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Erster Advent

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Wie alles begann …


Zack!

„Autsch!“ Verflixt, das tat echt weh!

Ottilie zog hastig die Hand zurück. Die hatte sie eben zum wiederholten Mal nach den Köstlichkeiten ausgestreckt, die vor ihr auf dem Tisch standen. Berge von herrlich duftenden Plätzchen, Lebkuchen, Brownies, Cupcakes. Und alle dufteten – oh – einfach himmlisch!

Wie soll man da auch widerstehen?

Laut durfte sie das natürlich nicht sagen. Stattdessen bemühte sie sich, ein möglichst unschuldiges und braves Gesicht aufzusetzen. Vor ihr stand Hildemarie, eine ihrer Lieblingsbäckerinnen hier in der himmlischen Engelbackstube, klein, rundlich, mit zerzausten haselnussbraunen Haaren und roten Backen.

Normalerweise lächelte Hildemarie stets gütig, doch jetzt stand sie mit zusammengekniffenen Lippen vor ihr. Den Kochlöffel, der eben so unsanft auf Ottilies Fingern gelandet war, hielt sie fest in der rechten Hand.

„Ottilie, Schutzengel Anfängerklasse, was fällt dir eigentlich ein? Du weißt genau, dass niemand vor Weihnachten von den Plätzchen naschen darf. Erst müssen wir unsere vielen, vielen Aufträge für all die Menschen dort unten auf der Erde erfüllen, erst danach können wir uns den Rest beim Weihnachtsfest schmecken lassen. Wie kommst du dazu, diese oberste aller Regeln zu brechen?“

Entrüstet pustete Hildemarie sich eine Strähne aus dem Gesicht, stemmte die Hände in ihre fülligen Hüften und musterte Ottilie finster. Diese duckte sich unter dem strengen Blick, biss sich fest auf die Unterlippe und schaute schuldbewusst auf ihre roten Stiefel. Ein lautes Schnauben von Hildemarie ließ sie vorsichtig den Blick heben.

„Hattest du etwa gehofft, ich würde dich nicht sehen? Dachtest du tatsächlich, ich merke nicht, dass da eine kleine Rotzgöre mit ihren Patschern in meinen Köstlichkeiten rumkramt? Pah! Was hast du dir nur dabei gedacht?“

Bei jeder Frage tippte Hildemarie mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger fest gegen Ottilies Brustkorb. Ottilie wich zurück. So kannte sie ihre Lieblingsbäckerin gar nicht! Sonst drückte sie doch auch immer mal ein Auge zu. Was war denn heute so anders?

Unter halb gesenkten Lidern musterte sie die rundliche Bäckermeisterin. Ja, irgendwie war Hildemarie heute anders.

Sie sah irgendwie – tja – besorgt aus.

Besorgt? Aber warum das denn? Etwa ihretwegen?

Ottilie blinzelte, hob den Kopf und sah Hildemarie mit großen Augen an.

„Es … es tut mir leid. Aber, es riecht hier sooo lecker. Ich konnte einfach nicht an der Tür vorbeigehen.“

Hildemarie schnaubte erneut und warf den Kopf in den Nacken.

Ottilie blickte Hildemarie kleinlaut an. Oh je! Wie sollte sie das nur wiedergutmachen?

Doch was war das? War da etwa ein verschmitztes Funkeln in deren Augen? Ein Funken Hoffnung stieg in ihr auf.

„Doch, wirklich“, beschwor sie die Bäckerin. „Mein Kopf hat meinen Füßen befohlen, vorbeizugehen, aber die … die haben sich einfach selbstständig gemacht und wollten nicht! Stell dir vor, obwohl ich das gar nicht vorhatte, stand ich plötzlich hier vor all den Leckereien. Ich wollte umdrehen, ehrlich! Aber es ging einfach nicht!“

Vorsichtig wagte Ottilie einen kurzen Blick in Hildemaries Gesicht. Puh, zum Glück sah sie nicht mehr ganz so wütend aus. Also schnell weiterreden.

„Und dann … Ich habe es wirklich, wirklich, nicht gewollt, dass das passiert, aber auf einmal hielt ich einen dieser duftenden Zitronen-sterne in der Hand. Da konnte ich doch gar nicht mehr anders, als den in den Mund zu stecken, und dann, als ich den oberleckeren Keks im Mund hatte, hast du mir plötzlich auf die Hand geschlagen.“

Anklagend ruhte nun ihr Blick auf der Bäckerin. Ja genau, wie konnte Hildemarie nur diesen wunderbaren Moment so abrupt beenden?!

Um Hildemaries Lippen zuckte es. Sie betrachtete Ottilie von oben bis unten, registrierte die Streuselspuren auf ihren Lippen, das verschmierte Hemdchen und die Strümpfe, die bis zu den kleinen roten Stiefeln hinuntergerutscht waren, deren Farbe vor lauter Schmutz kaum zu erkennen war.

