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Das Spiel

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Unerwartet trifft das Böse ein

Lässt dich bangen, weinen, schreien

Lässt dich zittern, beten, flehen

Umklammert dich,

Und will nicht gehen



Er entdeckt sie, als er zufällig die Straße entlangfuhr. Mit dem Schulranzen am Rücken geht sie mit ihrer Mutter den Weg entlang. Eine blonde Haarsträhne hat sich aus ihrem Zopf gelöst und wippt bei jedem Schritt auf und ab. Automatisch tritt er sofort auf die Bremse. Langsam rollt er an ihnen vorbei, gerade in dem Moment, als sie zu einem Haus abbiegen. Heute muss sein Glückstag sein. Da entdeckt er dieses hübsche Ding und ohne sie lange beobachten zu müssen, findet er gleich heraus, wo sie wohnt. Und wie um die Perfektion noch abzurunden, befindet sich das Haus in der Perfekten Lagen. Ein langer Vorgarten bringt die richtige Entfernung zu den Nachbarn. Die Bäume, die man hinter dem Haus erkennen kann, lassen ihn darauf hoffen, dass sich hinter dem Haus nur ein kleiner Wald befinden und das nächste Haus erst in einem größeren Abstand. Er wendet an der nächsten Straßenecke, und fährt noch einmal langsam zurück, um sich die Hausnummer einzuprägen. Er würde später wieder zurückkehren, um den idealen Platz zu suchen. Dann würde er sehen, ob sie wirklich so perfekt ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.

Als er am späten Abend wiederkommt, lässt er das Auto ein paar Straßen weiter stehen. Er trägt einen bodenlangen schwarzen Mantel, einen dunklen Hut und schwarze Lederhandschuhe. Am Weg zum Haus achtet er darauf, dass er immer im Schatten der Straßenlaterne geht. Der Mond scheint nicht, es ist also eine sehr gute Nacht für sein Vorhaben. Er entdeckt, dass er sich leicht durch die Hecke zur hinteren Seite des Hauses schleichen kann. Dort findet er einen guten Platz, von wo aus er direkt ins Wohnzimmer der ausgewählten Familie blicken kann. Rund um das Haus sind einige hohe Bäume, wie er erfreut feststellt. Sie würden sich für sein Vorhaben hervorragend eignen. Er zieht ein Fernglas aus seiner Tasche, um besser sehen zu können, was im Wohnzimmer passiert. Zwei Kinder sitzen auf der Couch, die schräg zum Fenster steht. Es ist das blonde Mädchen, dass er heute entdeckt hat und, wie er annimmt, ihre ältere Schwester. Das ältere Mädchen geht hinaus und kommt kurz darauf mit einer Schüssel in der Hand, gefolgt von ihrer Mutter, wieder herein. Mit freudiger Erregung schnappt er nach Luft. Wie konnte er denken, dass ihre jüngere Schwester perfekt sei? Jetzt, wo er das ältere Mädchen mit ihrer Mutter sieht, kann er diesen Gedanken nicht mehr nachvollziehen. Sie sieht aus wie ein Engel, das perfekte Ebenbild ihrer Mutter. Die blonden Locken noch schöner, das Gesicht noch reiner, noch zarter, als das ihrer Schwester. Vorsichtig zieht er eine Kamera hervor, die er unter seiner Jacke versteckt hat. Er macht einige Fotos, bevor er sich zurückzieht. Er muss sich zwingen wegzugehen. Am liebsten würde er sie noch heute Nacht holen. Einfach aus dem Bett stehlen. Aber das passt nicht zu seinen Plänen. Er hatte einiges vor und mit diesem Mädchen würde es ein großer Spaß werden. Auf dem Weg zurück zu seinem Auto lächelt er verträumt vor sich hin. Er würde sammeln müssen. Andere Mädchen. Dinge, die er für sein Spiel brauchte. Er würde alles vorbereiten. Aber schon bald, ganz bald würde er zurückkehren und sie holen. Und dann endlich konnte er sein Spiel beginnen. Ein neues Spiel, ein besseres Spiel.

„Shane?“ Marten steckt den Kopf herein. „Wir haben einen Fall. Vermisste Mädchen, alle blond und dasselbe Entführungsmuster.“

„Sag den Anderen Bescheid. Besprechung in fünf Minuten“, murmelt Shane, ohne den Kopf zu heben. Erst als Marten die Tür wieder geschlossen hat, legt er das Diktiergerät, das er in der Hand hält, zur Seite. Die Stimme eines Monsters, das er gestern mit McGee befragt hatte, ist darauf zu hören. Eigentlich eine schöne Stimme, die so ruhig spricht, als würde sie eine Gute-Nacht –Geschichte erzählen. Wenn man nur auf den Klang der Stimme hört, würde man nicht vermuten, dass er erzählt, wie erregend er es fand, drei Menschen zu töten. Shane blickt auf das weggelegte Tonband und atmet tief ein. Nun ist es also soweit. Die Befragungen in geschlossenen, gesicherten Räumen sind vorbei. Er muss wieder auf die Jagd gehen, um ein weiteres Monster zu finden. Das erste Mal, seit seiner Auszeit. Das erste Mal, seit der Katastrophe, die ihn zu Fall brachte. Doch er ist wieder aufgestanden, auch wenn es ihn viel Mühe gekostet hat. Eine Auszeit, fernab von all den grausamen Mördern. Er ist wieder zu Kräften gekommen, doch erst mit dem neuen Fall wird feststellen, ob er wirklich stark genug ist. Wird er wieder fallen? Eine Frage, die er sich nicht erlauben darf. Eine Frage, die auch die Anderen nicht stellen, auch wenn ihre Blicke oft besorgt wirken. Er blickt auf die Uhr und klopft nervös mit den Fingern auf die Akte, die vor ihm liegt. Eine detaillierte Beschreibung all der Grausamkeiten, die das Monster angestellt hat, bevor es gefasst wurde. Daneben liegt das Tonband, auf dem er alles geschildert hatte. Nun soll er ein Gutachten darüber erstellen, seine Psyche erforschen, herausfinden, wie man das nächste Monster schneller fassen kann. Er atmet tief durch, wirft einen letzten Blick auf die geschlossene Akte, bevor er sie endgültig zur Seite legt. Dieser Fall muss warten, das Monster ist bereits hinter Gitter, die Menschen vor ihm sicher. Nun muss er sich wieder jenen zuwenden, die noch da draußen sind. Langsam steht er auf und begibt sich in den kleinen Seminarraum, indem sie ihre Besprechungen abhalten. Macey, Marten und Carol sind bereits da. Marten lehnt lässig im Sessel, die Beine überschlagen, als würde er auf ein gemütliches Kaffeekränzchen warten. Carol und Macey sitzen hingegen kerzengerade und sehr angespannt am Tisch. Carol und Macey, zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Carol mit ihrem langen, perfekt geföhnten blonden Haar, immer sehr bedacht auf ihr Äußeres. Macey trägt ihr schwarzes Haar in einem Kurzhaarschnitt. Make-up verwendet sie so gut wie nie. Trotzdem verstehen sich die zwei gut und unterhalten sich auch jetzt in einem leisen Flüsterton.

„Der Neue und Sanders kommen gleich“, klärt Marten Shane auf, der sich ebenfalls auf einen Sessel setzt. Shane hebt eine Augenbraue und wirft Marten einen missbilligenden Blick zu. Obwohl McGee seit einem halben Jahr dabei ist, wird er immer noch „der Neue“ genannt, wenn von ihm gesprochen wird. Eine Eigenheit des Teams, die Shane nicht schätzt. Erneut kehrt Stille ein. Die Anspannung ist deutlich spürbar, keiner weiß, was sie erwarten wird. Wie schlimm es dieses Mal sein wird. Mit Schwung wir die Tür aufgerissen und Sanders betritt mit McGee den Raum. McGee setzt sich, Sanders bleibt vor der Leinwand stehen. Er tippt am Laptop, schon werden die Bilder der Mädchen auf die Leinwand projiziert.

„Wir haben drei vermisste Mädchen, alle blond. Alle Entführungen weisen dasselbe Muster. Die Mädchen wurden immer am Heimweg entführt und jedes Mal wurde ein Schuh zurückgelassen. Außer den Schuhen gibt es bisher keinerlei Hinweise. Keine Erpressung, keine Drohbriefe, keine Lösegeld Forderung und auch keine Leichen.“

„Danke Sanders. Ohne Bestätigung des Gegenteiles, gehen wir davon, aus, dass die Mädchen leben. Umso dringender ist es, dass wir sie finden. Abreise in 30 Minuten.“

Ohne weitere Erklärungen steht Shane auf und verlässt den Raum. Die Lippen fest aufeinander gepresst steuert er sein Büro an. Es sind Kinder. Wieder. Fälle mit Kindern sind die schlimmste. Jeder ihrer Fälle ist schlimm, jeder grausam, aber wenn Kinder die Opfer sind, sind es die Schlimmsten. Shane hofft, das ihm niemand etwas angesehen hat. Aber er ist bei den Fotos innerlich zusammengezuckt. Vielleicht, weil er jugendliche Mädchen erwartet hatte, vielleicht aber auch, weil er noch nicht so weit ist. Vielleicht ist es aber auch wegen seinem Bauchgefühl, diese ungute Vorahnung, dass er erneut an seine Grenzen stoßen wird.

Wenn eine Frage im Raum steht und diese heißt, was ist wirklich wichtig? Wie wirst du sie beantworten? Und wie schnell wirst du diese Antwort finden? Wird die Antwort lauten Gesundheit, Liebe, Glück oder gar Geld? Manche wissen die Antwort schneller, manche langsamer, und die meisten zögern. Sie müssen erst nachdenken. Es ist schon eine komische Eigenschaft des Menschen, dass er die Frage mit absoluter Sicherheit und mit großer Geschwindigkeit so oft erst dann beantworten kann, wenn er im Begriff ist, das Wichtigste zu verlieren.

Anne stellt sich an jedem heißen Sommertag diese Frage. Ist es ein Zufall oder doch eine innere Vorahnung, dass ausgerechtet an diesem Sommertag diese Frage durch ihren Kopf huscht, beinahe so, als würde sie jemand anderer stellen. Sie hatte sich noch nie irgendwelche Gedanken über ihr Leben gemacht. Noch nie gedacht, dass sie Glück hätte. Bis jetzt war einfach alles selbstverständlich. Alles lief genauso ab, wie es sich gehörte. Schule, Universität, Hochzeit, Kinder. Sie hatte eigentlich keine Kinder in ihrem Leben geplant, aber es gehörte sich nun mal, also ließ sie sich von ihrem Mann zu zwei überreden. Obwohl ihre beiden Mädchen nicht zu ihrer ursprünglichen Lebensplanung gehörten, liebt sie sie heiß und innig. Sie spricht zwar nie darüber, aber tief in ihrem Inneren ist sie ihrem Mann dankbar für seinen Kinderwunsch. Trotzdem schwanken an diesem Tag, als diese eine Frage leise durch ihren Kopf huscht, ihre Gedanken als erstes in Richtung Beruf. Was sollte sie bloß ohne ihre Arbeit anfangen? Den ganzen Tag Hausfrau sein? Das wäre ganz bestimmt nichts für sie.

