Читать книгу Die freudlose Gasse - Hugo Bettauer, Hugo Bettauer - Страница 8
5. Kapitel.
ОглавлениеDie gute Frau Greifer.
Als Grete den dunklen, niedrigen Hausflur betrat, von dem aus eine Türe zu Frau Greifer führte, kamen ihr zwei junge, elegant gekleidete, grell geschminkte Mädchen entgegen, die sich von der Schneiderin eben verabschiedet hatten. Frau Greifer rief ihnen noch nach, sie mögen ja vor zehn Uhr kommen, dann erblickte sie Grete und ließ sie eintreten. Das Zimmer, das man vom Korridor betrat, entsprach ganz den Vorstellungen von einer vorstädtischen Schneiderwerkstätte. Ein großer gehobelter Tisch, zwei Nähmaschinen, eine wackelige Kleiderpuppe, Schnittmuster und Modejournale auf dem Tisch und einer Stellage.
Frau Greifers dicker, kurzer Leib quoll fast aus dem geblümten Schlafrock heraus, das rosige, verfettete Gesicht der etwa vierzigjährigen Frau schien aus vier Etagen zu bestehen, die von der niedrigen Stirne, der Partie bis zum Mund, in der eine winzige Nase wie ein Korkpfropfen saß, dem runden Kinn und dem wabbeligen Doppelkinn bestanden. Die fleischigen, kurzen Finger waren mit Ringen bedeckt, die grauen, im Fett versunkenen Augen flackerten scharf und unruhig hin und her, im ersten Augenblick konnte man Frau Greifer für ein harmloses, molliges Wiener Weiberl halten, bei näherer Betrachtung schwand dieser günstige Eindruck, verbreitete die kugelrunde Dame eine Atmosphäre von Gemeinheit und dunkler Vergangenheit.
Man munkelte in dem Haus mit den drei Höfen und der Nachbarschaft allerlei über Frau Greifer, erzählte von nächtlichen Gelagen, bei denen es hoch hergehen sollte, wußte aber nichts Genaues. Konnte auch nichts wissen, da die Chronik der Wiener Häuser, die Hausmeistersleute, nichts berichtete. Ob es wahr war, daß der Hausbesorger und seine Frau für ihre Diskretion ganz erhebliche Summen erhielten, ließ sich nicht kontrollieren. Sehr zustatten mußte der Frau Greifer die Lage ihrer Wohnung kommen.
Es war die einzige Wohnung im dritten Hof, ihr gegenüber lag nur eine elektrotechnische Werkstatt, die abends um fünf Uhr geschlossen wurde. Und außerdem führte das letzte der sechs Zimmer, aus denen die Wohnung bestand, in einen kleinen Laden, der tagsüber von einem wenig in Anspruch genommenen Dienstvermittlungsbureau okkupiert war. Daß die Inhaberin dieses Vermittlungsbureaus, ein kleines, buckliges Frauenzimmer, die Nichte der Greifer war und bei ihr wohnte, konnte man als besonders günstigen Umstand bewerten. Der Laden ging aber nicht in die Melchiorgasse hinaus, sondern führte in ein die Melchiorgasse schneidendes Sackgäßchen, und sein Gegenüber bildete eine Feuermauer. Die Situation gestaltete sich also dermaßen, daß man die umfangreiche Wohnung der Schneiderin sowohl vom Hof 3 des Hauses Melchiorgasse 56, als auch von dem kleinen Laden in dem Quergäßchen betreten konnte.
Frau Greifer begrüßte Grete Rumfort überaus herzlich.
„Jessas, Fräulein von Rumfort, daß Sie sich auch einmal wieder blicken lassen!“ Und mit einem schätzenden, entkleidenden Kennerblick:
„Schön sind Sie geworden, Fräulein, ordentlich eine Bohthö! Das feine Gesichterl und die Figur, akkurat wie eine Prinzessin! Und die Fußerln! Die Männer müssen ja urdentlich narrisch wer’n, wann’s hinter Ihnern hergehen. In der ganzen Melchiorgassen gibt’s so was Feines und Schönes nit mehr! Wer mer halt ein schönes Winterkostüm für das Freiln machen, was?“
Grete wehrte errötend ab.
