Читать книгу Old Hansen oder 7 Tage eines Mannes aus der Nachbarschaft - H.R. Sebastian - Страница 7

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Tag 1, Sonnabend, Der Weg ins Alleinheim

Endlich war sie gestorben. Hansen fiel über die Leiche seiner Frau her, um die letzte Wärme aufzunehmen, die sie verströmte. So lange hatte es gedauert. Endlich war es geschehen. Sie war gestorben. Endlich, endlich, endlich.

Hansens Schmerzen verschwanden mit jeder Minute, die verging, seit die Ärzte ihm den ausgefüllten Totenschein übergeben hatten. Nun war es amtlich bestätigt. Sie würde nicht mehr zurückkommen. Und sein Herz lachte, es jauchzte vor Freude. Sie war tot, endlich, endlich, endlich.

Er gönnte es ihr, denn genau wie er hatte sie seit sechs Jahren gelitten. Jetzt begann für beide eine friedliche Zeit. Hansen und seine Frau hatten sie herbeigesehnt. Doch immer standen ihnen die Entscheidungen anderer gegenüber, die der Kinder, der Ärzte, der Nachbarn, immer funkte jemand mit Moral dazwischen. Und schlimmer noch, die Gefühle der anderen.

Sie selbst hatten schon vor fünf Jahren geplant ihrem Leben ein angenehmes Ende zu bereiten. Doch es war schwierig. Welcher Selbstmord einer Todkranken sieht nicht wie Mord aus? Hansen hatte sich belesen, meistens in irgendwelchen Büchern aus der Bibliothek, einmal quer durch alle Genres, aber alles war zu kompliziert. Er wollte seine Frau nicht aktiv töten, und seine Frau sich selbst auch nicht. Diese Art zu töten vermochte nur der Zufall. Doch wie konnte man ihn herbeirufen?

Gern hätte Hansen es gekonnt seiner Frau etwas zu viel von den Medikamenten einzuflößen oder besser zu wenig, aber der Pflegedienst hatte alles im Blick, auch wenn der meist nur flüchtig war. Gründlich arbeitete er trotzdem, da konnte man nicht meckern.

Und so fügten sich Hansen und seine Frau in ihr Schicksal, das sie leiden ließ. Sechs ausgedehnte Jahre lang und dabei waren sie schon überdurchschnittlich alt gewesen, als Hansens Frau ihre Diagnose bekam. Sie hatten sich angesehen, waren aus der Praxis marschiert, um spazieren zu gehen, einfach um einen Weg zu nehmen, den sie schon kannten, den sie beide so oft beschritten hatten, ihre tägliche Runde, einen sicheren Weg, der sich langsam auflöste.

Am Ende stand der Entschluss es mit der Medizin zu versuchen, wohl vor allem aus Angst. Hansen wollte nicht wirken als wäre er froh darüber, dass sie sterben würde, und sie, weil sie ihn nicht alleine lassen wollte. Kurzum stand ihnen ihre Liebe im Weg, das verdammte Glück, das sie seit siebzig Jahren einfach nicht los lassen wollte. Und falls es mal Probleme in dieser langen Zeit gab, dann hatte es meist nur etwas mit Geld zu tun und so waren es eigentlich keine.

Sie ergriffen also die Möglichkeit, die man ihnen bot und rutschten unversehens in die erste wirkliche Herausforderung ihres Lebens. Vertrauensvoll zu Menschen waren sie schon immer.

Also, was sollte schief gehen?

Hansen erinnerte sich nicht mehr an die vergangenen Jahre. Er freute sich nun auf das Kommende. Zum ersten Mal würde eine Woche damit beginnen wie er es sich stets herbei gesehnt hatte. Ein Bild hing in seiner Galerie, der Galerie in seinem Kopf. Hansen hatte sie tief in seinen Kopf gebaut und immer wenn die Tage besonders schlimm waren, setzte er sich in sie hinein und betrachtete das Bild an dem er so lange gemalt hatte.

Hansen trat vom Bett zurück, besser gesagt, zog man ihn. Zwei Pfleger nahmen das Bett samt seiner Insassin mit und erklärten kurz was mit seiner Frau nun passierte. Abstriche, Waschen, Sarg, Krematorium, Friedhof. Er nickte nur, lächelte und versuchte daraus kein Lachen werden zu lassen. Am Ende hätte man ihm doch noch Mord vorwerfen können, so kniff er sich kräftig in den rechten Oberschenkel und legte eine betreten, dreinschauende Maske auf sein Gesicht.

Ein letztes Mal sah er seine Frau und er hätte es lieber gesehen, wie sie in einer venezianischen Gondel aus dem Krankenhaus direkt in den Himmel oder den Ort des Paradieses geschippert wäre. Doch der Pragmatismus verbot solche Wünsche, wer hätte das auch bezahlen wollen? Plötzlich stand ein Arzt vor ihm und redete auf ihn ein. Am liebsten hätte Hansen ihm eine gescheuert, dafür dass er nicht den Mumm gehabt hatte seiner Frau den Hahn eher abzudrehen. Er wusste nicht genau, ob die Geräte und Medikamente heutzutage heilen sollen oder den Patienten schröpfen. Hansen plädierte innerlich für letzteres, die Geschichte seiner Frau sprach eindeutig für seine Vermutung. Niemand darf mehr sterben, demnächst wird man sich noch seinen Todestag aussuchen dürfen. Mitspracherechte überall.

