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Mord!

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Eine Panik entstand in dem Saal. Mit einem schrillen Riß unterbrach das Orchester sein Spiel, gellende Schreie ertönten, alles drängte zu dem wie leblos auf dem Teppich liegenden Rechtsanwalt, so daß der Journalist und ein als Gast anwesender Arzt, berühmt und beliebt als erfolgreicher Bekämpfer des Kindersegens, nur mühsam zu Dr. Leid gelangen konnten. Er wurde in ein anderes Zimmer getragen, während die Gäste aufgeregte Gruppen bildeten und schreiend, gestikulierend das furchtbare Ereignis besprachen.

Frauen waren unter der Schminke sehr bleich geworden. Dunkle Treppen, Zimmer mit dicht verschlossenen Vorhängen tauchten vor ihnen auf, sie sahen sich selbst, verschleiert, angsterfüllt, mit fiebernden Nerven wie von Furien verfolgt durch schmutzige, verwahrloste Straßen eilen – – –

Und Männer sprachen jetzt im Flüsterton über die Verderbtheit der Zeit und warfen scheue, verlegene Blicke auf ihre Frauen, in denen die stumme Frage lag: "Auch du? – – –"

Rechtsanwalt Leid war in dem Schlafzimmer, in das er getragen worden war, wieder zu sich gekommen. Um ein Jahrzehnt gealtert lag er da, resigniert, schweigend, verfallen. Demel, über ihn gebeugt, sprach ihm Trost zu:

"Vielleicht täuscht du dich, vielleicht ist sie es nicht! Noch hast du keine Gewißheit."

Mit einer müden Geste wehrte Leid ab:

"Sie ist es, ich weiß es. Arme Lia, ich war doch wohl zu alt für sie, zu schwer und ernst. Sie hat Feuer und Flamme gebraucht und ich bin ein ausgebrannter Krater. Lieber Freund, geh‘ hin, sieh‘, daß ihrer Leiche kein Schmerz zugefügt wird. Ich aber fühle mich wieder ganz wohl und werde dich im Hotel Bristol, wo ich mir ein Zimmer nehmen werde, erwarten. Mein Heim betrete ich nie wieder."

Erschüttert wandte sich Demel ab, um den Wunsch des Freundes zu erfüllen. Wäre auch ohne diese Aufforderung nach der Mordstätte geeilt, denn schon regte sich der Journalist in ihm, der Zeiten- und Sittenschilderer, dem dieser Mord Symbol und Mysterium zugleich zu sein schien.

Als Otto Demel eines der für die Gäste bereitgestellten Automobile bestieg, um nach der Melchiorgasse zu fahren, drängte sich Egon Stirner an seine Seite.

"Bitte, Herr Redakteur, nehmen Sie mich mit! Ich bin so erschüttert, daß ich es gar nicht in Worten ausdrücken kann. Diese liebe, schöne, lebenslustige Frau – gestern noch habe ich mit ihr und Doktor Leid im ‚lmperial‘ gespeist und heute – nein, es ist nicht auszudenken."

Das Auto sauste schon die Währingerstraße abwärts. Gedankenlos fragte der Journalist:

"Sind Sie mit den Leids gut bekannt?"

"Mein Gott, gut bekannt? Vor ein paar Wochen, an einem schönen Septembertag, lernte ich sie in der Krieau in Gesellschaft unseres Generaldirektors und dessen Gattin kennen und bin seither noch etlichemale mit ihnen zusammengetroffen. Öfters eigentlich mit Frau Lia, die als leidenschaftliche Tänzerin nachmittags immer im Pavillon, im Tabarin oder Bristol zu treffen war. Nun, da ich auch gern tanze, verbrachte ich oft eine Stunde in ihrer Gesellschaft."

"Da würden Sie ja, falls die Ermordete wirklich mit Frau Lia identisch sein sollte, vielleicht einiges zur Eruierung des Mörders beitragen können. Der Kreis, in dem man ihn zu suchen hat, kann nicht allzu groß sein. Sicher ein Mann, äußerlich wenigstens der guten Gesellschaft angehörend, sicher einer, der, wie Sie, mit ihr getanzt hat."

