Übermenschen (um Goethe's Ausdruck zu gebrauchen), eines besseren Selbst, eines Helfers und schließlich eines Meisters. Das bereits Seite 21 fg. Ausgeführte sei hier wiederholt. Die Gedankengestalt Mensch kann als eine Bewegung des ganzen Wesens nach oben gedeutet werden: damit diese Bewegung Bestand gewinne, muß ihr von oben her etwas entgegenkommen – und siehe da! diese Erwartung wird nicht getäuscht: ein höchstes, gutes, freundliches, väterliches Wesen neigt sich aus dem Himmel herab. Selbst die Wilden von Süd-Guinea sagen: »Dieser Gott allein hat keine Priester, dieser allein verkehrt unmittelbar mit den Menschen« (A. Lang, a. a. O., 3. Aufl., S. 220). Ob dieses Wesen rein geistiger Art sei oder auch leiblicher, pflegt nicht gefragt zu werden, ebensowenig, ob ihm die Eigenschaft eines Weltschöpfers zukomme oder nicht; es bewährt sich eben überall als die reine Gedankengestalt Gott.
Daß diese tausendfach bezeugte Tatsache so lange unerkannt bleiben konnte, verdanken wir den Vorurteilen unserer Wissenschaftler und Evolutionsdogmatiker – an ihrer Spitze Herbert Spencer. Diese hatten die Zwangslehre aufgestellt, urtümliche Völker dürften keinerlei Vorstellung von Gott besitzen, ebensowenig irgendwelche noch so einfachen sittlichen Begriffe; und nun findet sich, daß gerade bei den unkultiviertesten Stämmen auf Erden der Gedanke Gott und mit ihm sittliche Lehren, würdig der Bergpredigt, in besonderer Reine angetroffen werden. Ein wissenschaftlich gebildeter evangelischer Missionar, der reiche Erfahrung unter den Wilden besitzt, schreibt hierüber: »Daß diese reinere Gottesidee das Resultat einer langen Entwickelung sein soll, in dem Sinne, daß die Völker mit animistischen Vorstellungen beginnend, unter dem Drucke der Furcht zur Tier- und Ahnenverehrung und von da zur Naturverehrung fortgeschritten seien, aus der heraus die Götter erwüchsen, worauf man durch einen reicheren Polytheismus hindurch zu der allmählich geläuterten Vorstellung des Einen Gottes sich emporarbeitete (so lautet nämlich die genannte Zwangslehre) – diese Hypothese widerspricht dem Bilde, das jeder, der mit dem wirklichen Heidentum vertraut wird und es nicht durch eine Brille ansieht, von ihm gewinnt. Die Gottesidee liegt nicht im Wege der Entwickelung aus dem Geisterdienst, sie widerspricht dieser Entwickelung. Sie ist ein Fremdkörper in der animistischen Vorstellungswelt. Sie steht im Gegensatz zu den Naturgottheiten, zu der Auffassung von der Seele als einer Allmaterie, zu den Dämonen und Ahnen, die Gott seine Macht aus den Händen gewunden haben, im Gegensatze auch zu dem starren Fatum, das Gott aus der Welt entfernt, also im Gegensatz zu allen das animistische religiöse Leben bestimmenden Faktoren« (J. Warneck: Die Lebenskräfte des Evangeliums, Missionserfahrungen innerhalb des animistischen Heidentums, 1913, 5. Aufl., S.96fg.). Dieses Zeugnis ist um so wertvoller, als der Verfasser dem streng kirchlichen Christentum angehört und infolgedessen eigene Vorurteile zu überwinden hatte, ehe er die Wahrheit erkannte. Wie ihm, so ist es allen seinen denkenden Kollegen gegangen, wofür man in dem genannten Werke zahlreiche Belege findet. Die Tatsache dieses ursprünglichen, allerorten anzutreffenden Gottesglaubens kann überhaupt nicht mehr in Frage gezogen werden, einzig ihre Deutung bleibt noch ein strittiger Punkt: ich für mein Teil bin überzeugt, die richtige Erklärung im obigen gegeben zu haben.
