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Studienjahre

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ach dem Abitur schien für Hilde Domin ein ganz normales Studentenleben seinen Anfang zu nehmen. Ostern 1929 ging sie in die Universitätsstadt Heidelberg und nahm das Studium der Jurisprudenz auf. Der Vater hatte ihr Heidelberg für das Jurastudium empfohlen, weil dort der von ihm hochgeschätzte Professor Gustav Radbruch lehrte. Ihre Mutter begleitete sie und war ihr bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich.

Auch wenn die Eltern ihre Tochter schon in Köln an langer Leine ihre Erfahrungen hatten sammeln lassen, so war das eigenständige, selbstverantwortete Dasein, das nun fern der Obhut der Eltern begann, doch etwas anderes. So glaubte die Mutter, vor ihrer Rückkehr nach Köln Hilde der Fürsorge ihrer Kusine empfehlen zu müssen, was Hilde nicht wenig entsetzte. Die mütterliche Fürsorge versiegte natürlich auch während ihrer Studienzeit nicht. Regelmäßig konnte Hilde ihre Wäsche nach Hause schicken und erhielt die Pakete nicht nur mit sauberer Wäsche, sondern immer noch zusätzlichen Geschenken in Form von Essen, Geld oder Süßigkeiten zurückgesandt.

Heidelberg wurde für die Studentin Hilde Löwenstein die „geistige“ Stadt im Gegensatz zur „mythischen“ Stadt Köln, der Stadt ihrer Geburt und Kindheit. Bei Professor Radbruch hörte sie die Vorlesungen zur Einführung in die Rechtswissenschaft. Bei ihm lernte sie, juristische Probleme von verschiedenen Seiten zu betrachten, Position und Gegenposition zu beziehen.

Dieses dialektische Denken als Grundausstattung floss später, als aus der Soziologin und politischen Wissenschaftlerin die Dichterin Hilde Domin wurde, auch in ihre Dichtung ein. Als Stilmittel für Gedichte postulierte sie das Paradox. Oder anders gesagt: Im Reflektieren über die entstandenen Gedichte erkannte sie, dass das Paradox ihr Hauptstilmittel war. Im Gedicht formuliert sich das Gegenteil vom Erwarteten. Die allgemeine Ansicht wird ad absurdum geführt. Und auch der Dichter selbst befindet sich in einer paradoxen Lage, indem er Dinge zusammenfügt im Fluss der Worte, die scheinbar nicht zusammengehören. Kennzeichnend in der Lyrik Hilde Domins war schon die Wahl des Titels für ihren ersten Gedichtband, der 1959 erschien: „Nur eine Rose als Stütze“. Ebenso paradox ist das Motto in diesem Band: „Ich setzte den Fuß in die Luft / und sie trug.“ Es war eine Antwort auf die paradoxe Behauptung des Dichters Lope de Vega aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts: „Dando voy pasos perdidos / por tierra, que todo es aire“, was übersetzt heißt: „Verlorene Schritte tu ich / auf Erden denn alles ist Luft.“

Um den Tatbestand der Verwendung von paradoxen Aussagen bzw. Bildern zu illustrieren, sei das ganze Gedicht zitiert:

Nur eine Rose als Stütze

Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft

unter den Akrobaten und Vögeln

Mein Bett auf dem Trapez des Gefühls

wie ein Nest im Wind

auf der äußersten Spitze des Zweigs.

Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle

der sanftgescheitelten Schafe die

im Mondlicht

wie schimmernde Wolken

über die Erde ziehn.

Ich schließe die Augen und hülle mich ein

in das Vlies der verläßlichen Tiere.

Ich will Sand unter den kleinen Hufen spüren

und das Klicken des Riegels hören,

der die Stalltür am Abend schließt.

Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.

Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.

Meine Hand

greift nach einem Halt und findet

nur eine Rose als Stütze.