Man könnte es Ironie des Schicksals nennen, dass sie sich zwar vorstellen kann, ihre Arbeit zu verlieren und sie der Gedanke so fesselt, dass sie nicht ein einziges Mal daran denkt, dass ihr weitaus Schlimmeres widerfahren könnte. Aber an das Schlimmste will niemand denken, das Schlimmste sind immer nur Dinge, die Anderen passieren, und so schickt sie ihre Tochter Sarah zu ihrer Freundin. Sie ruft ihr noch einmal nach, dass sie um 19 Uhr wieder zuhause sein muss und schließt dann aufatmend die Tür. Debbie wurde bereits von ihrer Patentante abgeholt, ihr Mann ist am frühen Morgen zur Arbeit gefahren, und sie, Anne, würde nun einen wunderbaren freien Tag genießen. Wieder schleicht sich die leise Frage ein, was wirklich wichtig ist, doch Anne schiebt den Gedanken beiseite. Wer will sich schon mit philosophischem Kram beschäftigen, wenn man diesen wundervollen Tag genießen kann. Vielleicht hätte sie sich damit beschäftigt, wenn sie gewusst hätte, dass das Wichtigste gerade durch diese Tür gegangen ist, und sie sich schon bald fragen muss, ob es wieder zurückkehren wird. Doch Anne ahnt nichts Schlimmes. Da ist keine Vorahnung, kein Instinkt. Sie will sich einfach nur im Garten entspannen, sich von der Sonne bescheinen lassen, lesen und wenn es ihr zu heiß wird, in den Pool hüpfen. In diesem Moment zählt einfach nur das, weil Wichtiges beiseitegeschoben wird. Wer will schon an Schlimmes denken, wenn der Tag so schön ist? Alles Schlechte ist weit fern, und doch ist es, ohne dass es bemerkt wurde, schon so nah. So zieht ihr freier Nachmittag an Anne vorbei, ohne dass sie sich noch einmal Gedanken über irgendetwas macht, das wichtig sein soll. Als sie um 18 Uhr auf die Uhr blickt, gönnt sie sich noch eine kurze Abkühlung im Pool, bevor sie sich ihre nassen Badesachen auszieht und in trockene Kleidung schlüpft. Kaum hat sie den Gürtel ihres gelben Sommerkleides geschlossen, kommt ihr Mann zur Tür herein. Er begrüßt sie mit einem Kuss auf den Mund und fragt:“ Wie war dein freier Tag?“

„ Nicht besonders aufregend. Ich hatte endlich mal wieder Zeit für ein gutes Buch. Du glaubst ja gar nicht, wie ruhig es hier ist, wenn die Kinder nicht da sind. Du kannst die Ruhe noch kurz genießen, sie kommen beide gegen sieben nachhause.“

Neckisch legt Adam die Arme um seine Frau und flüstert:“ Ich wüsste etwas, womit wir die Ruhe stören könnten.“

Doch Anne stößt ihn zur Seite und meint abweisend:“ Nicht jetzt Adam, ich muss noch kochen. Außerdem wäre meine Schwester kaum erfreut, wenn sie hereinkommt, und wir sind hier nackt.“

„Das würde sie schon überleben.“

„Und deine Tochter?“

„Also gut, du hast gewonnen, wir verschieben das auf später.“

Lächelnd küsst Anne ihn auf den Mund und lockert seine Krawatte. „Dann freu dich auf später. Jetzt kannst du ja zur Abkühlung noch in den Pool springen. Ich mach mich mal an das Abendessen. Ich habe Sarah gesagt, wir essen um sieben. Ich hoffe wirklich, sie kommt nicht wieder zu spät.“

Kaum fünf Minuten später stürmt Debbie gefolgt von ihrer Tante herein. Anne nimmt die beiden in Empfang und wirft Adam, der gerade mit nasser Badehose durch die Terrassentür tritt, einen „Ich-habs-dir-doch-gesagt-Blick“ zu. Marry entgeht der Blick keineswegs und sie flüstert ihrer Schwester leise zu:“ Bitte sag mir, dass hier nichts Schweinisches gelaufen ist. Und falls doch, sag mir wo, damit ich mich auf keinen Fall dorthin setze.“

„Er ist erst seit fünf Minuten zuhause, also keine Sorge. Adam, trockne dich doch ab, du tropfst hier alles voll! Bleibst du zum Essen, Marry?“

„Kommt darauf an, was es gibt?“

„Immer noch die Vorsichtige? Keine Sorge, keine Tomaten und keinen Kürbis. Also nichts allzu gesundes und den Salat musst du ja nicht essen.“

„Dann würde ich sagen, ich riskier es und bleibe zum Essen.“

Das fröhliche hin und her Geplänkel läuft weiter. Eine ganz normale Familie, die noch nicht ahnt, dass das Grauen schon vor der Tür steht und in nur wenigen Minuten das ganze Haus verseuchen wird. Könnte man die Zeit anhalten, hätte sie jemand gestoppt? Genau in diesem Moment? Obwohl die Familie noch nicht vollständig ist? Obwohl bereits eine Person fehlt, ohne dass es bemerkt wurde?

Ohne auf die Zeit zu achten, wird fertig gekocht, der Tisch gedeckt und sich immer wieder geneckt. Bis Anne aufblickt und es bereits 15 Minuten nach sieben ist. Ärgerlich schüttelt sie den Kopf und murmelt:“ Also, das wird wohl nichts mit dem Badeausflug nächste Woche.“

Adam will sie beruhigen:“ Ach, sei doch nicht so streng, bestimmt hat sie nur die Zeit übersehen.“

„Ja, und beim nächsten Mal kommt sie um acht Uhr und dann es ist nur eine Stunde, und in ihrer Jugend kommt sie nur ein bisschen betrunken nachhause und hat die Drogen nur ein bisschen probiert. Und im besten Fall wird sie noch ein bisschen schwanger. Nein, es wird Zeit, dass sie lernt, sich an die Regeln zu halten. Sieh mich nicht so an, Adam, du weißt, dass ich Recht habe. Cindy wohnt nur fünf Minuten entfernt, da kann man erwarten, dass sie pünktlich ist.“

Adam und Marry werfen sich wissende Blicke zu. Anne regt sich immer schnell auf, lässt sich aber meistens genauso schnell wieder beruhigen und minimiert die Strafe meist auf Geschirrspüler ein- oder ausräumen. Fröhlich geht das familiäre Treiben weiter. Bis fünf Minuten später Anne ärgerlich aufsteht und meint:“ So, das reicht, ich rufe jetzt Sandra an, sie soll sie sofort nachhause schicken.“ Sie geht aus dem Zimmer, um zu telefonieren. Sie ist ungewohnt nervös. Ihr Mutterinstinkt flüstert ihr zu, dass da etwas nicht stimmt. Doch sie schiebt ihn beiseite. Sie will auf Sarah wütend sein und sie schimpfen. Daran zu denken ist viel einfacher, ist um so vieles weniger schmerzhaft, als der Gedanke daran, dass etwas passiert sein könnte.

Es klingelt nur zweimal am anderen Ende, da hebt auch schon Cindys Mutter Sandra ab.

„Hallo Anne, hat Sarah wieder etwas vergessen?“ , erklingt die fröhliche Stimme von Sandra

„Hallo Sandra, nein, ich wollte dich gerade bitten, sie nachhause zu schicken. Sie ist schon 20 Minuten zu spät und wir wollen endlich essen,“ meint Anne mit einer leicht genervten Stimme.

Dann sagt Sandra diesen Satz, der alles Verdrängen und ein Beiseiteschieben dieses einen Mutterinstinktes, dieser kleinen Stimme, die flüstert, dass da etwas nicht stimmt, nicht mehr möglich macht.

„Sie ist bereits vor fast einer Stunde weggegangen.“

Anne stockt der Atem. Ihr Herz wird so schnell von der eisernen Faust der Angst umklammert, dass sie es nicht mehr schafft ordentlich Luft zu holen. „Sie ist…sie ist…was?“, stottert sie, nicht fähig, einen vollständigen Satz zu sprechen.

„Sie ist schon um halb sieben losgegangen. Sie wollte unbedingt noch ihre Tante treffen, um ihr irgendetwas zu erzählen. Ist sie denn noch nicht bei euch?“

„Nein, sie ist….nein...“

„Bist du dir ganz sicher? Hat sie sich auch nicht heimlich in ihr Zimmer geschlichen?“, fragt Sandra.

„Ich merke doch, ob meine Tochter zuhause ist!“, ruft Anne aufgebracht.

„Natürlich. Hör mal, atme erst mal tief durch. Das lässt sich bestimmt leicht aufklären. Ich frag Cindy, ob sie vielleicht noch irgendwo anders hin wollte. Ich ruf dich dann zurück.“

Anne legt ihr Handy zur Seite. Kurz starrt sie darauf, dann dreht sie sich mit einem Ruck um und läuft nach oben. Vielleicht ist sie wirklich in ihrem Zimmer. Hat sich heimlich hineingeschlichen, während Anne im Garten lag. Es wäre eine so leichte, so wunderbare Erklärung für alles. Es würde die Angst die sich langsam in Annes Herz schleicht, wieder auslöschen. Doch das Zimmer ist leer. Und die Angst, die so leise schleicht, beginnt in immer schnellerem Tempo zu wachsen. Nach einem kurzen Blick rennt Anne wieder nach unten zu den Anderen. Sie sitzen alle am Esstisch. Sie sind noch so frei, so fröhlich. Sie haben noch keine Ahnung, von der Angst, die sie gleich empfinden werden. Und wie groß diese Angst noch werden würde, liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft und auch noch in weiter Ferne von Annes Vorstellung. Es ist eine eiserne Faust die sie bereits jetzt umfangen hält, aber sie hat keine Ahnung, wie fest diese Faust zupacken wird. Sie hat noch keine Vorstellung davon, wie weit eine Angst wachsen kann. Anne will Adam packen, ihn anschreien, mit ihm losstürmen, um ihre Tochter zu suchen. Doch Debbie ist auch im Raum. Vor ihr kann sie die Angst nicht zeigen. Ein Kind kann diese Angst nicht ertragen und sie würde sie von ihr fernhalten. Ein mutiger Vorsatz einer liebenden Mutter, der sich nicht erfüllen lässt. Niemand kann das Grauen namens Angst fernhalten, wenn es alles verseucht und alles mit ihren schwarzen Klauen packt. Nicht einmal eine Mutter vor ihrem Kind.

Sie gibt ihrem Mann ein Zeichen, dass er ihr folgen soll. Adam blickt etwas verwirrt, steht jedoch auf und folgt ihr. Als er den Raum verlässt, hört er noch Debbie ihrer Tante zuflüstern: „ Oh je, dass sieht aber mächtig nach Ärger aus.“

Adam überlegt kurz, was Sarah wohl angestellt haben muss, wenn Anne ihn aus dem Zimmer holt, um darüber zu sprechen. Doch dann blickt er in Annes Augen, die ihn voller Angst ansehen. Sie hat eine ganz intensive blaue Augenfarbe, die immer voller Leben funkeln, ihn immer freudig anstrahlen. Heute jedoch sind sie, als hätte sie jemand erstarren lassen. Sie funkeln nicht, sie glänzen nicht, sie sind einfach nur voller Angst auf ihn gerichtet.

„Anne?“, flüstert er fragend.

„Sie ist nicht dort, “, antwortet sie leise. Hätte Adam nicht gesehen, dass sie ihren Mund bewegt, würde er denken, dass jemand anders gesprochen hat. Diese verzerrte Stimme konnte unmöglich von seiner Frau stammen.

„Wie meinst du da? Sie ist nicht dort?“ Adam will eine Antwort, die ihm sagt, dass seine Tochter gleich heimkommt. Die ihm sagt, dass sie irgendetwas angestellt hat. Er will, dass seine Frau wütend ist. Er will, dass sie schimpft, und ihn nicht mit diesen erstarrten Augen anblickt und mit dieser angstverzerrten Stimme spricht.

„Bei Cindy, sie ist nicht dort.“

„Dann ist sie auf dem Weg?“ Eine einfache Frage, die einen Ausweg bietet. Eine einfache Erklärung, die diese groteske Situation, in der sie sich befinden, wieder auflösen wird. Die Adam daran hindert, an etwas Schlimmes zu denken. Doch Anne macht diesen Hoffnungsschimmer zunichte.

„Sie ist schon seit fast einer Stunde nicht mehr bei Cindy. Adam, wir müssen sie suchen! Was, wenn sie hingefallen ist? Vielleicht hat sie sich verletzt.“ Anne umklammert verzweifelt Adams Arm. Sie spricht mit leiser Stimme, und doch ist es als würde sie schreien. Jedes einzelne Wort schneidet sich in Adams Herz. Die Tür hinter ihnen wird geöffnet und Marry betritt den Raum.

„Sagt mal, was ist eigentlich los?“

Doch bevor ihr jemand antworten kann, zerreißt das Schrillen von Annes Handy die kurze Stille. Als Anne rangeht erklingt sofort Sandras aufgeregte Stimme:“ Cindy sagt, dass Sarah nachhause wollte. Sie wollte unbedingt mit Marry etwas wegen einem Jungen besprechen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie irgendwo anders hin ist. Wir haben überlegt, ob sie vielleicht einen Umweg über den Spielplatz gemacht hat, und dort jemanden getroffen hat. Sam ist gleich los gegangen, um nachzusehen. Ich lasse Cindy bei ihrer Oma, und gehe auch gleich los, auf dem direkten Weg zu euch. Wir treffen uns dann bei euch.“

Anne schafft es nicht zu antworten. Sie öffnet den Mund, aber es kommen keine Laute heraus. Die eiserne Faust um ihr Herz wird immer fester.

„Anne? Bist du noch dran?“

Anne räuspert sich und endlich kommt ein leises, beinahe gehauchtes „Ja“ aus ihrem Mund.

„Hör mir gut zu. Versuch ruhig zu bleibe. Ich bin mir ganz sicher, dass sich das alles aufklären wird. Wir werden sie ganz bestimmt finden. Du wirst kurz mit ihr schimpfen und morgen schon lachen wir darüber.“

Schimpfen? Sie würde ihre Tochter doch nicht schimpfen! Sie würde sie einfach nur festhalten und nie wieder loslassen.

