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Der Knabenmord in Xanten

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Am Niederrhein, in nächster Nähe der holländischen Grenze, liegt, fern vom großen Weltverkehr, das kleine Städtchen Xanten. Die Bewohner des Städtchens führten im allgemeinen ein sehr beschauliches Dasein. Obwohl einige Industrie vorhanden, so waren Lohn-oder gar Klassenkämpfe in jener Gegend vollständig unbekannt. Aber auch vom Antisemitismus war in jener Gegend, in der die Bevölkerung überwiegend katholisch ist, nichts zu spüren. Die Katholiken lebten mit den wenigen Protestanten und Juden in voller Eintracht. Dieses idyllische Bild erhielt plötzlich eine vollständige Veränderung. Am 29. Juni 1891 (Peter-Paulstag) gegen 6 1/2 Uhr abends wurde in der Scheune des Stadtverordneten Küppers in Xanten die Leiche des 5 1/2jährigen katholischen Knaben Johann Hegmann entdeckt. Dem Knaben war der Hals bis zum Rückenwirbel durchschnitten. Außerdem war am Kinn eine große Schnittwunde bemerkbar. Die Leiche lag auf Spreu. Die Händchen des ermordeten Kindes waren zusammengeballt und preßten Spreu und Mohnköpfe, die in der Scheune in großen Mengen umherlagen, fest zusammen. Die Nachricht von dem Morde verbreitete sich begreiflicherweise mit Windeseile im Städtchen. Sehr bald wurde die Behauptung laut: der Knabe sei von den Juden zu rituellen Zwecken geschlachtet worden, denn die Juden haben für ihre Osterkuchen (Mazzes) Christenblut nötig. Einer der Hauptrufer war der Handelsmann, ehemalige Metzgermeister Junkermann. Dieser behauptete mit großer Entschiedenheit: es liege ein Ritual mord vor, denn einmal wisse er von seinem Sohne, »dem Doktor«, daß die Juden zu rituellen Zwecken Christenblut nötig haben und andererseits kenne er als ehemaliger Metzgermeister den Schächtschnitt ganz genau. Er habe sich das ermordete Kind angesehen, danach sei er überzeugt, daß ein Ritualmord vorliege.

Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich sofort auf den ehemaligen Schächter der Xantener jüdischen Gemeinde: Adolf Wolff Buschhoff. Dieser hatte dicht neben der Küppersschen Scheune eine Fleischhandlung. Der Ermordete, ein hübscher, munterer Knabe, wurde bereits gegen 10 1/2 Uhr vormittags vermißt. Er soll kurze Zeit vorher vor dem Buschhoffschen Laden mit anderen Kindern gespielt haben. Ein dem Trunke ergebener Mann von 68 Jahren, namens Mölders, und der zehnjährige Knabe Gerhard Heister wollten gesehen haben, daß der kleine Hegmann in den Buschhoffschen Laden gezogen worden sei. Andere Leute wollten gesehen haben, daß Frau Buschhoff und ihre Tochter Hermine den Knaben ins Haus gerufen haben. Man wollte auch gesehen haben, daß am Nachmittag des 29. Juni Hermine Buschhoff einen schweren Gegenstand, den sie in ein Tuch eingehüllt hatte, in die Küpperssche Scheune getragen habe. Ein Jude, namens Isaak, habe in einem benachbarten Garten gestanden und der Hermine durch einen Wink das Zeichen gegeben, daß sie nicht beobachtet werde. Dr. med. Steiner, der die Leiche des Ermordeten kurze Zeit nach der Auffindung untersucht, behauptete: es sei nicht soviel Blut vorhanden gewesen, als man nach Art des Schnittes hätte finden müssen. Er sei der Ansicht, in der Scheune habe nur eine Nachblutung stattgefunden, der Mord sei nicht in der Scheune geschehen. Es wurde auch behauptet: der kleine Hegmann habe dem Buschhoff einen Grabstein beschädigt. (Buschhoff beschäftigte sich auch mit der Herstellung von Grabsteinen.) Buschhoff habe deshalb den Knaben heftig geschlagen, so daß er in Starrkrampf verfallen sei. Daraufhin habe er den Knaben geschlachtet, das Blut in einem Gefäß aufgefangen und den Leichnam von seiner Tochter in die Scheune tragen lassen. Mehreren Leuten fiel auch das Benehmen Buschhoffs auf. Als die Nachricht von der Auffindung der Leiche in Xanten bekannt wurde, befand sich Buschhoff in einem Restaurant. Er soll, als er von der Auffindung der Leiche hörte, sehr erschrocken sein. Auch soll es aufgefallen sein, daß er an jenem Tage nicht so lebhaft wie sonst »diskutiert« habe. Eine Frau wollte gesehen haben, daß, als Buschhoff nach Bekanntwerden des Mordes nach Hause ging, sein dreizehnjähriger Sohn Siegmund ihm etwas ins Ohr sagte. Buschhoff soll darauf versetzt haben: »es wird ja nicht auskommen«. Diese Frau blieb auch in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht zu Kleve bei ihrer Behauptung, obwohl ihr vorgehalten wurde, daß Buschhoff sehr schwerhörig sei, so daß man ihm unmöglich etwas ins Ohr flüstern konnte. Buschhoff weigerte sich auch, in die Scheune zu gehen, in der der ermordete Knabe lag. Er gehörte nämlich dem jüdischen Priesterstamme an. Den Angehörigen dieses Stammes ist es nach den Vorschriften des Alten Testaments verboten, in einen Raum zu gehen, in dem Tote liegen. Nur wenn es sich um Blutsverwandte handelt, darf der Raum betreten werden. Die Weigerung des Buschhoff, in die Scheune zu gehen und sich den ermordeten Knaben anzusehen, wurde selbstverständlich als Schuldbewußtsein aufgefaßt. Die Behauptung, die Juden haben den Knaben zu rituellen Zwecken geschlachtet, verbreitete sich immer mehr im Städtchen, und ehe man es sich versah, war in den Straßen Xantens ein Judenkrawall ausgebrochen. Die Wohnungen und Läden der Juden wurden mit Steinen bombardiert, die Juden auf offener Straße unter Hepp-Hepp-Geschrei mißhandelt. Am schlimmsten erging es der Familie Buschhoff. Diese mußte vor der Wut des Pöbels flüchten. Der Bürgermeister mußte polizeiliche und schließlich militärische Hilfe herbeirufen. Der Vorstand der Xantener jüdischen Gemeinde ersuchte telegraphisch den Minister des Innern, auf ihre Kosten einen tüchtigen Kriminalbeamten nach Xanten zu senden, dem es vielleicht gelingen werde, den Mörder zu entdecken. Der Minister entsandte sogleich den damaligen Kriminalkommissar Wolff aus Berlin nach Xanten. Am 14. Oktober 1891 verhaftete Kriminalkommissar Wolff Buschhoff nebst Frau und Tochter. Am 20. Dezember 1891 wurden die drei Verhafteten entlassen, da sich nicht der geringste Anhalt für die Täterschaft ergab.