Doch schon bald fand Hilde in der Jura nicht mehr das, was sie wollte. Sie wollte sich in Wissenschaften heranbilden, die die Gesellschaft verändern helfen. Das waren in ihren Augen Nationalökonomie, Soziologie und Philosophie. Hochgemut, wie es das Privileg der Jugend ist, kehrte sie aus dem 2. Semester nach Hause zurück und verkündete: „Familiensachen interessieren mich nicht mehr. Mich interessiert nur noch die Menschheit.“

Als ersten Schritt zu diesem Programm war sie Mitglied einer sozialistischen Studentengruppe geworden. „Das Kapital“ von Karl Marx und andere Werke über ökonomische Theorie gehörten zur ihrer Lektüre. „Ich informierte mich gründlich.“

Die Eltern reagierten auf diese erneute Extravaganz ihrer Tochter großzügig. Während der Semesterferien hielt Hilde im Wohnzimmer in der Riehler Straße eine Arbeitgemeinschaft ab mit anderen Studenten und Arbeitern. Es wurde gemeinsam gelesen und natürlich diskutiert. Um nicht zu stören, überließen die Eltern ihr die Wohnung einmal in der Woche für diese Versammlungen.

Ein Unfall zwang Hilde, ihr Studium in Heidelberg zu unterbrechen: Sie hatte sich eine schwere Verbrennung am Kopf zugezogen, als ihre Lockenwickler aus Zelluloid in Brand gerieten. Bis zur völligen Genesung studierte sie deshalb in Köln. Eine weitere kurze Station im Studium war Berlin, Ende 1930, Anfang 1931.

Als linke Sozialdemokratin nahm sie aktiv teil am politischen Leben der letzten Jahre der Weimarer Republik. Hier hörte sie in der Hasenheide auf einer nationalsozialistischen Versammlung erstmals Hitler reden und erkannte als politisch geschulter Mensch sofort, was sich da zusammenbraute. Damals entschloss sich Hilde Domin, Deutschland zu verlassen, falls Hitler an die Macht käme. Frühzeitig ahnte sie voraus, dass dieser machtbesessene Mensch all das, was er in „Mein Kampf“ geschrieben hatte, auch wirklich durchführen würde. Man bezeichnete sie deshalb als Schwarzseherin und nannte sie „Kassandra“.

Doch erst einmal konnte sie zum Sommersemester 1931 zum Studium nach Heidelberg zurückkehren. Es begann für sie die „große Zeit von Heidelberg“, in der sie bei so bedeutenden Professoren wie Karl Jaspers und Karl Mannheim Vorlesungen hörte.

Bei Karl Mannheim lernte sie das Relativieren des eigenen Standpunkts, „die geistige Gymnastik, sich selbst aus der Distanz zu sehen“, wie sie sagt. Und von Jaspers hörte sie das Diktum: „Im Scheitern kommt der Mensch zu sich selbst.“ Ein Satz, dessen Wahrheitsgehalt zu erfahren und zu überprüfen sie in gar nicht so ferner Zukunft reichlich Gelegenheit erhalten sollte.

Und dann war da noch das für ihre persönliche Zukunft einschneidendste Erlebnis: Am ersten Tag des Sommersemesters 1931 lernte sie den Archäologiestudenten Erwin Walter Palm kennen. In der Mensa begegneten sie sich das erste Mal und begannen das Gespräch, das 56 Jahre lang währen sollte – der Beginn einer Zweisamkeit, deren Verlust Hilde Domin in dem FAZ-Fragebogen als das größte Unglück bezeichnete. Das war vor dem Tode ihres geliebten Mannes im Jahre 1988.

Palm war gerade erst in Heidelberg angekommen und fragte die hübsche Studentin mit den ausdrucksvollen Augen, als sie gemeinsam in der Essensschlange standen, wo sie wohne. Dem Charme des gut aussehenden jungen Mannes hat sie keinen Augenblick widerstehen können. Und so entschied sich ihrer beider gemeinsames Leben in diesen Minuten ihrer Begegnung.