Das alles bereitete Hansen nun doch wieder Kummer und er stand inmitten des Krankenzimmers, dass ein schrecklicher Todesort war.

Irgendjemand schrie ihn an.

«Papa, was machst du denn? Wieso schlägst du den Arzt?»

«Lassen sie gut sein, er steht wohl unter Schock. Ich komm dann später noch mal zu ihnen.»

«Entschuldigung. Bist du verrückt? Du kannst doch nicht dem Arzt die Fresse polieren. Sag mal hörst du mich überhaupt? Papa?»

Hansen hörte und seine Hand brannte noch immer von dem Schlag ins Gesicht des Arztes, der ihm schließlich doch herausgerutscht war, aber er wollte nicht mit seinen Kindern sprechen, von denen er sich immer mehr Menschlichkeit erhofft hatte. Allein es ging ums Geld und da hören Beziehungen plötzlich auf. Also schwieg er weiter und bereitete seinen Kindern zusätzliches Kopfzerbrechen. Eigentlich hatte er das Gefühl, dass er gehen müsste, also ging er los und verließ das Krankenhaus. Er machte keine Umwege, sondern ließ sich mit einem Taxi nach Hause fahren. Hansen hatte einen Plan und mit diesem ging er auf den Dachboden seines Hauses.

Der Speicher war fast leer. Zu Beginn der Krankheit seiner Frau hatten sie sich schon darum gekümmert, alles Gesammelte loszuwerden. Manches war Müll, manches verschenkbar, manches zum Vertrödeln. Hansen hatte dafür gesorgt, dass alles so schnell wie möglich verschwand. Jetzt war er froh darüber, dass er diese Aufgabe schon so früh erledigt hatte. Nun gab es nur noch die wenigen Sachen seiner Frau, die er in Kisten packen musste. Also holte er das letzte was noch auf dem Dachboden zu finden war herunter, ein halbes Dutzend zusammengelegter Umzugskisten.

Im Wohnzimmer kniete er sich auf den Fußboden und begann die Kisten zu falten. Nebenbei überlegte er, ob er alles weggeben wollte oder ein paar Sachen als Erinnerung behalten könnte. Doch Hansen wurde, durch das Rudern zwischen den Gedanken und der Konzentration, die das Falten einforderte, schnell müde. Unvermittelt legte er sich auf das Sofa, deckte sich mit einer Tagesdecke zu, schlief ein und hoffte im Schlaf, dass man ihn doch bitte vergessen möge.

Noch immer war es Sonnabend, als Hansen munter wurde. Er schaute auf seine Armbanduhr und es war fast zwölf. Mittagessen, dachte Hansen. Er konnte nicht spüren, ob er Hunger hatte, also legte er erst einmal die Tagesdecke zusammen und platzierte sie über die rechte Sofalehne, streifte ungeschickt die letzten Falten heraus, beließ es schließlich dabei und widmete sich erneut dem Falten der Kisten.

Die Kisten standen wie Bauklötzer auf dem Teppich und glotzten ihn an. Hansen verharrte und Erinnerungen verhinderten weitere Schritte. Hansen versteckte sich in einem warmen Kokon und verweilte einige Minuten, denn endlich hatte er Zeit für Träume und die schönen Geschichten mit seiner Frau, die größer waren, als die schlechte Trauerserie der letzten Jahre. Es war auch nur die geballte Aufmerksamkeit des persönlichen Pechs, das sie beide geschafft hatte. Pech waren sie einfach nicht gewohnt. Und schon war Hansen wieder bei den Menschen, die das Ende dieser Geschichte erst so lange hinaus geschoben hatten. Doch was sollte er tun? Sie alle umbringen? Keine schlechte Idee, aber eine schlechte Lösung.

Ein Klingeln an der Haustür ließ den Kokon platzen und Hansen hatte sich nicht verwandelt, denn er war immer noch derselbe.

„Hallo, Papa.“

Hansens jüngstes Kind stand vor ihm. Auch schon pensioniert, dachte er. Es kann nicht gesund sein, dass sich Eltern und Kinder noch im hohen Alter begegnen. Aber so ist das Leben.

Hansen konnte nicht antworten, sein Kind fiel ihm in die Arme und heulte los. Er fühlte sich nicht wohl, denn er verschwand fast vollkommen im Körper seines Kindes. Noch so ein Nachteil.

Er klopfte seinem Kind beruhigend auf die Schultern, zog mit der anderen Hand sein Taschentuch aus der Hose und tupfte die Tränen weg. Er wusste genau wie man das machen musste, denn er hatte in den letzten Jahren viele Tränen getupft. Er fühlte sich beklommen, ja eingeklemmt. Wieder musste er sich um das Leid der anderen sorgen. Wieder geriet sein Leben in den Hintergrund. Und dabei wollte er sich gerade ein Spiegelei braten, dazu Kaffee schlürfen, Kulturradio hören und aus dem Fenster glotzen, denn er wusste schon gar nicht mehr wie das ging. Doch dazu kam es nicht, denn die Türklingel schrie erneut.

