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Sommersprosse

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Als Erik am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr an Romys Wohnungstür klingelte und sie ihm öffnete, wehte ihm der Duft gebrühten Kaffees entgegen. Sie war in einen jadegrünen Hausanzug gekleidet, der die Farbe ihrer Augen unterstrich. Das Haar hatte sie hochgesteckt, was sie strenger wirken ließ als am Tag zuvor, als sie es offen getragen hatte. Obwohl sie nicht geschminkt war, fand Erik sie unverändert bezaubernd. Mit einem Dankeschön für die Einladung übergab er ihr einen bunten Gerbera-Strauß, den er am Vorabend beim Hotelservice bestellt hatte. Sie quittierte seine Geste mit einem anerkennenden Lächeln.

Lilly, die in den Flur getrottet war, um ihre Neugier über den Besuch zu befriedigen, schoss bei Eriks Anblick davon und verschwand im Wohnzimmer. Romy kicherte. „Zu ihrem Glück hat Lilly ihr Futter schon bekommen, sonst müsste sie vor Bammel jetzt hungrig in ihrem Versteck ausharren, bis Sie wieder fort sind.“

Sie winkte Erik, ihr in die Küche zu folgen. Während sie eine Vase mit Wasser füllte und die Gerbera hineinstellte, bestaunte Erik den gedeckten Tisch unter dem Küchenfenster: Schinken, verschiedene Sorten Käse, gekochte Eier, Butter, Marmelade und ein Körbchen mit Toastbrot, Croissants und Laugenbrötchen. Erik konnte seine Verwunderung darüber nicht zurückhalten. „Wo kommen am heiligen Sonntag all die frischen Sachen her?“

„Meine Nachbarin, die sich um Lilly kümmert, kauft für mich ein, wenn ich auf Reisen bin, damit ich bei meiner Rückkehr nicht auf dem Trockenen sitze. Ich brauchte nur noch die Croissants und die Brötchen beim Sonntagsbäcker bestellen.“

Romy stellte die Blumenvase auf das Fensterbrett, hob die Glaskanne von der Kaffeemaschine und entfernte den Filter. „Setzen Sie sich.“

Erik ließ sich auf einem der drei Schalenstühle nieder.

„War mit dem Hotelzimmer alles in Ordnung?“

„Alles okay.“

„Und sonst? Gut geschlafen?“

„Auch okay.“

„Konnten Sie noch etwas zu essen aufs Zimmer bekommen?“

„Kein Problem, das ging schon okay.“

Romy goss Kaffee in die Tassen, setzte sich Erik gegenüber und bestrich eine Scheibe Toastbrot mit Butter und Erdbeermarmelade. „Okay, okay“, neckte sie ihn, „gestern waren Sie gesprächiger, Mr. Crazy.“

Obwohl Erik sich auf das Wiedersehen mit Romy gefreut hatte, war er nach seiner durchgrübelten Nacht von seiner Bestform weit entfernt und zu zwanglosem Geplauder nicht aufgelegt. Ihr Versuch, ihn aus der Reserve zu locken, hellte seine Stimmung keineswegs auf. Vielmehr wirkte ihre Neckerei auf ihn wie der Vorwurf, unhöflich zu sein oder sie sogar provozieren zu wollen, und er fühlte einen Impuls, gereizt zu erwidern, er habe sich einsam gefühlt und Sehnsucht nach ihr gehabt, sei zudem vom Klamüsern über sein bisheriges und künftiges Leben am Schlaf gehindert worden und habe deshalb alles andere als erholsame Stunden hinter sich. Doch bevor er Gefahr laufen konnte, mit etwas Unbesonnenem herauszuplatzen, was er hinterher hätte bereuen müssen, war Romy aufgestanden und in ihr Schlafzimmer entfleucht. Sie kam mit einem Pappkarton zurück, der mit Paketschnur umwickelt war.