Fortan gingen sie gemeinsam in die Vorlesungen und Seminare von Jaspers, lasen auf ihrem Studentenzimmer gemeinsam Plato und tauschten in der Aula sehnsuchtvoll Zettelchen miteinander. Es war Sommer. Hilde und Erwin paddelten gemeinsam auf dem Neckar bis hinauf nach Neckarsteinach. Und sie schwammen im Neckar, ganz so wie Hilde als Kind im Rhein geschwommen war. Abends gab es Tanzveranstaltungen. Und im Café Krall traf man sich mit anderen Studenten zu endlosen Diskussionen, denn dort durfte man bis Mitternacht sitzen bleiben, wenn man sich mit den so genannten „Krallinchen“, einem besonderen Gebäck für Studenten, für einen Preis von zehn Pfennigen den Eintritt und einen Sitzplatz „erkauft“ hatte.

Die Sitten waren damals noch streng. Wenn Hilde abends ihren Freund Erwin bei sich empfangen wollte, musste sie ihm den Hausschlüssel heimlich aus dem Fenster werfen. Hilde wohnte im berühmten „Thibauthaus“, das einen herrlichen Garten besaß, in dem sie beide ihre ersten Kaninchen hielten, ihren ersten gemeinsamen Besitz, bis zu ihrem Fortgehen aus Deutschland.

In diesem Haus, in dem sie zur Untermiete bei dem Flötisten Schmiedel wohnte, hatte Goethe den „Thibautschen Singabenden“ gelauscht. Und wahrscheinlich war auch er schon durch den wunderschönen Garten hinauf zum Schloss gegangen. Vielleicht waren sogar einige Gedichte des Diwanzyklus dort entstanden.

Hildes Studentenwohnung muss man sich durchaus komfortabel vorstellen. Es handelte sich um zwei hintereinanderliegende, durch einen Vorhang getrennte Zimmer, ein Schlaf- und ein Wohnzimmer, das mit Biedermeiermöbeln ausgestattet war.

Als die Mutter Hilde in Heidelberg besuchte und deren Freund kennen lernte, war sie sofort mit der Wahl ihrer Tochter einverstanden und akzeptierte ihn schon damals als ihren Sohn beziehungsweise Schwiegersohn, obwohl noch einige Jahre vergehen sollten, bis die zwei nach dem beiderseitigen Doktorexamen in Rom heirateten.

Hilde Löwenstein und Erwin Walter Palm hätten sich in ihrer Studienstadt Heidelberg und in dem wunderbaren Gefühl der Zusammengehörigkeit nun aufs Schönste einrichten können. Doch die Zeiten waren nicht danach. In der Karlstraße, wo Hilde wohnte, spielten bereits die Kinder „Umzüge“, je nach Parteizugehörigkeit der Eltern entweder kommunistische oder nationalsozialistische, und führten eine Art „Liederkrieg“ gegeneinander. Man begann zu ahnen, wie aufgeheizt die Stimmung der Anhänger beider extremer Parteien zu werden drohte.

Hilde Löwenstein, schon immer couragiert, wenn es Entscheidungen zu treffen galt, fühlte sich immer unbehaglicher und schlug Erwin vor, eine Studienreise nach Italien zu machen, zunächst wegen seines Arbeitsgebietes, der antiken Stätten. Als Land zukünftiger Studien war Italien allerdings nicht vorgesehen. Ursprünglich dachten beide an die Schweiz als mögliches Studienland. Auf jeden Fall wollten sie aus Deutschland fortgehen. Hilde rechnete damit, dass die Nazis an die Macht kommen würden.

Auf der Fahrt in die Schweiz erlebten sie in Freiburg die emotional hoch aufgeputschte Stimmung in der deutschen Bevölkerung. Es war der Wahlsonntag des 20. Juli 1932. „Man sah die engen Straßen nicht, so zugehängt waren sie mit roten Transparenten und Hakenkreuzfahnen. Unter den Fahnen, Knäuel von Menschen, Trupps von grölenden Halbwüchsigen. Die Luft war zum Schneiden, wie vor einem Gewitter“, beschreibt Hilde Domin die Erinnerung in „Randbemerkungen zur Rückkehr“.