Hiermit fällt aber zugleich neues Licht auf die Geschichte aller Religion; denn man wird finden, daß dieser reine Gottesbegriff – aus unabweisbarer Denknotwendigkeit hervorgegangen und untrennbar verbunden mit dem Begriff des Menschen – mochte er noch so sehr von der bunten Menge phantastischer Vorstellungen und aberwitziger Einfälle zurückgedrängt und verdunkelt werden, dennoch überall weiterlebt und in gipfelnden Erscheinungen immer wieder in voller Reinheit hervorbricht. Fliegen wir beherzt auf den höchsten aller Gipfel, so vernehmen wir das Gebet, das mit den Worten anhebt: Vater unser, der du bist im Himmel – und fühlen uns sofort zu den guten Andamanesen und sonstigen urtümlichen Menschen hinversetzt, die in diesen Worten buchstäblich genau ihr eigenes Vorstellen und Reden erkennen würden! Schon der verehrungswürdige Livingstone, der als erster unter den Weißen die dunklen Wälder Mittelafrikas betrat, meldet erstaunt: »Auch die allerniedersten dieser Stämme braucht man nicht erst zum Glauben an das Dasein Gottes zu überreden, alle ohne Ausnahme hegen in sich diese Überzeugung« ( Missionary Travels nach Lang). Immer wieder, wie man sieht, die reine Vorstellung des Eingottes, nicht als letztes Ergebnis hoher Zivilisation und Kultur oder gar verfeinerter Gottesgelahrtheit, vielmehr als Naturtrieb aller noch kindlichen Menschen ohne Ausnahme und dann als Blüte der religiösen Gedankenwelt zu höchst Begabter.
Ich nannte das Vaterunser; zur Ergänzung verweise ich jetzt auf eine andere Welt – auf die der brahmanischen Inder. Unter einer Mythologie, die im Laufe langer Zeiten wie ein tropischer Urwald immer dichter, immer undurchdringlicher phantastisch emporwucherte, war nach und nach die schlichte – zwar ferne, doch zugleich eindringliche – Vorstellung des guten Wesens, des Vaters im Himmel, dem Bewußtsein beinahe entschwunden. Da fanden sich hochgesinnte Männer, tiefe Denker, die von dem Instinkt reingezogener Rasse geleitet, den Weg zurück ins Einfache suchten und vor keiner Gewalttätigkeit zurückscheuten, um dieses Ziel zu erreichen. Was die Andamanesen und Jesus wie eine Blume am Wege gefunden hatten, dahin mußten die Inder sich erst durch das undurchdringliche Dickicht üppigster Phantasien durchkämpfen. Sobald sie sich bis zu den ursprünglichen Gedankengestalten hindurchgerungen haben, fassen sie sie daher mit einer Inbrunst an, die insofern beinahe mörderisch wirkt, als ein Übermaß an Willen stets die Reinheit der Erkenntnis trübt. Dennoch gelingt es ihnen – gerade in dem Übermaß ihres sehnsüchtigen Verlangens – etwas Einziges und Ewiges zu leisten: das Ergreifen, Erfassen und Erschöpfen der beiden Gedankengestalten Mensch und Gott, und zwar zugleich als vollkommen abstrakte Begriffe und als dermaßen lebendige Erfahrungen, daß sie Richtung und Inhalt des ganzen Daseins bestimmen.
Es kann nicht meine Absicht sein, an diesem Orte das religiöse Gedankenleben der Upanishads zu schildern; es genügt, wenn ich an die beiden Gipfelpunkte – Brahman (Gott) und Atman (des Menschen Selbst) erinnere. Anstatt mit der blinden Wut des jüdisch angeseuchten jugendlichen Christentums über die blühenden Gestalten der Naturgötter zerstörend herzufallen, lassen die Inder Gott reden:
Alles was mächtig ist und schön und üppig,
Das, wisse, ist ein Teil von meiner Kraft.
