Читать книгу Sehnsucht nach Glück - im Gestern, im Morgen, im Jetzt! - Ilona M. Fudali - Страница 5
PROLOG
ОглавлениеSie saß sehr oft und gerne vor ihrem Fenster und schaute nach draußen. Jeden Tag breitete sich die gleiche Gegend vor ihr aus; nicht nur die lange Straße, die sich weit hinzog und kein Ende zu haben schien, sondern auch sonst die vielen alten Häuser, die Bäume, die Fabrik am Horizont. Was sich lediglich veränderte waren die Jahreszeiten und das tägliche Wettergeschehen. Aber auch dieses berührte sie nicht sonderlich, obwohl ihr nie langweilig war, einfach nur so da zu sitzen und zu beobachten. Für denjenigen, der ganz genau hinschaute, offenbarte sich ein gläserner Blick, der verriet, dass sie in eine ganz andere Welt schaute – eine Welt, die hinter dieser vordergründigen Fassade oder noch wo anders steckte? Kein Wunder, dass sie die Katze von dem gegenüberstehenden Baum nie herunterspringen sah, dass sie den gebeugten alten Mann, der mit der Einkaufstasche jeden Tag an ihrem Haus vorbeiging, nicht bemerkt hatte. Auch dass die zwitschernden Vögel in den Ästen aufgeregt auf der Suche nach Grashalmen waren, um ihre Nester auszubessern, gingen an ihr vorbei. Stattdessen beschäftigten die vorüberziehenden Wolken ihren Geist, die immer wieder ihre Form veränderten und sich nach und nach im Nichts auflösten. Wieder einmal, dachte sie, würde es immer wärmer und heller werden. Wieder würden die Blumen aufblühen und etwas Leben in die grauen Straßen bringen. Aber genauso wie die Wolken würden die Blumen einmal wieder vergehen und sich dann im Nichts auflösen. Jedes Mal, wenn sie aus dem Fenster sah, wurde ihr ihre Vergänglichkeit bewusst, dass nichts ewig währt und im nächstbesten Augenblick sofort verschwindet. Sie seufzte, dass es fast schmerzte.
„Wozu also sich über etwas freuen, wenn man es doch gleich wieder verliert?“ Einmal mehr stellte sie sich diese Frage und dabei entgingen ihr die wärmenden Sonnenstrahlen, die sie angenehm auf ihrer Haut spürte. Wie sollte sie diese auch fühlen, wenn in ihr drin sich eine kalte Leere Platz verschaffte und ihr ihren Mut und ihre Energie nach und nach raubte. So nahm sie auch die Wärme der gelben, kariert gemusterten Decke ihrer geliebten, aber schon vor einem Jahr verstorbenen Oma auf ihren Knien nur zweitrangig wahr. Während draußen der Sommer aufwachte und alles sich zu regen und zu bewegen schien, kam es ihr selbst vor, als wenn sie als einzige auf der Stelle stehen geblieben wäre. Mit einem Seufzer sah sie wieder den Himmel an; sah seine Unendlichkeit und die ungeheure Weite und Tiefe und – Leere. Aber war das kleine Pünktchen, das sich jetzt dort ganz oben von links nach rechts bewegte nicht ein Flugzeug? Jetzt bemerkte sie ihn auch. „Bestimmt“, dachte sie sich, „sitzen da auch Menschen und schauen genau wie ich aus dem Fenster!“
Ihren fernen Gedanken und Grübeln machte plötzlich ein dumpfer Schlag an der Fensterscheibe einen scharfen Schnitt.
Sie stand von ihrem bequemen Stuhl verschreckt auf, öffnete das Fenster und entdeckte auf einmal auf der Fensterbank eine Papierschwalbe aus weißem Seidenpapier, was ihr ein Lächeln entlockte. Ja – sie lächelte! Sie konnte sich das nicht verkneifen, weil es ihr komisch erschien, dass ausgerechnet in dem Moment, wo sie mit den Gedanken bei einem Flugzeug war, ein Flieger aus Papier auf dem Fenstersims landete.
Sie hob die Schwalbe auf und bemerkte, dass darauf etwas Geschriebenes stand: „Wie geht es Dir? Du kennst mich nicht, nehme ich an, aber ich sehe dich oft am Fenster und frage mich, ob Du nicht einmal nach draußen kommen willst? Vielleicht könnten wir etwas unternehmen?“
Wer war das? Wer nahm sich das Recht, sie heimlich zu beobachten? Warum weiß sie nichts von diesem Fremden? Was will dieser Unbekannte eigentlich von ihr?
Während noch Tausend andere Fragen ihr Gehirn durchkreuzten, reckte sie noch einmal hastig den Hals zum Fenster vor, um vielleicht noch den heimlichen Beobachter zu entdecken. Sie guckte sich von rechts nach links, entgegen des Uhrzeigersinns um, und plötzlich durchdrang es sie wie ein Blitz: Ihre Augen trafen sich mit denen eines Jungen. Er stand an der Ecke des gegenüberstehenden Ziegelhauses mit einem Fuß an die Wand angelehnt, trug eine dunkelblaue Jeansjacke, darunter ein weißes T-Shirt und eine ausgewaschene Jeanshose. An den Füßen waren die Sneakers nicht zu übersehen. Sie hatten sogar die gleiche schwarz-weiße Farbe wie ihre! Er versteckte sein Kinn unter dem hochgestellten Kragen der Jacke, als wäre er James Dean, und schaute sie paradoxer Weise selbstbewusst aber gleichzeitig schüchtern aus den Augenwinkeln von unten an und dann lächelte er sie an. Wie konnte er nur? Frechheit. Wie konnte er sie nur so unverschämt anlächeln? Ohne lange zu überlegen machte sie das Fenster zu und zeigte ihm die kalte Schulter. Erst jetzt bemerkte sie, wie heiß es ihr auf einmal war. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr, sie hatte glühende Wangen.