Auf der Weiterreise in Basel angekommen, glaubten sie, einem Alptraum entronnen zu sein, so friedlich war hier die Stimmung. „Die Luft war so frei von Kalamität und Desaster, als habe Gott mit einer großen Spritze alle Straßen blankgesprengt.“

Gerade dieser Kontrast machte ihnen in aller Klarheit deutlich, dass in Deutschland nur noch mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. „Es war, als sei schon alles entschieden, und alles sei verloren“, sagt sie rückblickend auf dieses Erlebnis.

Für Hilde Domin stand nun erst recht außer Frage, dass für sie beide als Juden in Deutschland kein Platz mehr sein konnte. Rückblickend erkannte sie, wie wichtig dieser Schritt in die Freiheit gewesen ist, der erste von vielen weiteren, der erste ins noch „probeweise Exil“ vor den weiteren der erzwungenen Exile:

„Wie ich versuche, über das Verlassen der Heimat zu sprechen, entdecke ich zu meinem Erstaunen, dass offenbar die Tatsache, daß ich im Jahre 1932 dem Zwang zuvorgekommen bin, daß ich (…) in sehr jungen Jahren mich selber entschied, wissend, daß schon alles entschieden war, daß dies freiwillige Aufgeben des in Wahrheit schon Verlorenen mein ganzes Leben bestimmt zu haben scheint. Es hat meinen Freiheitsbegriff geprägt. Nicht so sehr, daß ich ›in die Freiheit’ ging, sondern dass ich mir die Freiheit nahm zu gehen.“

Italien sollte es also sein. Rom. Doch einmal dort angekommen, erwies die Stadt sich als das, was sie im Grunde von vornherein gewesen war: die erste Station ihres langjährigen Exils, das hier im Oktober 1932 begann.

Dichterisch formulierte Hilde Domin später diese weitere Paradoxie ihres Lebens in dem Gedicht „Ziehende Landschaft“, dem ersten ihres ersten Gedichtbandes „Nur eine Rose als Stütze“.

Ziehende Landschaft

Man muß weggehen können

und doch sein wie ein Baum

als bliebe die Wurzel im Boden,

als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Man muß den Atem anhalten,

bis der Wind nachläßt

und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,

bis das Spiel von Licht und Schatten,

von Grün und Blau,

die alten Muster zeigt…

Die Lebensthemen von Hilde Domin sind in diesem frühen Gedicht angesprochen: Verlassen der Heimat, Bewahren der „Wurzel“, die sowohl die Heimat als auch die deutsche Sprache versinnbildlichen kann. Und der Wille, sich auch die Fremde anzuverwandeln, bis sie „die alten Muster zeigt“ und man selbst in der Fremde – „wo es auch sei“ – durch diesen Bewusstseinsakt so etwas wie ein Zuhause haben kann.

Um dies so erleben zu können, war es für Hilde Domin wichtig, Subjekt und nicht Objekt der politischen Umstände zu sein. In ihrem Roman „Das zweite Paradies“ hat sie das Weggehen so beschrieben: „Es war ein guter Tag, denn du konntest noch aufrecht fortgehen, du fielst nicht mit dem Gesicht auf den Boden, weil du von rückwärts gestoßen wurdest. Niemand hat dich hinausgeworfen, beinah bist du von selbst gegangen. Es ist wichtig, nicht öffentlich beschämt zu werden.“

Natürlich begann damals auch dies andere Gefühl, das die beiden Studenten fortan begleiten sollte, das des Nicht-Heimisch-Seins.

Gewöhn dich nicht.

Du darfst dich nicht gewöhnen.

Eine Rose ist eine Rose.

Aber ein Heim

ist kein Heim.

Sag dem Schoßhund Gegenstand ab,

der dich anwedelt

aus den Schaufenstern.

Er irrt. Du

riechst nicht nach Bleiben…

Das wird aus der Rückschau gesagt. Aber sicher war es auch schon damals da, dieses Gefühl, wenn auch vielleicht noch sehr irrational. Denn sie waren ja jung, hatten ihre Zukunft vor sich liegen. Und die lag zunächst in der Fortsetzung ihrer Studien. Rom war für den Studenten der Archäologie der ideale Arbeitsplatz. Erwin Walter Palm liebte die Stadt, und natürlich liebte seine Lebensgefährtin Hilde sie auch.