Anne stammelt noch ein paar Worte, dann nimmt ihr Adam das Handy aus der Hand und lässt sich von Sandra noch mal alles sagen. Marry, die inzwischen von Adam über die Situation aufgeklärt wurde, legt ihren Arm um Anne. Adam legt das Handy zur Seite und dreht sich wieder zu ihrnen um Mit leiser, zitternder Stimme sagt er: „Sam und Sandra suchen von ihrer Seite, ich gehe von hier los und wir treffen uns in der Mitte. Du bleibst am besten hier und wartest, ob sie zurückkommt.“

„Hier bleiben? Ich kann doch nicht hierbleiben! Mein Kind braucht mich!“, ruft Anne aufgebracht und schüttelt Marrys Hand von ihren Schultern.

„Jemand muss aber hier sein, falls sie zurückkommt. Wenn wir draußen suchen und sie kommt nachhause und keiner ist da. Außerdem können wir Debbie nicht alleine hierlassen.“

„Ich bin ja da,“ unterbricht Marry die beiden, die anscheinend vergessen haben, dass auch sie hier ist.“ Jetzt geht schon und sucht Sarah.“

Marry drückt Anne ihr Handy in die Hand, erinnert Adam an seines, schon sind die beiden zur Tür hinaus. Sie sind lange verheiratet, sie verstehen sich ohne Worte. So müssen sie nicht absprechen, welchen Weg sie nehmen. Anne nimmt automatisch die direkte Strecke, während Adam die längere Strecke abgeht, die am Spielplatz vorbeiführt. Immer wieder rufen beide Sarahs Namen. Sie hören manchmal das Echo des Anderen, doch dieses verstummt mit der Zeit, je weiter sie sich voneinander entfernen. Adam läuft den ganzen Weg. Er ist zu aufgeregt, um ruhig zu gehen. Irgendwo ist seine Tochter und braucht ihn. Immer wieder redet er sich ein, dass sie hinter dem nächsten Baum hervorspringt oder hinter der nächsten Hausecke steht. Ist wirklich erst so wenig Zeit vergangen? Sind es nicht Stunden oder gar Jahre, die zwischen dem Gespräch im Wohnzimmer und jetzt liegen? Die Zeit rinnt dahin und bleibt doch stehen. In seinem Kopf hört Adam die Zeit laufen. „Tik tak, tik tak, tik tak.“ Und trotzdem zieht sich jede Sekunde, als wären es Tage.

In der Ferne erblickt er Sam, der ebenfalls laut nach Sarah ruft. Er möchte ihm gerade zurufen, als er den kleinen Gegenstand erblickt, der ihm die Hoffnung, dass sich alles im Guten auflösen wird mit einem Schlag raubt. Sam beginnt sofort zu Adam zu laufen. Will Adam fragen, was los. Doch Adam hört ihn nicht. Er muss einen Schrei ausgestoßen haben, ohne es zu bemerken. Ein Schrei, der nicht nur der Ruf nach seinem Kind ist, sondern das Entsetzen über den entdeckten Gegenstand ausdrückt. Wieso sonst wäre Sam plötzlich zu ihm gerannt, wieso sonst würde er fragen was los ist? Sam schüttelt Adam, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.

„Was ist los Adam? Adam? Jetzt sag doch etwas!“

Adam starrt ihn an, als hätte er gerade erst wahrgenommen, dass Sam bei ihm steht. Leise flüstert er:“ Das da, das ist ihr Schuh. Das ist der Schuh meiner Kleinen.“

Sam lenkt seinen Blick in die Richtung in die Adam zeigt. Ein pinker Schuh, mit weißen Schnürsenkel und einem kleinen Schmetterlingsanhänger, liegt auf einem Grasstück neben dem Weg. Er liegt einfach so da, als hätte ihn jemand zufällig dorthin gelegt, und doch erkennt man, dass er etwas Schlimmes verbirgt. „Bist du dir sicher? Könnte es nicht von jemand anderem sein?“, fragt er zaghaft nach.

„Sie hat sie ganz neu. Erst letzte Woche hat sie sie bekommen. Und den kleinen Schmetterling, der da am Schnürsenkel hängt, habe ich ihr geschenkt.“ Keiner von ihnen traut sich zu bewegen oder gar den Schuh zu berühren. Nach dem Schrei scheint Adam verstummt zu sein. Die kalte eiserne Faust die ihn festhält, umklammert ihn immer mehr. Die Angst zieht sich von seinen Zehen bis in die Haarspitze und wächst darüber hinaus. Es gibt keine Möglichkeit mehr wütend zu sein. Es gibt keine Hoffnung mehr, dass sein Kind irgendwo hinter der nächsten Hausecke steht. Es gibt nur noch die Angst. Und die erdrückende Gewissheit, dass etwas Schreckliches passiert sein muss.

Anne geht zur gleichen Zeit nach ihrer Tochter rufend die andere Wegstrecke ab. Gerade erst hat sie Sandra getroffen, die vorschlug, zu Annes Haus zurückzugehen. Anne jedoch möchte zuerst den ganzen Weg selbst abgehen. Ein Klingeln reißt sie aus den Gedanken. Es ist dieses eine Klingeln, auf das man so sehr wartet, und das man doch nicht hören möchte, weil eine innere Stimme einem zuflüstert, dass es schlechte Nachrichten sind. Es ist dieser eine Zwiespalt zwischen der Hoffnung, etwas Gutes zu hören, und der Angst vor etwas Schlechtem. Anne zieht ihr Handy heraus und blickt auf das Display. Das Gesicht von Adam leuchtet ihr entgegen. Fröhlich lächelnd. Hat er wirklich so gelächelt? Wie ist es möglich, in so kurzer Zeit zu vergessen, dass man jemals glücklich war? Wie soll man diese eine Stimme ertragen, die fragt, ob er jemals wieder so lächeln wird?

Leise, kaum hörbar, meldet sich Anne.

„Adam?“

Adams Stimme klingt eigenartig. Sie ist ruhig, zugleich aufgewühlt, laut und doch leise.

„Ist Sandra schon bei dir?“

„Sie steht neben mir.“

„Gut. Versuch, dich nicht allzu sehr aufzuregen. Aber Sam holt gerade die Polizei, wir haben….“

„Ihr tut was?“, unterbricht ihn Anne aufgeregt.

„Wir holen die Polizei. Anne, Liebling, hier liegt ein Schuh von Sarah.“

„Nein,…nein…das kann nicht ihr Schuh sein… wenn sie bei irgendwelchen Freunden ist, kann sie doch nicht ihren Schuh irgendwo lassen… ist es überhaupt ihr Schuh? Du kennst dich mit Schuhen nicht aus, er könnte von irgendjemanden sein.“

„Anne, nein, Schatz, hör mir zu. Es ist ihr Schuh. Mein Schmetterling ist dran.“

Kann man noch mehr erstarren? Kann man noch mehr Angst haben, als einfach nur Angst? Kann diese eiserne Faust, die einen so fest umschlingt, dass es schmerzt, ihren Griff noch fester um dich schlingen? Anne lässt ihr Handy langsam sinken, will weglaufen. Egal wohin, egal wie. Ihrem Kind entgegen. Nur, wo ist es? Ist es dort, wo der Schuh liegt? Irgendwo anders? Ist jemand bei ihr? Hat sie Angst? Oder Schmerzen? Es gibt nur ein Zeichen von Sarah. Anne muss dorthin. Sofort.

Anne legt ihr Handy wieder ans Ohr und flüstert leise:“ Wo seid ihr?“

Adam beschreibt den Ort, schon rennt Anne los. Sie denkt nicht an Sandra, die verdutzt neben ihr steht und ihr dann folgt. Sie denkt nicht an all die Menschen, die sie komische anstarren oder ihr nachschreien, als sie einfach durch ihre Gärten rennt. Sie rennt einfach. Getrieben von der Angst, die ihren ganzen Körper umklammert hält und sie kaum atmen lässt. Sie spürt nicht, dass ihre Beine schmerzen. Sie spürt keine Stiche in ihrer Lunge. Sie spürt nur den Schmerz in ihrem Herzen, der schlimmer ist als alles andere.

In der Ferne erkennt sie ihren Mann, der neben Sam steht. Wieso stehen sie einfach nur da? Wieso suchen sie nicht? Wenn der Schuh da ist, muss doch auch Sarah da sein! Anne versucht schneller zu laufen, schneller, als ihre Füße sie tragen. Sie muss fliegen, sie muss zu ihrem Kind. Wieso ist Adam so weit weg? Wieso kommt er nicht näher? Können Sekunden länger sein, als Stunden? Als Tage? Wie lange läuft sie schon? Wochen? Jahre? Und bei all den Gedanken, doch nur diese eine Frage: Wo ist mein Kind?

Endlich erreicht sie Adam, der einfach nur da steht und mit leeren Augen den Schuh anstarrt. Der immer noch auf diesem Grasfleck liegt. So ruhig, unbeweglich und doch ist es, als würde er schreien, hier ist etwas Furchtbares geschehen.

„Wieso steht ihr einfach so da? Wir müssen sie suchen! Sie muss hier irgendwo sein!“, schreit Anne ihren Mann und Sam wüst an, bevor sie sich umdreht, um nach ihrer Tochter zu rufen.

„Sarah! Sarah, Mommy ist hier, sag doch was, Sarah!“

Adam nimmt Anne mit beiden Händen und schüttelt.

„Anne, Anne, hör mir zu. Sie ist nicht hier.“

„Sie muss hier sein. Ohne Schuh kann sie nicht weit laufen. Du weißt doch, dass sie nicht gerne barfuß geht. Sie kann doch nicht weit gehen, ohne ihren Schuh.“

„Ich weiß, Liebling, aber sie ist nicht hier. Wir müssen… wir warten einfach auf die Polizei. Die sind gleich da.“

„Wieso sind sie noch nicht da? Sam hat doch angerufen.“

Sandra, die schwer atmend neben Anne steht und auf den Schuh gestarrt hat, als würde er sie hypnotisieren, reißt sich von dem Anblick los und will Anne in den Arm nehmen.

„Komm, Anne, setzen wir uns dort ins Gras.“

Doch Anne schüttelt den Arm ab, und ruft aufgebracht:“ Ich kann mich doch jetzt nicht ins Gras setzen, ich muss mein Kind suchen.“

Sie dreht sich in eine andere Richtung und ruft erneut nach ihrer Tochter. Es gibt unendlich viele Richtung und in jede hätte sie laufen können. Anne dreht sich immer wieder im Kreis und lässt sich nicht davon abbringen, nach ihrer Tochter zu rufen, bis die Polizei da ist. Erst ein dunkelhaariger Mann, der ihr ins Gesicht schreit:“ Wir brauchen eine Beschreibung ihrer Tochter, sonst können wir sie nicht suchen!“, kann sie beruhigen. Sie starrt ihn einen Moment an und beginnt sofort alle wichtigen Merkmale ihrer Tochter aufzuzählen. Das pinke T-shirt mit den Rüschen an der Taille, die graue kurze Hose, die geflochtenen blonden Haare. Die bunte Haarsträhne zum anklipsen, auf der Perlen mit den Buchstaben ihres Namens befestigt sind. Sie hatte sie gerade erst von einer Freundin zum Geburtstag bekommen. Die violette Brille, auf die Sarah so stolz war, obwohl sie sich anfänglich geweigert hatte eine Brille zu tragen.

Plötzlich sind überall Leute. Weder Anne noch Adam haben bemerkt, wie viele sich versammelt haben. Einige wollen wissen, was passiert ist, Andere stehen einfach nur da und versuchen einen Blick auf etwas zu erhaschen, was die Polizei absperrt. Wenn sie wüssten, dass sich nur um einen Schuh handelt, würden sie wahrscheinlich wieder gehen. Ein Schuh ist zu wenig spektakulär, wenn nicht mindestens ein Blutfleck daran klebt. Der Polizist notiert sich die Beschreibung von Sarah und meint dann:“ Am besten fahren wir sie nach Hause, um…“

„Nach Hause? Ich kann doch jetzt nicht nach Hause fahren! Ich muss mein Kind suchen“, unterbricht ihn Anne sofort.

„Sie können uns hier nicht behilflich sein “, erklärt der Polizist ruhig.“ Aber wir können sie nach Hause bringen, wo sie uns ein Bild ihrer Tochter geben, damit wir genau wissen, wie sie aussieht und auch andere Leute befragen können. Wir fahren am besten sofort, je eher wir ein Bild von Ihrer Tochter haben, desto besser.“

Anne lässt sich von Adam zu einem Auto führen. Es ist nur eine kurze Strecke zu ihrem Haus, und doch erscheint es eine Ewigkeit. Sie fühlen sich wie Verbrecher, die zu einem Gericht gebracht werden. Doch ein Gericht könnte sie niemals so bestrafen. Ein Gericht könnte ihnen niemals diese unerträgliche Angst aufzwingen. Adam beschreibt den Weg zu ihrem Haus, während Anne einfach nur da sitzt und aus dem Fenster starrt, ohne etwas zu sehen. Wie lange ist es her, dass sie von zuhause weggegangen sind, in der Hoffnung ihr Kind zu finden? Wie lange ist es her, dass sie auf die Tür blickten, in der Erwartung, dass Sarah nachhause kommt?