Hansen öffnete. Kind eins und zwei standen vor ihm. Sie hatten Kuchen mitgebracht, viel Kuchen und ein verführerischeres Brot, was nur bedeuten konnte, dass es viel zu besprechen gab. Hansens gute Laune verzog sich nun endgültig.

Seine Kinder kümmerten sich um alles. Tisch decken, Kaffee kochen, Heizung andrehen, Kuchen verteilen, einen Stift holen, aber keiner machte ihm sein Spiegelei. Hansen schwieg und hörte sich die Erklärungen zur anstehenden Bürokratie an. Mit einer Unterschrift bestätigte er wenig später seine Abschiebung ins Altersheim, sein Testament, seine Entmündigung. Was er aber ganz genau behielt, war das Datum seiner Einlieferung ins „Abendland“, so hieß sein neues Zuhause. Hansen hatte eine knappe Woche Zeit sein Bild aus der Galerie zu holen und es in die Wirklichkeit zu kopieren. Um dies so schnell wie möglich umzusetzen, tat er eben alles nötige, damit seine Kinder verschwanden. Er liebte sie, aber sie hatten gerade keine Ahnung von ihrem Vater. So wie er in bestimmten Zeiten keine Ahnung vom Leben seiner Kinder hatte.

Diesmal täuschten sich die Kinder jedoch nicht. Auf sie wirkte ihr Vater etwas angeschlagen, genervt und trübtassig. So gönnten sie ihm seine Ruhe, im Wissen darum, dass sie alles unter Kontrolle hatten. Sie schlurften gewichtig aus dem Haus, winkten, ohne sich umzudrehen, dem alten Mann zu, stiegen in ihre Autos und fuhren ihrer Wege.

Endlich briet das Spiegelei in der Pfanne, besser gesagt vier. Hansen hatte auf den Kuchen verzichtet, konnte jedoch notfalls auf ihn zurückgreifen, da er im Kühlschrank schlummerte. Seine Kinder wollten ihn nicht wieder mitnehmen und wiesen auf ihre Körper hin. Ja, sie waren dick geworden, was wahrscheinlich damit zu tun hatte, dass sich alle drei im selben Jahr scheiden lassen hatten und sich seitdem regelmäßig trafen, um sich gegenseitig zu betrauern.

Manche tranken dabei Alkohol oder nahmen Drogen. Seine Kinder frönten dem Essen. Auch keine bessere Lösung, fand Hansen. Aber was sollte er machen? Seine Kinder waren über das Erwachsenenalter weit hinaus und so war er doch froh, dass er endlich alleine war.

Der Sonnabend ging in sein letztes Drittel als Hansen endlich in der Küche am Tisch saß und die vier Spiegeleier auf jeweils eine Scheibe Brot legte. Dann schnitt er Tomaten klein und legte die Stückchen auf die Eier. Noch etwas Pfeffer, Salz und getrocknetes Schnittlauch rundeten den Geschmack ab. Zuletzt legte Hansen auf jede Stulle noch eine Scheibe Gouda und dann wanderte alles für ein paar Minuten bei 150 Grad in den Herd. Die Wartezeit nutzte er für das Ansetzen einer Tasse Kaffee. Und da Hansen seinen Kaffee immer türkisch trank, dauerte dies auch nicht lang, denn der praktische Wasserkocher verkürzte den Vorgang unheimlich. Lange hatte sich Hansen gegen so eine technische Neuerung in seinem Haushalt gewehrt, bis sein geliebter Tauchsieder fast einen Brand im Haus entfacht hätte. Erst da löste er diese Liebe auf und arrangierte sich mit der neuen Beziehung. Den Tauchsieder hatte Hansen aber behalten und ihm einen Ehrenplatz in der Garage geschenkt. Unbeeindruckt von diesen Gedanken piepte der Wasserkocher eifersüchtig dazwischen und Hansen füllte zwei Teelöffel Kaffee in seine Lieblingstasse, schüttete das brühend heiße Wasser darüber, dann einen Schluck Milch und zwei Stück Kandiszucker. Mit dem Löffel rührte er alles um und ließ ihn in der Tasse stehen. Dann stellte Hansen die Tasse auf den Küchentisch und er war stolz auf sich, weil er nicht gekleckert hatte. Nun setzte er sich an den Tisch und umschloss die Tasse mit seinen Händen, die ein bisschen ausgekühlt waren und wartete auf das Essen.

