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1. Der Duda

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„Hey, du da, nenne mir fünf deutsche Bundesländer!“, rief Herr Zieseke, der Geografie-Lehrer. Sein Finger deutete direkt auf Dennis. Dennis wich aus. Er bog sich zur Seite. Vielleicht meinte Zieseke überhaupt nicht ihn, sondern Flora in der hinteren Reihe. Doch der Zeigefinger folgte Dennis wie eine Kompassnadel dem Nordpol. Dennis bekam einen tomatenroten Kopf. Nicht, dass Dennis fünf deutsche Bundesländer wie aus der Pistole geschossen gewusst hätte. Nein, sicher nicht, aber drei wären ihm schon eingefallen. Viel mehr ärgerte Dennis, dass Zieseke seinen Namen nach zwei Monaten noch immer nicht kannte. In der alten Schule wusste Frau Bretscher die Namen aller Kinder gleich am zweiten Tag, und sie vergaß nicht einen einzigen Geburtstag.

„Du da, sag schon“, bohrte Herr Zieseke nach.

„Nennen Sie erst meinen Vornamen, dann können wir über die Bundesländer reden“, gab Dennis pampig zurück.

Dennis erschrak. Hatte er das wirklich gesagt? Am liebsten wäre er im Boden versunken und nie wieder aufgetaucht. Welcher Teufel hatte ihn da geritten?

Die fünfte Klasse war nie besonders ruhig, schon gar nicht in Geografie. Aber jetzt erstarrten alle wie schockgefroren. Niemand bewegte sich. Keiner blätterte in seinem Heft. Nicht ein einziger Papierflieger segelte durchs Klassenzimmer. Kein Atemzug war zu hören.

Nur Herr Zieseke sog die Luft durch die Zähne, dass es pfiff. Mit knarzenden Schuhen schritt er auf Dennis zu. Noch einen Augenblick kostete Herr Zieseke die Stille aus. Dann bellte er: „So eine Unverschämtheit ist mir noch nie untergekommen, so wahr ich Zieseke heiße. Bis zur nächsten Stunde schreibst du alle sechzehn Bundesländer auf. Und zwar jedes fünfzig Mal. Hast du mich verstanden, du da?“ Herr Zieseke drehte ab und schritt in aller Ruhe zum Pult.

Fünfzig Mal? Das war Wahnsinn. Dennis zitterte vor Wut. Sein Kopf dröhnte. Ohne vom Tisch aufzusehen murmelte er ganz leise: „Blödmann.“ Doch er hatte die Stille unterschätzt.

Herr Zieseke zuckte zusammen und fauchte wie ein angeschossener Löwe: „Du da, das habe ich ganz genau gehört. Einhundert Mal. Du schreibst jedes Bundesland einhundert Mal auf.“

Die Klasse verharrte mucksmäuschenstill.

Herr Zieseke schritt die Reihen ab. „Wer möchte sich dem da anschließen?“, rief er in scheinbar bester Laune und deutete mit dem Daumen lässig über seine Schulter - dorthin, wo Dennis saß.

Keiner muckste. Selbst Kalle, der sonst nie ein Blatt vor den Mund nahm, saß wie versteinert auf seinem Stuhl.

„Na also. Es geht doch. Ein bisschen Disziplin und Ordnung sind das halbe Leben“, sagte Herr Zieseke und nahm ein Stück Kreide in die Hand.

Dennis sackte in sich zusammen. Hundert Mal sechzehn Bundesländer ergab eintausendsechshundert Wörter. Wenn man die Länder mit den Doppelnamen wie Schleswig-Holstein als zwei Wörter zählte, waren es noch viel mehr. Dafür würde er den ganzen Nachmittag brauchen. Ausgerechnet heute, wo er die anderen im Skatepark treffen wollte. Das konnte er sich jetzt komplett abschminken.

Dennis hörte nicht einmal den Schulgong, so sehr kreisten seine Gedanken um die ungerechte Strafe. Er fühlte sich wie in einem Wattenebel. Umständlich stopfte er die Bücher in seine Schultasche.

Auf dem Heimweg schlug Guntram vor, dass er die Hälfte der Worte übernehmen würde. Dennis' Last schien sich für einen Augenblick zu halbieren, doch dann winkte er ab: „Du hast eine andere Schrift. Der Zieseke merkt so etwas. Das ist zu gefährlich. Sonst lässt er mich weltweit alle Städte tausend Mal aufschreiben.“

„Das sind aber viele“, schluckte Guntram erschrocken.