Wozu der altindische Erläuterer bemerkt: »Überall nämlich, wo sich ein besonders hoher Grad seiner (Gottes) Machtentfaltung zeigt, da wird diese als (persönlicher) Gott zur Verehrung anbefohlen« (Çankara: Die Sutra's des Vedanta, 1, 1, 11). Doch hinter diesen bewußt erdichteten Gestalten erhebt sich die eine einzige wahre Idee Gottes. Schon der Name, mit dem diese Weisen die reine Gedankengestalt Gott belegen, zeugt nicht allein für die Tiefe ihrer Besinnung, sondern auch für den Grad, in welchem es ihnen gelungen war, bis zu der Reinheit einer ersten unschuldigen Erkenntnis den Weg zurückzufinden. Das Wort Brahman entstammt nämlich dem Sanskrit für »Gebet« – und zwar Gebet nicht wie bei den Griechen als ein Wünschen aufgefaßt, noch wie bei den Lateinern als ein Wortemachen, noch wie bei den Persern als ein Fordern, noch wie bei den Russen als ein Erweichen, noch gar wie bei den Hebräern als ein Beräuchern, »sondern als der zum Heiligen, Göttlichen emporstrebende Wille des Menschen« (Paul Deußen: Das System des Vedanta, S. 128). Der emporstrebende Wille! Dies entspricht genau der Fassung, die wir oben brachten (S. 20 fg.) für die Entstehung der Gottesidee aus der Erkenntnis des Menschen von seinem Menschtum und dem hieraus sich ergebenden unabweislichen Bedürfnis nach einem Übermenschlichen, das seinen »emporstrebenden Willen« leite und lenke. Nur nebenbei erwähne ich, daß dieser Gott genau wie bei den urtümlichen Menschen auch in Indien den Beinamen »der Gute« trägt. Und nun legten diese tiefsinnigen Erforscher letzter Fragen den umgekehrten Weg zurück, von Gott zum Menschen; hier versenkt sich Gott mit solcher Inbrunst in »die Lotosblume des Menschenherzens«, daß zuletzt dieser Mensch Gottes unmittelbare Gegenwart überwältigend empfindet und selber Gott wird. Sobald nämlich zwei überquer sich ergänzende Ideen derartig ineinander verschmelzen, heben beide sich auf und kommen wir bei einem All an, das von einem Nichts schwer zu unterscheiden ist. Das Denken besitzt eben nicht die Beschaffenheit, die Wahrheit zu umfassen und zu zerlegen; jeder Gedanke, der rücksichtslos bis ans äußerste Ende gedacht wird, führt ins Leere.
Ehe sie soweit gelangten, hatten aber die Inder die Gedankengestalt Gott in einer Reinheit erfaßt, wie das mit Bewußtsein niemals sonsten geschehen ist. Namentlich die Leere dieser Vorstellung an Verstandes- und Sinnesbestimmungen wird von ihnen meisterlich dargestellt; denn in der Tat, es handelt sich um eine Bewegung der Seele, um eine mächtige Regung des Willens; Gott ist, wie der Name Brahman es richtig besagt – ein Gebet, nicht eine Erkenntnis. Wir können über Gott nichts aussagen – garnichts, außer daß wir als Menschen seiner bedürfen. Das Wort Brahman ist weder männlich noch weiblich, sondern sächlich, ebenso wie das griechische Theion und das Wort »Gott« im Nordischen und im Gotischen; letzteres erhielt erst später, unter christlichem Einfluß, das männliche Geschlecht. Es handelt sich um ein Göttliches, über welches nichts Näheres bestimmt werden kann, um »einen bleibenden Gedanken in der Seele«, wie unser Eckehart sich ausdrückt – eine Erkenntnis, die er durch die Worte ergänzt: »wer Got schouwen sol, der muoz blint sin.« Der indische Weise, von seinem Schüler gebeten, ihm Gott zu schildern, antwortet: »Neti, neti!« – er ist nicht so und er ist nicht so; was wir wiederum bei Meister Eckehart buchstäblich antreffen: »Sprich ich nû: got ist guot, ez ist niht wâr, mêr: ich bin guot, got ist niht guot: usw.« Schön heißt es von Gott in der Tattiriyaka-Upanishad:
Vor dem die Worte kehren um
Und die Gedanken, ohne ihn zu finden.