„Ich habe das Kleid zusammengefaltet und in Seidenpapier eingeschlagen, damit es beim Transport nicht zerknautscht.“

Mit einem gemurmelten Danke nahm Erik den Karton entgegen und stellte ihn hochkant auf das Fensterbrett neben die Blumenvase, während sich Romy wieder hinsetzte und in ihr Toastbrot biss. „Ihr Taxi kommt um 12:30 Uhr, Sie haben also noch jede Menge Zeit. Der Zug nach Frankfurt geht kurz nach 13 Uhr. Er wird höchstwahrscheinlich pünktlich sein, jedenfalls gibt es auf der Internet-Seite der Bahn bis jetzt keinen Verspätungsalarm. Außerdem habe ich zwei Sitzplätze reserviert, damit Sie für sich bleiben können. Das ist Ihnen hoffentlich recht.“

Erik schnitt vom Camembert eine Ecke ab und spießte sie mit der Messerspitze auf, ein bisschen zu heftig, als sei das Stückchen Käse ein lebendiges, aber feindliches Wesen, das den Tod verdiente. „An alles gedacht, hm? Sie gäben bestimmt eine tüchtige Sekretärin ab.“ Er hatte sich nicht bemüht, dem sarkastischen Ton seiner Worte einen humorvollen Anstrich zu geben.

Romy zog irritiert die Brauen zusammen. „Wieso? Was meinen Sie mit ‚tüchtig‘?“

„Na, so eine, die mit Vergnügen und Perfektion für ihren Boss Geschäftsreisen bucht, damit sie ihn los ist und ihre Ruhe hat.“

„Warum sagen Sie das?“

„Weil es wahr ist. Ich bin Ihnen unsympathisch, geradezu lästig. Sie können es gar nicht erwarten, mich loszuwerden, und bis dahin inszenieren Sie ein perfektes Frühstückstheater und quälen sich durch ein belangloses Geplauder, um uns einigermaßen bei Laune zu halten. Warum haben Sie mir nicht einfach den Pappkarton in die Hand gedrückt und mich zum Teufel gejagt?“

Eine leichte Röte legte sich über Romys Gesicht. Sie senkte den Blick und erwiderte nichts. Erik wertete ihr Schweigen als Bestätigung, dass er ihre Gedanken richtig erraten hatte, legte das Messer mit dem Stück Camembert auf seinen Brotteller und erhob sich. „Schon gut, Romy Bonero. Bestellen Sie das Taxi ab. Ich gehe zu Fuß zum Bahnhof. Das sollte in mehr als zwei Stunden locker zu schaffen sein.“

Er nahm den Pappkarton vom Fensterbrett und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Doch binnen weniger Sekunden erfasste ihn Reue, dem Impuls seiner Übellaunigkeit nachgegeben und Romy mit einer idiotischen, unbeweisbaren Behauptung attackiert zu haben. Er war nicht zu ihr gekommen, um sie zu verletzen, auch nicht, weil ihm Nadjas Kleid übermäßig wichtig war, sondern weil er zwei Stunden des Zusammenseins mit ihr genießen und ihr dabei näher kommen wollte. Er hatte die Gunst der Stunde vermasselt, und selbst wenn er umkehrte und Romy um Verzeihung bäte, wäre der Zauber, den er sich für diesen Morgen erhofft hatte, nicht mehr zu beschwören.

„Erik!“

Bevor er die Wohnungstür erreicht hatte, war Romy bei ihm. Trotz der wenigen Schritte ging ihr Atem schnell. „Das stimmt nicht.“

Er wusste augenblicklich, was sie meinte. Trotzdem wollte er es von ihr hören. „Was stimmt nicht, Romy Bonero?“

„Dass ich dich nicht mag und loswerden will. Aber …“

„Aber was?“

„Meine Mutter mahnte mich oft: Kind, höre auf dein Herz, aber bedenke auch, dass man auf einem Scherbenhaufen kein Glück aufbauen kann.“

„Was bedeutet das für mich?“

„Denke über dein Leben nach, Erik. Gib Nadja eine Chance. Oder ziehe einen Strich unter deine Vergangenheit, bevor du dich auf eine neue Sache einlässt. Du musst das ohne mich entscheiden. Ich will nicht der Grund für das Unglück einer anderen Frau sein. Damit könnte ich nicht leben.“

Erik sah Romy eine Weile gedankenvoll an. Wie hätte er sie überzeugen können, dass sie nicht der Grund seines Konflikts war, sondern nur der Schlüssel zu der Kammer, in der er geschlummert hatte? Wäre Erik, als er Romy im Restaurant begegnete, im inneren Gleichgewicht gewesen, hätte er Nadjas Kleid nach Hause getragen und befände sich jetzt nicht in einer Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.