Marry, die vom Fenster aus den Wagen vorfahren sieht, nimmt die beiden und die zwei Polizisten, von denen sie begleitet werden, an der Tür in Empfang. Sofort bestürmt sie alle mit Fragen. Sie ahnt nichts Schreckliches, zumindest versucht sie die leise Stimme der Angst zu ignorieren. Sie denkt an Diebstahl oder sonstiges, das Sarah angestellt haben könnte. Das würde eine Geschichte werden, die sie Sarah noch im Erwachsenenalter vorhalten würden. Von der Polizei nach Hause gebracht-mit elf Jahren. Marry stellt es sich lustig vor, wie sie in einigen Jahren gemeinsam darüber lachen würden. Es ist so ein schöner Gedanke, der für kurze Zeit alles einnimmt, dass sie an nichts anderes mehr denken will. Kurz überlegt sie, ob ihre kleine Nichte vielleicht mehr Probleme hat, als ihnen bewusst ist. Immerhin ist elf sehr jung, für einen Polizeibesuch. Sie denkt über einen Therapeuten nach, einen Jugendbetreuer, als ihr mit einer grausigen Gewissheit -die sie wie ein eisiger Windhauch am ganzen Körper erfasst- das kleine Detail auffällt, das jeden schönen Gedanken zerschlägt. Sarah ist nicht da. Kein kleines Mädchen steht zwischen ihren Eltern, niemand versteckt sich hinter deren Rücken und lugt ängstlich hervor. Nur die Blicke von Adam und Anne, die die pure Angst ausdrücken. Die zwei Polizisten blicken sie mitfühlend an und betreten hinter ihnen das Haus. Marry versucht immer wieder Fragen zu stellen, die nicht beantwortet werden. Adam und Anne scheinen die Fragen gar nicht wahrzunehmen. Anne geht ohne ein Wort ins Wohnzimmer, um ein Fotoalbum von Sarah zu holen. Dass Debbie auf der Couch sitzt und fernsieht, fällt ihr gar nicht auf. Alles rund um sie ist ausgeblendet. Es gibt nur zwei Gedanken, die sie festhalten. Die eine immer kreisende Frage, die in ihrem Kopf schreit. Wo ist mein Kind? Der zweite Gedanke gilt dem Foto, das sie auswählen soll. Es muss perfekt sein, es muss zeigen wer Sarah ist, wie sie aussieht. Es muss ein Foto sein, im perfekten Moment festgehalten. Natürlich muss ihr Haar auf dem Bild ebenfalls zu einem Zopf geflochten sein. Mit offenen Haaren sieht sie ganz anders aus, vor allem älter. Aber was, wenn ihr Zopf aufgegangen ist, wenn ihre Haare jetzt offen sind. Wenn sie jetzt ein Foto mit Zopf auswählt, sie darauf aber niemand erkennt, weil sie mit offenen Haaren eben anders aussieht.

„Mom, was ist los?“, fragt Debbie leise. Doch ihre Mutter ignoriert sie, sie hat keine Zeit, um Fragen zu beantworten und keine Zeit, sie überhaupt wahrzunehmen. Sie muss das perfekte Foto finden. In ihrem Kopf hat sich der Gedanke festgesetzt, dass, wenn sie nur das perfekte Foto findet, alles wieder gut wird. Sie würde das perfekte Foto der Polizei geben, und sie werden ihr ihre Tochter zurückbringen.

„Mommy?“, fragt Debbie etwas lauter. Ihre Mutter reagiert nicht. Sie kniet nur starr am Boden und zieht mit einer mechanischen Bewegung immer wieder ein Foto aus dem Album. Sieht es sich an, schmeißt es zur Seite, blättert weiter. Keines ist perfekt. Keines hat Sarah perfekt eingefangen. Auf dem einen die Frisur zu streng, auf dem anderem die Frisur zu locker. Keines stellt sie so dar, wie sie heute ausgesehen hat, als sie zur Tür hinausging. Sie hätte ein Foto machen sollen. Heute, als sie noch bei ihr war. Sie hätte sie festhalten sollen. Eine Hand legt sich auf ihre Schulter. Adams Stimme flüstert:“ Setz dich auf die Couch, Liebling, die Polizisten wollen uns ein paar Fragen stellen. Wir können dann gemeinsam ein Foto auswählen.“

Ist die leise Stimme Wirklichkeit? Anne dreht ihren Kopf zur Seite und blickt in Adams Gesicht. Er ist hier, er sieht sie erwartungsvoll an. Er muss gesprochen haben. Nur, was hat er gesagt? Sie kann nicht zuhören, sie hat dazu keine Zeit. Das perfekte Foto ist wichtiger. Wie soll alles wieder gut werden, ohne diesem Foto. Sie dreht ihren Kopf weiter und sieht, dass neben der Couch die zwei Polizisten stehen. Sie wirken fehl am Platz. Das Wohnzimmer ist ein Raum, der über und über mit Fotos einer glücklichen Familie geschmückt ist. Aus jedem Winkel, jedem Stück Wand leuchtet einem ein fröhliches Gesicht entgegen. Ein Paar, das gerade geheiratet hat und im weißen Kleid und schwarzem Anzug glücklich in die Kamera strahlt. Ein Kind, gerade geboren, das von den Großeltern in Empfang genommen wird. Ein kleines Mädchen, das stolz die Schultüte am ersten Schultag trägt. Immer und immer wieder eine Familie, die sich von Jahr zu Jahr verändert hat, und doch immer gleich glücklich in die Kamera lächelt. In so einem Raum, der so viel Glück und Liebe ausstrahlt haben zwei Polizisten, die immer wieder beklommene Blicke wechseln und mitleidig auf das Elternpaar blicken, nichts verloren. Sie sind wie eine rabenschwarze Nacht, die jeden Sonnenstrahl verdrängt. Sie öffnen der Angst die Tür, um jeden Raum, jeden Winkel des Hauses zu verseuchen, bis das Glück keinen Platz mehr hat, bis überall nur noch das Grauen existiert.

Adam hilft seiner Frau auf und führt sie zur Couch. Dass Debbie, die eben noch hier gesessen hat, von ihrer Tante in ihr Zimmer gebracht wurde, fällt Anne nicht auf. Wie sollte sie es auch bemerken, wenn ihr nicht einmal aufgefallen ist, dass sie auf der Couch gesessen hat. Nachdem sich die Beiden gesetzt haben, nehmen auch die beiden Polizisten Platz. Langsam nimmt auch Anne ihre Umgebung wieder wahr. Sie muss. Die Fragen könnten wichtig sein. Es geht um ihr Kind. Sie muss sich zusammenreißen und stark sein. Sie muss zuhören und antworten und ein perfektes Foto auswählen.

Der dunkelhaarige Polizist, der sich als Pete vorstellt, beginnt zu sprechen:“ Hatten Sie mit Ihrer Tochter in letzter Zeit irgendwelche Probleme?“

„Wie meinen Sie das?“, fragt Adam verwirrt. Er nimmt Annes Hand, die sich so eiskalt anfühlt, als würde sie gar nicht zu ihrem Körper gehören. Als wäre es einfach irgendein Gegenstand, durch den kein Blut fließt.

Der zweite Polizist, Stanley, erklärt behutsam:“ Hatten Sie irgendwelche familiäre Schwierigkeiten, gab es vielleicht in letzter Zeit Streit? Oder irgendwelche schulischen….“

„Denken Sie, dass sie weggelaufen ist?“, unterbricht ihn Adam aufgebracht. „Hören Sie, meine Tochter ist ganz bestimmt nicht ausgerissen. Wir streiten uns nicht. Da gibt es keine Schwierigkeiten mit uns und auch nicht mit ihrer Schwester. Also hören Sie auf uns hier auszufragen, als wären wir Verbrecher und beginnen Sie mit ihrer Arbeit!“

Stanley wartet geduldig den Ausbruch des Vaters ab, bevor er weiterspricht:“ Ich weiß, dass Sie das hier nicht hören wollen, aber wir müssen diese Fragen stellen. Wir müssen alle Möglichkeiten abklären. Und diese Möglichkeit wäre unsere beste Option.“

„Was meinen sie mit bester Option?“, fragt Adam verwirrt. „Was genau wäre dann die schlechtere Option?“

Stanley und Pete blicken betreten zu Boden und antworten nicht. Wie soll man auch den Eltern die vielen schlechten Optionen erklären? All diese grausamen Möglichkeiten, die die Welt zu bieten hat. Dinge, die sich keiner vorstellen will, und die doch geschehen. Es sind jene Möglichkeiten, die man gar nicht aussprechen muss, weil Blicke mehr sagen, als jedes Wort. Anne starrt die Polizisten an. Sie denkt an das perfekte Foto, mit dem alles wieder gut werden muss, doch der Blick der beiden sagt ihr, dass es nicht helfen wird. Der Blick sagt ihr, dass sie eine Vermutung haben, die sie noch nicht mit ihnen teilen. Sie will keine Geheimnisse, sie will nicht, dass etwas verschwiegen bleibt. Nicht, wenn es um ihre Tochter geht. Also sagt sie mit lauter fester Stimme:“ Ich bin ihre Mutter.“

Pete ist so überrascht, dass er zusammenzuckt. „Wie bitte?“, frag er nach, weil er den Sinn hinter dieser Aussage nicht erkennen kann. Es ist ja allen bekannt, dass sie die Mutter ist.

„Sie wissen etwas, was Sie uns nicht sagen wollen. Und ich bin ihre Mutter, ich habe ein Recht darauf es zu erfahren!“, antwortet Anne, nun noch etwas lauter.

Verwirrt blicken Stanley und Pete zuerst zu den Eltern, und tauschen dann einen fragenden Blick aus.

„Ich bin Mutter“, betont Anne noch einmal mit etwas leiserer Stimme, „ und ich bin eine Ehefrau. Ich kenne den Blick, wenn jemand etwas verschweigt. Und Sie beide, Sie verschweigen eindeutig etwas.“

„Ich verstehe, dass Sie alles wissen wollen, aber ich denke, dass es sich um Informationen handelt, die jetzt nicht wichtig sind. Wir sollten uns auf Ihre Tochter konzentrieren “, versucht Pete Anne zu beschwichtigen.

„Aber Sie denken doch, dass es mit ihr zu tun hat. Sie würden sich doch nicht so ansehen, wenn es nicht wichtig wäre. Ich muss es wissen, bitte!“, fleht Anne.

„Es ist nicht…“, beginnt Pete, doch Stanley legt ihm eine Hand auf die Schulter und schüttelt kaum merkbar den Kopf. Er blickt Anne direkt in die Augen und sagt:“ Ich werde es Ihnen sagen, aber Sie dürfen dieser Information noch nicht zu viel Bedeutung geben. Es ist nur etwas, von dem wir gezwungen sind, es zu berücksichtigen.“ Stanley wartet Annes Nicken ab bevor er fortfährt:“ Es gab in den letzten Monaten drei ähnliche Entführungsfälle.“

Anne bleibt einfach nur starr sitzen. Kurze Zeit vergisst sie zu atmen. Kann unermessliche Angst noch weiterwachsen? Wie kann man dieser Information keine Bedeutung geben?

Adam, der neben Anne sitzt, schnappt entsetzt nach Luft und umschlingt die Hand seiner Frau noch fester. Er muss sich räuspern, bevor er spricht, weil ihm seine Stimme versagt:“ Sie sagen entführt. Aber sie wurden doch wieder gefunden? Oder? Sie wurden doch wieder gesund nachhause gebracht?“

Und wieder ist da so ein Moment, in dem man nicht weiß, wie man etwas aussprechen soll, und es doch nicht nötig ist, etwas zu sagen, weil ein Blick alles sagt.