In Italien zu leben war trotzdem nicht unproblematisch. Denn Mussolini war bereits an der Macht. Aber wenn man sich nicht um Politik kümmerte, hatte man in den ersten Jahren ihres Italienaufenthaltes nicht viel zu befürchten. Um diese Situation nicht zu gefährden, wandte sich Hilde Domin in ihren Studien von der Gegenwart ab und der Vergangenheit zu: Sie arbeitete über die Staatstheorie der Renaissance und promovierte über das Thema „Pontanus als Vorläufer von Machiavelli“.

Bereits ein halbes Jahr nach ihrer Abreise nach Italien erwies sich die Richtigkeit von Hilde Domins Ahnungen: Hitler hatte die Macht übernommen. Zu diesem Zeitpunkt erwogen sie und Erwin Palm, nach Spanien weiterzuziehen, da es sie intellektuell sehr verlockte. Dass daraus nichts wurde, weil man in Spanien ihre Abiturzeugnisse nicht anerkannte, erwies sich im Nachhinein als Glück. Sie wären sonst in den Bürgerkrieg geraten.

Eine Sorge ließ Hilde Domin nicht ruhen: die Sorge um ihre noch immer in Köln lebenden Eltern. In Briefen flehte sie sie so lange an („Ich kann nicht schlafen, solange Ihr in Deutschland seid“), bis sie sich tatsächlich zur Flucht entschlossen. Es war an ihrem 25. Hochzeitstag, als die Eltern über die Grenze nach Belgien gingen und dann nach England auswanderten, wo zwei Schwestern der Mutter, beide verheiratet mit Engländern, lebten.

1935 promovierte Hilde Domin bei Armando Sapori an der Universität von Florenz und hatte damit ihr Studium beendet. Ihr wurde von der Universität eine Dozentenstelle angeboten, die sie aber ausschlug, weil Erwin Walter Palm – nach seiner eigenen Promotion ebenfalls in Florenz (er promovierte über Ovid) – lieber in Rom seine Studien über römische Kunst und römische Mythologie fortsetzen wollte. Also kehrten sie gemeinsam nach Rom zurück.

Hilde stellte erst einmal ihre eigenen beruflichen Wünsche einer wissenschaftlichen Laufbahn hintan, um durch Sprachunterricht für ihrer beider Lebensunterhalt zu sorgen. Sie dachte damals, dass es nur eine kurze Übergangssituation wäre. Sie glaubte, dass Erwin sehr schnell berühmt werden würde, und wollte ihm gerne auf dem Weg dahin helfen und anschließend ihre eigenen Pläne verwirklichen.

1936 heirateten Hilde Löwenstein und Erwin Walter Palm in Rom. Im Konservatorenpalast auf dem Kapitol wurden sie nach römischem Recht getraut. „Das war schon eine besondere Sache“, erzählt sie, „der Standesbeamte hatte die italienische Trikolore um den Bauch gewickelt und weihte mich, nachdem er die Trauungsformel aufgesagt hatte, in meine Pflichten als Ehefrau ein. Das war doch sehr viel anders, als man es sich in Deutschland hätte vorstellen können. Denn er schloss seinen Pflichtenkatalog mit der Bemerkung: ›e i bambini si vaccinano‹, was so viel heißt wie: ›Und die Kinder werden geimpft‹.“

Nach der Heirat bezogen die Palms ihre erste eigene Wohnung. Bisher hatten sie stets zur Untermiete gewohnt. Gemeinsam. Was damals nicht üblich war für ein unverheiratetes Paar. Aber um Konventionen scherten sie sich nicht, wenn es auch bedeutete, dass sie in die so genannten besseren Kreise nicht eingeladen wurden. Aber für sie zählte nur, dass sie zusammen waren.

Sie bezogen eine außergewöhnliche Wohnung auf dem Kapitol. In ihr hatte die berühmte Eleonora Duse gewohnt. Und entsprechend war die Wohnung noch ausgestattet: mit vielen Spiegeln in raffinierter Anordnung. Die Möbel kauften sie auf dem Campo dei Fiori, dem römischen Flohmarkt, und bei Trödlern, denn viel Geld hatten sie nicht. Von den Eltern bekamen sie Silber, Porzellan und Perserteppiche, die sie bei ihrer Flucht aus Deutschland gerettet hatten. Bald auch ließen sie sich ihre Bücher aus Köln, Heidelberg und Frankfurt nachschicken.