Im Februar 1892 wurde Buschhoff, und zwar diesmal allein, von neuem verhaftet, da Kreisphysikus Dr. Bauer (Mörs) dem Ersten Staatsanwalt Baumgard zu Kleve mitgeteilt hatte: er habe die Buschhoffschen Schächtmesser untersucht und festgestellt, daß mit dem Schächtmesser Nr. 13 der Mord geschehen sein könne.

Es wurde schließlich die Anklage wegen Mordes gegen Buschhoff erhoben. Er hatte sich vom 4. bis 14. Juli 1892 vor dem Schwurgericht zu Kleve zu verantworten. Den Vorsitz dieser Gerichtsverhandlung, die in der ganzen Kulturwelt mit größter Spannung verfolgt wurde, führte Landgerichtsdirektor Kluth. Die Anklage vertraten der damalige Oberstaatsanwalt Hamm (Köln) und der Erste Staatsanwalt Baumgard (Kleve). Die Verteidigung hatten übernommen die Rechtsanwälte Fleischhauer (Kleve), Stapper (Düsseldorf) und Gammersbach (Köln). Buschhoff bestritt mit größter Entschiedenheit, von dem Morde etwas zu wissen. Kreisphysikus Dr. Bauer bekundete: Er könne nur sagen, daß das Buschhoffsche Schächtmesser Nr. 13 geeignet sei zur Ausführung des Mordes, der Mord könne aber auch mit einem anderen Instrument ausgeführt sein. Er kenne den Schächtschnitt ganz genau. Von einem Schächtschnitt könne keine Rede sein. Es sei bei dem Ermordeten soviel Blut gefunden worden, als ein 5 1/2jähriger Knabe verlieren könne. Er habe die Überzeugung: der Fundort sei der Tatort. Kreiswundarzt Dr. Nünninghoff und die Mitglieder des Medizinalkollegiums der Rheinprovinz, Geh. Regierungs- und Medizinalrat Dr. Kirchgässer (Koblenz), Geh. Medizinalrat Dr. Pellmann (Bonn), Professor Dr. Köster (Bonn) und Geh. Medizinalrat Dr. Trendlenburg (Bonn) schlossen sich dem Gutachten des Kreisphysikus Dr. Bauer vollständig an. Geh. Regierungs- und Medizinalrat Dr. Kirchgässer bekundete: Das Medizinalkollegium der Rheinprovinz habe sehr eingehende Versuche vorgenommen und festgestellt, daß das vorgefundene Blut der Menge entsprach, die der Ermordete verloren haben müsse. Die Tat sei anscheinend von einem Menschen ausgeführt worden, der in der Messerführung nicht geübt war. Das Medizinalkollegium habe auch genaue Erhebungen angestellt, ob der Schnitt ein Schächtschnitt war, es habe sich aber nicht der geringste Anhalt dafür ergeben. Beim Schächschnitt sei es Vorschrift, daß das Messer senkrecht angesetzt werde, der Täter habe aber das Messer schräg angesetzt. Auch alle anderen Vorschriften, die beim Schächtschnitt zu beobachten seien, waren nicht vorhanden. Ebenso sei für einen Ritualmord nicht der geringste Anhalt.

Alle anderen medizinischen Sachverständigen schlossen sich diesem Gutachten vollständig an. Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Pellmann (Vorsteher einer Irrenanstalt) bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Es liege die Möglichkeit vor, daß der Mord von einem Verrückten ausgeführt worden sei.

Im Laufe der Verhandlung äußerte Dr. med. Steiner in einer Klever Restauration: Nachdem er das Gutachten der medizinischen Sachverständigen gehört, sei er auch zu der Ansicht gekommen, daß der Fundort der Tatort sei. Diese Äußerung wurde dem Verteidiger, Rechtsanwalt Fleischhauer, mitgeteilt. Auf dessen Antrag wurde Dr. Steiner nochmals aus Xanten vorgeladen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich war bei der ersten Leichenbesichtigung nicht berechtigt, die Leiche zu entkleiden. Ich hatte auch keine Zeit, den Erdboden genau zu untersuchen, mir schien es aber, als wäre wenig Blut in der Scheune gewesen. Nachdem ich jedoch von den medizinischen Sachverständigen gehört, daß soviel Blut in der Scheune war, wie ein so jugendlicher Körper nur verlieren konnte, schließe ich mich dem Gutachten der medizinischen Sachverständigen an. Ich bemerke also, ich halte den Fundort für den Tatort.

Brauchen die Juden Christenblut? Auf Ladung der Verteidigung erschien im Laufe der Verhandlung Professor Dr. Nöldecke (Straßburg, Elsaß), Professor der semitischen Sprachen an der Straßburger Universität als Sachverständiger. Vert. Rechtsanwalt Gammersbach: Die Verteidigung hat den Herrn Professor geladen, da behauptet worden ist: der Knabe sei ermordet worden, weil die Juden zu ihren rituellen Zwecken Christenblut brauchen. Der Herr Professor ist nun in der talmudischen Wissenschaft eine Autorität ersten Ranges. Ich richte deshalb die Frage an den Herrn Professor, ob in den Religionssatzungen der Juden die Blutabzapfung Andersgläubiger geboten ist? Professor Dr. Nöldecke: Der Talmud ist allerdings eine Sammlung von Gesetzen und Erklärungen vieler Jahrhunderte und in solchem Umfange, daß niemand mit voller Sicherheit sagen kann, was nicht im Talmud steht. Ich habe aber genau den Talmud nach einer solchen Stelle durchforscht und kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß eine Satzung, wonach den Juden die Blutabzapfung Andersgläubiger geboten ist, nicht im Talmud enthalten ist.

Vert. Rechtsanwalt Gammersbach: Im Jahre 1883 hat in Wien ein Prozeß Rohling wider Bloch stattgefunden. In diesem Prozeß sind Sie, Herr Professor, ebenfalls als Sachverständiger aufgetreten und haben bekundet, daß Ihnen keine Stelle in einem jüdischen Gesetzbuch bekannt sei, die von Ritualmord handelt.