Hansen bemerkte wie langsam die Zeit dabei verstrich. Sein Leben stürzte in einen befriedigenden Beschleunigungsentzug, was so rasant passierte, dass ihm fast schwindlig davon wurde. Also steuerte er dagegen und schaltete das Radio ein. Hansen hatte noch eines dieser alten Röhrenholzgeräte in der Küche stehen, eines der wenigen Dinge, die noch von seinen Eltern übrig geblieben waren. Das Einstellen eines Senders therapierte ihn von den Zeitanpassungsschwierigkeiten. Es knarzte und kratzte in dem Lautsprecher und ferne Wellen wehten leise Töne herbei, bis eine Welle klare Töne in seine Ohrmuschel spülte. Hansen erkannte das Stück sofort, der fröhliche Landmann, leider kam der gerade Zuhause an und die Nachrichten ergriffen das Wort. Hansen stellte leiser, Katastrophenschutz. Außerdem war das Essen fertig. Er nahm einen guten Teller aus dem Küchenbuffet seiner Großmutter und legte Silberbesteck auf den Tisch. Dann holte er die vier dampfenden, miteinander verklebten Stullen vom Ofenblech und servierte sich sein Essen. Hansen setzte sich auf den Platz seiner Frau, weil er einen besseren Blick aus dem Fenster bot. Draußen passierte der Wind gerade das Gartentor und schlug es hinter sich zu. Der Knall war selbst in Hansens Küche zu hören und der Wind schien äußerst wütend zu sein, denn er kehrte in den Garten zurück. Nun trat er die letzten Blumen nieder und ließ den Wetterhahn auf dem Geräteschuppen durchdrehen. Hansen mochte es, wenn die Natur ihre natürliche Fassung verlor und einfach mal ein Arschloch war. Seine Gedanken erlaubten ihm in solchen Worten zu denken, denn in seinem Alter durfte man nicht mehr ausfallend in Gesprächen werden. Seine Frau hatte das nie gestört, ihre Sprache kam von Herzen und sie machte sich nichts daraus, wenn die anderen Leute ihre Nase rümpften und der Ausdruck nicht stimmte. Manchmal sind Schimpfwörter genau das passende Argument, um eine Sache zu beschreiben. Hansen lachte vor sich hin und schnitt die zweite Stulle klein. Der Käse klebte widerspenstig am Besteck, vielleicht hätte Hansen doch lieber das Edelstahlbesteck benutzen sollen, dass konnte er wenigstens in die Spülmaschine stecken. Allein, Hansen störte sich nicht an diesem kleinen Umstand. Dafür verfügte er einfach über zu viel Zeit und schließlich gab es auch hierfür eine Lösung, die bereits in seinem Kopf auf Abruf stand.

Die Stullen füllten nach und nach Hansens Magen und als das letzte Stück seinen Magen vollkommen verschlossen hatte, lehnte sich Hansen zurück und rieb sich seinen Bauch. Er wusste nicht mehr, wann er sich das letzte Mal so voll gefressen hatte. Beim Essen hatte er sich in den vergangenen Jahren stets zurückgehalten, zum Wohle seiner Frau, die auf einiges verzichten musste. Durch diese solidarische Essaskese war Hansen deutlich schlanker geworden. Eigentlich lebte er in der Zeit der Krankheit viel gesünder, als alle Jahre zuvor. Mit 96 Jahren hätte er es sicherlich noch mit einem 87jährigen aufnehmen können. Und er dachte an seine Jugend, als er so oft Sport gemacht hatte. Fußball, Volleyball, Rudern, das alles bevor es mit der Verantwortung losging. Sechsundsiebzig Jahre Verantwortung. Und jetzt endlich war er sie los geworden, denn andere hatten sie nun am Hals, nämlich seine Kinder.

Hansen war froh, dass er alle Dokumente unterschrieben hatte, damit stahl er sich aus der Bürokratie und fühlte sich einfach frei. Es gibt zwei Phasen im Leben der Freiheit, Kindheit und Alter. Das sich Kinder und Alte gut verstehen ist kein Wunder, denn sie haben frei und Fehler werden ihnen meist verziehen, da die einen vieles noch nicht und die anderen es nicht mehr wissen. Und somit drückt sie auch keine Verantwortung.

So einfach ist es manchmal, dachte Hansen. Und der Gedanke stachelte ihn zu etwas Aktionismus an. Hansen nahm Teller, Tasse und Geschirr, brachte alles zum Spülbecken und stellte es hinein. Zunächst spülte er den Kaffeesatz so aus der Tasse, dass nichts im Becken zurückblieb. Dann stöpselte Hansen den Ausguss zu, spritzte etwas Spülmittel über Teller, Tasse, Messer und Gabel und ließ lauwarmes Wasser hinzu, es entstand ein zarter Kokosnebel und Hansen tauchte in die Karibik ab.

Weiße Strände, heiße Temperaturen, dass mochte Hansen nicht, er war eher der pränordische Typ, ein Herr der vier Jahreszeiten und als Hansen das Radio wieder etwas lauter machte, da erklang eine Jazzvariation des Winters in einem düsteren Gegenwartskostüm, also schaltete Hansen ab. Das Radio brummte kurz weiter, aber der Protest hielt nicht lange an, keine Energie. Hansen überlegte, während es draußen langsam dunkelte, was er mit seiner Zeit anfangen konnte. Der Sonnabend war noch recht lang, zumindest für einen freien, einsamen Menschen. Für morgen, also Sonntag, hatte Hansen schon einen Plan. Angeln. Aber wo war sein Angelzeug? Der Dachboden war leer, blieben noch der Keller und der Geräteschuppen im Garten.