Das Auto nahm scharf die Kurve in die Schwarzspanierstraße und es verging wohl eine Minute, bevor Stirner zögernd antwortete.

"Natürlich umringte immer eine ganze Schar von Männern die schöne Frau. Einige von ihnen kenne ich, viele waren Ausländer, die mir nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Und dann: Frauen pflegen ihre Geheimnisse gut zu hüten – – –"

Das Automobil war in der Melchiorgasse angelangt und hielt vor dem Haus Nr. 55, vor dem trotz der vorgerückten Nachtstunde eine große Menschenmenge angesammelt war.

Beklommen murmelte der Journalist:

"Der Polizeipräsident ist da. Ich kenne seinen Wagen. Natürlich, es handelt sich ja um einen sensationellen Fall."

Vor dem geschlossenen Haustor, das von zwei Polizisten bewacht wurde, verabschiedete sich der Bankbeamte von dem Journalisten.

"Ich habe hier ja nichts zu tun. Ich gehe ins Café Payr und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nachher einen Sprung hinein machen würden. Sie können sich denken, daß ich mehr als gespannt bin."

Demel nickte und bekam nach Vorweisung seiner Legitimation ohneweiters Einlaß in das Haus und in die Wohnung der Frau Merkel. Und schon stand er in dem Zimmer, in dem der Mord geschehen war.

Die Leiche lag auf dem Diwan und war jetzt mit einem Leintuch bedeckt, um den Tisch herum saßen der Polizeipräsident, der Chef der Sicherheitspolizei, Hofrat Schmitz, ein Protokollschreiber, der Polizeiarzt, neben dem Tisch stand zwischen zwei Detektivs Frau Merkel mit von Weinen geschwollenen Augen.

Demel begrüßte die ihm wohlbekannten Herren und sagte hastig:

"Ich komme nicht nur als Journalist, sondern auch, um vielleicht Aussagen machen zu können. Ist die Ermordete schon identifiziert?"

"Nein," erwiderte Hofrat Schmitz. "Es handelt sich zweifellos um eine Dame der großen Gesellschaft, das beweisen die kostbaren Kleider und der Pelz. Das Taschentuch der Ermordeten ist mit LL gemerkt, mehr aber wissen wir noch nicht." Demel atmete tief auf.

"Das genügt, und wenn Sie mich noch einen Blick auf die Unglückliche werfen lassen, so werde ich Ihnen sagen, wer sie ist."

Auf einen Wink des Präsidenten schlug ein Beamter das Tuch zurück. Und vor dem Journalisten lag fast nackt, nur mit einer über die Büste herabgezogenen Kombination aus durchsichtiger schwarzer Seide bekleidet, die Leiche Lia Leids. Der Mund wie zum Schrei geöffnet, die Hände zur letzten Abwehr erhoben, die feurigen Augen gebrochen, ein Bild des Jammers und Grauens und doch noch im Tode schön.

Demel senkte das Haupt vor der Leiche, faltete die Hände wie zum Gebet. Totenbleich wandte er sich wieder der Kommission zu.

"Meine Herren, die Ermordete ist Frau Lia Leid, die Gattin meines Freundes, des auch Ihnen wohlbekannten Rechtsanwaltes Doktor Heinrich Leid."

Ein Ausruf des Entsetzens entrang sich dem Präsidenten und dem Hofrat. Mit einem Blick auf den Chef der Sicherheitspolizei murmelte der Polizeipräsident:

"Das ist furchtbar! Ganz Wien wird auf sein. Wir müssen den Mörder um jeden Preis rasch entdecken." Und zu einem der Unterbeamten:

"Veranlassen Sie, daß in den Morgenstunden schon auf allen Plakatsäulen eine Belohnung von zehn Millionen Kronen als Ergreiferprämie angekündigt wird."

Demel lächelte skeptisch. Immer die alten Methoden, dachte er, das bewährte Klischee. Als wenn in diesem Fall der Mörder Spießgesellen gehabt hätte, die ihn verraten könnten! Und dann laut: "Dürfte ich bitten, mir zu sagen, was bisher festgestellt wurde?"