Zu Hause pfefferte Dennis seinen Schulranzen in die Ecke. Jetzt konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken.

„Mama, die neue Schule ist total bescheuert“, beschwerte er sich bei seiner Mutter. Und dann erzählte er, was passiert war. Fast alles. Nur das mit dem Blödmann erwähnte er nicht. Über so ein Detail würde sich seine Mutter höchstens aufregen.

Frau Blauberg zog die Augenbrauen zusammen und machte eine dicke Falte auf der Stirn: „Da ist Herr Zieseke aber zu weit gegangen. Den werde ich mir kaufen.“ Sie wischte ihre Hände am Geschirrhandtuch ab und warf es wütend Richtung Spüle. „Mit diesem Herrn Geografie-Lehrer werde ich gleich einen Termin ausmachen.“

Dennis erschrak. Um Himmels willen, nein. Das würde alles noch viel schlimmer machen. „Mama, das ist nicht nötig“, versuchte er seine Mutter zu beschwichtigen. „Damit komme ich schon alleine klar.“

Und plötzlich hatte Dennis das Gefühl, dass er diese Kleinigkeit mit dem Blödmann doch hätte erwähnen sollen. Aber irgendwie passte das jetzt nicht. Er würde es später nachholen.

Dennis setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, die Bundesländer aufzuschreiben. Es dauerte, bis er alle sechzehn ein einziges Mal aufgeschrieben hatte. Einhundert Mal, das war doch Wahnsinn! Und dann stellte er auch noch fest, dass er Baden-Württemberg und Thüringen falsch geschrieben hatte. Konnte man Thüringen nicht auch ohne h schreiben, genau wie Tür? Aber das würde der Zieseke ihm nie durchgehen lassen. Diese rasende Ungerechtigkeit! Warum durfte ein Lehrer das? Tränen schossen Dennis in die Augen. Eine tropfte herab. Mitten auf Bayern. Und Bayern verschmierte zu einem großen blauen Fleck, als wäre es der Chiemsee. Wütend riss Dennis das Papier vom Block und zerknüllte es. Er schnappte sich ein Kissen vom Bett und kickte es durchs Zimmer. Immer wieder. Bis das Regal schepperte. Sein Globus stürzte vom Schreibtisch und der Sockel brach ab. „Geschieht ihm ganz recht“, fauchte Dennis. Diese bescheuerte Geografie!

Frau Blauberg steckte ihren Kopf zur Tür herein. „Dennis!“, sagte sie in vorwurfsvollem Ton.

Jetzt fiel ihm Mama auch noch in den Rücken.

Doch dann lächelte Frau Blauberg und meinte: „Es nützt doch nichts, wenn du dich so aufregst. Setz dich hin und fang einfach an. Vielleicht schreibst du die Bundesländer heute fünfundzwanzig Mal auf und morgen sehen wir weiter. Ich backe jetzt einen Apfelkuchen. Du weißt schon, das Rezept von Oma.“

Dennis nickte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als er an den köstlichen Oma-Apfelkuchen dachte. Er schniefte und wischte mit einem Taschentuch übers Gesicht. Dann nahm er ein neues Blatt Papier und einen Bleistift und begann. Fünfunfzwanzig Mal schrieb er das Wort Bayern und dann Bremen. Zuerst die kurzen Bundesländer, hatte er sich überlegt.

Am Abend hatte sich seine Laune dank des Apfelkuchens merklich gebessert. Und der nächste Schultag war auch in Ordnung, da hatten sie keine Geografie.

Doch als Dennis am nächsten Mittag nach Hause kam, machte seine Mutter so ein merkwürdiges Gesicht. Nach süßsaurem Kürbis sah sie aus. Ziemlich ungenießbar.

„Was ist los?“, fragte Dennis.

„Mein Sohn, wir müssen miteinander reden. Setzen wir uns an den Küchentisch.“

Dennis hatte ein mulmiges Gefühl. Diese Gespräche am Küchentisch führte seine Mutter nur, wenn es um furchtbar wichtige Dinge ging. Und seit wann nannte sie ihn mein Sohn? Dennis hockte sich auf die Stuhlkante. Verkrampft saß er da. Sein Magen klumpte, als hätte er einen ganzen Topf Käsefondue alleine gegessen.

