Читать книгу Bei der Laterne wolln wir stehn - Hubert K. - Страница 3

Оглавление

Kapitel 1

Den Widerstand der deutschen Wehrmacht hatte sie sich anders vorgestellt. Als am 20. April 1945, ausgerechnet am Geburtstag des Führers, die Franzosen ins Dorf kamen, war von einer Gegenwehr nichts mehr zu sehen. Sie hatte sich noch überlegt, ob sie sich mit den beiden Kindern verstecken sollte. Im Luftschutzkeller oder zumindest im Keller ihres Hauses. Ob sie irgendwann mit erhobenen Händen herauskommen würde, oder ob sie besser am Straßenrand stehen und eine weiße Fahne schwenken sollte.

Der Gedanke daran war ihr unheimlich. Wer weiß, wie die Franzosen reagieren würden. Sie fragte sich, ob sie einfach darauf los schießen würden. Auf alles, was sich bewegt und sich nicht in Sicherheit gebracht hatte. Oder ob sie die Frauen und Kinder am Rathaus in der Ortsmitte zusammentreiben und alle Männer erst einmal einsperren würden.

Wobei gar nicht mehr so viele Männer im Dorf waren. Außer den alten waren die meisten an der Front oder bereits gefallen. Auch Richard, ihr eigener Mann, war seit Jahren Soldat. Zunächst in Frankreich, dann in Russland. Und dort mittlerweile in Gefangenschaft. Sie konnte sich nicht einmal sicher sein, ob er noch lebte. Nun war sie mit Kurt und Karla alleine zurückgeblieben. Abgesehen von einigen Verwandten ihres Mannes sowie dessen Bruder Robert, der in der Ortsmitte im Haus ihrer Schwiegereltern wohnte.

Es war ein kleines Dorf im Südwesten von Deutschland mit nicht einmal 500 Einwohnern. Die Menschen hier lebten von der Landwirtschaft oder arbeiteten etwa fünf Kilometer entfernt in der Stadt. In den Fabriken, die nun Munition oder andere kriegswichtige Dinge produzierten. Richard war Schlosser und hatte früher in der Gießkannenfabrik gearbeitet. Dort wurden mittlerweile Patronenhülsen hergestellt.

Der Ort war den Franzosen schutzlos ausgeliefert. Die deutschen Soldaten und selbst der Volkssturm hatten sich längst zurückgezogen und waren wohl weiter in östliche Richtung gegangen. Wahrscheinlich war das Dorf es nicht wert, dass man darum kämpfte. Mit Sicherheit waren die Fabriken in der Stadt strategisch wichtiger. Sie war davon überzeugt, dass alles seinen Grund hatte und die deutschen Soldaten den Ort nicht grundlos aufgegeben hatten.

Noch bevor die ersten französischen Panzer an der Kirche vorbei die Hauptstraße herunter kamen, konnte man ihre Motoren schon von weitem hören. Die Kirche stand auf dem Hügel, der nach Westen lag und hinter dem gerade die Sonne unterging. Es war ein Bild, das sie immer sehr genossen hatte, doch an diesem Tag bemerkte sie nichts davon.

Das laute Dröhnen der Panzer klang bedrohlich und schmerzte in ihren Ohren. Sie wollte davonlaufen und stand doch da wie gelähmt. Sie wollte die Kinder auf den Arm nehmen und nach Hause rennen. Doch sie blieb wie angewurzelt stehen und sah die grauen Ungetüme langsam die Straße herunter kommen.

Kurt, mittlerweile bereits fünf Jahre alt, schaute gebannt und beinahe fasziniert auf die beiden Panzer und auf die drei Jeeps, die einige Meter dahinter im Schritttempo in den Ort hereinkamen. Sie hatte ihn an der Hand und bemerkte, wie er sich los reißen wollte. Die Kraft, die sie aufwenden musste, um ihn festzuhalten, lenkte sie tatsächlich etwas davon ab, sich auf ihre eigene Angst zu konzentrieren.

Mit der anderen Hand hielt sie Karla auf dem Arm. Mit ihren knapp drei Jahren war die Kleine auf Dauer ungewöhnlich schwer und es machte ihr Mühe, mit ihrer Tochter auf dem Arm nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Karla hatte sich an ihre Schulter gelehnt und wusste wohl nicht so recht, wie sie die Situation einschätzen sollte. Ihr selbst ging es genauso und sie stand da und wartete, was als nächstes geschehen würde.

Die Panzer und Geländewagen waren am Rathaus angekommen und blieben unvermittelt stehen. Die Fahrzeuge waren denen der Wehrmacht sehr ähnlich, die vor einigen Tagen durch den Ort gekommen waren. Von der Besatzung der beiden Panzer war nichts zu sehen, auf den offenen Jeeps saßen jeweils vier Soldaten, die ihre Gewehre in den Händen hielten und einigermaßen gelassen wirkten.

Anscheinend waren die Franzosen darauf vorbereitet, auf keinen Widerstand mehr zu stoßen. Einer der Geländewagen hatte seitlich ein Megaphon, aus dem, für sie völlig überraschend, plötzlich eine Stimme in schlechtem Deutsch zu hören war: “Deutsche Bevölkerung. Hier spricht die französische Armee. Wir sind gekommen, um Sie von der Herrschaft der Nationalsozialisten zu befreien.”