"Sicher, Herr Redakteur, vielleicht können Sie uns sogar manch guten Wink geben. Frau Merkel, jetzt, da Sie genug geheult haben, werden Sie wohl alles, was Sie wissen, im Zusammenhang nochmals erzählen können. Zu bemerken ist, daß Frau Merkel ein Zimmer ihrer Wohnung, die aus zwei Zimmern und Küche besteht, als Absteigequartier zu vermieten pflegt. Na, wir wollen ihr das nicht allzusehr ankreiden. Also los, Frau Merkel."

Frau Barbara Merkel, die aus den letzten Worten des Präsidenten ein gewisses Wohlwollen herausfühlte, trocknete endgültig ihre Tränen und begann weitschweifig zu erzählen, "wie sie als arme Witwe gezwungen sei, das größte Zimmer an feine Herrschaften zur gelegentlichen Benützung zu vermieten. Am letzten Sonntag habe sie nun im 'Tagblatt' annonciert und ihr hochelegantes, ungeniertes Absteigequartier vornehmen Herrschaften empfohlen. Vorgestern, also Dienstag, spät abends sei ein großer Herr gekommen, um wegen des Zimmers zu sprechen. Sie wisse nur, daß er einen Kneifer und einen schwarzen Spitzbart gehabt habe. Genau konnte sie ihn nicht sehen, da er, als sie im finsteren Vorzimmer das Licht andrehte, es selbst abgedreht und gesagt habe, er wünsche nicht gesehen zu werden."

"Das hat mich nicht gewundert," fuhr Frau Merkel fort, "denn die meisten Herrschaften, die ein Absteigequartier brauchen, tun so ängstlich. Ich habe dem Herrn dann das Zimmer gezeigt, aber er betrat es nicht, sondern besichtigte es vom dunklen Vorzimmer aus. Er hat dann gefragt, was das Zimmer koste, weil er es ganz allein für sich haben wolle, obwohl er es nur höchstens zweimal in der Woche am Nachmittag benützen werde. AIso, meine Herren, ich bin eine arme ehrbare Witwe und weil die Zeiten so teuer sind, habe ich gesagt, eine Million monatlich. Der Herr hat gleich gezahlt und von mir den Wohnungs- und Zimmerschlüssel bekommen. Ich habe ihm aber gesagt, daß er, wenn er sich nicht polizeilich anmelden wolle, mit seiner Dame immer vor Torsperre um 10 Uhr fortgehen müsse. Ich bin nämlich eine ehrbare Frau, die was keine Unanständigkeiten bei sich duldet."

Sämtliche Herren im Zimmer, vom Polizeipräsidenten bis zu den Detektivs, lächelten bei diesen Worten trotz der Tragik der Situation.

"Was also ist heute geschehen," fragte der Polizeipräsident.

"Heute, so um sieben herum, ist der Herr gekommen, ich habe ihn nicht gesehen, da er nur durch die Türspalte der Küche mit mir gesprochen hat. Er hat gesagt, seine Dame werde gleich kommen und zweimal läuten und er werde selbst öffnen und ich möge mich nicht unterstehen, hinauszuschauen. Richtig hat es bald darauf zweimal geläutet und er hat die Dame in das Zimmer geführt. Ich hab‘ durch das Schlüsselloch geschaut, weil ich doch neugierig war, aber es war im Vorzimmer dunkel und so konnte ich nichts sehen. Gegen neun Uhr ist der Herr dann weggegangen und hat durch die Türspalte in die Küche gerufen, daß die Dame sich noch ein wenig ausruhe, aber vor zehn Uhr fortgehen werde. Ich habe nun gewartet, es ist halb und dreiviertel zehn geworden und nichts hat sich gerührt. Ein paar Minuten vor zehn bin ich zu der Zimmertür hingegangen und habe geklopft, aber keine Antwort bekommen. Immer wieder habe ich geklopft und schließlich sogar mit der Faust auf die Türe geschlagen, aber es hat sich nichts gerührt. In meiner Angst bin ich dann zur Hausmeisterin gelaufen, die hat einen Polizeimann geholt und der Schlosser aus dem Nebenhaus ist gleich mitgekommen."