Frau Blauberg schob ihre Lesebrille auf die Nase, obwohl sie gar nichts vorlesen wollte. Ernst blickte sie über den Brillenrand und sagte: „Dennis, ich erwarte von dir, dass du mir die Wahrheit erzählst.“

„Mach ich doch“, antwortete Dennis bockig. Er hatte keine Ahnung worauf seine Mutter hinauswollte.

„Ich war heute Vormittag in deiner Schule“, sagte sie, und ohne die Mundwinkel auch nur einen Millimeter zu verziehen fuhr sie fort: „Ich hatte ein Gespräch mit Herrn Zieseke.“

„Aber das solltest du nicht“, sagte Dennis. Und dann fiel ihm wieder diese Kleinigkeit ein, die er vergessen hatte seiner Mutter zu erzählen.

Frau Blauberg hielt das offenbar nicht für eine Kleinigkeit. Sie brauste auf: „Da hab' ich mich aber schön blamiert bei deinem Herrn Zieseke. Blödmann hast du ihn genannt.“

Dennis lief knallrot an. Jetzt war die Kleinigkeit wenigstens heraus. „Ich wollte es dir noch sagen, Mama. Gestern habe ich es einfach vergessen.“ Dennis hatte ein schlechtes Gewissen, aber irgendwie war er auch wütend auf den Zieseke und regte sich auf: „Mama, der Zieseke will, dass wir alle Bundesländer auswendig können und kennt noch nicht einmal meinen Namen.“

Frau Blauberg setzte ihre Lesebrille wieder ab und sah längst nicht mehr so ärgerlich aus. Sie strich Dennis über den Kopf und sagte: „Ich will dir doch helfen. Alles was ich von dir erwarte, ist Ehrlichkeit.“

Dennis nickte und schob ein trotziges Aber hinterher. Frau Blauberg legte ihm den Zeigefinger auf den Mund und sagte: „So übel ist Herr Zieseke gar nicht. Der arme Mann unterrichtet über hundert Schüler. Er tut sich einfach wahnsinnig schwer, alle Namen und Gesichter zu lernen. Er hat mir versprochen, sich zu bemühen.“

Dennis grummelte.

Und Frau Blauberg lächelte schon wieder, als sie verkündete: „Ich habe mit Herrn Zieseke verhandelt. Es genügt, wenn du alle Bundesländer fünfundzwanzig Mal aufschreibst.“

„Danke“, murmelte Dennis. „Dann habe ich die Strafarbeit wenigstens schon erledigt.“ Trotzdem blieb so ein mulmiges Gefühl.

Am nächsten Morgen begann die Schule mit Geografie. Natürlich ließ sich Herr Zieseke als Erstes Dennis' Strafarbeit zeigen. Ganz genau las er sie durch und zählte die Wörter.

Die Klasse war so still, dass man Herrn Ziesekes Finger über das Papier fahren hörte.

Ob es wieder ein Donnerwetter geben würde?

Herr Zieseke sah auf Dennis herab. Er machte seinen Mund ganz dünn und sagte: „Na also, geht doch.“ Dann wandte er sich an die Klasse: „Wir schreiben heute in der zweiten Stunde einen kleinen Test. Ich möchte sehen, ob ihr die Bundesländer ordentlich gelernt habt.“

Ein Stöhnen ging durch die Klasse. Herr Zieseke fuchtelte mit dem großen Lineal durch die Luft, um die Kinder zur Ruhe zu ermahnen, und begann mit dem Unterricht.

Dennis hatte sich fest vorgenommen heute besonders gut zuzuhören. Aber so richtig gelang ihm das nicht. Es war so langweilig. Herr Zieseke schritt die Fensterreihe ab. Wie immer trug er einen dunkelbraunen Cordanzug. So einen mit aufgenähten Lederflicken an den Ellenbogen. Dennis fand das lächerlich. Herr Zieseke hatte seine Ärmel bestimmt nicht aufgewetzt.

Da beugte sich Guntram zu Dennis hinüber und flüsterte: „Ziesekes Cordhose ist an den Knien ganz ausgebeult. Ob er dort auch bald Lederflicken aufnäht?“

Dennis musste kichern, so sehr er sich auch auf die Lippe biss.