„Was war denn bloß los mit mir?“, fragte sie sich. Zuerst muss ich über eine blöde Schwalbe lächeln und dann dieser Typ! War das nicht unglaublich? Noch vor wenigen Tagen und Momenten war für mich fast alles relativ und mehr oder weniger nebensächlich, sogar meine Existenz. Nichts berührte sie sonderlich oder forderte sie heraus – und nun plötzlich dieses
Erdbeben, dieser Vulkanausbruch, dieser Windstoß! In heller Aufregung und Verärgerung zitterte sie am ganzen Leib. Was sollte sie machen? Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, doch dieser schien ihr jetzt zu hart und irgendwie war er auf einmal nicht mehr so gemütlich wie vorhin. Sie spürte lauter Ameisen durch ihren Körper laufen, so dass das Stillsitzen nicht mehr so richtig klappte. Sie stand auf und tastete sich noch einmal vorsichtig ans Fenster.
Der Junge war nicht mehr da.
Ihr Puls wurde nun langsamer und endlich konnte sie wieder durchatmen. Sie kühlte ihre Wangen im Badezimmer mit kaltem Wasser ab und sah sich im Wandspiegel ihr eigenes Gesicht genauer an. Fast hätte sie sich nicht wieder erkannt. Waren das ihre glänzenden, blauen Augen, die sie jetzt so lebhaft anfunkelten? Hatte sie schon immer diese Grübchen in den Mundwinkeln? Und ihre Wangenknochen haben sich noch nie so bemerkbar gemacht, jedenfalls sind sie ihr bis jetzt nicht sonderlich aufgefallen. Sie nahm die Haarbürste in die Hand und kämmte langsam ihr schulterlanges Haar durch. Sie trug sehr selten ihre Haare offen, weil sie ihr immer ins Gesicht flogen. Doch nun sah sie, dass sie mit offenen Haaren sehr schön aussah – auf irgendeine Weise reifer. Außerdem schmückten diese ihr zierliches Gesicht, machten es noch sanfter und weiblicher.
Sie suchte sofort aber nach ihrer Spange und konnte nicht glauben, wie blöd sie doch war! Wieso hielt sie sich mit so unwichtigen Dingen wie den Haaren auf? Schnell und verärgert band sie sich diese zu einem Zopf zusammen und ging wieder in ihr Zimmer zurück. Von der Tür aus sah sie wie die Sonne in ihren letzten Zügen unterging. Doch irgendwie löste das bei ihr nicht wie gewöhnlich Melancholie oder Traurigkeit aus. Vielmehr verspürte sie zum ersten Mal die Kraft der Sonne; wie sie die Blätter des Baumes, der hinter dem Zaun gegenüberstand, mit ihren Strahlen zum Leuchten brachte und wie ihr Licht noch zu so einer späten Stunde einhüllende Wärme schenkte. Auch wenn die Sonne unterging, es machte ihr seltsamerweise nicht viel aus. Denn nun leuchtete etwas tief in ihr und das würde bestimmt nicht so schnell untergehen.
Sie ging bedächtig zur Fensterbank hinüber und nahm noch einmal aufgeregt die Papierschwalbe in die Hand. „Was ist bloß mit mir los?“. Und mit dieser Frage überkam sie ganz plötzlich Lust ganz laut „Somewhereovertherainbow“ zu singen.
Hastig packte sie ihr selbstgemachtes, in Pergamentpapier eingepacktes Butterbrot in ihre Stofftasche ein. Sie mochte gar nicht darüber nachdenken, was sonst noch alles da drin lag. Ganz kurz lief ihr nur das teure Deutschbuch durch den Kopf und die grauenhafte Vorstellung, dass vielleicht in der Sommerhitze die Butter aus dem Butterbrot auslaufen und alles verschmieren könnte. Sie hatte einfach keine Zeit mehr, jetzt noch nach einem Plastikbeutel zu suchen. Mit einem Schluck trank sie ihren Pfefferminztee aus, griff noch in der Türschwelle nach dem Hausschlüssel, knallte die Tür hinter sich zu – was ihre Mutter bestimmt aufweckte – und lief so schnell sie konnte Richtung Bushaltestelle. Hoffentlich kommt sie jetzt nicht zu spät! Auf dem halben Weg fiel ihr auf einmal ein, dass sie tatsächlich etwas Wichtiges vergessen hatte: Natürlich die Monatskarte für den Bus. Sie schaute auf die Uhr, doch es war schon zu spät, um umzukehren. Sie durfte die Frühstunde nicht verpassen, denn heute war sie mit dem Referat in Geschichte dran. Der Lehrer war ziemlich pingelig und achtete sehr auf Pünktlichkeit. Sie mochte ihn trotzdem irgendwie gut leiden, weil bei ihm der Unterricht einfach sensationell war. Die sonst so langweiligen Ereignisse von damals wurden jedes Mal zum wahren Erlebnis. Herr Lackmann, der Geschichtslehrer, konnte so unglaublich bildhaft erzählen, dass man glaubte, sich mittendrin in den Geschehnissen zu befinden und die Situationen der Menschen in den letzten Jahrhunderten sowie ihre Schicksale richtig nachempfinden zu können. Sie besprachen momentan das 18. Jahrhundert und sie war heute mit dem Thema „Französische Aristokratie zur Zeit der Revolution“ dran. Auch heute hat sie den Wecker nicht gehört und alles ging so schnell, dass sie fast ihren Kopf zu Hause vergessen hätte. Aber wenigstens kam sie jetzt rechtzeitig zum Bus. Im hinteren Bereich war noch ein Platz frei. Sie setzte sich erleichtert, aber außer Puste hin und atmete erst einmal tief und schwer durch. Sie hörte ihr Herz im Takt des Techno-Liedes schlagen, das aus den Kopfhörern des Mädchens vor ihr erklang. Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen und versuchte sich zu fassen. Seit dem letzten Vorfall am Fenster, der Papierschwalbe, dem unbekannten Jungen war sie zerstreut wie noch nie. Die dumpfen Geräusche des Busmotors und das wippende Gefühl auf dem Sitz ließen sie etwas zur Ruhe kommen.