Es muss eine sehr hübsche Wohnung gewesen sein, in der sich das junge Paar einrichtete. Einen schöneren Ausblick kann man sich kaum vorstellen als den auf Forum und Palatin und einen hundertjährigen Glyzinienbaum, der sich bis zur Terrasse ihrer Wohnung im vierten Stock empor rankte. Sie verlebten dort eine glückliche Zeit und wären freiwillig aus Rom wohl nie weggegangen.

Erwin schrieb wissenschaftliche und zunehmend auch literarische Arbeiten. Er schrieb sie in italienischer Sprache, die sie beide inzwischen gut beherrschten. Und Hilde redigierte sie zusammen mit einem italienischen antifaschistischen Lehrer, der aus dem Schuldienst entlassen worden war. Mit einem Franzosen überarbeitete sie Erwins auf Französisch geschriebene religionswissenschaftlichen Aufsätze. Und zusätzlich gab sie Deutschunterricht.

„Wir lebten damals buchstäblich von der Sprache“, erzählt Hilde Domin. Und es begann damals, was sie später ihre „Sprachodyssee“ nennen sollte.

Zu jener Zeit wollten viele Italiener die deutsche Sprache erlernen, wodurch sie glücklicherweise keinen Mangel an Schülern hatte. Aber der Unterricht wurde sehr schlecht bezahlt. Von morgens acht bis abends acht mit einer nur kurzen Mittagspause gab sie stundenweise Sprachunterricht. Um das geringe Einkommen aufzubessern, vermieteten sie zwei Zimmer ihrer Wohnung an einen Junggesellen, der tagsüber in einem Büro arbeitete, so dass Hilde Domin diese Zimmer während seiner Abwesenheit für ihre Deutschstunden mitbenutzen konnte.

Im Parterre wohnte der russische Dichter Iwanow mit seiner Familie. Man nannte ihn den russischen Mallarmé. Und es war kein Wunder, dass sie sofort mit ihm Freundschaft schlossen. Auch mit seiner Frau, „Flamingo“ genannt, einer Art lebendem Lexikon, denn sie wusste auf alle Fragen der Philosophie – sie war Doktorin der Philosophie – Antwort zu geben. Gemeinsam tranken sie Tee, lasen Gedichte und diskutierten.

Doch ab 1936 wurde es fortschreitend schwieriger. Mussolini band sich immer enger an Hitler. Die Lage verschlechterte sich sichtlich nach dem Besuch Hitlers in Rom und der Bildung der „Achse Rom–Berlin“. Politisch einschneidende Ereignisse wie die Annektierung Österreichs und der Tschechoslowakei, der Abessinische Krieg und auch der Spanienkrieg hatten für die deutschen Emigranten spürbare Folgen. Erwins Arbeiten wurden nicht mehr in Italien gedruckt. Immer öfter stand die Polizei vor der Tür und kontrollierte die Papiere. Und sie bemerkten, dass ihre Wohnung beobachtet wurde. Um den Polizeikontrollen, die meistens am frühen Morgen stattfanden und einer möglichen Verhaftung zu entgehen, verließen Erwin und Hilde eine Zeit lang schon vor fünf Uhr die Wohnung, fuhren mit der Straßenbahn rund um Rom und frühstückten auswärts in einer Bar, um dann zurückzukehren und ihren Arbeiten nachzugehen. Natürlich war die Lage alles andere als gemütlich. Es wurde damit begonnen, deutsche Flüchtlinge auszuweisen und Hitlergegner, aber auch Hitleropfer, ins Gefängnis zu werfen.

Die Unsicherheit und Ungewissheit wurden immer größer. Lange war dieser Zustand nicht mehr auszuhalten. So hielten sie einige Wochen lang kleine Handkoffer, gepackt mit dem Nötigsten für eine plötzliche Abreise, in einem Schrank versteckt bereit.