Als Kontrast und zugleich zur Ergänzung sei hier auf den verwandten Ausspruch eines hellenischen Weisen hingewiesen. In seiner bekannten apologetischen Schrift Octavius erzählt Minucius Felix folgende Anekdote über Simonides. Aufgefordert, sich über das Wesen Gottes zu äußern, verlangt der Weise einen Tag zur Überlegung, dann noch einen Tag und am folgenden Abend noch einen dritten Tag. Gefragt, warum er seine Antwort immer wieder verschiebe, erwidert er: »Je tiefer ich über Gottes Wesen nachsinne, um so undeutlicher werden meine Vorstellungen« (angeführt nach G.Boissier: La Fin du Paganisme, 7. Aufl., 1, 272). Der erhabene Denker Yadjnavalkya geht so weit, man könne von Gott weder aussagen, er sei seiend, noch auch er sei nicht seiend: ein Satz, in welchem die Tatsache, daß Gott eine reine Gedankengestalt (Idee) ist, vollkommenen Ausdruck findet. Auch hier bietet uns Eckehart eine genaue Parallele: »Spriche ich ouch: got ist ein wesen, ez ist niht wâr: er ist ein überswebende wesen und ein überwesende nihtheit.« (Ausg. Pfeiffer, S. 316–319). Und Luther schreibt: »Gott ist unbegreiflich und unsichtbar; was man aber begreift und sehen kann, ist nicht Gott« (Konkordanz, unter »Gott«). Es ist nun höchst bemerkenswert, daß wir nicht allein bei unseren Mystikern, sondern bei allen hervorragendsten Religionslehrern innerhalb des Christentums ähnlichen Aussprüchen über die Unerkennbarkeit Gottes begegnen: denn dies beweist, daß der Begriff Gott als Gedankengestalt neben den anderen Gottesbegriffen weiterlebt.
Die christliche Kirche hat es nämlich unternommen, drei vollkommen verschiedene Gottesvorstellungen – verschieden nach Ursprung und nach Wesen – miteinander zu einer Einheit zu verschmelzen: den persönlich-historischen Judengott, den mythologisch-mystischen dreieinheitlichen Gott des Weltalls und die dem Menschen notwendige und insofern angeborene Gedankengestalt Gott. An Jahve, dem Judengott, ist das Mögliche geschehen, um alles, was auch nur von weitem einer Idee gleichsehen könnte, auszumerzen; es handelt sich um eine völlig greifbare, klarbegrenzte, geschichtliche Gestalt; Jahve ist eigentlich nichts anderes als ein alter Jude, mit großartiger Willensenergie und guten Geistesgaben ausgestattet, dabei aber zornmütig und rachsüchtig und in manchen Beziehungen der einfachsten sittlichen Begriffe ermangelnd: jeden Betrug, jeden Raub- und Mordzug billigt er, sobald dieser seinem auserwählten Völkchen oder einem seiner besonderen Lieblinge zugute kommt; er ist ohne jedes Gefühl für angeborenen Menschenwert und angeborenes Verdienst. Unwillkürlich fällt einem bei Jahve Goethe's Zahme Xenie ein (Abt. 4):
Wie Einer ist, so ist sein Gott;
Darum ward Gott so oft zu Spott.
Einer anderen Welt entstammt der eigentliche Gott der christlichen Kirche: die Vorstellung einer heiligen Dreieinigkeit (Trimurti) ist altarisches Gut, das in den verschiedensten Gestalten überall, wo diese metaphysisch beanlagte Menschenart stark vertreten ist, wieder auftaucht. In diesem Falle fand die nähere Ausbildung der Vorstellung unter dem Einfluß der späthellenischen Philosophie statt, die auf theologische Abwege geraten und gerade, weil ihre Flugkraft gebrochen war, sich besonderer Eingebungen rühmte und sich Unmögliches zutraute. Hier handelt es sich um die unbedingte großartige Vorstellung einer allumfassenden Gottheit, die – als solche – außerhalb aller Zeit und aller Geschichte steht; dieser Gott bildet nicht, wie die Gedankengestalt des höchsten guten Wesens, des Vaters im Himmel, den ergänzenden Gegensatz zu der Idee des Menschen, vielmehr ergänzt er die Vorstellung der Natur. Daher bedarf er zur Verbindung mit dem flüchtigen Geschlecht der Sterblichen einer zweiten göttlichen Persönlichkeit, des Erlösers; schließlich stellt eine dritte das Element der Gemeinsamkeit dar zwischen Schöpfer, Erlöser und dem Menschen. Das Gesagte genügt zum Beweise, daß zwischen dem historischen Judengott und dem mythologischen Christengott in Wahrheit nicht die allerentfernteste Analogie besteht.