„Dazu habe ich kein Geld, Frau Greifer. Ich bin nur gekommen, um Ihnen die fünfzigtausend Kronen zurückzugeben, die ich Ihnen noch vom Vorjahr, als Sie uns die Trauersachen gemacht haben, schuldig bin.“
„Aber, Fräulein Grete, hab’ ich Sie gemahnt? Reden wir nicht von den paar lumpigen Kronen. Und von wegen kein Geld haben: Sie können mir zahlen, wann Sie wollen. Eine Dame, die was so aussieht wie Sie, die braucht sich um Geld nicht zu sorgen. In dem Fahnderl können S’ ja gar net mehr umanandergeh’n.“
Grete nickte traurig.
„Da haben Sie schon recht, Frau Greifer, aber es ist nicht möglich, ich muß ja von dem Hungerlohn, den ich bekomme, die Mutter, den Großvater und die zwei Geschwister erhalten. Ich weiß ohnedies nicht mehr, wie das weitergehen soll.“
Eine grenzenlose Müdigkeit und Widerstandslosigkeit überfiel Grete plötzlich, sie begann bitterlich zu weinen und stoßweise kam aus ihr heraus, was sie bedrückte und quälte.
Frau Greifer war ganz Mitleid, ehrliches Mitleid sogar. Sie streichelte die feinen, schmalen Hände des Mädchens und bat mütterlich-zärtlich:
„Net weinen, Freiln, verderben S’ sich die blauen Guckerln net! So ein schönes, junges Mädel wie Sie darf nur net dumm sein, dann wird S’ schon noch das große Los ziehen. Und jetzt werde ich die Henriette rufen, daß sie die Muster bringt und Maß nimmt und wegen dem Geld brauchen S’ Ihnern keine Sorgen net zu machen.“
Grete trocknete die Tränen. Die Sehnsucht nach einem neuen Kleid überkam sie mit einer Heftigkeit, die alle Bedenken fortriß. Lebensmut überströmte sie und wie von weiter Ferne summten ihr die Worte „nur net dumm sein“, diese lockenden, verführerischen Worte, die ihr Männer und Frauen täglich zuflüsterten, in den Ohren.
Groß, stattlich, vollbusig stand die eigentliche Leiterin des Schneiderateliers, Fräulein Henriette, die ebenfalls zu den Wohnungsinsassinen gehörte, im Zimmer. Halb spöttisch, halb bewundernd musterte sie das schöne, gertenschlanke, blonde Mädchen und erklärte dann dezidiert:
„Ich habe hier einen dunkelgrünen Velour, dazu lichtgraue Persianerverbrämung, das wird dem Fräulein am besten stehen. Aber das Fräulein kann diesen Hut unmöglich dazu tragen. Ich werde einen passenden besorgen.“
Frau Greifer nickte eifrig.
„Und graue seidene Strumpferln und Wildlederhandschuhe und das Freiln wird wie eine Prinzessin aussehen. Jessas, die Schuh’, die das gnä’ Freiln anhat! Henriette, schau’ nur einmal! Nein, so was, daß so eine schöne junge Dame in so was herumgeht! Freiln von Rumfort, bitt’ schön, gehen S’ nur gleich ins Vierundfünfzigerhaus hinüber zum Wisloschill und sagen S’ ihm, er soll Ihnen auf meine Rechnung ein oder zwei Paar feine moderne Halbschuh’ machen!“
Besinnung und Bedenken brauste in Gretes Hirn auf.