Professor Dr. Nöldecke: Der bekannte Professor Rohling behauptete damals, daß wohl nicht im Talmud, aber im Sohar und Sefer Halkutim der Ritualmord vorgeschrieben sei. Wenn auch diese Bücher nicht von allen Juden anerkannt werden, so gelten sie doch bei einem Teile der Juden noch als heilig. Ich habe nun im Sohar und Sefer Halkutim nachgeforscht, aber auch nichts gefunden, was auf einen Ritualmord hindeutet. Ich kann es nur als durch und durch frivol bezeichnen, wenn man behauptet, die Juden brauchen zu rituellen Zwecken Christenblut. Ich füge hinzu, mit derselben Sicherheit, wie ich behaupten kann, im Talmud steht nichts vom Eisenbahnwesen, mit derselben Sicherheit kann ich behaupten, daß im Talmud nichts vom Ritualmord enthalten ist. Der verstorbene Professor Dr. Delitzsch in Leipzig, einer der größten Kenner des Talmud, hat die Blutbeschuldigung aufs bestimmteste widerlegt und sie auch als frivol bezeichnet. Professor Dr. Eisenmenger, der kein Judenfreund, aber ein sehr ehrlicher Charakter war, hat ebenfalls bekundet: er habe keine Stelle gefunden, die darauf hindeute, daß den Juden der Ritualmord vorgeschrieben sei.

Vert. R.-A. Gammersbach: Ist es nicht den Juden aufs strengste verboten, Blut zu genießen? Sachv.: Jawohl.

Vert.: Ist es nicht den Juden geboten, nicht einmal den Anschein zu erwecken, als ob sie Blut genießen würden?

Sachv.: Das ist richtig.

Vert.: In dem Prozeß Rohling wider Bloch wurde vom Professor Dr. Delitzsch ein Gutachten abgegeben. In diesem ist folgende Mitteilung enthalten: Ein spanischer Jude, wegen Ritualmordes angeklagt, bemerkte: »Uns Juden ist aufs strengste verboten, Tierblut zu genießen, nun sollen wir gar Menschenblut genießen. Wenn ein Jude sich während des Essens am Munde verwundet und ihm Blut auf ein Stückchen Eßware herabträufelt, so muß er das Blut abkratzen. Es ist allerdings keine Sünde, wenn er das Blut mitißt, denn es ist ja von ihm selbst, aber man soll auch nicht den Schein erwecken, als ob man Blut äße.« Diesem Gutachten des Prof. Delitzsch ist eine ganze Reihe Universitäten und christliche Talmudgelehrte, wie Lagaarde, Dillmann, Strack und auch Kardinal- Dr. Kopp in Breslau beigetreten. Der katholische Professor an der Universität zu Innsbruck, Dr. Bickel, hat die Blutbeschuldigung der Juden ebenfalls für Schwindel erklärt, er hat aber gebeten, ihn von bestimmten Gutachten zu entbinden, da er seit 20 Jahren mit Rohling befreundet sei.

Professor Dr. Nöldecke: Ich kann dies alles nur bestätigen. Ich will noch bemerken: Im Jahre 1714 wurde die theologische Fakultät der Universität Leipzig von dem Herzog Karl August aufgefordert, sich zu äußern: ob den Juden der Ritualmord vorgeschrieben sei. Die Fakultät antwortete: »In den jüdischen Religionssatzungen ist absolut nichts von Ritualmord enthalten.«

Am neunten Verhandlungstage begab sich, auf Antrag des Oberstaatsanwalts Hamm, der Gerichtshof, die Geschworenen, die Staatsanwälte und Verteidiger zwecks örtlicher Augenscheinnahme nach Xanten. Dort wurde festgestellt, daß am Tage vorher fremde Radfahrer ins Städtchen gekommen waren und das Buschhoffsche Haus vollständig demoliert hatten. Nachdem die Prozeßbeteiligten nach Kleve zurückgekehrt waren, begannen die Plädoyers.

Oberstaatsanwalt Hamm: Meine Herren Geschworenen! Der gegenwärtige Prozeß hat schon lange vor dieser Verhandlung die große Öffentlichkeit beschäftigt. Er hat zum Gegenstande einer häßlichen Hetze sozialer und politischer Parteien dienen müssen. Die behördlichen Organe, die von Amts wegen zur Führung der Untersuchung verpflichtet waren, wurden in der gemeinsten Weise angegriffen. Parteimänner und Parteiblätter haben sich nicht entblödet dem richterlichen Urteile vorzugreifen und den Versuch zu machen, durch allerlei Hetzartikel das sachliche Urteil zu trüben. Allein die große Aufmerksamkeit, mit der die Herren Geschworenen der Verhandlung gefolgt sind, gibt mir Gewähr, daß Sie sich allen Stürmen von außen unzugänglich erweisen und nur auf Grund des Ergebnisses der Verhandlung nach bester eigener Überzeugung Ihren Wahrspruch abgeben werden.

Der Oberstaatsanwalt ruft alsdann den Geschworenen in ausführlicher Weise den Gang der Verhandlung ins Gedächtnis und fuhr darauf fort: Die Verteidigung hat es für nötig gehalten, durch Ladung eines Sachverständigen zu beweisen, daß es einen Ritualmord nicht gäbe. Ich hielt dies Sachverständigengutachten für überflüssig. Es ist ja möglich, daß es Juden gibt, die Christenblut zu Heilzwecken oder rituellen Zwecken für notwendig halten. Das könnte ja möglich sein, ohne daß es im Talmud steht. Aber das kümmert uns nichts, hier liegt jedenfalls kein Ritualmord vor. Das ist festgestellt durch die medizinischen Sachverständigen, die bekundet haben, daß der Mord am Fundort geschehen ist, daß soviel Blut bei der Leiche gefunden wurde, wie diese nur verlieren konnte, daß der Halsschnitt kein Schächtschnitt gewesen und auch der Mord nicht mit einem Schächtmesser ausgeführt ist. Wie die medizinischen Sachverständigen bekundet haben, ist sofort aufs eingehendste untersucht worden, ob ein Lustmord vorliegt, hierfür haben sich aber auch keine Anhaltspunkte ergeben.