Leise tropft das Wasser ins Waschbecken. Blutrot. Er beobachtet fasziniert, wie es im Abfluss verschwindet. Er hat den Wasserhahn absichtlich nicht voll aufgedreht. Wenn er sich mit wenig Wasser wäscht, kann der den Duft und den Anblick länger genießen. Und er genießt gerne. Heute hatte er leider auf einen Genuss verzichten müssen. Er hätte gerne die Gesichter der Eltern gesehen, als sie den Schuh entdeckten. Er schließt die Augen und versucht sich vorzustellen, wie ihnen die Angst das Gesicht verzerrt. Doch der Ärger über sich selbst, dass er sich nicht zurückhalten konnte, nicht auf eine bessere Stelle wartete, um beobachten zu können, verdirbt ihm die Fantasie. Er hatte nicht anders gekonnt, konnte einfach nicht noch länger warten. Sie war zu schön. Er musste sie einfach mitnehmen, als sie da neben der Straße ging. Zu verlockend war dieser Moment. Niemand war auf der Straße, alles schien wie ausgestorben. Nur dieses kleine Mädchen, das den Gehsteig entlang hüpfte. Es war so einfach, ihr den Mund zuzuhalten, so einfach, sie in den Kofferraum zu legen. So einfach ihr den Schuh auszuziehen. Es war nicht der perfekte Ort, um zu beobachten und doch der perfekte Moment, um sie mitzunehmen. Die Locke, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte und ihr Gesicht umrahmte, war zu perfekt, zu schön, um diesen Moment vorbeiziehen zu lassen. Er konnte sie nicht ziehen lassen, denn er hatte schon zu lange auf sie gewartet, um sich noch länger zurückhalten zu können. Er hatte sie vorher beobachtet. Als sie zu Schule ging, wieder nachhause kehrte. Er hat sie beim Fernsehen beobachtet und beim Schwimmen im Pool. Er hatte gesehen, wie ihre Mutter sie zur Tür brachte und ihr einen Kuss zum Abschied gab. Die Mutter, genau so schön wie das Mädchen. Wie gut würde ihr erst die Angst stehen. Trotz dem ganzen Ärger, dass er die Angst nicht beobachten konnte, verzieht sich sein Mund zu einem Lächeln. Das Wasser im Waschbecken wird immer heller. Bevor er das ganze Blut abgewaschen hat, legt er seine Finger an die Nase und atmet tief ein. Er will sie noch einmal riechen. Er leckt einen letzten Tropfen Blut von seinem Finger, um sie noch einmal zu schmecken. Der Geschmack des Blutes und seiner vom Schweiß salzigen Finger vermischt sich perfekt. Dann wäscht er sich die Hände, bis sie wieder ganz sauber sind. Beobachtet, wie das Wasser wieder klar wird. Langsam dreht er sich um, hebt einen kleinen Körper aus der Badewanne und legt ihn auf eine Plastikplane. Sie war auch schön, aber bei weitem nicht so perfekt wie das neue Mädchen. Und ihre Mutter hatte nicht genug Ähnlichkeit mit ihr. Die Angst in ihrem Gesicht war nicht so schön anzusehen. Deshalb hatte er sie nur als Nebenfigur ausgewählt. Es ist wie beim Schach, manchmal muss man eine Bauern opfern, um das Spiel zu gewinnen. Und er hatte einige Figuren gesammelt, die zu opfern er bereit war. Als wäre es kein Körper, sondern einfach irgendein Gegenstand, rollt er den Leichnam in die Plastikplane ein, um ihn später zum Auto zu tragen. Doch vorher muss er noch das Blut in der Badewanne mit dem Wasser fortspülen. Noch ist es nicht getrocknet und lässt sich leichter entfernen. Er mag keinen Schmutz und das Blut -so wunderbar es sich auch anfühlt, wenn es noch warm ist, so gut es auch an seinen Fingern riecht und schmeckt- ist ein sehr hartnäckiger Schmutz, sobald es getrocknet ist. Er dreht das Wasser auf. Ein blutroter Strudel bildet sich über dem Abfluss. Wunderschön, wie ein tiefroter Tornado. Ehrfürchtig, beinahe zärtlich, beobachtet er, wie die rote Flüssigkeit im Abfluss verschwindet. Immer klarer wird das Wasser, bis die Badewanne nicht mehr mit roten Spritzern übersäht ist, sondern wieder weiß erstrahlt. Würde nicht diese eingerollte Plastikplane am Boden liegen, an deren oberen Öffnung eine kleine Hand hervorblitzt, würde nichts mehr auf diese schreckliche Tat hinweisen, die kurz vorher geschehen ist. Er schließt den Wasserhahn und stellt sich vor den Spiegelschrank. Seine Haare sind ganz zerzaust. Mit seinen nassen Händen streicht er die Haare wieder glatt und betrachtet sein Spiegelbild. Mit den glatt gestrichenen Haaren sieht er ganz passabel aus. Es wird für sein Vorhaben reichen. Mit Schwung hebt er die Plastikplane mit dem Körper auf die Schulter und trägt sie aus dem Bad. Er geht den Gang hinunter, an der Kellertür vorbei, aus der leise Schreie klingen. Sie hat eine wunderschöne Stimme. Kurz bleibt er stehen, um ihr zu lauschen. Er stellt sich ihr Gesicht dazu vor. Die Angst sieht in ihrem Gesicht genauso schön aus, wie sie bei ihrer Mutter aussehen wird. „ Mommy“, schreit sie, „Mommy, hilf mir! Daddy, Daddy, wo bist du!“

Wieder lächelt er. Wie wunderschön es klingt, wenn die Angst aus einem Mund spricht. Vor allem, wenn sie aus diesem ganz speziellen Mund spricht. Der Körper auf seiner Schulter wird schwer. Er muss weitergehen, auch wenn er noch gerne länger ihrer Stimme zuhören würde. Aber er würde gleich zurückkehren. Er muss noch das Geschenk für die Eltern abholen. Sie sollen etwas bekommen. Etwas Schönes. Dass ihnen sagt, dass ihre Tochter bei ihm ist. Wenn er Glück hat, würden seine Kameras den Moment festalten. Er hofft sehr, dass die Polizei ihnen das Geschenk nachhause bringen wird. Leise kichert er bei der Vorstellung, wie die Mutter beim Anblick des Geschenkes schreien würde. Er hievt den Körper in der Plastikplane in den Kofferraum seines Autos und kehrt zum Keller zurück. Bevor er in den Keller tritt, schlüpft er in seinen schwarzen bodenlangen Mantel, den schwarzen Handschuhen und setzt sich seinen Hut auf. Dann erst betritt er den Raum, um die Geschenke zu holen. Als er die Kellertür hinter sich schließt, bleibt er noch einige Zeit davor stehen, um verzückt den Schreien zu lauschen. Erst als die Stimme heiser wird und ihren klaren Klang verliert, kann er sich losreißen, um es zu Ende zu bringen. Er fährt mit dem Auto zu dem Platz, den er schon vorher ausgewählt hatte. Vorsichtig hebt er den Körper aus dem Kofferraum, trägt ihn ein paar Meter weit und schüttelt ihn aus der Plane, als wäre er ein Staubkorn. Ohne den Körper weiter zu beachten, hinterlegt er beinahe zärtlich das Geschenk. Dieser Körper ist tot, nicht mehr beachtenswert. Er hat jetzt ein neues, wunderschönes Mädchen, das wichtigste für sein Spiel. Kurz starrt er das tote Mädchen an. Sie riecht nach Tod. Er mag diesen Geruch nicht. Er riecht an der Plastikplane. Auch sie riecht nach Tod. Er rümpft die Nase, lässt die Plane angeekelt fallen, dreht sich um, setzt sich in sein Auto und fährt davon.

Seine Fahrt endet nur kurze Zeit später. Er steigt aus und geht eine Straße weiter. Er sieht die Polizeiautos, die vor dem Haus stehen. Bestimmt sprechen sie noch mit den Eltern. Ob sie die Zusammenhänge schon erkannt haben? Immerhin hat er immer einen Schuh abgelegt, damit keiner auf die Idee kommt, dass sie einfach nur davongelaufen sind. Er schleicht an der Hecke entlang, zur hinteren Seite des Hauses. Von hier aus hat er einen direkten Blick ins Wohnzimmer. Aus seiner Tasche zieht er ein kleines Fernglas hervor. Auf der Couch sitzen drei Personen. Die Eltern und noch jemand. Es muss die Schwester der Mutter sein, weil sie sich sehr ähneln. Mehrere Männer stehen im Raum, manche sitzen auch auf Sesseln. Er erkennt zwei Polizisten, die auch bei der letzten Familie dabei waren, das heißt also, dass sie den Zusammenhang erkennen. Ein Mann dreht sich um und nun erkennt er auch sein Gesicht. Er nimmt ihn mit dem Fernrohr ins Visier und murmelt leise:“ Da bist du ja, Shane.“

Er hält kurz inne, bevor er sich wieder der Mutter zuwendet. Sie sieht so schön aus, so perfekt mit dieser Angst in ihrem Gesicht. Er hatte Recht. Diese Familie wird perfekt sein. Seine Hand greift sich an die Brust, als würde sie etwas nehmen wollen. Verärgert stellt er fest, dass er seine Kamera im Auto vergessen hat. Der zweite Fehler heute. Wütend macht er sich auf dem Weg zurück, um sie zu holen. Hoffentlich würde sich der Gesichtsausdruck noch genauso gut einfangen lassen, wenn er wieder zurück ist. Es wäre sehr ärgerlich, wenn er diesen einen perfekten Moment verpassen würde. Er hat heute schon einen Moment versäumt, er möchte nicht noch einen ziehen lassen, ohne ihn auch später genießen zu können.

Kaum beim Auto angekommen, holt er mit einem sichern Griff die Kamera heraus und eilt möglichst schnell zurück. Wieder an seinem Platz angekommen, hebt er sofort die Kamera zu seinem Gesicht, um Fotos zu machen. Er hat Glück. Die Angst liegt noch in ihrem Gesicht. Sie besprechen etwas, aber sie scheint nicht allzu viel davon wahrzunehmen. Vielleicht sagen sie ihr, dass sie die anderen Mädchen noch nicht gefunden haben. Oder sie besprechen die Fangschaltung für das Telefon, wenn sie diese noch nicht eingerichtet haben. Als ob er so blöd wäre und sich mit einer Fangschaltung finden ließe. Ein Mann hält eine kleine Schachtel in der Hand, die er ihnen anzubieten scheint. Möglicherweise ist er ein Arzt, der ihnen Tabletten zur Beruhigung oder zum Schlafen anbietet. Es wäre sehr schade, wenn sie die nehmen würden. Das würde die Angst im Gesicht verwischen. Eine der anderen Mütter hatte Tabletten genommen, die ihr Gesicht zu einer Maske erstarren ließen und hatte alles zerstört. Er knipst und knipst, um möglichst viele Momente festzuhalten. Die Frau, die die Schwester der Mutter zu sein scheint, steht auf und verlässt den Raum. Kurz darauf kehrt sie mit einem älteren Mann und einer älteren Frau zurück. Er ist kurz verwirrt, doch dann springt die Mutter auf und stürmt in die ausgebreiteten Arme der Frau. Weinend lässt sie sich an die Schulter sinken. Es scheinen die Großeltern des Mädchens zu sein. Er lächelt, während er mit seiner Kamera diesen Moment festhält. Eine Mutter die ihr verzweifeltes Kind festhält, weil deren Kind verschwunden ist. Eine großartige Aufnahme. Besser als er es sich ausgemalt hatte. Er kann es kaum erwarten, dass sie sein Geschenk erhält. Konnte es nicht erwarten, dass sie seine zweite Überraschung entdecken würden. Aber er musste sich noch gedulden. Zuerst muss er nachhause zurückkehren. Er hat heute seine anderen Mädchen noch nicht versorgt. Aber er würde wieder kommen. Früh am Morgen. Wenn alles noch schläft und nur diese einen, denen die Angst den Schlaf raubt, wach sind.

