Читать книгу Die alte Fabrik - Ilka-Maria Hohe-Dorst - Страница 4

Kapitel I

Оглавление

Theos Adresse auf dem Umschlag war auf ein Klebeetikett gedruckt, aber an der Briefmarke erkannte er, dass der Brief aus Frankreich war, und da wusste er sofort, von wem er kam. Er schloss den Briefkasten, riss den Umschlag auf und entfaltete den Papierbogen. Bevor er zu lesen beginnen konnte, stach ihm Frau Westphals spitze Stimme in die Ohren: „Wenn sie Ihrer Tochter zurückschreiben, Herr Neumann, dann richten sie ihr Grüße von mir aus. Und dass sie bloß nicht daran denkt, wieder heimzukommen!“

Mit Handtasche und Einkaufbeutel bewaffnet humpelte die Alte an Theo vorbei. „Der Brief ist doch von ihr, oder? Melly war das süßeste Geschöpf, das es in diesem Haus je gegeben hat. Ihre Mutter war dieses Mädel nicht wert! Gott habe die Hexe trotzdem selig. Toten soll man ja nichts Schlechtes nachsagen. Schönen Tag noch.“

Theo sah der Westphal nach, bis sie auf die Straße getrottet war. Er kannte sie und ihre Meinung zu lange, um auf ihre Ausfälle noch zu reagieren. Was wusste sie schon von seinen Sorgen? Als er Schritte im Treppenhaus und das Schließen einer Tür hörte, nahm er eilig jede zweite Stufe zu seiner Wohnung im ersten Stock, um weitere Begegnungen zu vermeiden und den Brief ungestört lesen zu können.

„Papa, es geht mir gut. Ich habe Arbeit, von der ich leben kann, und genügend Zeit für mein Studium. Mit meinen Fortschritten bin ich zufrieden. Ich hoffe, dir und Mama geht es auch gut. Deine Melly.“

Lakonisch wie immer. Theos Augen wurden nass. Melanie wusste nicht, dass ihre Mutter vor zwei Monaten gestorben war. Er hatte keine Chance gehabt, seine Tochter zu benachrichtigen, weil er ihre Adresse nicht kannte. Er besaß nichts als die Briefe, die sie ihm regelmäßig, doch ohne Absender schrieb und die er in einem Schuhkarton aufbewahrte.

Er faltete den neuen Brief zusammen, legte ihn zu den anderen und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes die Tränen aus dem Gesicht. Nie hatte er sich einsamer gefühlt als jetzt. Oft wünschte er sich die Zeit zurück, in der seine Ehe mit Sylvia noch glücklich und das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter harmonisch war. Die Idylle ging verloren, als Melanie sich nach dem Abitur dafür entschieden hatte, eine Ausbildung in Malerei und Fotografie an der Offenbacher Hochschule für Kunst und Gestaltung zu machen und dort einen jungen Türken namens Timur kennenlernte, in den sie sich verliebte. Sylvias Reaktion auf diese Verbindung überraschte Theo, denn bis dahin hatte er seine Frau für einen weltoffenen und vorurteilsfreien Menschen gehalten. Doch je mehr sie über Timur und dessen Familie erfuhr, umso energischer drängte sie Melanie dazu, die Verbindung zu Timur aufzulösen, worüber sich die beiden Frauen so heftig zerstritten, dass Melanie zu den Vorwürfen ihrer Mutter schwieg, ihr nach Möglichkeit aus dem Weg ging und bei einer Freundin übernachtete, wann immer sich die Gelegenheit bot.

Theo gelang es nicht, zwischen den beiden Frauen zu vermitteln. Sylvia war zu sehr von der Angst getrieben, Melanie könne sich in eine fremde Kultur verstricken, aus der es kein Entrinnen mehr gäbe, denn Timur und seine Eltern waren bekennende Moslems. Wenn es um das Wohl ihrer Tochter ging, stieß Sylvias Toleranz, die sie ansonsten wie eine Monstranz vor sich hertrug, schnell an ihre Grenzen.

Theo fand die Einwände seiner Frau übertrieben. Er mochte Timur, verabredete sich mit dessen Eltern, um sie kennenzulernen, und verstand sich mit ihnen auf Anhieb. Sylvia hatte sich geweigert, mitzukommen. Sie war davon überzeugt, dass Melanie für Timur nur ein Abenteuer war. „Sie ist für ihn nichts als ein deutsches Flittchen fürs Vergnügen, aber nicht zum Heiraten. Für die Ehe kommt nur eine moslemische Frau in Frage, die als anständig gilt. Denk an meine Worte und bete dafür, dass Melly nicht schwanger wird. Klein-Istanbul und Westend passen nicht zusammen.“

Mit Klein-Istanbul spielte Sylvia auf die Große Marktstraße im Zentrum Offenbachs an, in der zwischen Hintergasse und Kaiserstraße viele Zuwanderer aus der Türkei und dem Mittleren Osten ihre Läden betrieben. Theo hielt diesen Vergleich für völlig überzogen.