Ich komme nun zu dem Hauptpunkt, der wesentlich zur Erhebung der Anklage Veranlassung gegeben hat, es ist das die Aussage des Zeugen Mölders. Ich bemerke, daß die Staatsanwaltschaft auf dem Standpunkte steht, daß die Anklage auch dann aufrecht zu erhalten ist, wenn das Motiv des Mordes nicht nachgewiesen ist und ich muß bekennen, die Aussage des Zeugen Mölders ist auch heute bei der Ortsbesichtigung nicht erschüttert worden. Die Aussage des Zeugen Mölders steht aber auch nicht allein, zwei Knaben unterstützen sie. Da ist zunächst der Knabe Stephan Kernder. Dieser soll zu seinen Eltern gesagt haben: er habe gesehen, wie Frau Buschhoff den kleinen Hegmann in das Haus gezogen hat. Allein der Knabe Kernder hat einmal dies seinen Eltern erzählt eine volle Woche nach dem Morde, und andererseits hat sich der Knabe trotz aller Bemühungen nicht vernehmen lassen. Endlich ist zu erwägen, daß der Knabe, als ihn die Schwester des kleinen Hegmann fragte, ob er nicht wisse, wo ihr Brüderchen sei, gesagt hat: »Der ist nach den Kirschen gegangen.« Wir können auch nicht wissen, was der Knabe seinen Eltern gesagt hat und was sie selbst hinzugesetzt haben. Da wir auch den Knaben nicht selbst gehört haben, so können wir dessen Aussage kein Gewicht beilegen. Ich komme zu dem Knaben Gerhard Heister, der uns auch heute gezeigt, in welcher Stellung er auf dem Prellstein gesessen hat. Aber auch dieser Knabe hat erst zwei Wochen nach dem Morde seine Wahrnehmungen mitgeteilt, nachdem die Mölderssche Aussage längst bekannt war. Es wird deshalb auf die Aussage des Knaben Heister auch kein Gewicht zu legen sein. Aber trotzdem halte ich den Mölders für vollständig glaubwürdig. Es ist richtig, Mölders trinkt gerne Schnaps, und an dem Tage, als er das erstemal zu dem Herrn Amtsrichter ging, hatte er vielleicht schon verschiedene Schnäpse getrunken, aber an dem Vormittage, an dem er seine Wahrnehmungen machte, hatte er nur einen Schnaps getrunken. Ich muß nun bekennen, wenn der Angeklagte nicht in vollem Umfange und in überzeugendster Weise sein Alibi nachgewiesen hätte, würde ich keinen Anstand nehmen, auf Grund der Aussage des Mölders das Schuldig gegen den Angeklagten zu beantragen. Sobald festgestellt ist: der Knabe ist zuletzt in Buschhoffs Haus gewesen, dann muß Buschhoff über den Verbleib Rechenschaft geben. Ich wiederhole, dieses Moment war die Hauptveranlassung, daß gegen Buschhoff, Frau und Tochter Anklage erhoben wurde.

Die Strafkammer hat beschlossen, das Verfahren gegen Frau und Tochter einzustellen, die Staatsanwaltschaft hat deshalb Beschwerde geführt, das Oberlandesgericht diese Beschwerde aber zurückgewiesen. So ist die Anklage gegen Buschhoff allein übriggeblieben. Es steht nun fest, daß der ermordete Knabe nach 10 Uhr vormittags nicht mehr gesehen und daß die Tat in der Scheune begangen worden ist. Es kann deshalb keinem Zweifel unterliegen, daß der Knabe gleich nach 10 Uhr vormittags in der Küppersschen Fruchtscheune ermordet worden ist. Buschhoff hat aber in glaubwürdigster Weise nachgewiesen, wo er zu dieser Zeit gewesen ist, er kann mithin die Tat unmöglich begangen haben. Ich habe bereits gesagt: der Mangel eines Motivs ist es nicht, der die Staatsanwaltschaft veranlassen wird, das Nichtschuldig zu beantragen. Die Staatsanwaltschaft kann die Auffassung des Kriminalkommissars Wolff nicht teilen, wonach Buschhoff den Mord begangen haben könnte, weil ihm der Knabe einen Grabstein beschädigt habe. Dieser winzige Schaden kann den Angeklagten nicht veranlaßt haben, die Mordtat zu begehen.

Auch der Umstand, daß der Angeklagte zu dem Knaben einmal gesagt haben soll: »Du kommst in den Turm«, kann keinerlei Anhaltspunkte für ein Motiv gewähren, denn der Zeuge Wesendrup hat uns bekundet: Buschhoff habe diese Drohung nur ausgesprochen, damit ihm die Knaben die Grabsteine nicht beschädigen sollen. Da eben keinerlei Motiv vorhanden war, so wurde behauptet: es liege ein Ritualmord vor. Bei einem Ritualmord bedarf es keines weiteren Motivs, der Mörder kann ein ganz guter, braver Mann sein – ein Zeugnis, das dem Buschhoff von den meisten Zeugen ausgestellt wurde – er hat aber trotzdem den Mord begangen, weil die Juden entweder zu Heilzwecken oder zu rituellen Dingen Christenblut gebrauchen. Ich habe bereits ausgeführt, daß hierfür nicht die geringsten Anhaltspunkte vorhanden sind. Dieser Glaube wäre auch niemals entstanden, wenn Dr. Steiner nicht begutachtet hätte, es sei in der Scheune kein Blut gefunden worden, während eine ganze Fülle von Blut gefunden wurde. Der Versuch, ein Kind in das Buschhoffsche Haus zu ziehen, gelang allerdings heute. Allein es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Wirklichkeit und der Versuch, den ein Schwurgericht, das etwas Bestimmtes sehen will, anstellt, zweierlei Dinge sind. Jedenfalls hat sich Mölders geirrt. Es ist einmal möglich, das Kind ist in den Portenweg gezogen worden, oder auch, daß das Ullenboomsche Kind, das Mölders ebensowenig wie den kleinen Hegmann kannte, in das Buschhoffsche Haus gezogen wurde. Ich komme nun nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme zu der Überzeugung, daß dem Buschhoff die Tat nicht nur nicht nachgewiesen ist, sondern daß die Verhandlung seine volle Unschuld ergeben hat. Nun wird man sagen: »Es ist doch ein Mord geschehen, wer ist der Täter?« In dieser Beziehung hat leider die Verhandlung keinerlei Anhaltspunkte ergeben, aber sie hatte doch wenigstens das Ergebnis, daß die Unschuld des Buschhoff nachgewiesen wurde. Ich beantrage daher aus voller Überzeugung das Nichtschuldig und gebe mich der Hoffnung hin, daß die Verhandlung beigetragen haben wird zur Befestigung des Glaubens an die Unparteilichkeit und Gerechtigkeit der preußischen Richter.

Erster Staatsanwalt Baumgard bemerkte nach eingehender Würdigung der Beweisaufnahme: Ich komme nach alledem zu dem Schluß, daß Buschhoff auch nicht der Mitwisserschaft des Mordes verdächtig ist. Wäre Buschhoff der Mörder oder auch nur Mitwisser des Mordes, dann wäre sein Auftreten am Tage des Mordes jedenfalls nicht ein solch unbefangenes gewesen, man müßte denn annehmen, daß er ein ganz raffinierter Mörder ist. Sie haben ja den Mann vor sich, ich überlasse dies daher Ihrem Urteile. Bedauerlich ist es ja, daß durch diese Verhandlung die Mordtat keine Aufklärung erfahren hat. Aufgeklärt ist aber die Unschuld des Buschhoff. Dieser ist weder der Mörder, noch der Mordgehilfe noch der Mitwisser. Und ich bemerke Ihnen ausdrücklich, meine Herren Geschworenen, daß wir es hier nicht mit einem Non liquet zu tun haben. Daß das Verbrechen nicht aufgeklärt ist, bedaure ich ganz außerordentlich, und zwar um so mehr, da ich mir gleich nach Entdeckung der Tat alle Mühe gab, Klarheit in die Sache zu bringen, den Täter zu ermitteln. Ich habe sofort in dem in Xanten erscheinenden »Bote für Stadt und Land« einen Aufruf an die Bevölkerung erlassen, die Tätigkeit der Behörde nicht durch religiöse Erregungen zu stören. Leider hatte diese meine Bitte keinen Erfolg. Ich hoffe, daß, wenn die religiöse Erregung sich wieder gelegt und die Behörde in der Lage ist, klar zu sehen, es doch noch gelingen wird, den wirklich Schuldigen zu ermitteln.