Hansen entschied sich für den Schuppen und ging in den Hausflur. Er zog sich eine Strickjacke an, drapierte eine Bommelmütze auf sein Haupt und schlüpfte in zweckentfremdete Badelatschen. »Die Taschenlampe, ich brauche die Taschenlampe.«, sprach er vor sich hin und überlegte, wo er sie suchen sollte. Er kramte in der Schuhkommode und fand sie schließlich in einem seiner Winterschuhe. Zufrieden nahm er sein Schlüsselbund, steckte es in eine Hosentasche und machte sich auf die Suche nach dem Angelzeug.

Der Geräteschuppen stand wie von Menschenhand unberührt im Garten. Hansen hatte ihn in einem Anflug von Rage in einem Baumarkt gekauft und aufstellen lassen. Das Einräumen hatte er auch noch geschafft, alles weitere viel dem gemeinsamen Warten mit seiner Frau in Wartezimmern zum Opfer. Wie viel Zeit man mit Warten verplempert, sagte sich Hansen und dachte, dass es auch nützliche Züge hatte, zum Beispiel bei Langeweile oder wenn man sich vor Entschlüssen drücken wollte. Aber das war jetzt eigentlich nicht wichtig. Hansen wollte morgen angeln gehen und falls er seine Sachen heute nicht mehr finden würde, dann hätte er schließlich noch Zeit in den Baumarkt um die Ecke zu fahren, der hatte seit neuestem auch sonnabends länger auf und eine exquisite Anglerabteilung.

Hansen fand das praktisch im Bezug auf seine eigenen Bedürfnisse, aber die arme Belegschaft kappte dafür ihre eigenen und der finanzielle Ausgleich war nicht wirklich einer, in Hinsicht auf den Verlust an gemeinsamer Lebenszeit. Viele dachten immer noch, dass Geld trösten könnte oder beruhigen, na ja, was sollte Hansen da machen? Er nahm sich fest vor die Leute vom Baumarkt besonders nett zu grüßen, falls er diesen Umweg gehen musste. Doch noch bestand die Chance, dass er die Leute nicht zu belästigen brauchte.

Hansen knipste die Taschenlampe an, schloss die Tür zum Geräteschuppen auf und trat hinein. Von den Gerätschaften hatte nur der Spaten im letzten Frühjahr mal den Garten besuchen dürfen. Alle anderen waren etwas verstaubt oder sogar noch originalverpackt.

Er leuchtete sich durch den Schuppen und suchte Hinweise auf das Angelzeug. Dabei scheuchte er eine Maus auf, die den Schuppen wohl besetzt hatte. Sie verschwand in einer Ecke und brachte einen Stock zum Kippen, den sie in ihrer Eile angerempelt hatte. Der Stock traf Hansen an der Schulter. Ein Schmerz blieb aus, denn es war die Angelrute, die sich sanft biegend an Hansens Schulter anschmiegte. Hansen nahm sie und überprüfte ihre Vollständigkeit. Sehne, Schwimmer, Blinker, Haken, alles noch dran, stellte Hansen fest, was kein Wunder war, denn er hatte sie noch nie benutzt. Auch so ein Ding, das er sich kurz vor dem Gau geleistet hatte und das seit dieser Zeit verstaubte. Auf sein altes Angelzeug konnte er auch nicht zurückgreifen, denn das hatte Hansen in seiner damaligen Neuanschaffungseuphorie einfach in die Mülltonne geworfen.

Sorgvoll putzte Hansen die Rute mit einem Ärmel ab und verließ den Schuppen.

Es war frisch geworden und an seiner Nase hing ein Rotztropfen. Er zog ihn bis zum Gaumen zurück, indem er einmal tief schniefte und schluckte die Brühe herunter, da sein Taschentuch wohl noch immer tränennass im Flur lag.

Die Wohnung war schön warm. Kinder zu haben, dass hat eben auch seine Vorteile, dachte Hansen und meinte es ernst. In der Küche schaltete er das Radio wieder an und es brummte vergnügt auf und spendete etwas Licht, das zwar nicht für eine Erleuchtung der Küche sorgen konnte, aber für ein schönes Bild, das Hansen liebte. Ein wenig Licht in zu viel Dunkelheit ist der erste Hoffnungstropfen, hatte Hansens Frau oft gesagt, wenn er, der Frühaufsteher, morgens als erstes sein Radio an- und es abends als letztes wieder abstellte. Er hatte eine kluge Frau geheiratet, dass machte ihn stolz und wieder erstarrte er plötzlich und schlüpfte in seinen Kokon, der diesmal aus Tränen gesponnen war.

Ein Jazztriangeltrio aus San Francisco holte ihn zurück. Hansen legte die Angelrute auf den Küchentisch und drehte das Radio etwas leiser. Obwohl ihm diese Mischung aus Polka, Funk und Jazz gefiel. Seinen Geist zu beflügeln, dass vermochte sie nicht.

Nachdem er zurück gekehrt war, setzte sich Hansen an den Tisch und besah die Angelrute. Taschenmesser, fiel ihm ein. Er brauchte sein Anglertaschenmesser. Also stand er wieder auf und ging in den Flur, denn das Messer lag immer an derselben Stelle, im Schlüsselkasten. Jedes Mal wenn Hansen das Haus verließ, nahm er das Messer mit, eine Gewohnheit die ihn seit seinen Kindestagen begleitete. Manche fanden es lächerlich, er dachte wiederum, Frauen haben eine Handtasche, ich habe mein Taschenmesser.