Pete und Stanley sind nicht mehr die einzigen Polizisten im Wohnzimmer. Einige, die an der Suche beteiligt waren und zwei, die mit den anderen Entführungsfällen vertraut sind, stehen herum. Immer wieder stellt jemand eine Frage. Zwei Fotos für ein Fahndungsplakat wurde ausgewählt. Anne konnte sich nicht entscheiden, deshalb suchte Adam sie aus. Eines, das Sarah mit einem Zopf zeigt, eines, auf dem sie ihre Haare offen trägt. Anne sitzt mit Marry und Adam auf der Couch. Jedes Zeitgefühl ist verloren gegangen. Jede Sekunde dauert eine Ewigkeit und doch rinnt die Zeit viel zu schnell durch ihre Finger. Sie haben gesagt, dass die Zeit ausschlaggebend ist, doch jetzt ist bereits stockdunkle Nacht. Die Zeit läuft und läuft und ihr Kind ist nicht da. Das Telefon wird angezapft, falls jemand anruft. Eher unwahrscheinlich, sagten die Polizisten, es sei bis jetzt noch nicht vorgekommen. Aber man möchte auf alles vorbereitet sein. Irgendwo werden Fahndungsplakate gedruckt, Meldung an die Medien gegeben. Alles läuft automatisch ab, und doch bekommt Anne nichts davon mit. Sie schreckt auf, als es an der Haustür klingelt. Marry legt ihr beruhigend die Hand auf den Oberschenkel, bevor sie aufsteht, um zu öffnen. Kurz darauf kehrt sie mit ihren Eltern zurück ins Wohnzimmer. Beide haben ungläubige Gesichter. Ihre älteste Enkelin vermisst? Möglicherweise entführt? Das kann nicht stimmen. Irgendjemand muss sich da einen Scherz erlauben. Man will nicht glauben, dass das Schreckliche wirklich wahr ist. Anne dreht sich um und blickt in die Augen ihrer Mutter Jane. Leise flüstert sie: „Mommy!“, bevor sie aufspringt und weinend in ihre Arme sinkt. Wer sonst sollte sie in diesem Moment beschützen als ihre Mutter? Wie lange hat sie sie schon nicht mehr mit diesem kindlichen Ausdruck angesprochen? Mit einem Mal brechen die Tränen hervor. Sind nicht mehr aufzuhalten. Sie weint und weint in den Armen ihrer Mutter, die ihr bestes versucht, um sie zu trösten. Doch wie soll man Trost aussprechen, wenn man selbst von der Angst zerfressen wird, die einem alle Luft zum Atmen raubt und alle Worte auslöscht?

Auch Adam steht auf, um seine Schwiegereltern zu begrüßen. Sein Schwiegervater Tim schließt ihn in die Arme, und auch den beiden Männern treten Tränen in die Augen. Schnell dreht sich Adam zur Seite. Er kann sich jetzt nicht gehen lassen. Nicht jetzt, wo er stark sein muss. Pete, der in einem der Sessel sitzt, steht auf, um den Neuangekommen Platz zu machen. Tim setzt sich mit einem dankbaren Blick in den Sessel, während sich Jane mit ihren Töchtern auf die Couch setzt. Anne wird immer noch von ihrer Mutter festgehalten, während ihr ganzer Körper vor weinen zittert. Erst als Sarahs Name ausgesprochen wird, richtet sich Anne wieder auf. Dankend nimmt sie das angebotene Taschentuch entgegen. Sie versucht mit aller Kraft, sich wieder zu beruhigen. Immer wieder schluchzt sie, während einer der beiden Männer die keine Polizeiuniform tragen, erklärt, dass es sich wahrscheinlich um den gleichen Täter handelt, der auch die drei anderen Mädchen entführt hat. Es wäre ein sehr großer Zufall, wenn es jemand anderer wäre. Alle Mädchen sehen sich sehr ähnlich, trugen ähnliche Kleider und es wurde nur ein Schuh gefunden, der am Wegrand abgelegt wurde. Da es bei allen Turnschuhe waren, die zum Schnüren sind, denken sie nicht, dass sie zufällig abgestrampelt wurden. Anne versucht ihnen so gut sie kann zu folgen, doch die Stimme in ihrem Kopf schreit immer wieder ganz laut:“ Wo ist Sarah? Ist sie verletzt? Hat sie Schmerzen? Hat sie Angst?“

Es wird erklärt und erklärt, nur als Tim sie fragt, was denn nun mit den anderen Mädchen sei, verstummen sie alle. Tim stellt die Frage noch einmal mit Nachdruck und erst dann antwortet Pete:“ Bis jetzt wurde noch keines der Mädchen gefunden.“

Die Stille, die auf diese Antwort folgt, ist so erdrückend, dass man glaubt, man könnte sie anfassen, wenn man nur die Hand ausstreckt. Sie ist so unerträglich, und doch schafft es keiner sie zu brechen. Drei Mädchen verschwunden und noch keines wurde gefunden? In Adams Kopf nisten sich grausame Gedanken ein. All diese Dinge, die man in Filmen sieht. Diverse Grausamkeiten, von Monstern angerichtet, von denen man glaubt, in der wirklichen Welt geschehen sie nicht. Leise flüstert er die Frage, von der er doch weiß, dass man sie nicht beantworten kann:“ Aber sie sind doch noch am Leben?“

Nun ergreift der Mann, der vorher über die anderen Entführungsfälle gesprochen hat, wieder das Wort und flüstert:“ Wir wissen es nicht, aber wir hoffen. Wir hoffen immer!“

Anne starrt ihn an und steht dann ganz plötzlich auf und verlässt den Raum. Adam blickt ihr kurz verwundert nach, bevor er ihr folgt. An der Treppe hat er sie eingeholt und hält sie an der Schulter fest, damit sie sich zu ihm umdreht. „Wo gehst du hin?,“ fragt er verwirrt.

„Zu Debbie. Sie ist alleine in ihrem Zimmer. Ich muss sehen, ob es ihr gut geht,“, antwortet Anne, schon dreht sich wieder um und geht weiter. Adam ist hin und hergerissen. Soll er ebenfalls zu seiner jüngeren Tochter gehen, oder wieder zurück ins Wohnzimmer. Er wirft einen kurzen Blick zurück und folgt dann seiner Frau. Seine älteste Tochter wird vermisst und sein jüngste ist alleine in ihrem Zimmer. Er muss zu ihr gehen und sich vergewissern, dass sie wohlbehütet in ihrem Bett liegt. Die Zimmertür steht noch eine Spalt offen und Anne sitzt bereits am Bett ihrer Tochter.

„Ist Sarah bald wieder da?“, hört er Debbie leise fragen. Eine Träne löst sich aus seinen Augen und fließt die Wange hinunter. Er lehnt den Kopf an den Türstock und schließt die Augen. Er schafft es nicht hineinzugehen. Er wüsste nicht, was er ihr antworten soll. Wie sollte er auch einem 9-jährigen Mädchen erklären, was es bedeutet, wenn jemand offiziell als vermisst gilt? Wie soll er seinem Mädchen erklären, dass ihre Schwester möglicherweise von einem bösen Menschen mitgenommen wurde, ohne sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Da hört er die Stimme seiner Frau, jener Frau, die wenige Minuten davor weinend zusammengebrochen ist und sich kaum beruhigen ließ. Die kaum ein ganzes Wort herausbrachte und nun mit fester Stimme sagt:“ Ich bin mir sicher, dass sie schon bald wieder bei uns ist!“ Hat sie den Beamten nicht zugehört? Hat sie nicht verstanden, dass eines der Mädchen schon drei Monate vermisst wird und sie immer noch keine Spur haben? Glaubt sie wirklich, dass sie ihr Kind bald wieder in die Arme schließen können?

Da hört er Debbie die nächste Frage stellen:“ Wo ist sie denn?“

„Ich weiß es auch nicht, mein Schatz,“ antwortet Anne,“, aber ich bin mir sicher, dass es ihr gut geht.“

„Ist es in Ordnung, wenn ich schlafe, obwohl sie noch nicht da ist?“, meint Debbie zaghaft.

„Aber natürlich. Komm her, ich gebe dir noch einen Gute Nacht Kuss. Daddy kommt bestimmt auch noch und gibt dir einen Kuss.“

Da gibt sich Adam einen Ruck. Wie kann es sein, dass seine Frau um so vieles stärker ist, als er? Auf Fragen antworten finden, die er nicht einmal hören kann, ohne das Tränen fließen? Er muss doch auch für seine andere Tochter da sein. Er schiebt die Tür ein Stück weiter auf und flüstert leise:“ Ich bin schon da, mein Kleine. Ich gebe dir jetzt noch eine Gute Nacht Kuss. Und wenn du möchtest, bleiben wir, bis du eingeschlafen bist.“

Debbie lässt sich von ihren Eltern küssen und zudecken, dann nimmt sie dich Hand ihres Vaters, bevor sie sich zurück auf ihr Kissen legt und die Augen schließt. Ohne sie loszulassen kniet sich Adam hin und streichelt ihr über den Kopf. Es ist ein kurzer Moment der Ruhe. Einen kurzen Moment könnte man der Vorstellung erliegen, dass alles in bester Ordnung ist. Nur, dass sie zu dritt hier sind, obwohl sie zu viert sein sollten. Plötzlich, wie ein Blitzschlag mitten in sein Herz, ist da die Frage in Adams Kopf. Werden sie jemals wieder zu viert sein? Er will die Frage fortschieben, weit weg von sich, weit weg von seiner Familie. Er will nicht, dass Debbie seine große Angst bemerkt, will nicht, dass sie seine Tränen sieht oder diese eine Frage in seinen Augen liest. Doch die Frage bleibt, immer und immer wieder dreht sie sich in seinem Kopf im Kreis. Dass woanders eine Familie seit drei Monaten auf die Antwort wartet, macht es noch schwieriger, diese Frage zu verdrängen. Hier ist ein kleiner geschützter Raum. Ein Kinderzimmer, frei von Polizisten. Hier ist eine andere Welt, weit weg von der grausamen Wirklichkeit und trotzdem hat sich die Frage die sich keiner stellen will eingeschlichen. Auch hier in diesem geschützten Bereich streckt die Angst ihre langen Finger aus und streicht einem wie ein Schauer über den Nacken. Debbie schläft schnell ein. Es ist spät für so ein kleines Mädchen wie sie. Eigentlich ist morgen ein Schultag, aber daran denkt heute keiner. Auch Anne streicht ihrem Mädchen noch einmal sangt über den Kopf und zieht die Decke zu recht. Debbie hat die Hand ihres Vaters losgelassen und gemeinsam verlassen Anne und Adam das Kinderzimmer. Leise zieht er die Tür zu, dann blickt er seine Frau an und flüstert:“ Hast du das ernst gemeint? Glaubst du wirklich, dass es ihr gut geht und sie bald wieder da ist?“

„Ich muss. Ich würde es sonst nicht aushalten.“ Sanft umarmt Adam seine Frau und drückt ihr einen Kuss auf ihr Haar. Leise flüstert er:“ Wir schaffen das schon. Ich habe keine Ahnung wie, aber irgendwie schaffen wir es.“ Sie halten sich fest, als würde alles wieder gut werden, wenn man sich nur lange genug umarmt. Die Zeit verschwindet, der Raum verschwindet, die Welt verschwindet. Für einen kurzen Moment gibt es nur die beiden, die sich festhalten. Und einen kurzen Moment gibt es diesen Funken Hoffnung, dass alles gut ist, wenn man die Augen wieder öffnet. Doch als Anne ihre Augen aufmacht, ist nichts gut. Die Realität, die zu einem furchtbaren Alptraum geworden ist, ist immer noch da und mit ihr die Angst, die sich nicht verdrängen lässt. Mit ihr die innerlichen Schreie nach einer schmerzlich vermissten Tochter, die man nicht abstellen kann. Adam und Anne sehen sich in die Augen und in stummen einvernehmen gehen sie Hand in Hand zurück ins Wohnzimmer.

Sie werden fragend angeblickt, als sie den Raum betreten, und Adam klärt sie auf indem er sagt, dass Debbie nun schläft. Jane steht sofort neben ihrer Tochter, und legt den Arm um sie und meinst:“ Du solltest auch etwas schlafen, mein Schatz, leg dich doch etwas hin.“

„Sarah ist nicht hier! Glaubst du wirklich, ich könnte jetzt einschlafen?,“ entgegnet Anne, viel härter und viel lauter als beabsichtigt.

„Du könntest doch eine dieser Tabletten nehmen, die würde dir bestimmt beim Einschlafen helfen,“, schlägt Jane vor.

„Ich will nicht schlafen. Was, wenn sie zurückkommt, oder anruft und ich bin nicht wach?“

Adam stellt sich auf die Seite seiner Schwiegermutter und redet auf seine Frau ein:“ Deine Mutter hat Recht, Anne. Du solltest etwas schlafen. Ich bleibe wach und werde schlafen, wenn du wach bist. Es kann sein, dass es lange dauert, bis sie zurückkommt. Wenn wir nicht schlafen, halten wir das nicht aus.“

„Das darfst du nicht sagen, Adam, du darfst nicht sagen, dass es lange dauern wird. Sie könnte schon morgen wieder da sein.“

„Sie könnte. Und was, wenn nicht?“, fragt Adam. Es ist eine einfache Frage, die das Eigentliche nicht beinhaltet. Es ist nicht die Frage, die ihm im Kopf schwirrt, und doch steht diese Frage zwischen den Zeilen und auch Anne versteht, was er eigentlich fragen will. Das Unaussprechliche, das nicht ausgesprochen werden kann, nicht ausgesprochen werden darf, aus Angst, es könnte wahr werden, wenn man es laut ausspricht.

Was, wenn sie nicht zurückkommt?

„Wir dürfen so nicht denken, Adam. Sie kommt zurück. Bald!“ antwortet Anne nachdrücklich, und doch wissend, dass der Versuch, nicht daran zu denken scheitern muss. Weil die Stimme laut schreit. Weil das Herz so sehr schmerzt, dass man ständig daran denken muss. Und weil da die anderen Mädchen sind, die noch nicht zurückgekehrt sind.