Doch war die Ruhe nicht von langer Dauer, denn wie aus dem Nichts stupste sie auf einmal ein spitzer Finger drei Mal nacheinander an. Sie öffnete ihre Augen und sofort schoss ihr das Blut wieder in die Adern: „Fahrkartenkontrolle. Bitte zeigen sie ihren Fahrausweis vor“, lauteten die klaren, tief klingenden Worte des etwas stämmigen Schaffners. „Wieso passieren immer nur mir lauter so dummer Sachen und womit hab ich das hier verdient?!“ Sie schrie innerlich vor Verzweiflung. Die Leute um sie herum drehten sich auch genau in dem Augenblick zu ihr um, als wenn sie den Verzweiflungsschrei gehört hätten und schauten sie erwartungsvoll an. Der Schaffner wiederholte abermals seine Worte, während sie sich heimlich unter ihrer Tasche in den Arm zwickte, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte. Und wenn sie träumte, so wollte sie endlich aus diesem Alptraum erwachen. „Hat es ihnen die Sprache verschlagen, junges Fräulein, oder fahren sie heute schwarz?“, betonte nochmals die etwas angehobene Stimme. Sollte sie jetzt anfangen, sich zu entschuldigen? Sollte sie ihm jetzt erklären, wieso, weshalb und warum? Ihre Kehle schnürte sich zu. Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Weglaufen war jetzt unmöglich! Sie stotterte nur ein klägliches „Ich, … ich …“ hervor und sah lauter hässlicher Glubschaugen der Mitreisenden auf sich kleben. Nur noch ein Wunder könnte sie jetzt von ihren Qualen erlösen.
„Hhmm“, räusperte sich jemand hinter dem Schaffner, „entschuldigen sie Herr Schaffner. Hier ist das Busticket der jungen Lady. Sie hat es vorhin in der Eile fallen lassen. Ich hätte es ihnen sofort geben müssen, aber ich Tollpatsch war gerade abgelenkt. Bitte, nehmen sie es.“ Der Schaffner nahm das Ticket nach kurzem Zögern in die Hand, sah es sich prüfend an und nickte dann schließlich zustimmend. Schweigend ging er weiter, ohne großartig irgendwelche Fragen zu stellen. Die Glubschaugen wurden verdächtig zusammengekniffen, bevor sie von ihr abließen.
Es konnte nicht wahr sein! Sie hatte doch kein Ticket gehabt und dieser Mensch kam ihr wirklich wie vom Himmel herab. Erleichtert drehte sie sich nach der Person, die ihr das Leben gerettet hat um, um sich zu bedanken, und wünschte sich im gleichen Augenblick, am liebsten sofort im Erdboden zu versinken.
Denn da war er wieder.
Der geheimnisvolle Junge, dessen Gesicht sie in letzter Zeit nicht aus dem Gedächtnis ausradieren konnte. Er lächelte sie wieder verschmitzt an. Eigentlich wünschte sie sich insgeheim, ihn einmal wieder zu sehen, aber nun war sie nur peinlich berührt und etwas wütend über den Vorfall. Sie zog die Stirn zusammen, senkte den Blick und drehte sich energisch wieder um. Sie fühlte nur wie sie langsam in sich zusammensackte und sich so lächerlich vorkam. Ihre Gefühle waren auf einmal so aufgewühlt und sie bekam sie nicht mehr in den Griff. Ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie wünschte der Tag sei zu Ende. Wie in Trance stieg sie an der Schule schnell aus. Sie sah zu allem Unheil aus den Augenwinkeln ihre Tasche voll beschmiert mit Butter und weil ihr das alles zu viel war, rannte sie ohne zu überlegen einfach drauf los. Sie rannte und sprintete davon, als wenn jemand ein Startschuss zum Wettlauf abgegeben hätte. Kein Hindernis konnte sie jetzt aufhalten. Sie merkte wieder den großen, dicken Knoten in ihrem Hals, der jetzt riesig zu schmerzen begann und ihr Herz schien gleich zu zerspringen. Die Dinge gerieten in letzter Zeit zu sehr außer Kontrolle und das war jetzt irgendwie zu viel für sie. Der Geschichtsunterricht rückte in die weite Ferne und die Konsequenzen waren ihr egal. Sie wollte weg, am liebsten bis an das andere Ende der Welt, wo sie keiner kannte und sah und alles Schlimme vorbei war.
Da saß sie nun, in dem Vorraum der Toilettenräume der Schule neben dem Waschbecken in der Ecke verweint und außer sich. Der ganze Greul und Schmerz brach nun aus ihr heraus, sie heulte wie ein Schlosshund, denn keiner konnte sie hier hören. Sie wusste nicht den genauen Grund, es brach aus ihr einfach aus. Wieso gab es denn so viele Hindernisse auf dem Weg zum glücklich sein, fragte sie sich immer und immer wieder. Sie verstand nicht, warum allen Leuten um sie herum alles gelang, warum sie lachen konnten, ständig Lorbeeren sammelten und keine Probleme hatten. Sie wüsste zu gerne, warum es bei ihr nicht so war und warum zum Kuckuck noch mal ihr das Leben so schwerfiel. Diese kalte und unberechenbare Welt, die sie um sich herum wahrnahm, machte es ihr zu schaffen. Das Weinen schien jetzt der einzige Trost zu sein, der ihr noch blieb. Schwer, eigentlich überhaupt nicht, konnte sie sich nur annähernd einen Menschen vorstellen, der sie etwas verstehen würde. Sie wünschte sich so unbeschwert und leicht wie eine Feder zu sein – alles wäre dann vielleicht leichter.
Als der tief innere Schmerz nach einiger Zeit langsam nachließ, öffnete sie die Augen, schluchzte und schniefte noch ab und zu, putzte sich die Nase und beäugte dann ihre Umgebung, in die es sie heute Morgen verschlug. Sie schaute sich die weißen Kacheln an den Wänden an, spürte auf einmal die starke Kälte, die vom Boden her zog ganz deutlich. Ihr Blick kreiste langsam umher, bis er an der gläsernen Eingangstür zu den Toilettenräumen hängen blieb. Eine Fliege versuchte verzweifelt gegen das Glas anzufliegen und verwendete die ganze Energie darauf, einen Weg in das Freie zu finden, einen Weg in die Natur zu schlagen. Die Fliege tat ihr leid, denn sie wusste, dass diese ohne ihre Hilfe ein unlösbares Problem hat. Sie stand kurz entschlossen auf und drückte die große Tür weit auf. Die Fliege wusste noch nicht so recht wohin, aber als sie den Luftzug erst einmal vernahm, war sie mit einem Flügelschlag auf und davon.