Das Zucken um ihre Lippen verstärkte sich.

„Soso, deine Füße haben also von ganz allein den Weg zum Tisch gefunden. Natürlich wolltest du das nicht - du doch nicht.“

Ottilie blinzelte verblüfft. Wie meinte die Bäckerin das wohl? Sie runzelte die Stirn und blickte Hildemarie verwirrt an.

„Ähm, doch echt, so war es. Aber …, aber warum sagst du das so komisch?“


Ein leises Lachen erklang, wurde immer lauter und lauter, und schließlich stand Hildemarie prustend vor Lachen vor ihr und hielt sich den Bauch, während sie laut nach Luft schnappte.

Sie lachte und lachte und lachte. Irgendwann konnte Ottilie nicht mehr anders, sie musste einfach mitlachen, auch wenn sie gar nicht wusste, worum es eigentlich ging.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Bäckerin sich wieder beruhigt hatte. Immer wieder brachen neue Lachsalven aus ihr hervor.

„Ich kann nicht mehr“, japste sie endlich. „Mein Bauch, oh Gott, mein Bauch!“

Ottilie ging um den Tisch herum und berührte Hildemarie am Ärmel. Sie räusperte sich, blickte in die tränenden Augen der Bäckerin und schüttelte den Kopf.

„Also, wenn du dich wieder beruhigt hast, kannst du mir ja vielleicht sagen, was so lustig ist.“

Fragend sah sie Hildemarie an. Die gluckste ein letztes Mal, wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Also weißt du, ich falle beinahe um vor Lachen, und du fragst ernsthaft warum? Mädel, Mädel, du bist echt ‘ne Marke! Tust so, als ob du gar nichts gemacht hättest, so wie immer, dabei passiert jedes Mal – wirklich jedes Mal – irgendwas, wenn du auftauchst.“ Sie stemmte die Arme in ihre runden Hüften. „Aber diesmal kommst du mir nicht so leicht davon. Auch wenn ich dich sehr gern habe, ändert es nichts daran, dass du überhaupt nicht hier drin sein darfst. Außerdem hast du auch noch mit deinen schmutzigen Händen auf den Plätzchenteller gelangt, darum muss ich die Plätzchen nun alle wegwerfen und neue machen. Dabei sind wir doch eh schon im Rückstand.“

Vorwurfsvoll blickte Hildemarie den kleinen Engel an ihrer Seite an. Ottilie zog schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern. Natürlich wusste sie, dass dieses Jahr alles etwas langsamer lief. Die Erwachsenen sorgten sich, dass sie die Weihnachtsvorbereitungen nicht rechtzeitig schaffen würden. Schließlich war es seit Wochen das Gesprächsthema hier oben im Himmel.

Ausgerechnet der Oberchefbäckermeister Prios war einem Streich zum Opfer gefallen. Ein kleiner Engel hatte sein Skateboard auf der Treppe zur Bäckerei liegenlassen, und als Prios die Bäckerei verließ und ganz in Gedanken versunken die Treppe hinuntereilte, trat er mitten darauf.


Das Skateboard rollte weg und Prios landete, nachdem er regelrecht einen Purzelbaum in der Luft gemacht hatte, unsanft auf seinem Hinterteil. Leider stellte sich heraus, dass er sich das Steißbein gebrochen hatte und für längere Zeit nicht mehr in der Backstube würde stehen können.

Man sagt ja, ein Unglück kommt selten allein, und genau so war es auch dieses Mal. Kaum war der Oberboss ausgefallen, brach das Chaos in der weihnachtlichen Backstube aus. Die beiden Oberbäckermeister, die Prios unterstellt waren, hatten schon immer eine gewisse Abneigung gegeneinander, denn jeder der beiden war absolut überzeugt, als Einziger das wahre Talent zu himmlischen Backkünsten zu haben.

So stritten die Oberbäckermeister den lieben langen Tag und hielten auch alle anderen in der Himmelsbäckerei damit von der Arbeit ab.

Natürlich belastete das alles auch Hildemarie sehr. Schließlich konnte man nur dann den ganzen Zauber der Weihnachtszeit in den Geschmack der Weihnachtsbackwaren hineinbekommen, wenn man von diesem Zauber auch umgeben war. Doch von Weihnachtszauber war derzeit kaum etwas zu spüren.

Hildemarie packte Ottilie am Ärmel ihres Hemdchens.

„Komm mit, du Schleckermäulchen. Ich glaube, ich habe da eine wirklich wunderbare Idee.“

Mit großen Schritten eilte sie aus der Bäckerei, so dass Ottilie kaum mit ihr Schritt halten konnte und schon um den Ärmel ihres Hemdchens fürchtete. Heftig keuchend stolperte sie hinter der Bäckermeisterin her.