Es ist gesagt worden, die Sache bleibt unaufgeklärt, weil es sich um einen Juden handelt. Nein, meine Herren Geschworenen! nicht weil es sich um einen Juden handelt, ist die Sache unaufgeklärt, sondern weil die Sache unklar ist, deshalb hat man zu einem Juden gegriffen. Man behauptete: es ist von einem Juden ein Ritualmord begangen worden. Dazu bedarf es keiner weiteren Motive, es bedarf bloß allgemeiner Verdächtigungen. Allein Sie, m.H. Geschworenen, haben die Pflicht, alles, was außerhalb dieses Saales vorgeht, unbeachtet zu lassen, sondern lediglich auf Grund der Tatsachen, die Sie selbst mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört, Ihr Urteil abzugeben.

Auf Grund der Beweisaufnahme kann ich nicht anders als aus Pflicht und Gewissen den Antrag auf Nichtschuldig stellen. Ich bitte Sie, meine Herren Geschworenen, sprechen Sie den Angeklagten frei.

Verteidiger Rechtsanwalt Stapper (Düsseldorf) führte aus: Wenn Ihr Urteil, woran ich nicht zweifle, auf Nichtschuldig lautet, dann wird dieser Tag ein Ehrentag für Sie sein, denn Sie geben einem anständigen, schwergeprüften Manne die Freiheit, einer Familie den Gatten und Vater, einer Gemeinde ein Mitglied wieder, das bisher in der unerhörtesten Weise dem Haß und der Verfolgung eines urteilslosen Pöbels ausgesetzt war. Sofort als die Tat entdeckt wurde, stand es bei der Menge fest: es müsse ein Ritualmord geschehen sein. Das alte, mittelalterliche Märchen, das man schon längst begraben glaubte, war wieder aufgetaucht. Die Hauptsache war, daß Dr. Steiner feststellte, daß kein Blut oder zuwenig Blut bei der Leiche gefunden wurde. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich das Blutmärchen durch ganz Deutschland und wurde von Herrn Dr. van Housen sofort nach Emmerich getragen. Sie erinnern sich, meine Herren Geschworenen, daß Herr Dr. van Housen erst, nachdem er die Obduktionsbefunde hier eingesehen, die Erklärung abgegeben hat: Nun habe ich mich überzeugt; ich halte auch den Fundort für den Tatort; ich habe zur Zeit mein Urteil auf Grund oberflächlicher Besichtigung abgegeben. Es ist ja noch ein anderes Motiv für den Mord angegeben worden. Sie erinnern sich, daß Herr Kriminalkommissar Wolff der Meinung gewesen ist: Buschhoff habe den Knaben getötet, weil er ihm den kleinen Schaden am Grabstein zugefügt habe. Eine solche Annahme kann wohl die Phantasie eines Dichters sein, der einen Kriminalroman zu schreiben beabsichtigt, der Richter kann aber eine solche Vermutung nie und nimmer für wahr halten. Ich muß ausdrücklich bemerken, m.H., daß gleich nach Entdeckung der Tat die Behörden sich alle Mühe gegeben haben, den Täter zu ermitteln. Herr Landgerichtsrat Brixius hat ebenfalls, das beweisen die vielen von ihm vorgenommenen Vernehmungen, alles mögliche getan, um Klarheit zu schaffen. Wäre der Mord nicht sofort zum Objekt einer Glaubenshetze gemacht worden, wer weiß, ob es nicht gelungen wäre, schon nach den ersten 8-14 Tagen den Mörder zu entdecken. Sie werden sich erinnern, meine Herren Geschworenen, daß in einer geradezu unerhörten, bisher noch nicht dagewesenen Weise die Gerichtsbehörden aus Anlaß dieses Verbrechens angegriffen worden sind.

Sie erinnern sich vielleicht, meine Herren, jener Sitzung des Abgeordnetenhauses, in der der Abgeordnete Rickert vorlas, daß eine Zeitung geschrieben habe: »Es liegt ein Ritualmord vor, Buschhoff und kein anderer ist der Mörder.« Wenn man erwägt, wie alle Bemühungen der Behörden, den Schuldigen zu ermitteln, durch das Blutmärchen getrübt worden sind, dann muß man die Überzeugung gewinnen, daß System in dieser Hetze liegt. Die Leute haben gar kein Interesse, daß der wirklich Schuldige ermittelt werde, die Tat an sich war ihnen ein willkommenes Agitationsmiltel. Es ist hier nicht meine Aufgabe, eine Rede gegen das Treiben der Antisemiten zu halten. Wenn die Leute es als ihre Aufgabe betrachten, dahin zu wirken, daß die Juden aus Deutschland getrieben und die Zeiten des Augustus wieder herbeigeführt werden, habeant sibi. Meine Aufgabe als Verteidiger ist eine ganz andere. Allein erwägen Sie, meine Herren Geschworenen, wenn es dem Buschhoff nicht gelungen wäre, in so überzeugender Weise sein Alibi nachzuweisen, was hätte alsdann diese Hetze für Folgen haben können. Der Verteidiger erörterte hierauf den eigentlichen Tatbestand und fuhr alsdann fort: Ich habe nicht notwendig, Ihnen noch eine Schilderung von dem Angeklagten zu geben, er dürfte Ihnen durch die zehntägige Verhandlung hinlänglich bekanntgeworden sein. Ich will Sie bloß an den wahrhaft dramatischen Vorgang mit dem Sack erinnern. Ich muß gestehen, als der Sack mit den rotbraunen Flecken dem Angeklagten vorgelegt wurde, da glaubte ich fast selbst, es könnten irgendwelche Anhaltspunkte für die Schuld des Angeklagten festgestellt werden. Allein Sie erinnern sich, mit welcher Unbefangenheit der Angeklagte vortrat und auf die Frage des Vorsitzenden, wie er die rotbraunen Flecke an dem Sack erkläre, die natürlichste Antwort von der Welt gab: er habe den Sack bei der Fleischräucherung benutzt und die verdächtigen Flecken seien Rauchflecken. Aber außerdem ist doch auch der Lebenswandel des Angeklagten in Betracht zu ziehen. Sie haben gehört, daß Buschhoff aus Anlaß des Sterbetages seines Vaters des Morgens und Abends in die Synagoge ging, daß er dieses Sterbetages wegen bis Mittag fastete, daß er, ehe er sich mit seiner Familie zu Tisch setzte, betete. Jemand, der so pietätvoll seiner verstorbenen Eltern gedenkt und als Lohn dafür die Liebe seiner Kinder erweckt, ist nicht das Holz, aus dem Mörder geschnitzt werden. Der Verteidiger ging noch des näheren auf die Bekundungen des Zeugen Mölders ein und suchte den Nachweis zu führen, daß die große Erregung in Xanten die Leute zu einer fixen Idee geführt habe, an die sie selbst glaubten. Der Verteidiger schloß: Ich teile nicht die Hoffnung des Herrn Ersten Staatsanwalts, daß nach Schluß dieser Verhandlung die Hetze beendet sein wird, wir werden aber nach Abgabe Ihres Wahrspruches sagen können: die Wahrheit hat gesiegt.