Sie schaute ihr sehnsüchtig hinterher bevor sie wieder zu ihrer Tasche zurückging, um sie aufzuheben. Etwas gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht zur Seite und schlenderte schleichend heraus aus dem „Raum der Tränen“. Kaum vor der Tür bekam sie aber einen riesigen Schreck, denn an der Tür stand jemand aus der Hocke vom Boden auf, so schnell, als würde er sich bei einer schlechten Tat ertappt fühlen.
Da war er wieder.
Der unbekannte Junge, der sie seit Tagen entweder auf der Straße oder heute im Bus oder seit dem Vorfall am Fenster in ihren Gedanken verfolgte. Ihr Schritt erstarrte für zwei Sekunden.
Der Junge schwieg und sah etwas verlegen aus. Die Blicke trafen sich. Schweigen umhüllte die gespannte Atmosphäre.
Sie biss die Zähne zusammen und schluckte, schaute ganz schnell weg und nahm ihren Schrittgang ohne ein Wort zu wechseln entschlossen auf. Immer schneller und schneller ging sie davon – sie wollte schnell flüchten, denn er sollte ihre verweinten und dadurch geschwollenen Augen nicht ansehen.
Sie fühlte sich beschämt, denn nun wurde ihr klar, er hat an der Tür alles mitgekriegt. Er dachte jetzt bestimmt von ihr, sie sei völlig übergeschnappt so wie sie da vor sich hin heulte. Sie hatte Angst, er würde sie auslachen, sie verspotten und nicht verstehen. Jetzt nur noch nach Hause gehen, dachte sie sich und wurde nur noch schneller im Gang bis sie rannte.
„Jule!!!“, rief er ihr nach, „Jule, warum rennst Du weg? Warte doch, ich möchte Dir etwas sagen!“ Sie sah sich hastig um, er lief ihr tatsächlich nach. „Warum machte er das?“, fragte sie sich, warum stellte er ihr das Leben auf dem Kopf und machte alles nur noch komplizierter als es schon selber war? Warum verschwand er nicht einfach und ließ sie nicht in Ruhe? Sie hatte doch keine Kraft mehr und nun, wie verteufelt, kriegte sie auch noch die riesige Ausgangstür der Schule nach draußen nicht auf. Schnell, dachte sie sich, bevor er mich einholt. Sie drückte und stemmte die Tür, sie schob und stieß diese. Doch die Tür rührte sich nicht von der Stelle. Die Kraft verließ sie, so dass sie schließlich der Kraftlosigkeit nachgab. Resigniert sanken ihre Hände nach unten. Gleich würde er sie einholen. Wie in eine Ecke gedrängt, wie gefangen fühlte sie sich. Gleich wird sie die riesige Welle überrollen und sie wird vor Scham und Angst untergehen. Sie fühlte sich hilflos und wie ein Opfer ihrem Täter ausgeliefert. Sie kniff die Augen fest zusammen.
„Warte, ich helfe Dir“, klang es nun sanft hinter ihrem Rücken. Er hat sie eingeholt und nun legte er seine Hand auf ihre Schulter und drehte sie zu sich um. Er hob ihr Kinn hoch und lächelte ihr aufmunternd zu. Vorsichtig machte sie die Augen auf und sah in seine leuchtenden Augen. Sie waren so strahlend und tief blickend. Er streichelte zart ihr Gesicht und drückte sodann die vorhin so schwere und klemmende Tür mit einem Ruck nach vorne weg. Mit prüfendem und fragendem Blick schaute sie ihn an und fragte verwundert, nachdem sie ihre Stimme wieder gefunden hat: „Woher kennst Du eigentlich meinen Namen?“ Sie standen noch immer im Eingang. Der Junge schwieg. Seine Augen umarmten ihr Antlitz. Er nahm vorsichtig ihre Hand und sagte nur: „Komm, lass uns gehen.“ Sie zögerte, gab ihm aber ihre Hand. Sie gingen langsam ein paar Schritte vor die Tür. Doch ein Gefühl des Unbehagens breitete sich in ihr aus, so dass sie seine Hand losließ und sich gezwungen sah zu sagen: „Ich kann nicht mit dir weitergehen.“ Sie blieben stehen. Die Stille und die Ratlosigkeit, Worte zu finden machten beide verlegen. Sie klammerte sich mit beiden Händen an ihre mit Butter beschmierte Tasche, während er schnell seine Hände in den Hosentaschen verschwinden ließ. Ihre Blicke wanderten zwischen Boden und Ihren Gesichtern. Nach einer Weile fingen sie plötzlich ohne Vorahnung den gleichen Satz an: „Ich … ähh … schon gut.“ und fingen erleichtert an zu lachen. Nach einer Weile sagte sie schließlich: „Ich muss gehen.“ „Ja“, antwortete er. Sie schwankte noch vom rechten Fuß auf den linken, drehte sich um und ging dann los. Bevor sie um die Ecke einbog, drehte sie sich noch einmal um und rief zu ihm hinüber: „Wie ist denn eigentlich dein Name?!“
„Ferdinand!“, rief er zurück.
Er stand immer noch wie angewurzelt da, mit den Händen in den Hosentaschen. Er sah noch, wie sie ihn anlächelte, bevor sie ganz um die Ecke verschwand.
Wird er sie nach den Ferien wieder sehen?