Als diese sich gleich nach dem Ausgang nach links in Richtung Blitzblankbehörde wendete, wurde es Ottilie ganz mulmig zumute. Da wollte keiner hin, und sie schon gar nicht! Das hier sah nicht gut für sie aus, nein, gar nicht gut!

Hildemarie stieß die mächtige Eingangstür des Gebäudes auf, in dem die Blitzblankbehörde untergebracht war, und zog Ottilie mit sich in die Eingangshalle. Kälte umfing sie, alles war grau und dunkel. Es roch ganz schrecklich nach Essig und Putzmitteln.

Brrrr! Ottilie schüttelte sich. Das hier war der Albtraum eines jeden Engels. Nur, wer etwas angestellt hatte, wurde zur Strafe hierher verbannt. Ja, verbannt war das richtige Wort, denn die Arbeit selbst war schon schlimm genug. Anstrengend, hart und oft richtig widerlich!

Noch schlimmer aber war der Oberchefaufseher der Behörde, Schnurps. Eigentlich war das gar nicht sein richtiger Name. Er wurde nur so genannt, weil er einen derartig großen Schnurrbart hatte, dass man gleich an einen mächtigen Herrscher denken musste, wenn man ihn sah, und sein Tonfall passte genau zu diesem Bild.

Hildemarie klopfte an die erste Tür.

„Herein!“, schnarrte eine kalte Stimme.

Ottilie erschrak. Das konnte doch nicht sein! Hildemarie war doch ihre Freundin! Sie konnte sie doch unmöglich hierher, ausgerechnet zu Schnurps schleifen!

Sie stemmte die Stiefel fest in den Boden und versuchte sich vom Griff der Bäckermeisterin zu befreien.

Aber Hildemarie drehte sich energisch zu ihr um.

„Nein, nein, du kommst jetzt schön mit. So schlimm wird es schon nicht werden, aber Strafe muss sein.“

Ottilie gab den Widerstand auf und ließ sich mit ins Zimmer des Oberchefaufsehers ziehen. Sie hörte, wie hinter ihr die Tür ins Schloss fiel. Es fühlte sich an, als würde ihr letzter Fluchtweg für immer geschlossen.

Stille umfing sie. Ottilie wagte es nicht, den Kopf zu heben. Sie wartete und wartete und wartete. Als es weiterhin still blieb und nichts passierte, wagte sie einen Blick durch ihre rotblonden Locken nach oben. Oh, oh, da stand er – Schnurps! Riesig wirkte er. Wie eine unumstößliche Mauer ragte er vor ihr auf. Dann endlich fing Hildemarie an zu sprechen.

„Schnurps, entschuldige bitte, dass ich dich so überfalle, aber ich habe eine geniale Idee, wie ich uns allen weiterhelfen kann.“

Schnurps kniff die Augen zusammen und musterte sie von oben bis unten.

„Hildemarie, was soll das? Wieso kommst du hier so reingestürmt? Ich habe im Moment furchtbar viel zu tun, also verschwinde - los! Ich habe keine Zeit für irgendwelchen Blödsinn!“

Ottilie sah, wie Hildemaries Augen zu funkeln begannen, aber diesmal vor Wut.

„Jetzt reiß dich gefälligst mal am Riemen, du oller Grummelkopf!“, fuhr sie ihn an. „Ich habe selbst genug zu tun, wie alle anderen auch. Was glaubst du denn, warum ich hier bin? Um ein Schwätzchen zu halten? Pah! Typisch Mann. Nun hör dir doch erst mal an, was ich dir vorschlagen möchte!“

Ottilie konnte sehen, wie Schnurps sich unter den erbosten Worten der Bäckermeisterin hoch aufrichtete.

„Stopp, stopp, stopp!“, dröhnte er los. „Was fällt dir eigentlich ein, so mit mir zu reden?“

„Nun hör doch erst mal zu, Schnurps! Den meisten Ärger hast du doch im Moment mit Samuel, dem kleinen Racker, der am Unfall unseres lieben Prios schuld ist. Dem Lausejungen fällt doch nichts als Unsinn ein, und doch zeigt er dabei immer wieder, dass er kreativ, mutig und einsatzfreudig ist. Und für das, was ich dir vorschlagen will, brauche ich genau so einen Engel.“

Schnurps kratzte sich verwirrt am Kopf.

„Samuel? Der Samuel? Du glaubst tatsächlich, dass dieser Lümmel für irgendwas nützlich sein kann?“

Hildemarie grinste verschmitzt.

„Oh ja, ich weiß es sogar ganz genau. Hör zu …“


Und weiter gehts am 2. Advent


Ottilie

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