Verteidiger Rechtsanwalt Fleischhauer (Kleve): Es dürfte Ihnen bekannt sein, meine Herren Geschworenen, daß ich aus Anlaß der Übernahme der Verteidigung in der unerhörtesten Weise angegriffen worden bin. Selbst im Abgeordnetenhause hat sich ein Mann, dessen Stellung voraussetzen sollte, daß er wenigstens bei der Wahrheit bleibt, mich in der unqualifizierbarsten Weise verdächtigt. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, meine Herren Geschworenen, daß ich trotz all dieser Verunglimpfungen es für meine höchste Ehre gehalten habe, gerade den Angeklagten Buschhoff, dessen Unschuld von Anfang so klar zutage lag, zu verteidigen. Meine 10jährige Tätigkeit als hiesiger Anwalt enthebt mich der Mühe, mich Ihnen gegenüber noch weiter zu rechtfertigen, um so mehr, da die Ehre der Angreifer nicht höher steht als ihre Angriffe. Ich kann Ihnen aber auch die Versicherung geben, daß ich nie und nimmer einen Mann verteidigen würde, von dem ich auch nur vermuten könnte, daß Blut an seinen Fingern klebt. Wäre ich von der Unschuld des Buschhoff nicht überzeugt, hätte ich in dieser Beziehung auch nur noch einen Zweifel, ich stände sicherlich nicht an dieser Stelle. Sie werden sich zu erinnern wissen, meine Herren, daß, als im Dezember v. J. die Haftentlassung des Angeklagten erfolgte, sich ein Sturm der Entrüstung in der antisemitischen Presse erhob, obwohl mit dieser Haftentlassung das Verfahren noch nicht eingestellt war. Zu dieser Hetze gesellte sich der Messerbefund des Kreisphysikus Dr. Bauer. Dies war die Veranlassung, daß die Wiederverhaftung Buschhoffs und schließlich auch die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen wurde. Letzteres geschah nicht, weil man an seine Schuld glaubte, sondern weil man der Welt den Beweis liefern wollte, daß an all den Verdächtigungen kein wahres Wort ist. Und die Verhandlung, deren Leitung an Unparteilichkeit jedenfalls nichts zu wünschen übrigließ, hat die Unschuld des Buschhoff in glänzendster Weise nachgewiesen. Der Herr Erste Staatsanwalt hat recht, wenn er sagte, mit größerer Genauigkeit hat noch niemals ein Angeklagter sein Alibi nachgewiesen. Und wie benahm sich der Angeklagte? Er, der so sehr Verfolgte und Geschmähte, der unter der furchtbaren Anklage, einen Mord begangen zu haben, sich seit so langer Zeit in Untersuchungshaft befindet, er hat nicht ein hartes Wort gegen die ihn belastenden Zeugen, die aus jedem Vorkommnis Kapital zu schlagen suchten, erwidert. Bald fiel den Zeugen die große Teilnahme, bald die Teilnahmlosigkeit auf. Jedenfalls hat die Verhandlung ergeben, daß kein Zeuge den Hegmannschen Eheleuten soviel Teilnahme bekundet hat, als gerade der Angeklagte. Dieser hat sich aber auch als ein in jeder Beziehung wahrheitsliebender Mann erwiesen. Nicht eine Unwahrheit konnte ihm nachgewiesen werden. Als ihm gesagt wurde, er solle bei unerheblichen Dingen doch lieber zugestehen und sich nicht aufs Leugnen legen, da antwortete er: »Ich kann doch nichts zugeben, was nicht wahr ist.« Der Verteidiger ging hierauf des näheren auf die Zeugenaussagen ein und fuhr alsdann fort: Ich kann die Hoffnung des Herrn Ersten Staatsanwalts auch nicht teilen, daß die antisemitische Hetze mit diesem Prozeß ein Ende haben wird. Ich fürchte: es wird weitergelogen werden. Es ist eine allbekannte Tatsache, daß, um eine Wahrheit zu verwischen, mindestens 7 Lügen notwendig sind. Ich bin aber der Meinung, es sind 7 mal 70 Lügen notwendig, um das Lügengebäude der Antisemiten aufrechtzuerhalten. Allein die große Sorgfalt und Aufmerksamkeit, mit der Sie, meine Herren Geschworenen, den Verhandlungen gefolgt sind, gibt mir die Gewähr, daß, wenn auch die Lügen nicht verstummen werden, so doch in diesem Saale Recht und Gerechtigkeit geübt werden wird. Ich gebe mich ferner der Hoffnung hin, daß mit diesem Prozeß das alte Blutmärchen aus der Welt verschwinden wird. Wenn Sie aus diesem Saale fortgehen, dann ersuche ich Sie, das Bild eines Mannes in Ihr Herz aufzunehmen, der, obwohl seit so langer Zeit der Freiheit beraubt, seiner Familie entrissen und durch eine wüste Hetze genötigt sein wird, das bittere Brot des Almosens zu essen, sein Geschick mit Ergebung getragen hat, weil er weiß, daß er unschuldig ist, weil er weiß, daß die Wahrheit an den Tag kommen muß, und daß in Preußen noch Recht und Gerechtigkeit geübt wird.

Ich kann meine Verteidigung um so mehr abkürzen, da die Vertreter der Anklagebehörde in diesem Prozeß das schönste Recht der Staatsanwaltschaft ausgeübt haben, das nicht bloß darin besteht, den Schuldigen zu verfolgen, sondern auch dem unschuldig Verfolgten ihren Schutz zu gewähren.