Es war ziemlich ruhig um Jule herum. Ab und zu fuhren nur irgendwelche Autos oder Busse vorbei. Sie war auf dem Weg nach Hause. Dieses Mal zu Fuß, da sie doch ihre Monatskarte für den Bus nicht bei sich hatte. Aber im Nachhinein kam ihr das wie gelegen. All die Dinge, die sie momentan tief berührten, konnte sie jetzt in Ruhe für sich verarbeiten. Hier gab es keine Glubschaugen mehr, wie heute Morgen und keine Überraschungen, wie den Ferdinand, jedenfalls hoffte sie das zumindest. Jeden Tag fuhr sie diesen Weg entlang, doch musste sie feststellen, vieles war ihr vorher nicht aufgefallen. Sie nahm nicht wahr, welche Gebäude, Menschen, Geschäfte und welche Gewohnheiten diese Straßen, die zu ihrem Haus führten, zu erzählen hatten. Die Sonne strahlte sie an; machte das Gehen etwas schwerfälliger. Kaum vorstellbar, dass es erst Frühling war. Aber Jule fühlte nicht die Wärme, sondern vielmehr die immer noch so große Leere in sich, und irgendwo ganz tief Trauer. Sie setzte sich auf eine Bank und holte erst einmal ganz tief Atem, der immer zu knapp zu sein schien. Sie dachte über Ferdinand nach. So war doch sein Name, nicht wahr? Er war ganz nett, aber sie wusste nicht so recht welchen Platz er in ihrem Leben einnehmen sollte. Sie hatte etwas Angst, ihn näher kennenzulernen. Es tat nämlich weh, wenn man Menschen an sein Herz ließ. Es schmerzte zu sehr, wenn sie dann wieder plötzlich aus dem eigenen Leben verschwanden und nicht mehr auftauchten. So wie ihre Oma. Sie musste ganz oft an sie denken. Ihre geliebte Oma. Seit ihrem Tod fehlte etwas Entscheidendes in Jules Leben, was nie mehr zu ersetzen war. Alles ging ganz schnell, damals, vor einem Jahr. Die plötzliche Nachricht vom Krebs, die Diagnose Endstadium, die kurze Therapie, bei der jeder wusste, es gibt keine Hoffnung mehr. Es war eine schwere Zeit für alle. Jule konnte es trotz ihrer 15 Jahre immer noch nicht begreifen. Ihre Oma ist verstorben. Sie war ein ganz besonderer Mensch, eine verwandte Seele, immer ein leuchtender Stern am Horizont, der mit einem Mal verloschen war und nie mehr zurückkommen würde. Tränen quirlten in ihren Augen auf. Sie wusste keinen Trost für sich. Sie fühlte sich so einsam. Ihre unerfüllte Sehnsucht nach dem, was sie mit ihrer Oma teilte, machte sie schwach und antriebslos. Sie würde nie wieder die gleiche Freude erlangen wie zuvor. Ihre Schultern hingen herab und sie hatte keine Lust jetzt in die leere Wohnung zu gehen. Ihre Mutter würde erst abends von der Arbeit kommen und die Schularbeiten mussten auch nicht dringend erledigt werden, da am folgenden Tag das Wochenende kam. Während Menschen von links und rechts an ihr vorbeigingen, saß sie auf der Bank, wie hinter einem Nebelschleier abwesend. Sie beachtete wieder nicht den alten gebeugten Mann mit der Einkaufstasche, der sich jetzt neben sie setzte, eine Zeitung aufschlug und begann in ihr zu lesen.
Erst nach einer Weile räusperte sich der Mann und fragte Jule: „Entschuldigen sie junge Frau, könnten sie mir sagen, wie spät es ist?“
Jule schaute überrascht auf, sah auf ihre Uhr und antwortete dann nur unbekümmert: „Es ist gerade zwanzig Minuten nach eins.“
„Danke“, gab der alte Mann zurück und vertiefte sich wieder in seiner Zeitung. Unbeteiligt fiel Jules Blick auf das aufgeschlagene Zeitungsblatt und wanderte über die großen Schlagzeilen. „Die Arbeitslosigkeit steigt!“, „Hilfe für Opfer im Erdbebengebiet“, „Mutter zweier Kinder wurde entführt“ … Jule schüttete nur den Kopf, schaute den Mann von der Seite an und konnte sich auf einmal eine Frage nicht verkneifen: „Entschuldigen sie, aber entsetzen sie diese vielen negativen Schlagzeilen nicht?“
„Wie bitte?“
„Ich möchte sie fragen, wie sie so ruhig die Zeitung lesen können, wenn die eine Nachricht schlimmer klingt als die andere. Wie schaffen sie es gelassen zu sitzen und nicht zu verzweifeln? Packt sie nicht die Hoffnungslosigkeit?“
Der Mann lachte kurz auf.
„Haha. Aber nein. Nicht doch. Dafür lebe ich schon zu lange, um zu wissen, dass das nicht alles im Leben ist. Auch wenn mich die düsteren Nachrichten oft treffen, verzweifle ich nicht. Ich weiß, dass alles einen Sinn hat. Ich glaube an das Leben. Ich glaube daran, dass alles sich zum Guten wendet.“
Jule war nicht zufrieden mit der Antwort.
„Aber schauen sie, diese vielen Leute verlieren Arbeitsplätze, geliebte Menschen oder auch Sachen, an die sie gebunden waren. Bei diesen Leuten entsteht Unsicherheit und Angst um die eigene Existenz. Sie haben keine Kraft, um weiter zu leben. Wenn sie selbst das erleben würden, würden sie dann immer noch so optimistisch daher reden und ihres Lebens froh sein?“
Der Mann machte ein nachdenkliches Gesicht, kniff die Augen zusammen und schaute Jule durchdringend an.
„Ich will ihnen nicht zu nahe treten, junge Lady, aber ich sehe, sie nehmen das Weltgeschehen sehr persönlich. Sie sind sehr aufgebracht und sehen traurig aus. Vielleicht haben sie einfach gerade nur Wut und sind über ihre eigene Lebenssituation verzweifelt?“
Der alte Mann war im Begriff die Zeitung zusammenzufalten und zeigte sich jetzt interessiert. Jule schwieg. Sie senkte den Kopf und schaute etwas verlegen zu Boden. Als Jule länger nicht antwortete, wollte der alte Mann sie nicht zum Reden zwingen und ging wieder auf Distanz, um Jule nicht zu bedrängen. Schließlich kannten sich beide nicht. Er breitete wieder die Zeitung aus und las weiter. Jule schwieg. Sie war einfach von Direktheit des Mannes überrascht. Sie fühlte sich etwas überrumpelt, weil ihr gar nicht bewusst gewesen war, dass die Schlagzeilen sie persönlich trafen und dass sie ein Problem hatte. Sie hat das so nicht gesehen. Sie bemerkte, dass sie sich gerade in ihrem Tonfall etwas gehen ließ. Sie kannte den Mann doch überhaupt nicht. Aber sie merkte auch, dass es ihr auch gut tat, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Das hat sie sehr lange nicht einfach so spontan gemacht. Sie hatte zwar oft ein unglaubliches Verlangen am liebsten alles an die Leute rauszulassen, was in ihr schrie und weinte, aber das konnte sie nicht seit dem Tod ihrer Oma. Sie schwieg seitdem nur noch und plötzlich war wieder dieser Schmerz da und die Leere nahm ihr den Atem. Sie konnte sich nicht mehr halten und schluchzte jetzt los. Tränen liefen ihr über die Wangen, was der alte Mann auch bemerkte. Er überlegte nicht lange, nahm nur ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und reichte es Jule.