Auf diese Frage werden wir in einem späteren Abschnitt zurückzukommen haben; hier lag mir einzig daran, vorläufig Klarheit in verwickelte und mit Absicht dunkel gehaltene Verhältnisse zu bringen, um jetzt nachweisen zu können, daß hinter diesen beiden seit zwei Jahrtausenden viel Mühe und Lärm verursachenden Gottesvorstellungen die dritte und eigentliche Gottesidee still weiter gelebt hat – gelebt hat bei den Führern des religiösen Lebens, sowie gewiß auch bei Millionen einfacher Seelen. Diese dritte – in Wahrheit die allererste – Gottesvorstellung ist die eigentlich reinmenschliche, und gerade wegen ihrer Reinmenschlichkeit, die reingöttliche: hier hat der Mensch weniger Eigenwillen hineingelegt, hier hat er nicht Gott zum politischen deus ex machina mißbraucht, wie der Hebräer, noch wie die Kirchenväter eine großartige Gottesintuition durch unendliches Spintisieren zugleich menschenmäßig eingeschränkt und dem Menschenherzen ferngerückt. Bezeichnend für diese Gedankengestalt ist gerade ihre Unbegreiflichkeit: der Mensch sucht ein höheres Wesen, das seinen Verstand überragt; verstünde er es, so wäre es nicht das, was er sucht, und dessen er so notwendig bedarf. Wo wir also – wie vorhin bei den Indern, bei Meister Eckehart und bei Simonides – das Unergründliche, garnicht in die Formen unseres Denkens zu Bannende als das für das Wesen Gottes Bezeichnende finden, können wir sicher sein, daß wir es mit jener Idee zu tun haben, die als Gegenstück zu der Idee Mensch denknotwendig entsteht – wie oben genügend auseinandergesetzt worden ist. An Jahve ist nichts Unbegreifliches, nicht einmal etwas Problematisches; jede jüdische Religionslehre preist als einen Vorzug dieses Glaubens, daß er kein Geheimnis, keine Mystik enthalte, vielmehr dem gemeinsten Verstand bis auf den Grund begreiflich sei. Mit der Dreieinigkeit verhält es sich freilich anders; doch hat die Kirche es unternommen, alle das Wesen dieser Gottheit betreffenden Begriffe haarscharf festzustellen, so daß, wenn auch kein menschliches Hirn imstande ist, jene Bestimmungen des Nizänischen und des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses aufzunehmen und nebeneinander zu beherbergen, der Rechtgläubige nicht behaupten dürfte, das Wesen Gottes sei unbekannt und unerkenntlich, sondern höchstens, es sei ihm persönlich nicht verständlich.
Gerade das Bekenntnis, daß es zum Wesen Gottes gehörte, dem Verstande unfaßlich zu sein, finden wir nun, wie gesagt, bei allen hervorragenden Christen und schließen daraus, daß ihnen – trotz aller kirchlichen Bestimmungen – das unverfälschte, reine, ursprüngliche Gottesgefühl in des Herzens Tiefen weiter lebt.
Fast wäre ich versucht, hier auf die Anschauung des Apostel Paulus näher einzugehen, der da gesteht: »Stückwerk ist unser Erkennen ... Jetzt sehen wir im Spiegel nur dunkle Umrisse« (1. Kor. 13, 9 fg.); und der an einer anderen Stelle des selben Briefes (8, 5) die bemerkenswerten Worte schreibt: »Mag es auch sogenannte Götter geben, sei es im Himmel, sei es auf Erden, – es sind ja der Götter viele und der Herren viele – so gibt es doch für uns nur Einen Gott, den Vater...« Doch will ich mich im Augenblick auf diesen flüchtigen Hinweis beschränken; denn dieser gewaltige Mann fordert tieferes Eingehen. Greifen wir aus der Fülle der Zeugnisse einige von den Kirchenvätern und Apologeten der frühesten Zeiten heraus.