Als Melanie dreiundzwanzig Jahre alt war, hielt sie es nicht länger mit ihrer Mutter aus und zog in eine eigene Wohnung in unmittelbarer Nähe der Kunsthochschule. Obwohl Sylvia dagegen protestierte, zahlte Theo die Miete und weiterhin die Studiengebühren. Sylvia nannte ihn naiv und warf ihm vor, Melanie sehenden Auges in ihr Unglück rennen zu lassen. Nichts konnte sie davon überzeugen, dass ein Mensch in Melanies Alter nicht mehr beliebig zu lenken war. Theo weigerte sich, die Überweisungen an Melanie einzustellen. Er wollte nichts anderes, als für seine Tochter da zu sein, egal was passierte. Gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen, weil Melanie vorzog, sich mit ihm in einem Café zu treffen, statt die Eltern zu Hause zu besuchen. Es war offensichtlich, dass sie den Vater bevorzugte und der Mutter bewusst aus dem Weg ging, und genauso offensichtlich war für Theo, dass Sylvia deswegen gekränkt war.

Die Beziehung zwischen den Eheleuten kühlte in einem Maße ab, wie es sich Theo niemals hätte vorstellen können. Täglich rechnete ihm Sylvia vor, wie hoch sein moralischer Schuldenberg gewachsen sein würde, sollte Melanie an dieser unsäglichen Liebe scheitern. „Timur wird sie sitzenlassen, selbst wenn sie schwanger werden sollte. Wenn er sie aber heiraten will, muss sie Moslemin werden. Dann verliert sie sämtliche Rechte als Frau und liefert sich mit Haut und Haar seiner Familie aus. Siehst du das denn nicht? Bist du völlig blind geworden?“

Theo war anderer Meinung. Für ihn waren Melanie und Timur zwei junge Menschen in einer modernen Welt, die sich liebten und denen er vertraute, das Beste aus ihrem Leben machen zu wollen. Doch Sylvias hartnäckig verteidigte Ansichten ermüdeten ihn, so dass er weiteren Diskussionen mit ihr auswich und sich damit abfand, im Zustand eines kalten Krieges zu leben.

Kurz vor ihrem dreißigsten Hochzeitstag reichte Sylvia die Scheidung ein. Es brach Theo das Herz. „Dinge verändern sich nun mal,“ versuchte Rick, sein bester Freund, ihn bei einem Kneipentreff zu trösten, klopfte ihm kameradschaftlich auf den Rücken und gab ihm einen traurigen Abend lang ein Bier nach dem anderen aus, während Theo in Erinnerungen an glücklichere Tage versackte. Rick ließ ihn erzählen, obwohl er über das Leben seines Freundes alles Wesentliche zu wissen glaubte.

Es begann damit, dass sich Rick und Theo während ihrer Ausbildung zum Steuerfachangestellten kennenlernten und schnell Freunde wurden. Um zur Büffelei am Schreibtisch einen körperlichen Ausgleich zu haben, meldeten sie sich gemeinsam zu einem Tennislehrgang an. Zu Beginn trainierte sie der Chef der Tennisschule selbst, aber einen Monat später stellte er ihnen wegen Arbeitsüberlastung seine neue Assistentin Sylvia Dankert als Trainerin vor.

Für Theo war es Liebe auf den ersten Blick. Sylvias schlanke, hochgewachsene Figur, ihr blondes Haar, das sie hochgesteckt trug, und ihre tiefgrünen Augen faszinierten ihn ebenso wie ihr harmonisch geformtes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der schmalen Nase und den verführerisch geschwungenen Lippen. Er war sicher, nie eine schönere Frau gesehen zu haben. Sie war zwei Jahre älter als er, was ihn nicht davon abhielt, ihr sofort den Hof zu machen und sie regelmäßig auszuführen. Sie zeigte Feingefühl und überforderte ihn nicht, wenn sie ausgingen, denn sie konnte sich ausrechnen, dass er während seiner Ausbildung keine großen Sprünge machen konnte, und deshalb war sie mit einer Pizza oder einem Teller Pasta mehr als zufrieden. Auch unterstützte sie ihn bei der Vorbereitung auf die Steuerfachprüfung und machte ihm Mut, wenn Zweifel ihn überfielen, den richtigen Beruf gewählt zu haben. Das alles gefiel Theo an ihr, und er fühlte sich so glücklich wie nie zuvor in seinem Leben.