„Um Himmels willen, Frau Greifer, ich werde Ihnen das ja nie zahlen können! Was fällt denn Ihnen ein? Und ich weiß gar nicht, was das alles kosten soll!“
„Tschapperl, machen S’ Ihnern nur keine Sorgen! Nur net dumm sein, nachher werd’ i schon auf meine Rechnung kommen, und Sie, Freiln Grete, werden Ihnern so viel Kleider machen lassen, wie Sie nur wollen. Schauen S’ her, da hab’ ich als Kundin eine Dame, die was jeden Monat ein Kleid bei mir machen läßt. Und sie fragt nie nach dem Preis und das Teuerste ist ihr noch zu billig. Und gestern hat ihr der Herr Direktor, von dem, was sie die Freundin ist, einen echten Biberpelz für hundert Millionen geschenkt. Und wissen S’, wer das Madel noch vor zwei Jahr’ war? An armes Hascherl, die Tochter von an Laternanzünder! In Lerchenfeld war sie Laufmadel bei einer Modistin. Durch die hab’ ich sie kennen g’lernt, na und heut’ fahrt sie nur mehr im Automobüll und sagt immer: Frau Greifer, sagt sie, Ihner allein verdank’ ich mein großes Glück. Gott wird es Ihnen noch lohnen.“
Grete hatte aufmerksam zugehört und ein Frösteln ging durch ihre Seele. Aber sie bäumte sich nicht mehr auf, ließ Fräulein Henriette Maß nehmen, sah sich im grünen Velourkostüm mit Persianer verbrämt, fühlte, wie sie weit zurückgelehnt im eigenen Auto saß und in den Ohren summte es ihr tausendfach: Nur nicht dumm sein, nur nicht dumm sein!
Mit fieberheißen Wangen eilte Grete in ihre Wohnung, übergab die Einkäufe der Mutter, die über ihr langes Ausbleiben lamentierte, rief ihr hastig zu, daß sie noch eine kleine Besorgung habe und gleich zurück sein werde und suchte dann in dem Proletarierhaus Nummer 54 den Schuster Wisloschill auf, der dort im Hochparterre Werkstatt und Wohnkammer hatte.
Es war ja wahr, mit diesen geflickten, besohlten, ausgetretenen unmodernen Schuhen, in die das Wasser von allen Seiten lief, konnte sie nicht länger gehen! Besonders nicht, wenn sie von Frau Greifer das dunkelgrüne Velourkostüm mit dem grauen Persianer und die Seidenstrümpfe bekam. Wie eine Prinzessin würde sie aussehen! Jawohl, Frau Greifer hatte es gesagt, und die kannte sich aus. Was das wohl kosten würde? Eine Million oder gar zwei oder drei? Aber daran wollte sie jetzt nicht denken, endlich einmal eine Dame sein, wie die anderen, an denen sie mitttags am Graben vorbeiging, wenn sie nach Hause zu Rüben und Kraut eilte. Und war sie nicht tausendmal schöner als diese in Pelz und Seide gehüllten Damen? Konnte sich auch nur eine von ihnen mit ihr an Schönheit und Jugend messen?
Nein, nein, nein, sie wollte nicht länger dumm sein, wollte ihren Anteil am Leben haben, wollte nicht mehr mitansehen, wie die Mutter sich zu Tode grämte, die Geschwister vor Hunger weinten und kaum noch trockenes Brot hatten!
Aber wie denn? Verkaufen würde sie sich nicht, um keinen Preis. Vielleicht an so einen Kerl, der so widerwärtig war wie dieser Wöß? Brrr! Aber waren denn alle reichen Männer abscheulich? Es gab doch junge, kluge, schlanke, gebildete, elegante unter ihnen, und wenn ein solcher sie erst liebte, dann würde er sie doch natürlich auch heiraten. Warum denn auch nicht? Sie war doch schön und jung, aus guter, ja sogar aus aristokratischer Familie und hatte fünf Gymnasialklassen mit Vorzug absolviert. Daß sie arm, bettelarm war — was konnte sie dafür? Und der reiche, feine Mann mit dem Automobil würde sie gerade deshalb noch mehr schätzen und lieben. Er würde ja der erste sein, der, für den sie sich aufgespart, ihre Mädchensehnsucht zurückgedrängt, gehungert und gefroren hatte. Ja, so würde es werden! Nur nicht dumm sein, nur nicht dumm sein!