Verteidiger Rechtsanwalt Gammersbach (Köln): M. H. Geschworenen! Als die Verhandlung begann, da haben wir, die wir die Akten kannten, die Freisprechung erwartet, nachdem wir aber die Beweisaufnahme gehört, ist diese Erwartung bei uns zur Gewißheit geworden. Es ist Ihnen bekannt, daß die Bevölkerung in Xanten, höchstwahrscheinlich veranlaßt durch das Gutachten der Herren DDr. Steiner und van Housen, sofort die Behauptung aufstellte es ist ein Ritualmord begangen worden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieses Gerücht das Haupthemmnis für eine erfolgreiche Tätigkeit bildete, die Sache zu klären. Als wir hörten, daß die Anklage erhoben worden sei, da war ich mit meinen Kollegen der Überzeugung, daß die Staatsanwaltschaft nicht den Volksaberglauben des Blutmärchens teile, sondern daß sie andere Gründe für die Erhebung der Anklage habe. Für die Staatsanwaltschaft war, davon waren wir von vornherein überzeugt, ein wissenschaftliches Gutachten über den Ritualmord nicht erforderlich. Allein Sie haben gesehen, m.H., daß im Hintergrunde der Zeugenaussagen der Ritualmord stand. Man konnte es dem Zeugen Mallmann nachfühlen, daß er im Herzen die Überzeugung von dem Ritualmorde hatte, und aus diesem Grunde den Buschhoff für den Täter hielt. Das angebliche Fehlen des Blutes bei der Leiche und der angebliche Schächtschnitt war die Veranlassung, daß dieser alte Volksaberglaube auftauchen konnte. Das Märchen ist so töricht, daß ich kurz darüber hinweggehen könnte, wenn ich nicht wüßte, daß es in den Köpfen der unwissenden Bevölkerung spukt und zu politischen Parteizwecken genährt wird. Wenn man uns Christen vorwerfen würde: wir brauchen das Blut Andersgläubiger und müssen daher Morde begehen, dann würde ich antworten: In unseren Grundgesetzen, in den zehn Geboten, steht: »Du sollst nicht töten.« Damit ist eigentlich die ganze Beschuldigung widerlegt.

Wir dürfen aber nicht vergessen, daß wir Christen die zehn Gebote erst seit 1900 Jahren unser eigen nennen, während die Juden die zehn Gebote seit über 3000 Jahren haben. Es kommt aber noch hinzu, daß den Juden der Blutgenuß überhaupt verboten ist. In dem auch jedem Christen zugänglichen Alten Testament ist zu lesen: »Ihr sollt kein Blut essen, wer Blut ißt, der soll ausgerottet werden aus meinem Volke, ich werde mein Antlitz von ihm abwenden«. Es ist charakteristisch, daß in China und Madagaskar von der dortigen Bevölkerung dieselbe Anschuldigung gegen die Christen erhoben wird und als Ursache der Christenverfolgung dient. Und ehe das Christentum seinen Siegeslauf antrat, noch ehe es die herrschende Religion war, da haben die Römer den Christen dasselbe Märchen angedichtet, und zahllose Christen wurden deshalb verfolgt. Der Aberglaube, daß die Juden Blut brauchen, ist bei uns im 13. Jahrhundert aufgetaucht. Damals genoß aber der unglückliche Angeklagte noch nicht den Schutz, den er heute hat. Da trat die größte Macht der damaligen Zeit, der Papst, auf, um dieses Märchen zu widerlegen und die Juden vor Verfolgungen zu schützen.

Ich könnte Ihnen zahlreiche päpstliche Bullen vorlegen, in denen dieser Volksaberglaube mit der größten Entschiedenheit bekämpft wird. In den Jahren 1247 und 1253 hat Innozenz IV. sich mit sehr heftigen Worten gegen diesen Volksaberglauben gewendet. Ich will Sie mit dem Verlesen der Bullen nicht behelligen, es würde dies schließlich stundenlang aufhalten. Allein seit dem 13. Jahrhundert ist das Märchen nicht mehr aus der Welt verschwunden. Es ist immer wieder aufgetaucht und hat zu Judenverfolgungen Veranlassung gegeben. Wiederholt haben sich Gelehrte damit beschäftigt und Gutachten abgegeben. Sie haben von dem Sachverständigen Professor Dr. Nöldecke gehört, daß im Jahre 1714 die theologische Fakultät der Universität zu Leipzig auf Veranlassung des Landesherrn ein Gutachten dahin abgegeben hat, daß der Ritualmord in den religiösen Satzungen der Juden nicht vorgeschrieben sei, und daß keine Anhaltspunkte für diesen Volksaberglauben in der jüdischen Literatur vorhanden seien. In dem im Jahre 1883 vor dem Wiener Landgericht geführten Prozesse des bekannten Professors Rohling wider den österreichischen Abgeordneten Bloch traten Professor Dr. Nöldecke und Lizentiat Wünsche als Sachverständige auf. Beide Sachverständige gaben dasselbe Gutachten ab. Sie haben gehört, daß Herr Professor Dr. Nöldecke sagte: »Ebenso bestimmt, wie ich behaupten kann, im Talmud steht nichts von dem Eisenbahnwesen, mit derselben Bestimmtheit kann ich sagen: im Talmud steht nichts vom Ritualmord.« Sie haben ferner gehört, daß Herr Professor Dr. Nöldecke die immer wiederkehrende Behauptung, daß den Juden der Ritualmord geboten sei, als frivol bezeichnete. Sie haben außerdem von Herrn Professor Dr. Nöldecke gehört, daß der katholische Professor Dr. Bickel an der Universität zu Innsbruck, indem er die Abgabe eines Gutachtens über den Ritualmord ablehnte, letzteren als Schwindel bezeichnete.

Ich erinnere Sie im weiteren daran, daß Herr Professor Dr. Nöldecke eine Reihe hervorragender Orientalisten, wie den Geheimen Regierungsrat Professor Dr. de Lagarde, die Professoren Delitzsch und Strack, nannte, die sich in derselben Weise wie er über den Ritualmord ausgesprochen haben.

Sie haben endlich von Herrn Professor Dr. Nöldecke gehört, daß der Talmud nicht bloß den Blutgenuß an sich verbietet, sondern sogar vorschreibt, selbst den Schein zu vermeiden, als ob man Blut genieße. Professor Dr. Delitzsch hat begutachtet, daß weder im Sohar noch im Sefer Halkutim etwas von einem Ritualmorde enthalten sei. Ich muß nun hervorheben, daß kein Zeuge dem Buschhoff ein anderes Motiv als den Ritualmord untergeschoben hat. Es ist uns allerdings von berufener Seite gesagt worden, zur Aufrechterhaltung der Anklage bedarf es keines Motivs. Bei einem Spitzbuben, einem Raufbold mag wohl dieser Grundsatz mit Recht zur Anwendung gelangen, allein wenn man einen Mann wie den Angeklagten Buschhoff eines so schweren Verbrechens wie des vorliegenden beschuldigt, dann entsteht doch unwillkürlich die Frage: Was ist wohl die Ursache des Verbrechens? Das von dem Kriminalkommissar Wolff vermutete Motiv ist schon aus psychologischen Gründen zu verwerfen. Es ist einmal undenkbar, daß der Angeklagte den Knaben geschlagen und, um zu verhüten, daß dies herauskomme, den Knaben ermordet hat, und andererseits ist nicht anzunehmen, daß der Knabe, wenn er mißhandelt worden, sprach- und willenlos geworden wäre, sondern er hätte zweifellos geschrien und geweint.