Hansen ging also in den Flur und holte sein Taschenmesser, dass er aber niemals mit ins Krankenhaus genommen hatte, wegen des Aberglaubens, ein Messer zu viel im Krankenhaus bringt sich selbst in Verdacht oder so ähnlich. Man konnte an solche Weisheiten glauben, was Hansen eigentlich nicht tat, aber wenn einem erstmal ein Mysteriumsserum in den Kopf geimpft wurde, dann ist es eben da, genau wie das Gespenst im Kohlenkeller, dass ihm immer hinter her gerannt war, als er als Junge die Kohlen in die Stube hoch holen musste. Und sowieso existiert das meiste nur im Kopf, dies hatte Hansen schon längst erkannt.

Er kehrte in die Küche zurück. Aus dem Radio dudelte nun getragene Klassik, live aus einem Opernhaus in Europa. Hansen setzte sich wieder an den Tisch und nahm erneut die Angelrute. Er betrachtete sie und entfernte als erstes den Blinker. Seiner Erfahrung nach brachten die Dinger nicht viel, er setzte auf gekochtes Eiweiß mit Kartoffeln.

So würde auch der Sonntag beginnen, nämlich mit Eier kochen. Hansen würde früh um Vier aufstehen und eine Packung Eier, in Hansens Fall eine Sechserpackung, öffnen und sie eine Viertelstunde hart kochen lassen. Dann mussten die Eier eine halbe Stunde ruhen und abkühlen. In dieser Zeit hätte Hansen genug Zeit zum Frühstücken und zur Morgentoilette, die sehr kurz ausfallen würde, weil man niemals vor dem Angeln duschte, damit man mit der Natur im Einklang des wilden Geruches stehen konnte. Außerdem war es ungesund.

Den Blinker warf Hansen in den Müll, holte ihn aber gleich wieder heraus, weil er daraus vielleicht noch etwas basteln konnte. Ergo legte er den Blinker wieder auf den Tisch. Dann widmete er sich endgültig der Angelrute. Es war eine stinknormale, neumodische Angel ohne einen bestimmten Stil in ihrem Charakter. Nichts an ihr war besonders, also ein Gebrauchsmittel für den täglichen Bedarf. Sie würde ihre Arbeit tun und deshalb putzte Hansen nur den Staub mit einem Küchenkrepptuch weg. Die Sehne war straff auf die Rolle gezogen und der Haken fachgerecht befestigt. Hansen war sogar etwas enttäuscht darüber, dass die Angel ihm nicht mehr Aufgaben stellte. Aber da half nun alles grummeln nicht, wenigstens blieb ihm noch die Angelsachen schon mal für morgen zu verstauen.

Hansen packte die Angel und ging in die autoleere Garage, die durch eine Tür im Hausflur mit der Wohnung verbunden war. Mit 50 hatte Hansen sein letztes Auto verkauft und sich vom Erlös ein Motorrad mit Seitenwagen angeschafft. Es war sein Lebenstraum gewesen, den seine Frau sogar mit ihm teilte. Und weil die Kinder damals in einem Alter waren, wo ihnen Reisen mit den Eltern total an ihren Leibern vorbei gingen, nutzten sie die Gelegenheit und bereisten die Welt im Umkreis von nie mehr als 100 km. Nach acht Jahren verstarb das Motorrad ganz plötzlich und verschwand aus ihrem Leben. Da entdeckten beide das Reisen im Nachtzug und so begann eine neue Zeit. Nun standen nur noch ein kleiner Handwagen und zwei Fahrräder in der Garage als Fuhrpark zur Verfügung, die Hansen für die kleinen Reisen genügten. Ansonsten hatte sich Hansen über die Jahre eine kleine Werkstatt mit Lagerregalen eingerichtet, wo er aber eigentlich nur Sachen reparierte. Für Basteleien fehlten ihm die passenden Ideen, zumal er nicht wusste, was er mit dem ganzen Zeug hätte anstellen sollen.

Hansen legte die Angel in den Handwagen und suchte noch ein paar wichtige Utensilien zusammen. Gummistiefel, einen Klappstuhl, Drahtheringe, einen Eimer, den Gartenteichkäscher, eine Thermodecke wanderten allesamt zur Angelrute in den Wagen hinein, der auch einiges an Staub abbekommen hatte wie Hansen bemerkte. Also putzte er ihn oberflächlich mit einem Lappen, den er aus einer Holzkiste zog, ab. Alsbald warf Hansen ihn achtlos zurück und montierte den Anhänger an sein Fahrrad. Eigentlich war das Montieren nur eine Steckverbindung, aber montieren klang nach «etwas können». Und weil es eben kein großer Aufwand war, die Gefährten zusammen zu führen, ordnete Hansen den Inhalt des Anhängers noch mal neu, eben so, dass nichts herausfallen konnte. An die nach hinten hinausragende Angelrute band Hansen einen roten Wimpel, den er mal aus einer alten Bluse seiner Frau geschnitten hatte und von dem er fand, dass an ihm ein paar restliche Duftfetzen ihres Parfüms hingen.