Romy schien sein Schweigen zu werten, als könne er zu ihren Worten keinen Zugang finden. „Verstehe mich bitte, Erik“, fuhr sie fort, „wir kennen uns erst wenige Stunden, und du lebst in einer Beziehung. Wenn ich mich auf dich einlasse, verstricke ich mich vielleicht in eine Affäre, deren Folgen wir beide später bedauern könnten.“

Erik war gerührt darüber, dass sie ihn so inständig um sein Verständnis für ihren Standpunkt bat, obwohl sie nicht den geringsten Grund hatte, sich für irgendetwas zu rechtfertigen. Vielmehr wäre es an ihm gewesen, für seinen Fauxpas ihr gegenüber Abbitte zu leisten. Außerdem war ihm klar, dass sie mit jedem ihrer Worte recht hatte. Er strich ihr flüchtig über die Wange. „Ich verstehe dich, Romy. Sehr gut sogar. Wirst du auf mich warten?“

Romy schüttelte den Kopf. „Nein, nicht ins Blaue hinein. Wenn Mr. Right kommt, ist er da.“

„Also muss ich mich beeilen, wenn ich dieser Mr. Right sein will.“

„Vielleicht.“

„Sonst kannst du mir nichts auf den Weg mitgeben? Nichts weiter als ein ‚Vielleicht‘?“

„Nichts, Erik. Das ist alles.“

„Aber ich kann etwas zurücklassen.“ Erik ließ den Pappkarton aus der Hand gleiten, nahm Romy an beiden Schultern und küsste sie auf den Mund, nicht fordernd, sondern zärtlich und nicht länger, als es ihm für den Augenblick angemessen erschien. Sie ließ ihn gewähren, erwiderte seinen Kuss jedoch nicht.

„Ich komme zurück, Sommersprosse, verlass dich drauf.“ Er ließ ihre Schultern los, hob den Pappkarton vom Boden auf, öffnete die Tür und verschwand im Treppenhaus, ohne noch einmal den Kopf zu wenden. Erst als er unten ankam, hörte er, wie Romys Wohnungstür ins Schloss fiel. Sie schien ihm über das Treppengeländer den ganzen Weg bis zum Hauseingang nachgeschaut zu haben.

Am ersten Zeitungskiosk, auf den er traf, kaufte er einen Stadtplan und ließ sich vom Kioskbetreiber den Weg zum Hauptbahnhof zeigen: Richtung Süden bis zum Fernsehturm und zur Museumsinsel, dann nach Westen und ab Friedrichstraße am Spreeufer entlang bis zum Spreebogen und Humboldthafen.

Sie hat mich „Erik“ genannt und „du“ zu mir gesagt, und sie hat mir erlaubt, sie zu küssen, kam ihm zu Bewusstsein, als er, den Pappkarton unter den Arm geklemmt und den aufgefalteten Stadtplan in beiden Händen, losmarschierte und in seiner Brust ein Glücksgefühl aufstieg wie beim Anblick eines seltenen, erhabenen Naturschauspiels. „Ich komme wieder, Romy Bonero, was auch geschieht, ich komme wieder“. Unablässig wie eine Beschwörungsformel geisterte dieser Satz durch seinen Kopf, während er der Spree entgegeneilte. Doch je länger er unterwegs war, desto öfter drängten sich Romys mahnende Worte dazwischen: „Gib Nadja eine Chance. Ich will nicht der Grund für das Unglück einer anderen Frau sein. Damit könnte ich nicht leben.“

Die Berlinerin

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