„Danke“, sagte Jule schniefend, „Ich weiß auch nicht was mit mir los ist. Ich bin einfach nur leer und traurig. Ich kann nicht verstehen, wie man Hoffnung haben kann und woher man Energie zum Leben findet. Es fällt mir alles so schwer und in letzter Zeit überfordert mich einfach alles. Entschuldigen sie.“
Der Mann legte die Zeitung zur Seite.
„Ich weiß. Sie fühlen sich schwach und sie glauben keine Kraft mehr zu finden. Das kenne ich viel zu gut. Wenn alles schwarz aussieht, man keinen Halt findet, keinen Plan hat und eine Wand vor dem Kopf sieht, die nicht zu durchbrechen ist, dann fühlt man sich so. Aber glauben sie mir, das ist nicht das Ende. Leere und Traurigkeit entstehen, wenn man von etwas vergangenem Abschied nehmen muss, aber in der Tiefe alles immer noch dagegen kämpft, es loszulassen. Lassen sie ihre Gefühle los und wenn sie weinen wollen, ist das ein guter erster Schritt.“
Der Mann machte eine kurze Pause und fügte dann noch hinzu: „Als meine Frau vor einigen Jahren verstorben ist, fühlte ich dasselbe. Ich fühlte einen großen Schmerz. Ich dachte, ich werde sterben oder wenigstens daran zerbrechen. Ich war wütend auf alles, doch ich fraß lieber alles in mich hinein. Doch sie sehen, ich lebe noch.“ Der Mann lächelte Jule aufmunternd zu.
„Aber verraten sie es mir: Wie haben sie es geschafft des Lebens froh zu werden?“, fragte Jule jetzt mit großen Augen und voller Neugierde.
„Sie wollen mein Geheimrezept erfahren?“
„Ja“, antwortete Jule aufmerksam.
„Gut, ich werde es ihnen zeigen. Haben sie jetzt etwas Zeit?“
Jule hatte in der Tat Zeit und auch nichts vor. Sie nickte nur.
„Dann kommen sie mit, ich lade sie auf einen kleinen Spaziergang durch unsere Stadt ein. Ich zeige ihnen den Beginn meines Weges zum Glück.“
Ein riesiges, altes Tor aus Holz, in welches menschliche Gestalten und undefinierbare Muster eingeritzt waren, eine massive Klinke aus Metall, die blank poliert und an einigen Stellen schon abgenutzt war, und die dunkelroten Ziegel der Wand, die dieses alte Kunstwerk in der Mitte, dieses Tor, einrahmten, beeindruckten Jule schon sehr. Da standen sie nun. An der Eingangstür zur Kirche, die sie, wie so vieles, bisher nicht bewusst wahrgenommen hat. Der alte Mann stand schweigend neben ihr und genoss lächelnd die großen Augen seiner jungen Begleiterin, bevor er die Klinke umfasste und an der Tür zog. Eine kühle Luft drang aus dem Inneren hervor und wehte einen leichten erfrischenden Hauch auf die Haut. Mit einer Handgeste lud der alte Mann die etwas unentschlossene Jule hinein. In der Kirche war niemand außer ihnen da, so dass ihre Schritte im Raum hallten. Jule hatte keine Ahnung, warum sie hier waren. Sie war nicht so oft in der Kirche. Sie fühlte sich erst einmal ziemlich unwohl und fehl am Platz, ohne sich das erklären zu können. Der alte Mann ging ein paar Schritte vor ihr. Auf einmal kniete er kurz nieder, machte ein Kreuzzeichen und schritt in eine der Bankreihen hinein. Er setzte sich entspannt in der Mitte der Bank hin, während Jule immer noch unentschlossen da stand. Der alte Mann blickte in ihre Richtung und winkte sie zu sich. Mit vorsichtigen Schritten kam sie auf ihn zu und nahm bedächtig neben ihm Platz. Da saßen sie schweigend und lauschten der Stille. Vor ihnen breitete sich der Altar aus. Bunt bemalte Fensterbilder, die durch die Sonne von draußen erstrahlten. Sie schienen Geschichten aus der Bibel zu erzählen. Der gekreuzigte Jesus war zu sehen, eine Taube, die ihre Flügel ausbreitete und einen kleinen grünen Zweig im Schnabel hielt, weinende Frauen, die ihr
Gesicht in den Händen hielten und Wolken, die sich entzweiten und brennendes Feuer. Daneben waren noch sehr viele andere bemalte Glasscheiben. Alles wirkte von weitem wie ein Mosaikkunstwerk, das der düsteren und kalten Kirche das Leben einhauchte. Nach einiger Zeit des Schweigens und Beobachtens stellte sich in Jule eine Art Gelassenheit und Entspannung ein. Sie lehnte sich zurück und war überrascht wie geborgen sie sich auf einmal fühlte. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Ruhe. Nichts als Ruhe.
„Ich komme oft hierher“, flüsterte auf einmal der alte Mann.
„Ich sitze einfach so da und genieße die Stille. Von alleine ergibt sich ein Gespräch mit Gott, der mir einfach nur zuhört. Wenn ich hier so sitze, ist es als wenn ich ihm in meinem eigenen Herzen begegnen würde, nur dass ich es mir hier mit offenen Augen besser vorstellen kann.“
„Wer ist Gott für sie?“, fragte Jule den alten Mann.