Hansen pumpte auch alle Reifen am Fahrrad und Anhänger auf, testete das Licht und schob das Gefährt noch ein Stückchen Richtung Garagentor, wo er es abstellte und das Fahrrad mit dem Fahrradständer gegen vermeintliches Umkippen sicherte. Es sollte früh losgehen. Und gut vorbereitet zu sein, bedeutet eben vor allem, mehr Zeit fürs Vergnügen zu haben.

Hansen suchte im Haus seine Anglerkluft zusammen und legte alles sorgfältig in der Reihenfolge des Anziehens auf den blauen Plastikstuhl im Badezimmer. Latzhose, Pullover, T-Shirt, Unterhemd, Socken und zuletzt Schlüpfer. Hansen dachte nicht daran, es jetzt, nachdem seine Frau gestorben war, in der Ordnung schleifen zu lassen. Dann hätte er sich ja gleich neben sie legen können. Er wollte den ersten freien Sonntag seit Jahren ganz in seinem Sinne zelebrieren und da konnte Unordnung ganz schnell dafür sorgen, dass alles von jetzt auf gleich ins Chaos stürzte. Lebenserfahrung, reine Lebenserfahrung, dachte Hansen und plötzlich steckte er wieder im Kokon. Es schien ihm fast wie ein Raumschiff, das ihn irgendwohin bringen sollte und die Phasen wurden immer länger. Hansen bemerkte zum ersten Mal, dass der Kokon Türen besaß. Doch ehe er sie öffnen konnte, fand er sich in seinem Haus wieder. Hansen taumelte und musste sich am Küchenbuffet festhalten, um nicht zu stürzen. Irgendwas passierte mit ihm seitdem er allein in diesem Haus umherging. Vielleicht war er nur noch ein Geist, bestenfalls ein lebendiger Tattergreis. Hansen schmunzelte, denn jetzt war es mehr als nur ein Gerücht, dass jeder einmal sterben würde. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er die Lebensmüdigkeit und sie machte ihm keine Angst. Alles schien erledigt zu sein und der Rest war Bonus und den wollte er ganz für sich allein genießen.

Es war kurz vor 22 Uhr, als Hansen beschloss ins Bett zu gehen. Wie immer las er einen der Liebesbriefe seiner Frau, bevor er das Licht ausknipste. Die meisten der Briefe stammten aus ihrer Jugendzeit, erst seit der Krankheit seiner Frau hatten sie wieder begonnen sich Briefe zu schreiben. Denn während sie verheiratet waren, wohnten sie selbstverständlich auch zusammen. Und so besaßen sie eben den gleichen Briefkasten und aus Briefen wurden gesprochene Worte, wenn auch immer weniger. Die Angst machte der Selbstverständlichkeit Platz und die Poesie vertrocknete wie die Tinte in dem vergessenen Federfüllhalter in der Schublade von Hansens unbenutztem Schreibtisch. Das alles hieß aber nicht, dass es den beiden an Zuneigung und Zärtlichkeit fehlte. Ganz im Gegenteil, die Poesie trug nur ein anderes Gewand. Manchmal war es das Schweigen am Küchentisch, die Wiederkehr nach einer räumlichen Trennung, die Kinder, der schnöde Alltag, der Sex, all das hatte auf irgendeine Weise seine eigene Poesie, man musste nur gut dichten können.

Hansen weinte, der Tod seiner Frau rückte ihm nun dicht auf die Pelle, drang durch sie ein und durchwühlte alle Organe bis Hansen in Ohnmacht fiel.

Alle Organe befanden sich wieder an ihrem von der Natur vorgesehenen Platz. Hansen schaute auf den tickenden Wecker. Es waren noch zwanzig Minuten bis Mitternacht. Er ging in die Küche, nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und füllte Wasser aus dem Wasserhahn hinein. Er stellte das volle Glas neben dem Spülbecken ab und steckte nun seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl.

Das kalte Wasser wusch die letzten Anstrengungen aus seinem Kopf, schließlich kippte Hansen das Wasser aus dem Wasserglas in seinen ausgetrockneten Hals und er verschluckte sich an seiner eigenen Ungestümtheit. Er spie das Wasser wieder aus und musste sich einen neuen Schlafanzug holen, wobei er fast auf seinem Erbrochenen ausgerutscht wäre. Der Tag endete schlimmer, als er angefangen hatte. Hansen ahnte, dass er alt war und schlimmer noch, das Alter brach plötzlich über ihn her. Mit 96 Jahren war es kein Wunder alt zu sein, aber bis gestern hatte es sich nicht so lauthals bemerkbar gemacht. Oder war er einfach blind gewesen, hatten seine Kinder Recht?

Hansen ging ins Badezimmer und zog den nassen Schlafanzug aus. Nackend ging er durchs Haus zurück ins Schlafzimmer. Er nahm einen neuen Schlafanzug aus dem Schrank, zog ihn an und wischte ihn an seinem Körper glatt. Der Wecker zeigte zehn vor Mitternacht an. Der Sonnabend verstarb in den mitteleuropäischen Breiten und Hansen wurde einfach nicht müde.