Frau Merkel begann wieder zu schluchzen.

"Der fremde Herr muß die Türe hinter sich abgesperrt und den Schlüssel mitgenommen haben. Der Schlosser hat aber mit einem Haken gleich öffnen können. Es war finster im Zimmer und wie ich das Licht aufgedreht habe, bin ich beinahe vor Schrecken umgefallen, denn auf dem Bett lag die Leiche."

Frau Merkel konnte nun abtreten und der Polizeipräsident gab dem Journalisten weitere Erläuterungen.

"Der Polizeiarzt, Dr. Schimmel, war gleichzeitig mit uns um halb elf Uhr hier. Bitte, Herr Doktor, sagen Sie nochmals, was Sie festgestellt haben."

Der Arzt strich seinen graumelierten Bart zurecht, nahm ein Blatt Papier, das er mit Notizen vollgekritzelt hatte, zur Hand und sagte:

"Vor mir lag die Leiche einer Frauensperson von etwa 22 bis 25 Jahren. Der Tod konnte nicht früher als vor zwei Stunden, nicht später als vor anderthalb Stunden eingetreten sein, also zwischen neun und halb zehn Uhr abends. Der Tod ist zweifellos gewaltsam durch Erdrosselung herbeigeführt worden. Eine kräftige Hand scheint ohne vorhergegangenen Kampf der Frau den Kehlkopf zerdrückt zu haben. Nach gewissen Feststellungen, die ich machen konnte und deren Richtigkeit die Obduktion der Leiche zu erweisen hat, ist der Ermordung eine Liebesumarmung vorangegangen. Das wäre alles, was ich bei oberflächlicher Untersuchung feststellen konnte."

"Welche Theorie haben die Herren?" fragte der Journalist nach einer Pause.

Hofrat Schmitz ergriff das Wort.

"Am naheliegendsten ist wohl die Vermutung, daß es sich um die Tat eines Perversen, um einen Lustmord handelt, obwohl nach den bisherigen Erfahrungen Lustmörder auf Blutvergießen ausgehen, was hier nicht der Fall ist. Auf dem Tisch hier lag das goldene Täschchen, das zweifellos Eigentum der Ermordeten ist. Da sich in ihm nur ein Spitzentuch, aber keinerlei Geldbetrag gefunden hat, ist auch die Annahme eines Raubmordes zulässig. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß eine Dame Geldbeträge in einer Höhe bei sich trägt, die einen so komplizierten und vorbereiteten Raubmord rechtfertigen würden."

Einer der Unterbeamten, ein noch junger Mensch mit intelligenten Gesichtszügen und guten Manieren, trat vor, räusperte sich und sagte:

"Gestatten die Herren, daß ich eine Bemerkung mache. Eine Dame, die so kostbare Pelze und Kleider trägt und, wie der Herr Redakteur vorhin mitteilte, eine große Abendgesellschaft hätte besuchen sollen, wird doch sicher Schmuck bei sich gehabt haben. Bei der Leiche wurde aber nicht ein einziges Schmuckstück gefunden!"

Polizeipräsident und Hofrat nickten beifällig und letzterer sagte:

"Sehr richtig, Herr Horak, gut beobachtet. Wir werden also heute noch durch das Dienstpersonal der Ermordeten feststellen müssen, was Frau Leid an Schmuck bei sich gehabt hat."

Lebhaft erklärte Demel:

"Ganz sicher ihre wunderbare Perlenschnur! Doktor Leid, der ja aus sehr reichem Hause stammt, hat sie von seiner Mutter geerbt und diese von einer Großtante, die sehr schön gewesen war und die Perlen aus England als Geschenk eines indischen Fürsten mitgebracht hatte. Vor einigen Monaten hat ein Juwelier die aus großen, erlesenen Perlen bestehende Schnur auf hunderttausend Dollar, das sind sieben Milliarden Kronen, geschätzt. Außerdem pflegte Frau Leid auch anderen sehr wertvollen Schmuck zu tragen, den ihr Gatte ihr im Verlaufe der Ehe geschenkt hat."