Rick sah die Entwicklung mit Amüsement. Er war selbst in Sylvia verliebt gewesen, da er aber körperlich etwas kurz geraten war und sein Gesicht damals noch immer den frischen Charme eines sechzehnjährigen Messdieners hatte, konnte er mit dem stattlich gewachsenen Theo und dessen markanter Physiognomie nicht konkurrieren. Er musste zugeben, dass Theo und Sylvia ein ausgesprochen attraktives Paar darstellten, wie füreinander geschaffen. Und sie war auch die Richtige, als es um Theos Weiterbildung ging, denn ihr Ehrgeiz kannte keine Grenzen. Ihrem Optimismus hatte er es zu verdanken, dass er die Prüfung zum Steuerfachwirt und anschließend zum Steuerberater schaffte und seinen Traum realisieren konnte, sich selbständig zu machen.

Zwei Jahre, nachdem Theo und Sylvia geheiratet hatten, kam ihre Tochter zur Welt, die sie auf den Namen Melanie taufen ließen. Das Glück schien perfekt zu sein. Melanie sollte jedoch ihr einziges Kind bleiben, denn Sylvia hing zu sehr an ihrem Beruf als Tennislehrerin, als dass sie ihn wegen weiterer Schwangerschaften hätte aufgeben wollen.

Rick hätte sich niemals träumen lassen, dass irgendetwas dieses Traumpaar hätte auseinanderreißen können. Und doch war es passiert. Rick hielt Sylvia für eine wundervolle Frau, auf die man sich hundertprozentig verlassen konnte. Aber sie hatte ihre Prinzipien, und an denen ließ sie nicht rütteln. Er wusste, dass sie niemals ihren Entschluss, sich scheiden zu lassen, zurücknehmen würde. Und er wusste, dass Theo es ebenso wusste.

Nachdem Theo sich ausgesprochen hatte, zahlte Rick die Zeche und begleitete ihn bis zu seiner Haustür. Da ihm zum Abschied keine rechten Worte einfallen wollten, drückte er den Freund lange und herzlich an sich, ehe er ihn mit seinem Seelenschmerz zurückließ.

Theos Kummer steigerte sich, als Timur mit Melanie Schluss machte und er der Trauer seiner Tochter über die verlorene Liebe hilflos gegenüberstand. Obwohl Melanie über die Gründe für die Trennung schwieg, triumphierte Sylvia, denn sie fühlte sich in ihrer Skepsis gegenüber einer „Vermischung fremder Kulturen“ bestätigt. Doch ihre Versuche, sich mit der Tochter zu versöhnen, scheiterten. Als sie bei einem von Melanies seltenen Besuchen aufdringliche Fragen stellte, erhielt sie zunächst nur einsilbige Antworten, doch dann platzte der Frust aus Melanie heraus: „Ja, Mama, ich habe wieder einen Freund. Hast du was gegen einen Franzosen?“

Sylvia war irritiert. „Aber nein, Kind. Ein Franzose, das ist doch wunderbar. So ein kultiviertes Volk, dem die Welt viel zu verdanken hat. Sartre, Voltaire … und die Maler, Matisse, Chagall, Picasso …“

„Picasso war Spanier, Mama, und Chagall stammte aus Russland.“

Sylvia hörte darüber weg. „Und erst die Filme! In Frankreich wurde der Film erfunden …“

Melanie hatte genug. Sie erhob sich von der Couch und griff nach ihrer Handtasche.

„Mein Freund heißt Omar und hat einen französischen Pass. Er spricht außer Französisch fließend Englisch, Deutsch und zwei arabische Sprachen. Er hat eine dunkle Hautfarbe, schwarze Locken und sieht phantastisch aus.“

Bevor sie das Wohnzimmer verließ, drehte sich Melanie im Türrahmen nochmal zu Sylvia um, die ihr geschockt hinterher gesehen hatte: „Um deine beiden nicht gestellten Fragen zu beantworten: Erstens, ich bin nicht schwanger. Zweitens, Omar studiert in Paris Medizin.“

Melanie machte sich nicht die Mühe, die Wohnungstür von Hand zu schließen, sondern ließ sie ins Schloss krachen. Sie besuchte ihre Mutter nie wieder.

Zur Scheidung ihrer Eltern kam es nicht, weil Sylvia erkrankte und die Metastasen wie ein Buschfeuer in ihr wüteten. Theo verzichtete auf eine Trauerfeier, und als Sylvias Urne beigesetzt wurde, war der Pfarrer, der für sie die letzten Worte sprach, seine einzige Begleitung.

Die alte Fabrik

Подняться наверх