Neben ihr waren außer einigen älteren Männern auch andere Frauen, die ebenfalls ihre Kinder oder einen mit Wäsche beladenen Leiterwagen in der Hand hielten. Sie alle standen da und machten keine Anstalten, irgendetwas zu unternehmen. Wieder war die Stimme aus dem Lautsprecher zu hören, die mit französischem Akzent versicherte: “Bitte leisten Sie keinen Widerstand, dann geschieht Ihnen nichts. Wir werden Ruhe und Ordnung wieder herstellen”.

Spontan fragte sie sich, wieso Ruhe und Ordnung wieder hergestellt werden müssten. Abgesehen davon, dass Richard in Russland gefangen war, ging hier bis dahin eigentlich alles seinen gewohnten Gang. Sie schaute fragend zu den anderen hinüber, die mit regungslosen Gesichtern dastanden und nach wie vor ohne jegliche Reaktion auf die französischen Soldaten starrten.

In der Zwischenzeit waren weitere Jeeps und auch zwei Lkw im Dorf angekommen. Die Fahrzeuge hatten Mühe, die Kolonne zu verlassen und sich auf dem Platz in der Ortsmitte zu sammeln. Ihr war die Hauptstraße nie so schmal vorgekommen, doch die nächsten Minuten waren geprägt davon, dass die Lkw hin und her rangierten und ihren anscheinend vorgesehenen Platz bezogen.

Von den Ladeflächen der beiden Lkw sprangen etwa zehn Soldaten, zumeist sogenannte Marokkaner, die gemeinsam mit zweien der Geländewagen in die Schulstraße einbogen. Sie hatten wohl vor, auch dort ihre Ankunft mitzuteilen und für “Ruhe und Ordnung” zu sorgen. Durch die entstandene Unruhe schienen einige der Dorfbewohner ihre Furcht verloren zu haben und begannen, sich leise und unauffällig miteinander zu unterhalten.

Kurt und Karla waren erstaunlich still und stellten keinerlei Fragen. Fragen, auf die auch sie keine Antwort gehabt und die sie selbst gerne wem auch immer gestellt hätte. Auch die anderen Kinder schienen sehr beeindruckt und blieben an der Hand ihrer Mütter. Es war wohl für jeden einzelnen, ob Mutter oder Kind, das erste Mal, dass französische Soldaten oder auch Menschen mit dunkler Hautfarbe vor ihnen standen.

Mittlerweile hatte sie Karla vom Arm genommen und hielt sie nun an der Hand. Auch Kurt stand brav neben ihr und versuchte nicht mehr, sich loszureißen. Mit seinen wachen, blauen Augen schaute er umher und bemühte sich wohl, die Lage zu beurteilen. Plötzlich kam auch sie sich vor wie ein Kind, das etwas nicht verstand und bei dem keiner in der Nähe war, der es ihm hätte erklären können.

Ein weiteres Mal war die Stimme aus dem Megaphon zu hören: “Bitte geben Sie Ihre Waffen ab. Wenn Sie uns unterstützen, wird Ihnen nichts geschehen.” Sie hatte keine Waffen, die sie hätte abgeben können. Lediglich ihr Schwager Robert hatte noch das alte Gewehr des Schwiegervaters, das im Schlafzimmer neben dem Schrank an der Wand lehnte. Er schien im Haus geblieben zu sein, stand wahrscheinlich am Fenster und überlegte genauso wie sie, wie er sich am besten verhalten sollte.

Die Franzosen verhängten eine Ausgangssperre bis zum nächsten Morgen. Weil die Mannschaftsdienstgrade nun anfingen, einige junge Frauen zu belästigen, hatte sie es sehr eilig, mit den Kindern nach Hause zu kommen. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, warum sie ins Dorf gekommen war. Sie hatte im Backhaus Brot gebacken und wagte es tatsächlich noch, vor dem Nachhause gehen die beiden mittlerweile etwas angebrannten Laibe aus dem Ofen zu holen. Daraufhin ging sie mit den Kindern die Hauptstraße entlang und, so schnell und unauffällig sie konnte, zurück nach Hause.

Sie hatte die Brotlaibe in ein Geschirrtuch eingewickelt und unter den Arm geklemmt. Karla hielt sie mit der rechten Hand, Kurt lief ruhig neben ihnen her. Sie kam am Haus der Schwiegereltern vorbei und schaute, ob sie hinter den Fensterscheiben irgendetwas erkennen konnte. Von Robert, ihrem Schwager, war jedoch nichts zu sehen. Anscheinend hatte er mitbekommen, dass nun jeder im Haus bleiben sollte.

Das alte Fachwerkhaus stand da wie immer, als ob ihm noch keiner gesagt hätte, dass nun alles anders werden würde. Dass die Welt oder das, was man hier im Dorf für die Welt hielt, nicht mehr länger so bleiben würde wie bisher. Die Geranien an den Fenstern waren kurz davor zu blühen und schienen nicht bemerkt zu haben, dass nun alles, woran die Menschen hier geglaubt hatten, schlagartig und unwiderruflich in sich zusammenbrach.

Selbst auf dem Heimweg sprachen Kurt und Karla kein Wort. Dennoch versuchte sie, die beiden und damit auch sich selbst so gut es ging zu beruhigen. Dass sie sofort zu Hause seien und es gleich etwas zu essen gebe. Dass bestimmt alles wieder gut werde und sie sich keine Sorgen machen müssten. Plötzlich meinte sie zu spüren, dass ihre Kinder darauf vertrauten, bei ihr in Sicherheit zu sein. Doch anstatt sich darüber zu freuen, trieben der Gedanke daran und das Wissen um die eigene Hilflosigkeit ihr die Tränen in die Augen.

Bei der Laterne wolln wir stehn

Подняться наверх