„Gott. Hm. Gott kann man nicht in Worte fassen. Es ist eine Macht, die unser Leben lenkt, die außen, innen und überall ist. Sie vereint das Leben in sich, gebärt es und nährt es. Gott, meine Liebe, hält unser Schicksal in der Hand und verschont uns vor gar nichts. Aber Gott liebt uns und alles geschieht aus Liebe, auch wenn wir das nicht verstehen oder unsere Lebensumstände uns was anderes vermitteln wollen. Es gibt eben Sachen, die können wir uns nicht wirklich erklären.“
Jule verstand nicht so ganz.
„Sie sagen, alles soll aus Liebe geschehen? Aber das kann doch nicht sein.“
„Oh doch, das ist die Wahrheit. Sie denken wahrscheinlich jetzt an den Tod, oder an schlimme Erfahrungen oder eben an die Sachen, die gerade in der Zeitung standen, nicht wahr? Aber das geschieht auch aus Liebe. Es ist nämlich in jedem dieser Geschehnisse eine Botschaft von ihm, Gott. Es sind Geschenke, die wir lernen müssen anzunehmen. Erst durch das Zulassen von Schmerz und Tränen, erst indem wir dieses Geschenk im Laufe der Zeit verstehen lernen, eröffnet sich uns das Geheimnis und die Schönheit dessen, was wir erhalten.“
„Aber ich will solche Geschenke nicht“, sagte Jule.
Der alte Mann lachte in sich hinein.
„Wer will sie schon? Wir haben keine andere Wahl, wenn wir glücklich sein wollen. Denn Gott allein weiß den Weg zu unserem Glück, wir nicht.“
„Ich will so gerne glücklich sein, wissen sie, aber es geht bei mir nicht.“
Der alte Mann betrachtete jetzt Jule von der Seite, wie sie traurig ihren Blick sinken ließ und seufzte. Er dachte kurz nach, dann griff er mit seiner rechten Hand in die Hosentasche, nahm mit seiner linken Hand die Hand von Jule und legte ihr ein 50 Cent Stück auf die Handfläche. Jule schaute in die lächelnden Augen des alten Mannes und war überfragt.
„Stehen sie auf“, sagte der alte Mann, „ich will ihnen etwas zeigen.“
Sie gingen zurück zur Eingangstür der Kirche, wo sich ein Metallständer mit vielen Kerzen befand. Der Mann schmiss ein Geldstück in die daneben stehende Box hinein, nahm sich eine der liegenden Kerzen, zündete sie an und stellte sie in einen der vielzähligen Behälter rein. Er kniete sich hin und faltete seine Hände, seinen Blick auf das Bild von der Heiligen Mutter Gottes Maria gerichtet. Jule verstand, sie sollte einfach das gleiche machen. Als sie sich schließlich die Hände gefaltet neben dem alten Mann kniend befand, sah dieser ihren fragenden Blick und holte erneut aus.
„Wissen sie was das bedeutet, eine Kerze anzuzünden? Zwar ist nicht zu verkennen, dass damit der Raum erhellt wird und Wärme entsteht, aber das Wesentliche daran ist der Akt selbst: Man zündet ein Licht an.“
Beide schauten nun aufmerksam die brennenden Kerzen an. Nach kurzem Augenblick sprach der alte Mann weiter: „Wenn ein Licht an ist, schwindet die Dunkelheit. Ungewissheit, Angst und Unsicherheit hat keinen Platz mehr. Die Hoffnung wird lebendig, das Leben kann beginnen, verstehen sie?“
„Ja. Ich glaube, schon. Es ist symbolisch gemeint, oder?“
„Ich denke, es ist zwar ein symbolischer Akt, aber in Wirklichkeit vollzieht sich da etwas ganz fassbares: Man bekommt auf einmal nämlich das gleiche Leuchten in den eigenen Augen und fühlt sich nicht mehr so einsam und im Stich gelassen. Man spürt einfach, da erwartet mich etwas, was ich nicht klar sehen kann, was ich nicht genau weiß, aber es ist da. Man spürt es.“
Jule spürte nur, wie gut ihr diese Worte des alten Mannes taten. Er schien all die Dinge in ihr anzusprechen, die sie nie zu denken wagte und die in ihrer Tiefe schlummerten, aber nie an die Oberfläche schwammen. Ob es mit den Worten dieses Mannes zu tun hatte, ist schwer zu sagen. Die kalte Leere in ihr vermischte sich mit der äußeren Kälte in der Kirche. Doch sie war jetzt in ihr nicht allein, sondern kniete neben dem alten Mann. Sie schaute den Mann schweigend an und es fühlte sich gut an. Diese Verbundenheit, die ihr Herz berührte und die Einsamkeit langsam aufbrechen ließ. Sie bemerkte noch keine fassbare Veränderung an sich. Es schien alles in ihrem Leben immer noch schwarz und dunkel zu sein, aber die Kerze, die sie gerade angezündet hatte, beruhigte sie. Der alte Mann sagte, dass mit dem Akt des Anzündens das Leben beginnen würde und sie hoffte, es wäre so.