Als hätte sie einen sechsten Sinn, entschloss sich Hilde Palm eines Abends von einem zum anderen Moment, mit ihrem Mann die geliebte Wohnung zu verlassen. Sie fuhren die ganze Nacht hindurch bis nach Sizilien. Was sie vorausgeahnt hatte, traf ein. Am nächsten Morgen stand die Polizei vor der Tür, um sie ins Gefängnis abzuholen.

Die Abreise aus Rom schien zwar überstürzt, doch war sie schon seit einiger Zeit geplant und vorbereitet. Der Plan war, nach England zu gehen. Doch dafür brauchten sie ein Visum. Nur weil Hildes Eltern in England lebten und sie zusätzlich englische Verwandtschaft hatten, war es ihnen möglich, eines zu bekommen. Das war ein großer Glücksfall, denn England erteilte normalerweise nur noch für Kinder oder alte Menschen Visa. „Es war wie ein Wunder“, sagt Hilde Domin.

Deshalb ist ihr die Dankbarkeit so wichtig, das Nicht-Vergessen von erfahrener Hilfe, ohne die sie heute nicht mehr leben würde und die sie deshalb auch anderen Menschen zukommen lassen möchte. Nach ihrer Lieblingstugend befragt, sagte sie einmal: „Eine glückliche Hand für andere zu haben.“ Und welche Fehler sie am ehesten entschuldigen würde? „Die, die aus Hilfsbereitschaft begangen werden.“

Den Glauben an den Menschen nicht zu verlieren, das ist das, was die Dichterin und den Menschen Hilde Domin kennzeichnet.

An das Wunder glauben, davon spricht auch ein kleines Gedicht, das wie die Essenz eines leidgeprüften, eines widerständigen, eines von unverlierbarer Hoffnung geprägten Lebens ist. Es gehört zu den am meisten gelesenen, übersetzten, veröffentlichten, an die Wände vieler Wohnungen gepinnten Gedichte:

Nicht müde werden

sondern dem Wunder

leise

wie einem Vogel

die Hand hinhalten.

So gelang es Hilde und Erwin Palm, doch noch einen halbwegs geregelten Fortgang aus Italien zu schaffen. Um den Transport ihrer Möbel und vor allem der stattlich angewachsenen Zahl an Büchern nach England finanzieren zu können, mussten sie allerdings das elterliche Porzellan und Silber, ihre Hochzeitsgeschenke, verkaufen.

Auf die nächste Station ihres Exils bereiteten sie sich mit der Lektüre von englischen Gedichten vor. Ihre Eltern hatten ihnen, sobald sie das Visum bekommen hatten, Bücher von Keats, Shelley und Swinburne geschickt.

Der Abschied von Italien, von Rom vor allem, fiel ihnen alles andere als leicht, hatten sie hier doch mehr als sechs glückliche Jahre verbracht. Rückblickend sagt Hilde Domin zu jenen Jahren. „Ja, es ist wahr, wir haben dort glückliche Augenblicke gehabt. Nein, auch das ist verkehrt. Es war eine glückliche Zeit, aus der wir ununterbrochen aufgeschreckt und aufgejagt wurden. Für uns, die wir jung und zusammen waren, die wir jeden Morgen die Sonne über Forum und Palatin aufgehen sahen, über der großartigen und geliebten Stadt, und die wir abends miteinander lasen, was er tags geschrieben hatte, war es eine anstrengende Zeit, in der wir jeweils nur kurze Strecken lang unsere Kontinuität mit uns selber bewahren konnten. Versucht haben wir es immer wieder. Objektiv und von außen gesehen, war es eine Hundezeit. Im Politischen wie im Ökonomischen. Aber nur von außen. Nur objektiv.“

Im Februar 1939 verließen die Palms endgültig Italien, um über Frankreich nach England zu emigrieren. Während sie nach Italien noch auf eigenen Entschluss gegangen waren, war das Verlassen Italiens erzwungen. Sie wurden ausgewiesen wie alle Exilanten.

Hilde Domin

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