Wie ein Nashorn walzte Herr Zieseke auf Dennis zu. Sein Zeigefinger ragte aus dem Cordsakko. Er schien Dennis fast zu durchbohren.

„Du da, was habe ich gerade gesagt?“, schnauzte er Dennis an. Dennis zitterte vor Wut und schnaubte. Herr Zieseke sprach ihn immer noch nicht mit Namen an!

Das Schnauben schien Herrn Zieseke zu verwirren. Für den Augenblick ließ er von Dennis ab und fuhr mit dem Unterricht fort. Er erzählte irgendetwas von Endmoränen und der Eiszeit. Mann, war das langweilig. Dennis kochte vor Wut auf den Zieseke.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönte der Pausengong. Alle Kinder drängten nach draußen, so schnell sie nur konnten.

„Seid pünktlich zurück“, mahnte Herr Zieseke, damit wir unseren kleinen Test schreiben können. „Vielleicht wollt ihr die Bundesländer in der Pause noch einmal wiederholen.“

Im Pausenhof stand die ganze Klasse so dicht zusammen wie sonst nie. Keiner fehlte.

„Der Zieseke ist wirklich ein Idiot“, schimpfte Kalle, „eine Frechheit, wie er Dennis behandelt.“

Eddie und Bruno nickten.

„Meinen Namen kennt er auch nicht“, meldete sich Flora.

Da drängelte sich Guntram in die Mitte. „Ich glaube, ich hab' da so eine Idee“, sagte er und wedelte mit seinem dunkelgrünen Samtumhang.

Dennis schöpfte Hoffnung und deutete auf Guntrams Zauberstab.

Guntram schüttelte den Kopf. „Den brauchen wir nicht“, sagte er. „Ich weiß, wie wir Herrn Zieseke eine kleine Lektion erteilen.“

Alle Kinder starrten Guntram erwartungsvoll an. Sogar Kalle spitzte die Ohren und knuffte Bruno in die Seite, er solle doch endlich still sein.

„Der Zieseke nennt alle du da“, erklärte Guntram.

„Ach nee“, fuhr Dennis genervt dazwischen.

Guntram Mempelsino von Falkenschlag räusperte sich und fuhr fort: „Wenn Herr Zieseke unbedingt möchte, heißen wir alle du da, zumindest in der nächsten Stunde.“

Niemand schien Guntram zu verstehen.

Guntram zwinkerte und sagte: „Auf den Test schreiben wir alle unseren neuen Namen: Du da. So nennt er uns schließlich.“

Bei Dennis machte es klick. Und er sah an den Gesichtern der anderen Kinder: Sie hatten es auch verstanden. Alle waren Feuer und Flamme.

Ein paar Kinder kicherten, als Herr Zieseke am Ende der nächsten Stunde die Arbeiten einsammelte. Schließlich hielt er vierundzwanzig Arbeiten von du da in den Händen. Und Herr Zieseke hatte überhaupt nichts bemerkt. Er war viel zu beschäftig damit, für Ruhe zu sorgen. Und dann rauschte er aus dem Klassenzimmer.

In der nächsten Woche zitterte Dennis genau wie alle anderen Fünftklässler vor der Geografie-Stunde. Vielleicht hatten sie es doch übertrieben?

Herrn Ziesekes Schuhe knarzten, als er das Klassenzimmer betrat. Es war totenstill. Dennis starrte auf seinen Tisch. Niemand wagte, Herrn Zieseke anzusehen.

Herr Zieseke donnerte seine Aktentasche aufs Pult, und dann fing er an, laut zu lachen. Noch nie hatte Dennis Herrn Zieseke lachen gehört. „Kinder, da habt ihr mich ganz schön an der Nase herumgeführt. Einen Spiegel habt ihr mir vorgehalten, so hat sich meine Frau ausgedrückt. Sie meinte, ich muss mich bei euch entschuldigen und schleunigst eure Namen lernen.“

Herr Zieseke ging durch die Reihen und sagte: „Es tut mir leid, Andrea, Jana, Michael, Sebastian.“ Dennis zitterte, als Herr Zieseke vor ihm stand und zum ersten Mal seinen Namen aussprach: „Entschuldigung, Dennis.“

Dennis grinste und Guntram stieß ihn freundschaftlich in die Rippen. „Manchmal geht es auch ganz ohne Zaubern“, flüsterte er.

Dennis & Guntram – Zaubern für Helden

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