Anne lässt sich zu einer Schlaftablette überreden, nachdem ihr Adam versprochen hat, wach zu bleiben und sie sofort zu wecken, sollte irgendetwas geschehen. Nur ein paar Stunden diese Stimmen abstellen. Ein paar Stunden das Herz nicht spüren. Sie nimmt die Schachtel entgegen und blickt ihre Mutter an. „Mom?“, flüstert sie fragend. Es ist eigentlich keine Frage, sondern ein Bitten, das ihre Mutter sofort versteht.

„Ich komme mit dir, natürlich,“, antwortet Jane sofort. Sanft schiebt sie ihre Tochter zur Tür hinaus und begleitet sie ins Schlafzimmer. Während sich Anne ihr Nachthemd anzieht, holt Jane ein Glas Wasser für die Tablette. Dann begleitet sie ihre Tochter ins Bad, steht neben ihr, als sie sich die Zähne putzt. Hält sie fest, als sie beinahe 5 Minute auf die Zahnbürste von Sarah starrt. Sie ist nicht nass, weil sie heute Abend nicht verwendet wurde. Ein kleines Zeichen, dass laut schreit:“ Sarah ist nicht da!“ Endlich liegt Anne im Bett, die Tablette hat sie bereits geschluckt. Ihre Mutter liegt neben ihr und hält sie fest. Anne versucht einzuschlafen, versucht die Stimmen, die in ihrem Kopf flüstern abzustellen. Versucht die Angst zu beherrschen, die ihren ganzen Körper umfangen hält, so fest als würde sich noch eine dritte Person im Raum aufhalten. Und irgendwann sind die Schreie stumm. Irgendwann tut das Herz nicht mehr weh. Irgendwann fallen Annes Augen zu und sie fällt in einen traumlosen Schlaf.

Erst als ein Sonnenstrahl auf ihr Gesicht fällt, schlägt Anne die Augen wieder auf. Für einen Bruchteil denkt sie nicht an das, was passiert ist. Für einen ganz kleinen Moment, hat sie alles vergessen. Dann fällt ihr die Hand ihrer Mutter auf, die auf ihrer liegt, und wie eine kalte Welle überschwemmt sie die Realität. Es ist wie ein umgekehrtes aufwachen. Als würde man, von etwas Schönem in einen Alptraum gerissen. Wenn man einen Alptraum hat, ist es eine Erleichterung, aufzuwachen. Heute ist das aufwachen für Anne einfach nur eine Qual. Obwohl sie sich fühlt, als hätte sie noch gar nicht geschlafen, ist Anne mit einem Schlag hellwach. Sofort ist die Angst wieder da und hält ihr Herz schmerzhaft umklammert. Auch Jane neben ihr ist bereits wach und setzt sich, nun, da auch Anne wach ist, auf. Einen kurzen Moment fragt sich Anne, ob Sarah zurückgekehrt ist, während sie geschlafen hat. Doch ein Blick auf ihre Mutter, lässt sie erkennen, dass nichts dergleichen passiert ist.

„Adam war vorhin da, aber du hast noch geschlafen. Die meisten Polizisten sind gegangen, es ist nur einer hiergeblieben, ich glaube, es ist der, der Pete heißt. Sie haben unten Kaffee gemacht, falls du gerne einen möchtest,“, klärt Jane Anne über die neusten Geschehnisse auf. Ein Blick auf den Wecker verrät, dass es bereits halb neun ist. Die Schlaftablette hat ihre Wirkung gezeigt und sie lange schlafen lassen. Anne zieht sich nur einen Morgenmantel über. Es ist nicht wichtig, etwas anzuziehen, obwohl eine Person, die sie gestern um diese Zeit noch gar nicht kannte, unten sitzt. War es wirklich erst gestern, dass die Welt noch in Ordnung war? Als Sarah noch ihren Kakao zum Frühstück verlangte? Gestern um diese Zeit, als sich die Welt noch drehte und alles noch so war, wie es sein sollte, wäre Anne niemals mit einem Morgenmantel zu einem Frühstück erschienen. Schon gar nicht, wenn jemand anwesend war, der nicht zu ihrer Familie gehörte. Sie wäre niemals erst um halb neun aufgewacht, und hätte unter gar keinen Umständen das Schlafzimmer verlassen, ohne sich in den Spiegel zu sehen und die Haare etwas zu recht zu machen. Aber heute ist es egal. Heute zählt nur die Frage, wo Sarah ist. Gestern wurde aus den Gedanken gelöscht, als hätte es niemals existiert, als hätte ein anderes Leben begonnen. Das neue Leben, das eher einer Hölle gleicht.

Sie betritt die Küche, wo Adam mit Marry, Tim und Pete sitzt. Ist Marry nicht nachhause gegangen, oder ist sie früh am Morgen wieder gekommen? Aber das ist keine wichtige Frage, deshalb stellt Anne sie nicht. Sie blickt nur Adam mit einem Blick an, der fragt, ob es etwas Neues gibt. Adam schüttelt als Antwort nur leicht mit dem Kopf. Ohne etwas zu sagen, holt sich Anne einen Kaffee und setzt sich. Eigentlich ist es unhöflich, dass sie niemanden einen guten Morgen wünscht, aber es ist kein guter Morgen und auf Höflichkeiten muss man keine Rücksicht mehr nehmen, wenn die Welt stehen geblieben ist. Anne weiß nicht, wie lange sie so in der Stille dasitzen, jeder in seinen Gedanken versunken. Irgendwann beginnt Marry zu reden, so unerwartet, dass Anne erschrickt.

„Debbie schläft noch. Ich habe in der Schule angerufen. Wenn sie in die Schule möchte, sobald sie wach ist, bringe ich sie hin, und wenn nicht, kann sie hier bleiben.“ Anne ist kurz verwirrt, bis ihr einfällt, dass ein ganz normaler Wochentag ist. Das Leben draußen läuft weiter. Die Welt jener Glücklichen ist nicht stehengeblieben. Sie nickt kurz, um zu zeigen, dass sie verstanden hat. Adam murmelt einen leisen Dank und wieder versinken alle in der Stille. Jedem schwirren die Gedanken im Kopf, die von der Angst auf das Gesicht gemalt werden. Petes nachdenkliches Gesicht flüstert:“ Werden wir sie rechtzeitig finden?“, während Adams Gesicht fragt:“ Wird sie zurückkehren?“

Tim fragt sich, ob seine Enkelin verletzt wurde, ob sie Schmerzen hat, während Jane hofft, dass es ihr gut geht. In Annes Gesicht dagegen steht die Frage, wann ihre Tochter zurückkehren wird.

Die Stille wird durch das Schrillen der Türklingel zerrissen. Alle Schrecken hoch. Die einen mit einem besorgten Blick, die anderen mit einem Hoffnungsvollen. Marry steht als erstes auf und öffnet die Tür. In angespannter Stille warten die anderen darauf, welche Neuigkeit sich hinter dem Türklingeln verbirgt. Keiner wagt es zu atmen oder sich gar zu bewegen. Gespannt warten sie, bis Marry die Küche wieder betritt, gefolgt von zwei Personen. Mit einem Mal fällt Anne wieder ein, dass sich die zwei Männer gestern als Shane und Mc.Gee vorgestellt haben. Sie weiß nicht mehr welcher Name zu welchem Mann gehört, glaubt aber, dass der Jüngere der beiden Mc. Gee ist. Sie sind Agenten einer Spezialeinheit und sind mit ihrem Team wegen der Entführungsfälle angereist. Gestern haben sie einige Dinge erklärt, über Täterprofil erstellen und ihren sonstigen Ermittlungsarbeiten, aber Anne konnte ihnen nicht folgen. Das kurze Hoffen auf eine gute Nachricht, wird mit einem Blick in die Gesichter der beiden Männer zunichte gemacht. Keiner wagt es die Frage zu stellen, die im Raum steht, so starren alle nur stumm denn Männern entgegen. Als er die Stille nicht mehr ertragen kann, fragt Adam:“ Wissen Sie etwas von Sarah?“

Shane antwortet vorsichtig: „ Möglicherweise.“

Erst jetzt fällt auf, dass er etwas bei sich trägt. Die beiden Männer setzen sich auf die von Marry angebotenen Sessel und legen eine Schachtel und ein schwarzes Gerät auf den Tisch.

„Was meinen Sie mit möglicherweise?“, hakt Adam verwirrt nach.

„Wir haben Sarah nicht gefunden, aber ein Jogger hat heute im Morgengrauen die Leiche eines vermissten Mädchens entdeckt“, erklärt Shane betont ruhig.

Anne will einen Schrei ausstoßen. Einen Schrei des Entsetzens, weil ein Kind tot ist, und doch auch ein Schrei der Erleichterung, weil es nicht ihres ist, doch ihre Stimme versagt. Sie öffnet den Mund, doch sie bleibt stumm. Das Grauen hat ihr mit einem festen Faustschlag sämtliche Luft aus der Lunge gepresst. Sie muss sich zwingen einzuatmen, obwohl jeder Atemzug in der Lunge sticht. Angst und Panik legt sich über den ganzen Körper. Doch das Grauen wird noch weiter wachsen, hat immer noch nicht seinen Höhepunkt, obwohl sich Anne nicht vorstellen kann, dass es noch schrecklicher werden kann. Weil auf das Schlimmste, doch nicht noch Schlimmeres folgen kann, nicht folgen darf. Und trotzdem steht da noch eine Frage im Raum, diese Frage, die Tim ausspricht, weil für diese Frage auch Adam die Kraft fehlt.

„Wieso wissen Sie möglicherweise etwas von Sarah, wenn doch ein anderes Mädchen gefunden wurde?“, fragt Tim leise. Seine Stimme ist kaum hörbar, und doch ist die Stille so groß, dass es ist, als würde er Schreien.

„Weil wir neben dem Mädchen zwei Gegenstände gefunden haben. Zum einen eine Kassette, mit einer Tonaufnahme eines Kindes.“ Dass es sich um zwei Gegenstände handelt, war eine kleine Notlüge. Sie hatten auch eine Schachfigur, einen Bauern, neben der Leiche entdeckt, worauf sie sich noch keinen Reim machen konnten. Aber das war eine Information, die die Eltern nicht beschäftigen musste, es war eine reine Ermittlungssache.

Mc.Gee zieht aus der Schachtel einen kleinen Plastiksack hervor, der einen abgeschnitten blonden Zopf und ein bunte Haarsträhnen zum anknipsen enthält und murmelt:“ Und außerdem haben wir noch diese Haarsträhne entdeckt.“

„Nein!“, schreit Adam in einem lauten, unmenschlichen Ton. Es ist ein so schriller, so schmerzerfüllter Klang, dass man meinen könnte, der Schrei stammt von einem verletzten Tier. Adam reißt Mc.Gee den Sack aus der Hand und starrt den blonden Zopf an, der eindeutig von seiner Tochter stammt. Seine andere Hand hat er zu einer Faust geformt, und presst sie mit aller Kraft auf seinen Mund, um nicht noch einmal zu schreien. Schlägt sein Herz weiter? Ist es nicht gerade von einer unsichtbaren Hand aus seiner Brust gerissen worden? Wie kann er atmen, wo doch dieser Schmerz mit eiserner Kraft gegen seine Brust presst?

Anne hat beide Hände flach auf die Tischplatte gelegt. Sie sitzt einfach nur da und starrt ins Leere, als hätte sie nichts von alldem, was gerade passiert ist, wahrgenommen. Im Gedanken sieht sie ihr Mädchen vor sich, sieht sich selbst, wie sie ihr den Zopf flicht. Sie sieht den kurzen Streit, den sie hatten, weil sie ihrer Tochter nicht erlauben wollt, die bunte Strähne auch in der Schule zu tragen. Und sie sieht, wie Sarah stolz vor dem Spiegel steht, und die Strähne auf ihrem blonden Zopf befestigt, nur wenige Minuten, bevor sie sie zum letzten Mal sah. Und jetzt ist sie da, diese Haarsträhne, auf der mit bunten Perlen Sarahs Name geschrieben steht.

Mc. Gee überspielt die Überraschung, dass ihm etwas aus der Hand gerissen wurde, lässt seine Hand sinken und sagt:“ Wir haben hier noch diese Tonbandaufnahme, die wir…“

Er wird von der leisen Stimme des kleinen Mädchens unterbrochen, dass plötzlich neben ihrer Mutter steht und flüstert: „ Mommy? Kann ich zur Schule?“

Anne reagiert zuerst gar nicht, erst als Debbie sie am Arm zupft.