Vielleicht half ein Buch. Hansen nahm sich ein Buch vom Nachttischschrank seiner Frau. Der Staub hatte es eingehüllt und Hansen pustete ihn in Richtung Bettvorleger. Doch es nutzte nicht viel, Hansen musste schließlich doch seinen Schlafanzugärmel benutzen, um das Buch vollkommen zu entstauben. Endlich konnte es losgehen. Hansen klappte das Buch auf und ihm fiel ein Zettel in den Schoß. Hansen legte das Buch wieder beiseite und widmete sich dem Zettel, der zerbrechlich wie ein vertrocknetes Herbstblatt daherkam. Hansen kannte den Zettel, er musste jetzt fast siebzig Jahre alt sein und die Tinte ebenso. Irgendwie schienen sie sich gegenseitig festzuhalten. Hansen las den Text und fing an laut zu lachen. Den Zettel hatte er einmal von einem Matrosenfreund bekommen, der sich in jungen Jahren ein ganzes Gebiss an Hansens Frau in spe ausgebissen hatte. Am Ende seiner Versuche war er so erbost wegen ihrer Ablehnung, dass er seine Wut in Worte fasste, getraut hatte sich sein Freund jedoch nicht, ihn ihr selbst zu überreichen, dann hätte er sich wahrscheinlich vor Scham in die Hosen gemacht.

Hansen aber war ein Fuchs gewesen. Er brachte den Zettel zu seiner, von ihm selbst Angebeteten, und sagte, dass er nur der Bote sei und impfte ihr so eine erste Erinnerung an ihn. Allein, dass der Zettel noch existierte, verwunderte Hansen etwas, doch er rührte nicht weiter in diesen Gedanken herum, sondern las sich dieses stümperhafte Gedicht nach vielen Jahren erneut durch.

Die Nachttischlampe

Unter einer Nachttischlampe schrieb ich

diesen Vers für Sie.

Es war so finster in meinem Zimmer

wie wohl in Ihrem Herz.

So leuchtet die Nachttischlampe heller,

als Deine Seele,

Du Nachtischschlampe.

Hansen lachte auf, denn so schlecht war das Wortspiel wiederum nicht, inhaltlich jedoch einfach nur dümmlich und beschämend frivol. Ihm schmerzte hauchvoll die Brust, ihr würde es glücklicherweise nicht mehr weh tun. Hansen hatte sich schon viel eher als sein Kamerad in diese Frau verliebt. Doch Hansen war kein räudiger Hund gewesen. Er war eben ein Fuchs und wartete bis der Hund den Schwanz eingezogen hatte. Und Hansen spürte immer noch die Wut in ihm, die ihn fast dazu gebracht hatte seinem Kollegen aufgrund des Sprüchleins eine Faust ins Gesicht zu schlagen. Nun war alles anders. Im Alter wurden Erlebnisse zu Episoden über die man lachte, denn eins war klar, man war damals nicht daran gestorben, so würde es heute auch nicht passieren.

Hansen legte den Zettel auf das Nachtschränkchen und nahm das Buch. Ein paar Seiten wollte er lesen. Doch als er die erste Seite umblätterte, fiel eine andere Erinnerung aus dem Buch. Hansen sah nun einen Brief in seinem Schoß liegen. Den kannte er nicht. Er klappte das Buch zu und legte es zurück auf den Nachttischschrank, dann starrte er auf den Brief. Hansen begann zu zittern, denn es machte ihn immer nervös, wenn er bei seiner Frau etwas fand, was er nicht kannte.

Das kam recht selten vor, aber in letzter Zeit häufte es sich, dass er auf Dinge stieß, die ihm seine Frau vorenthalten hatte. Mit Absicht oder ohne, dass wusste Hansen nicht. Es waren meist auch keine schlimmen Sachen, sondern eher Hinweise dafür, dass sie wohl noch mehr als Mensch zu bieten hatte, als nur seine Frau zu sein.

Hansen hatte zuletzt eine Mappe mit Aktzeichnungen seiner Frau gefunden. Die Sammlung war nicht irgendwo versteckt gewesen. Sie lag in einer Schublade des alten Sekretärs im Wohnzimmer. Die Bilder waren chronologisch angefertigt bzw. geordnet worden. Jedes Jahr eins, dachte Hansen, als er an die Mappe dachte. Er stürzte aus dem Bett und holte sie.

Sie waren wirklich schön, die Zeichnungen, seine Frau war schön, selbst in den Winterjahren. Bei den Bildern aus den Frühlings- und Sommerjahren klopfte Hansens Herz besonders und mit einem Male vermisste er sie vor allem körperlich. Die Gedanken an sie konnte man konservieren, alles Physische jedoch blieb für immer verschwunden. Hansen weinte. Er legte sich auf die Bettseite seiner Frau und versuchte liegen gebliebene Atome von ihr zu finden. Aber da war nichts und Hansen schlief schmerzertrunken ein, während der vergangene Tag umgeblättert wurde.

Old Hansen oder 7 Tage eines Mannes aus der Nachbarschaft

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