„Wo warst Du, liebes Kind?“, fragte die Mutter Jule von der Küche aus, als sie die Wohnung betrat. „Ich bin etwas früher von der Arbeit gekommen und machte mir Sorgen wo du bleibst.“ „Ach weißt du, Mama, mir sind heute so viele Dinge passiert, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll“, antwortete Jule während sie sich auf ein Stuhl niedersinken ließ. Ihre Mutter stand am Herd und bereitete etwas leckeres zu Essen vor, keine Ahnung was, jedenfalls roch es lecker. „Ach Jule, was ist nur los mit dir? Du bist in letzter Zeit noch verschlossener geworden als du schon warst. Ich mache mir Sorgen wegen Dir, Liebes.“ Jule hatte nicht großartig Lust über sich zu reden. Wenn sie nur wüsste, was mit ihr los ist. Ihre Gefühle hatten keine Ordnung und sie hatte keinen richtigen Plan. Sie fühlte so vieles auf einmal und wünschte so vieles auf einmal. Aber nichts geschah und nichts tat sich. Sie hatte den Eindruck in einem Labyrinth zu irren. Was nützte es, darüber zu sprechen, wenn sie sich selbst noch nicht einmal verstanden hat. Die Begegnung mit dem alten gebeugten Mann tat ihr heute gut. Sie war traurig, als sie sich voneinander verabschieden mussten, weil jeder seinen Nachhauseweg angetreten ist. Er sagte ihr zum Ende mit einem zwinkernden Auge und einem selbstbewussten Lächeln, dass alles gut wird und sie ihren Weg finden wird, wenn sie nicht vergisst, ihre Gefühle loszulassen. „Mama“, sagte Jule plötzlich in die Stille hinein, „fühlst du dich nicht manchmal etwas verloren? Hast du nicht manchmal das Gefühl in dir gefangen zu sein und spürst einfach nur tiefe Trauer und kalte Leere?“ Ihre Mutter war überrascht, dass Jule anfing über sich zaghaft zu sprechen. Sie unterbrach das Kochen und überlegte, was sie ihr antworten könnte, um ihr aus dem dunklen Tal, den sie gerade offensichtlich durchmachte herauszuhelfen. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Tochter bedrückte, aber sie spürte ihr Herz. Sie setzte sich zu Jule an den Tisch und nahm ihre Hand. „Jule, du bist nun 15 Jahre alt. Du bist schon so erwachsen aber noch so jung und vor dir liegt das ganze Leben, um glücklich zu sein. Jeder Weg steht dir noch offen und du kannst alles erreichen was du willst, verstehst du?“ „Aber“, entgegnete Jule, „ich weiß doch gar nicht welchen Weg ich überhaupt gehen soll. Das ist doch mein Problem, Mama. Ich fühle mich so verloren und so einsam und so traurig, weißt du. Alles fällt mir so schwer und das Glück, von dem du sprichst, liegt ganz woanders. Es kommt nie zu mir. Es ist nicht für mich gedacht.“ Jule ließ den Kopf hängen und sie spürte wieder den Kloß im Hals. „Aber Julchen, du bist nicht einsam und das was dich gerade bedrückt – jeder sehnt sich nach Glück. Aber nicht jeder lässt den Kopf so hängen wie du.“ „Mama, ich weiß einfach nicht was ich machen soll, um meinen traurigen Zustand zu ändern. Für mich ist alles sinnlos. Weißt du, Oma hätte mich verstanden. Aber sie ist nicht mehr da.“ „Oh ja, Oma war eine kluge Frau. Sie hat dich geliebt. Ich weiß, dass du sie auch geliebt hast. Geliebte Menschen zu verlieren tut weh. Sehr weh. Ich habe mir auch damals gewünscht Deinen Vater nicht zu verlieren. Aber er entschied sich fortzugehen. Er verließ mich und auch dich. Weißt du, was weh tut wenn geliebte Menschen aus dem eigenen Leben verschwinden?“ „Sie sind einfach nicht da“, antwortete Jule nachdenklich. „Ja, sie sind nicht da. Aber viel schlimmer ist, dass mit ihrem Fortgang auch ein Teil von dir mitgeht. Die Kunst besteht darin, dass man wieder von neuem anfangen und sich für neue Dinge und Menschen offen machen muss. Man muss sich auf die Suche begeben und das ist schwer. Sehr schwer. Doch es lohnt sich!“ „Aber wonach soll man denn suchen, Mama, wenn das, was man will, nicht mehr da ist!“, fragte Jule etwas aufgebracht. „Klar, Julchen, dass das Alte und Geliebte nicht mehr da ist. Aber darin sieht man unser Schicksal, Kind. Nichts auf dieser Erde ist für die Ewigkeit. Damit müssen wir klarkommen.“ Diese Aussage der Mutter machte Jule noch mehr traurig. Gerade zu spüren, dass alles für nichts ist und einmal wieder vergehen wird machte Jule so unglücklich. Sie hasste ihren Vater, weil er wegging und die Familie kaputt gemacht hat. Sie hasste den Tod, weil er ihr die Oma wegnahm und sie hasste ihre Hilflosigkeit sich selbst gegenüber, weil sie sie so lähmte. „Ich habe Angst, Mama.“ „Komm her“, sagte ihre Mutter warm und umarmte Jule behutsam. Es war nicht einfach für die Mutter alles in Worte zu fassen, weil sie selber oft verzweifelt und melancholisch war. Es stimmte sie jetzt traurig, dass ihre Tochter unglücklich war und sie nicht die Kraft hatte ihr die Geborgenheit und die nötige Liebe zu geben, die sie brauchte. Sie durchlebte auch oft tiefe Phasen, aber sie zwang sich immer wieder aufzustehen und weiterzumachen. Irgendwie geht es schließlich doch weiter. Dabei übersah sie ganz gerne, dass auch sie sich oft nach dem Sinn des Ganzen fragte. Es fehlte ihr ein Mann an der Seite, ganz klar. Sie sehnte sich nach Geborgenheit und Liebe und zarten Umarmungen. Auch sie fühlte sich einsam. Ihre Tochter damit zu belasten wollte sie nicht und so seufzte sie jetzt, während Jule in ihren Ärmel schluchzte. Aber sie hatte plötzlich eine Idee, wie sie ihrer Tochter Hoffnung spenden konnte. Sie erinnerte sich an ihr altes Tagebuch, in dem sie beschlossen hatte, dem Herzen zu folgen. Kurz entschlossen stand sie vom Stuhl auf und ging zu der alten Fotokiste hin, wo sich das alte Manuskript befand. Liebevoll strich sie mit der Hand darüber und sagte zu Jule gewandt: „Mein Liebes, ich habe eine Idee wie ich dir auf deinem Weg weiter helfen kann. Schau, das ist mein altes Tagebuch, in dem mir vieles bewusst wurde und das mir Hoffnung spendete. Da du nun Osterferien hast, findest Du sicherlich genug Zeit, um es zu lesen und dich auf die Spuren deiner Mutter zu begeben. Na? Bist du neugierig?“ Jule beruhigte sich und putzte sich noch einmal ordentlich die Nase, bevor sie das liebevoll gestaltete Tagebuch ihrer Mama in Empfang nahm: „Louise Maria und ihr Weg zum Glück“, las sie laut vor. Sie umarmte ihre Mama und dankte ihr mit einem Kuss für das Vertrauen. „Du bist ein Schatz, Mama“, flüsterte sie ihr ins Ohr und konnte es kaum erwarten in ihr Zimmer zu gehen, um sich in das geheime Werk ihrer Mutter zu vertiefen.