Der Polizeipräsident und der Chef der Sicherheitspolizei tuschelten miteinander, dann erklärte der letztere, daß nunmehr die Theorie eines Lustmordes fallen gelassen werden könne. Es müsse nur schleunigst festgestellt werden, was Frau Leid an Schmuck und Geld bei sich gehabt habe. Dies konnte bald geschehen, da inzwischen der Detektiv Horak, ohne erst einen Auftrag abzuwarten, mittels Automobils das Stubenmädchen der Frau Leid aus der Wohnung am Arenbergring hatte herbeiholen lassen. Das Mädchen, das angesichts der Leiche ihrer Herrin beinahe in Ohnmacht gefallen wäre und fassungslos zu schluchzen begann, gab, nachdem es sich ein wenig beruhigt hatte, folgendes an: Frau Lia Leid habe, als sie kurz vor sieben Uhr in einem herbeigeholten Autotaxi das Haus verließ, nicht nur die Perlenschnur, sondern auch fast ihren ganzen sonstigen Schmuck angelegt, so einen ungemein kostbaren Diamantring, einen Ring mit einem Smaragd von außerordentlicher Größe, einen Schmetterling, der aus achtzig schönen Steinen bestand, mehrere Nadeln und ein Armband, das der Herr Doktor zum Geburtstag der gnädigen Frau für dreihundert Millionen gekauft hatte. Als sie die gnädige Frau gefragt habe, ob dies nicht zu viel Schmuck auf einmal sei, habe Frau Doktor lachend erwidert: "Aber, Marie, haben Sie denn eine Ahnung, was für Protzen bei den Rosenows verkehren? Und außerdem, jemand, der mich sehr gern hat, liebt es, wenn ich viel Schmuck trage."

Die Herren wechselten bedeutungsvolle Blicke und der Chef der Sicherheitspolizei begann das Stubenmädchen einem Verhör zu unterziehen.

"Sie müssen uns die Wahrheit sagen, dürfen nichts verschweigen. Die unglückliche Frau ist von einem Schurken ermordet worden, und wir alle haben das größte Interesse, ihn zu erwischen. Es kann dabei auf jedes Wort ankommen, das Sie sagen."

Marie weinte bitterlich in ihr Taschentuch hinein. "Die arme gnä Frau, sie war immer lustig und lieb. Und der gnädige Herr, der tut mir noch mehr leid, er hat ja die gnädige Frau so sehr geliebt. Bitt‘ schön, Herr Polizeirat, fragen Sie nur, ich werde alles sagen, was ich weiß."

"Gut, das ist vernünftig. Also, haben Sie heute an Frau Leid irgend etwas Auffälliges im Benehmen bemerkt?"

"Jetzt, wo das geschehen ist, fällt mir auf, daß sich die gnädige Frau, bevor sie weggegangen ist, mehr parfümiert hat als sonst und auch mehr in Eile war. Sonst ist es ihr nicht darauf angekommen, um eine halbe Stunde zu spät in die Oper zu kommen. Aber heute hat sie sich sehr getummelt."

"Glauben Sie, daß die Dame einen größeren Geldbetrag bei sich gehabt hat?"

Marie dachte einen Augenblick nach.

"Jawohl, ganz sicher. Da unser Auto in Reparatur ist, mußte die gnädige Frau mit einem Autotaxi fahren und im letzten Augenblick hat sie noch das Täschchen geöffnet, um nachzusehen, ob sie Kleingeld habe. Ich sah dabei in der Tasche eine ganze Rolle von Fünfhunderttausendkronen-Noten."