Dieser Ansicht ist auch Herr Geheimrat Pellmann. Niemand aber hat den Knaben weinen oder schreien gehört. Ich erachte es für überflüssig, nochmals auf den objektiven Talbestand einzugehen. Der Angeklagte hat nicht bloß in der überzeugendsten Weise sein Alibi nachgewiesen, es ist ihm selbst von seinen erbittertsten Feinden das Zeugnis eines gutmütigen, braven und ehrlichen Mannes ausgestellt worden. Sie sind außerdem selbst Zeuge gewesen, wie der Angeklagte beim Anblick seines zerstörten Besitztums in Tränen ausbrach und wie er in der unbefangensten Weise jede Auskunft gab. So übel es ihm auch ergangen ist, er hatte kein Wort des Hasses oder des Zornes, weil er weiß, daß er unschuldig ist und weil er Gottvertrauen hat. Als ich ihm sagte, daß nun die öffentliche Verhandlung stattfinden werde, da versetzte er: Gott sei Dank, da wird meine Unschuld zutage treten. Sie, die Richter der Tatfrage, sind nun berufen, über das Schicksal Buschhoffs zu entscheiden. Ich spreche im Einverständnis mit den Herren Vertretern der Staatsanwaltschaft und dem meiner Herren Kollegen, wenn ich sage: Ihr Wahrspruch kann nur lauten: Auf Ehre und Gewissen bezeuge ich vor Gott und den Menschen, der Angeklagte Buschhoff ist unschuldig.

Ein zum Himmel schreiendes, schweres Verbrechen, so bemerkte der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Kluth, bei der hierauf folgenden Rechtsbelehrung, ist Ihrer Beurteilung unterbreitet. Das Gesetz verbietet mir, in eine Würdigung der Beweismittel einzutreten. Ich glaube auch, die Verhandlung in einer Weise geleitet zu haben, daß niemand erraten kann, ob ich für Freisprechung oder für Verurteilung des Angeklagten bin. Ich will jedoch bemerken, daß das Gericht bei dieser Verhandlung ein von allen anderen Verhandlungen abweichendes Verfahren beobachtet hat. Während sonst, sobald die öffentliche Verhandlung begonnen, neue Beweise nicht mehr zugelassen werden, sind wir, mit Rücksicht auf die große Tragweite und die Wichtigkeit des Falles, auf alle uns im Laufe der Verhandlung angebotenen Beweise eingegangen. Alle diese Beweise haben sich als eitel Dunst erwiesen. Die anonymen Briefschreiber werden vielleicht ihre Freude daran haben, daß es ihnen gelungen ist, den Gerichtshof derartig hinters Licht zu führen. Ich gönne ihnen diese Freude. Wir haben die Genugtuung, daß wir in dem Prozeß, der in der ganzen Welt das größte Aufsehen erregt, nichts versäumt haben, daß wir weder Mühe noch Zeit gescheut haben, um Aufklärung zu schaffen. Ich freue mich, daß auch die Herren Geschworenen mit der größten Aufmerksamkeit dem Gange der Verhandlung gefolgt sind. Dies gibt mir die Gewähr, daß Sie, meine Herren Geschworenen, meine bei Eröffnung der Verhandlung an Sie gerichtete Ermahnung: nur auf der Grundlage der Verhandlung nach bestem Wissen und Gewissen Ihren Wahrspruch abzugeben, befolgen werden. Sie wissen, daß die politischen und sozialen Gegensätze sich immer mehr verschärfen, daß die Bevölkerung Deutschlands zum Teil aus Judenfreunden, zum Teil aus Judengegnern besteht. Den Ausdruck »Antisemiten« will ich nicht gebrauchen. Allein die Wogen des Parteigetriebes dürfen nicht bis an den Richtertisch heranreichen. »Der Richter steht auf einer höheren Warte als auf der Zinne der Partei«. Dieses Dichterwort muß in seiner Variation auch Ihnen als Richtschnur dienen. Vor dem Richterstuhle sind alle Menschen gleich. Der Richter hat nicht danach zu fragen, ob der Angeklagte ein Jude oder ein Christ ist, er soll ohne Ansehen der Person urteilen und sich von dem Parteigetriebe der Außenwelt nicht beeinflussen lassen. Sie haben eine Reihe von Zuschriften erhalten, ich bin aber überzeugt, Sie werden keinerlei fremden Einfluß auf sich einwirken lassen. Sie haben die Pflicht, sowohl der Anklage als auch dem Angeklagten gerecht zu werden, und zwar lediglich auf Grund der Ihnen vorgeführten Verhandlung. Ich hielt es für nötig, dies hervorzuheben, um damit gleichzeitig den Standpunkt des Gerichtshofes kundzugeben.

Der Vorsitzende gab im weiteren den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung und bemerkte ihnen, daß der Antrag des Staatsanwalts auf Nichtschuldig sie nicht verpflichte, dem Antrage zuzustimmen. Der Vorsitzende schloß die Rechtsbelehrung mit den Worten: Nun lege ich das Schicksal der Anklage und des Angeklagten vertrauensvoll in Ihre Hände.

Die Beratung der Geschworenen dauerte kaum eine halbe Stunde.

Als der Obmann Graf v. Loë den Wahrspruch verkündete: Die Geschworenen haben die Schuldfrage verneint, brach das Publikum in stürmische Bravorufe aus. Der Vorsitzende verkündete alsdann: Im Namen Seiner Majestät des Königs hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß, nachdem die Herren Geschworenen die Schuldfrage verneint haben, der Angeklagte Buschhoff von der Anklage des Mordes freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen seien. Außerdem hat der Gerichtshof beschlossen, den Angeklagten sofort aus der Haft zu entlassen.

Das Publikum begleitete das freisprechende Urteil mit einem stürmischen Bravo. Buschhoff weinte heftig.

Buschhoff konnte selbstverständlich nicht mehr nach Xanten zurückkehren. Sein zerstörtes Besitztum verkaufte er. Er lebte noch einige Jahre in Ehrenfeld bei Köln. Durch mildtätige Sammlungen war es ihm möglich, sich einen neuen Erwerbszweig zu gründen. Die große Aufregung und lange Haft hatten aber seine Gesundheit untergraben. Er ist vor einigen Jahren gestorben.

Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band

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