Gleich der große Origenes betont wiederholt, der Menschenverstand sei unfähig, Gott zu erfassen; es wird genügen, eine einzige Stelle anzuführen. In seinem Werke De Principiis (Buch 1, Abschn. 5) schreibt er: »Wenn ich die genaue Wahrheit gestehen darf, Gott ist unbegreiflich und kann nicht erkannt werden.« Cyprian schreibt ( Über Idole, Abschn. 9): »Gott kann nicht gesehen werden – sein Licht blendet das Auge; er kann nicht verstanden werden – denn er ist zu rein für unseren Verstand; noch können wir ihn ermessen – denn er übersteigt unsere Erkenntnisfähigkeit; daher sagen wir nur dann etwas Richtiges über ihn aus, wenn wir gestehen, er sei nicht zu begreifen.« Ähnlich meint der Apologet Minucius Felix ( Octavius, Kap. 18): »Unser Menschenherz ist zu eng begrenzt, um Gott zu verstehen; wir schätzen ihn nur dann richtig ein, wenn wir anerkennen, er übersteige jede Schätzung.« Hierbei ist besonders bemerkenswert, daß Minucius Felix sich bei dieser Behauptung nicht auf die christliche Offenbarung beruft, sondern ausdrücklich auf das Zeugnis »aller Menschen«. Gregor von Nazianz warnt, der Mensch solle es nicht wagen, irgendeine Begriffsbestimmung auf Gott anzuwenden: »Nur durch Schweigen möge die Menschenseele die Wahrheit des göttlichen Wesens verehren, welches unaussprechlich ist und erhaben über jeden Gedanken und über jede Möglichkeit des Wissens« (nach Scotus Erigena, Einteilung der Natur, Buch 2, Kap. 28). Derartige Zeugnisse ließen sich gewiß noch zahlreiche nachweisen; so schreibt z.B. der Lehrer Konstantin's Lactantius, in seiner Schrift Über den Zorn Gottes (Kap. 11): »Gott ist so groß, daß Menschenworte ihm nicht gerecht werden, noch die Sinne ihn erreichen können.« Und noch eine Stelle will ich aus jener ältesten Zeit des Christentums vorbringen, wegen ihres besonderen Bezuges auf die Verwandtschaft zwischen den Gedankengestalten Mensch und Gott. Theophilus schreibt in seinem Brief an Autolicus (Kap. 2): »Sagst Du mir, zeige mir Deinen Gott, so antworte ich, zeige mir Dein eigenes Selbst, da werde ich Dir meinen Gott zeigen.«
Später werden freilich derartige Äußerungen seltener, weil das dogmatische Vernunftgebäude die Kräfte immer mehr beansprucht und die angeborenen Instinkte zurückdrängt; doch bricht das Ursprüngliche bei wahrhaft religiösen Naturen trotzdem immer wieder durch. So gibt z.B. Augustinus – der eigentliche Vollender des Begriffes der kirchlichen Rechtgläubigkeit – in seinem De Trinitate eine Schilderung Gottes, von der einige Bruchstücke hier folgen: »Er ist gut, ohne Eigenschaften zu besitzen, groß, ohne Menge noch Zahl, er regiert, ohne aber einen Standort zu besitzen, ist allgegenwärtig, ohne an irgendeinem Orte zu sein, und ewig, wiewohl er außerhalb der Zeit steht« (Buch 5, Kap. 1, Abschn. 2) – eine Sprache die, wie man sieht, an Eckehart gemahnt. Kein Wunder, wenn es an einer weiteren Stelle (Buch 5, Kap. 9) heißt: »dies sei von Gott gesagt, nicht in dem Wahne, damit etwas gesagt zu haben, sondern nur, damit dieser Gegenstand nicht mit Stillschweigen übergangen werde« (non ut aliquid diceretur, sed ne taceretur). Wer aber aufmerksam geworden ist und genauer zusieht, wird häufig bei dieser Säule der Orthodoxie Äußerungen begegnen, die auf die Gegenwart des stillen, inneren, unerforschlichen Gottes hindeuten, und zwar nicht allein in den von Mystik überströmenden Bekenntnissen, sondern auch in seinen theologischen Schriften. Selbst bei den frühen Scholastikern begegnen wir Behauptungen wie der, daß Gott nicht ein Etwas (quid), sondern ein Nichts (nihil) genannt werden müßte. »Gott weiß nicht, was er selber ist, d.h. er weiß nicht, daß er Etwas sei, weil er erkennt, daß er durchaus nicht in den Bereich desjenigen gehöre, was irgend erkannt wird und wovon man sagen oder denken kann, was es ist« (Scotus Erigena, Einteilung der Natur, Buch 2, Kap. 28). Bemerkenswert ist, daß sowohl Anselm wie Albert der Große behaupten, nur derjenige könne Gott als nicht seiend denken, der sich selber als Mensch nicht erkenne (nach J. E. Erdmann, Grundriß d. Gesch. d. Philosophie, § 201, 2). Noch mehr muß es uns wundernehmen, wenn wir bei einem Manne wie Thomas von Aquin einem Ausspruch begegnen wie folgendem: Magis nobis manifestatur de Deo quid non est quam quid est – deutlicher ist uns in bezug auf Gott, was er nicht ist, als was er ist ( Quaestiones, De anima, art. 13); ein zögernder, mit der Sprache sich nicht herauswagender Yadjnavalkya!