"Und nun überlegen Sie genau: Wissen Sie, ob und mit wem Frau Leid in letzter Zeit Beziehungen unterhalten hat? Es wird Ihnen, wie ich sehe, schwer zu antworten, aber gerade das ist das Wichtigste. Frau Leid ist in einem obskuren Absteigequartier, hier in diesem Zimmer, von einem Mann ermordet worden. Dieser Mann kann nur ihr Liebhaber gewesen sein. Wissen Sie, wer da in Betracht käme?"

Wieder weinte Marie. Dann sagte sie entschlossen:

"Die arme gnädige Frau! Wenn sie unrecht getan hat, so hat sie es mit dem Leben gebüßt. Also – ich glaube nicht, daß es die gnädige Frau mit der Treue sehr ernst nahm. Ich bin, seitdem die Herrschaften geheiratet haben, also seit drei Jahren im Haus. Vor drei Jahren hat es schon angefangen. Der erste war ein russischer Ingenieur, der jetzt wieder in Moskau ist, dann später ein rumänischer Attaché. Mit dem hat es fast ein Jahr gedauert, und wie er nach Paris gegangen ist, hat die gnädige Frau sehr geweint.

Später kam dann ein ganz junger Sänger von der Volksoper oft ins Haus, Herr Kurmann. Ob sie etwas miteinander gehabt haben, weiß ich nicht, aber geküßt haben sie sich. Ich habe es selbst gesehen. Im Sommer, als die gnädige Frau nach Westerland gefahren ist, hat sie mir lachend gesagt: ‚Marie, ich bin froh, daß ich den Kurmann loswerde, er ist dumm wie ein echter Tenor. Na, und viel tüchtiger als mein Mann ist er auch gerade nicht! ‘"

Die Herren von der Polizei lächelten belustigt, Demel biß sich fast die Lippen wund. So also hatte die Frau vor ihrem Stubenmädchen über den betrogenen Gatten und den Liebhaber gesprochen! War das nicht überhaupt die moderne Moral jener Frauen, die zu rasch dem Ghetto, dem Harem, der Hörigkeit entwachsen waren! Innerlich schüttelte er sich und dachte: "Gottlob, daß ich nicht verheiratet bin!"

"Nun, und in der letzten Zeit?" drängte Hofrat Schmitz.

"Nach Westerland ist die gnädige Frau noch nach Rimini gefahren und erst vor vier Wochen zurückgekommen. In dieser Zeit wüßte ich niemand, im Haus hat keiner verkehrt und mit wem die gnädige Frau außerhalb zusammengekommen ist, kann ich natürlich nicht wissen."

"Wir werden uns den Sänger, den Kurmann, näher ansehen müssen," meinte ärgerlich der Präsident.

"Uberflüssig," warf Demel ein. "Ich kenne Kurmann persönlich, er ist ein harmloser Bursch und hat heute zum erstenmal den Stolzing in den ‚Meistersingern‘ gesungen. Die Oper dauert von sieben bis nach elf Uhr."

Es war fast ein Uhr geworden, als der Präsident die Sitzung für beendet erklärte. In den frühesten Morgenstunden würde nach Fingerspuren geforscht und eine ganze Schar der tüchtigsten Beamten losgelassen werden:

"Sie, Herr Horak, behalten die Führung!"

Demel eilte in das Café Payr, stürzte in die Telephonzelle, diktierte für sein Blatt rasch einen Bericht, der die polizeilichen Meldungen ergänzte und erzählte dann dem Bankbeamten Egon Stirner, der ungeduldig auf ihn gewartet hatte, was er erfahren, wobei er aber die von der Zofe enthüllten Liebesgeheimnisse der unglücklichen Frau nicht preisgab.

Schweigend, jeder in seine Gedanken versunken, saßen die beiden Herren noch eine Weile in dem Kaffeehaus und unwillkürlich dachte der Journalist, als er sich in dem Lokal umsah:

"Welch grauenvolle Schicksale wohl alle diese geschminkten, forciert lustigen Mädchen in sich bergen, die im Kampf um seidene Strümpfe und scheinbares Wohlleben unaufhaltsam die Lebensleiter abwärts rutschen, bis sie eines Tages im Abgrund verschwinden, im Sumpf versinken!" –

Die freudlose Gasse

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