Immer mehr verlieren sich die Scholastiker in ihren besonderen Rationalismus und gilt es ihnen als Ehrenpunkt, alles müsse der Vernunft erreichbar sein, auch das Wesen der Gottheit, was zu turmhohen Torheiten führt. Ihnen gegenüber steht aber das stille, nie aussterbende Heer der Mystiker, von Franz von Assisi im zwölften Jahrhundert an bis zu Jakob Böhme im siebzehnten und bis zu Blake im neunzehnten Jahrhundert; Meister Eckehart ist mit Recht der bekannteste; er wurde schon oben mehrfach angeführt, denn seine Gottesvorstellung entspricht genau der hier vertretenen. Schließlich füge ich noch ein einziges Wort aus der herrlichen, von Luther herausgegebenen Theologia Deutsch, wegen seiner Übereinstimmung mit dem Gedanken, von dem wir in diesem Kapitel ausgingen, hinzu: »Es spricht der Mensch: sieh, ich armer Tor, ich meinte, ich wäre es, nun war es und ist es wahrlich Gott.«
Da es mir hier lediglich auf Andeutungen ankommt, springe ich beherzt hinüber zu Immanuel Kant und empfehle der Beachtung meiner Leser dessen kleine Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, in welcher Kant die Anerkennung von Gottes Unerforschlichkeit zu einer moralischen Pflicht stempelt und in diesem Zusammenhang mit einem Loblied auf Hiob endet, der seinen jahvegläubigen Freunden gegenüber diesen Standpunkt vertritt, wofür er – wie Kant mit beißender Ironie hervorhebt – »vor einer Synode, einer Inquisition, einer ehrwürdigen Classis oder einem jeden Oberkonsistorium unserer Zeit ein schlimmes Schicksal erfahren haben würde«. So deutlich erkennt der klare Denker, daß der reinen Gedankengestalt Gott unsere Kirchen am liebsten kein Heimatsrecht zugestehen!
Dieser Gott – das gute Wesen, des Menschen Freund, der Vater im Himmel, der bei bösen Gedanken und Taten freundlich streng mahnt und bei guten hilft und stützt – dieser Gott ist mir seit früher Jugend stets gegenwärtig; immer war mir zumute, als stünde ich auf seinem offenen Handteller und könnte darum, was auch geschehe, nie in den Abgrund stürzen; ohne dieses Bewußtsein wäre ich außerstande gewesen, mein Leben zu leben. Ich glaube an keine Möglichkeit eines alle Kreise erfassenden mächtigen und anhaltenden Wiederaufblühens religiösen Lebens, bis nicht dieser Gott – der nicht gewußt, sondern geglaubt wird – von neuem allgemeiner Besitz der Menschenseelen wird. Dazu müßte aber der Wüstengott aus unserer Erziehung verbannt werden: er vergiftet uns von Kindesbeinen an unsere Vorstellung von und unsere Beziehung zu der Gottheit. Auch die Dreieinigkeit müßte als großartiges, wahrheitsträchtiges mythologisches Symbol erkannt, jedoch nicht durch Einzwängung in Schulformeln und Aufnötigung als dogmatisches Glaubensbekenntnis zu einer Marter für Hirn und Herz gemacht werden; derartige Gedanken besitzen nur Wert und Wahrheit, solange sie leben und sich bewegen. Außerdem ist wohl zu erwägen, daß den Millionen herabgekommener Bruchstückmenschen (S. 16) unserer Tage mit philosophisch-theologischen Systemen garnicht beizukommen ist, sie besitzen kein Organ zur Aufnahme derartiger Gedanken. Hier käme es darauf an, das Gefühl der Menschenwürde wieder wachzurufen, was unfehlbar zu einer Ahnung des höchsten guten Wesens führen muß. Was uns nottut, ist der Gott Jesu Christi, der Vater im Himmel.