„Was, mein Schatz?“, fragt sie verwirrt. Es fällt ihr schwer zu sprechen, aber sie muss für ihre Tochter stark sein. Hat sie den Schrei des Vaters gehört? Spürt sie das Entsetzen, das den ganzen Raum erfüllt? Wenn ja, lässt sie sich nichts anmerken. Sie blickt einfach nur fragend ihre Mutter an.

„Zur Schule. Kann ich zur Schule gehen?“

„Aber natürlich. Tante Marry bringt dich hin. Aber du solltest vorher noch etwas frühstücken.“

Marry blickt zu Adam, der immer noch den Sack mit der Haarsträhne in der Hand hält, welchen er aber geistesgegenwärtig unter den Tisch sinken ließ, als er Debbie erblickte, dann zu der Schachtel, in der sich noch die Tonaufnahme befindet. Sie steht auf, nimmt Debbie bei der Hand und sagt: „Wir holen uns einfach auf dem Weg zur Schule ein Frühstück? Was hältst du davon? Jetzt holen wir schnell deine Schulsachen, bringen deine Haare noch in Ordnung und fahren los“

Debbie nickt etwas verwundert und folgt ihrer Tante. Kaum haben die beiden die Küche verlassen, blicken alle erwartungsvoll auf Mc.Gee, der sofort weiterspricht: „ Wir haben diese Tonaufnahme und wir müssen Sie bitten, sie anzuhören. Wir wissen natürlich, dass das eine sehr schwierige Situation ist, aber wir müssen wissen, zu wem die Stimme gehört. Wir haben die Tonaufnahme zwar hier, aber sie kann natürlich auch im Präsidium angehört werden.“

„Wir gehen hier nicht weg,“ wirft Anne sofort ein und Adam nickt zustimmend.

Er fordert Shane dazu auf, das Band sofort abzuspielen, doch dieser lehnt ab. Es wäre besser, wenn ihre jüngere Tochter aus dem Haus sei, bevor sie sich Aufnahme anhören. Es entsteht eine erwartungsvolle Pause. Um sich irgendwie zu beschäftigen, bietet Jane Kaffee an. Sie holt für die Tassen und schenkt ein. Um länger beschäftigt zu sein, trägt sie jede Tasse einzeln zum Tisch. Die anderen sitzen einfach nur da und warten. Bis endlich die Tür noch einmal aufgeht, Marry und Debbie kurz zum Abschied hereinrufen und anschließend durch die Haustür verschwinden. Kaum fällt die Tür ins Schloss, zieht Shane die Kassette hervor und legt sie in das schwarze Gerät. Er blickt von Anne zu Adam und meint:“ Ich muss Sie auf Schlimmes vorbereiten. Ich weiß, dass ist sehr schwierig und es tut mir wirklich leid, dass wir das von Ihnen verlangen müssen. Sie müssen sich nicht die ganze Aufnahme anhören, Sie müssen nur sagen, ob Sie die Stimme erkennen. Sind sie bereit?“

Bereit sein? Kann man bereit sein, für so etwas Grauenhaftes? Kann man sich darauf vorbereiten? Tut es weniger weh, wenn man bereit ist? Wie soll man sich auf etwas vorbereiten, das so schrecklich sein wird, dass es jede Vorstellungskraft übersteigt? Anne und Adam können diese Frage nicht beantworten. Sie sind nicht bereit, aber sie müssen es über sich ergehen lassen, das ist ihnen bewusst, also nicken sie beide. Shane drückt auf eine Taste. Dann erklingt die Stimme. Sarahs Stimme. Sie füllt den ganzen Raum aus, erfüllt jede Faser des Körpers. Sie schreit schrecklicher, als ihre Eltern es sich vorgestellt hatten, grauenhafter, als sie jemals ahnen konnten. Sie kreischt in einem hohen, unmenschlichen Ton. Ihr angsterfülltes Schreien prallt an den Wänden der Küche zurück, nimmt alles ein und brennt sich wie ein Feuer in die Seele ihrer Familie.

„Mommy! Mommy! Wo bist du? Daddy! Daddy! Daddy! Ich will zu meinem Daddy! Lass mich raus! Lass mich raus! Bitte, bitte Lass mich raus!“

Dieses Mal ist es Anne die schreit. Sie springt so abrupt auf, dass ihr Stuhl mit einem lauten Knall umfällt. Sie presst sich ihre Hände an die Ohren und kreischt: „ Schalten Sie es aus! Schalten Sie es aus! Oh mein Gott! Mein Baby!“

Shane drückt erneut die Taste und die Stimme verstummt. Das Gerät ist ausgeschalten und trotzdem hallen die Schreie noch durch den Raum. Die Stimme bleibt so präsent, als hätte niemand das Tonband abgestellt. Sie hat sich in den Köpfen festgekrallt und will nicht aufhören zu schreien. Mc. Gee hebt den umgestürzten Sessel wieder auf, und drückt Anne, die sich immer noch die Ohren zuhält, sanft auf die Schulter, damit sie sich wieder setzt. Shane nimmt die Kassette wieder aus dem Rekorder und legt sie zurück in die kleine Schachtel. Dann nimmt er vorsichtig den Sack mit der Haarsträhne aus Adams Hand.

„Ich weiß, dass Sie sie behalten wollen, aber wir müssen sie zur Spurensicherung ins Labor bringen. Es könnten Hinweise darauf sein “, erklärt er entschuldigend, als ihn Adam fragend anblickt. Nachdem er die kleine Schachtel wieder verschlossen hat, reicht er sie an Mc.Gee weiter. Leise flüstert er:“ Mc.Gee, bring das ins Labor, und kläre die Anderen darüber auf, dass wir die Stimme identifiziert haben. Das ist neu, wir müssen herausfinden, was es bedeutet.“

Mc.Gee nimmt die Schachtel entgegen verabschiedet sich und wird von Jane zur Tür gebracht. Anne hat ihren Kopf auf den Tisch gelegt. Die Hände immer noch auf ihre Ohren gelegt weint sie leise vor sich hin. Das Tonband ist weg, wurde aus dem Haus gebracht und trotzdem hört sie die Schreie ihrer Tochter in ihrem Kopf. Immer und immer wieder hört sie Sarah nach ihrer Mutter rufen. Und Anne muss hier sitzen, weiß nicht, wo ihr Kind ist und kann ihr nicht helfen. Wie kann ein so kleines Mädchen einen so schrecklichen Klang in seiner Stimme haben? Wie kann die wunderbare, zarte, ruhige Stimme ihres kleinen Mädchens zu so einem schrecklichen Kreischen werden? Jane setzt sich neben ihre Tochter und legt den Arm um sie, während Adam nur stumm ins Leere starrt. Hatte er vorhin noch die Kraft zu schreien, ist er nun vollkommen verstummt. Da sind die Schreie in seinem Kopf und die Fragen, die er nicht stellen will, weil er darauf keine Antwort will, die sich aber auch nicht aus seinem Kopf verbannen lassen. Was wurde seiner Tochter angetan? Wo ist sie? Geht es ihr gut? Was wurde dem Mädchen angetan, das gefunden wurde? Ist seine Tochter die Nächste?

Nur Tim traut sich eine Frage zu stellen, weil er es nicht ertragen kann, sie nicht auszusprechen:“ Was genau bedeutet das jetzt?“

Anne hebt ihren Kopf. Sie hat ihre Hände von den Ohren genommen, weil sie die Stimmen nicht abstellen konnten. Immer noch laufen ihr Tränen über das Gesicht.

„Was das bedeutet?“, schreit sie ihren Vater an. „ Es bedeutet, dass sie Angst hat. Sie hat ganz schrecklich Angst und sie will, dass ich zu ihr komme. Sie will ihren Daddy. Und…und der Zopf bedeutet, dass ihr jemand die Haare geschnitten hat. Worüber sie ganz fürchterlich weinen wird. Sie wollte niemals kurze Haare, niemals! Und jetzt hat sie ein Fremder einfach abgeschnitten. Sie muss ganz fürchterliche, fürchterliche Angst haben. Das bedeutet das alles hier!“

Keiner versucht sie zu beruhigen. Wie hätten sie es auch anstellen sollen? Sie wissen, dass sie Recht hat. Alle starren sie nur stumm an, bis Jane leise flüstert:“ Es zeigt uns, dass sie lebt.“

Anne dreht den Kopf und blickt sie verwirrt an:“ Es zeigt uns….was? Wie meinst du das?“

„Was wir gehört haben, war ganz fürchterlich. Aber es ist Sarahs Stimme, es ist ihre Stimme. Das bedeutet, dass sie lebt. Ich habe doch recht, oder nicht?“, fragend blickt sie Shane an. Mit sehr vorsichtig formulierten Wörtern antwortet dieser:“ Wir gehen davon aus.“

„Was soll das heißen, sie gehen davon aus? Das war gerade ganz eindeutig Sarahs Stimme?“, fragt Tim verwirrt.

„Es heißt, dass es eine Aufnahme ist “, beantwortet Adam mit kraftloser Stimme die Frage, „Dass sie gelebt hat, als die Aufnahme gemacht wurde, bedeutet nicht, dass sie…“

„Nein!“ , schreit Anne dazwischen. „Sprich es nicht aus. Wage es ja nicht, es auszusprechen. Sie lebt! Wir haben ihre Stimme gehört, das sagt uns, dass sie lebt.“ Sich mit beiden Händen am Tisch abstützend steht Anne da. Schwer atmend, als hätte sie gerade eine Marathon hinter sich.

„Natürlich glaube ich, dass sie lebt, ich sage ja nur…“, versucht Adam sich zu verteidigen, doch Anne unterbricht ihn wieder.

„Nein, sagst du nicht. Ich erlaube nicht, dass du diesen Satz aussprichst. Schlimm genug, dass er in deinem Kopf ist. Ich will ihn nicht hören und ich will ihn nicht hier im Haus.“

Sie löst sich vom Tisch, verlässt den Raum und lässt die Anderen stumm zurück.

Leise flüstert Adam: „Ich meine doch nur, dass…“

Dieses Mal unterbricht ihn sein Schwiegervater, in dem er eine Hand auf seine Schulter legt, und ebenso leise antwortet: „Wir wissen, was du meinst, aber sie hat recht, wir sollten es nicht aussprechen.“

Keiner will diesen Satz hören. Keiner will, dass auch er in dieser Küche hallt, so wie Sarahs Stimme, die immer noch umherirrt, obwohl sie schon lange verstummt ist. Ohne ein Wort zu sagen, steht Jane auf und folgt ihrer Tochter. Auch Tim erhebt sich und verlässt den Raum, jedoch sagt er mit leiser Stimme:“ Ich werde mal schauen, ob bei Anne alles in Ordnung ist.“

Als ob auch nur ein Hauch einer Chance besteht, dass alles in Ordnung ist, als ob jemals wieder alles in Ordnung sein wird, will Adam schreien. Doch er bleibt stumm. Er weiß, dass es nichts ändern würde, seinen Schwiegervater anzuschreien. Tim hat nur einen unbedachten Satz gesagt, so wie man ihn eben sagt. Adam wartet, bis Tim die Küche verlassen hat, dann setzt er sich näher zu Shane, um ihm die Frage zu stellen, auf die er keine Antwort will, und es doch nicht erträgt es nicht zu wissen.

„Dieses Mädchen, das gefunden wurde, was ist mit ihm passiert?“

Wieder ist die vorsichtige Wortwahl von Shane gefragt. Man muss die Eltern informieren, muss ihnen gewisse Wahrheiten mitteilen, und darf ihnen doch nicht zu viel verraten. Es geht immerhin um ihre Kinder und man muss sehr genau abwägen, wie viel man ihnen zumuten kann. „Hören Sie…“

„Adam, ich bin einfach nur Adam, kein Sie und keine sonstigen Förmlichkeiten, sie sitzen in meiner Küche, trinken meinen Kaffee, und haben meine Frau im Nachthemd gesehen. Förmlichkeiten sind nicht mehr angebracht und halten uns nur unnötig auf.“

„Also gut, Adam. Mich kannst du trotzdem mit Shane anreden, das machen alle so. Aber das Sie können wir gerne weglassen “, stimmt Shane zu und spricht dann mit einer sehr behutsamen Stimme weiter, “ Ich glaube nicht, dass du wissen musst, was passiert ist. Du solltest dich nur auf deine Tochter konzentrieren.“

„Das mache ich ja, aber heute wurde ein Mädchen gefunden und sie wurde getötet. Und diese Person, die ihr das angetan hat, hat mein Kind. Ich kann an nichts anderes denken, als an mein Kind und deshalb muss ich wissen, was er diesem Mädchen angetan hat. Ich muss wissen, ob sie gelitten hat. Ich muss wissen, was er mit ihr gemacht hat, als sie bei ihm war.“

Kann man einem Vater die Grausamkeiten zumuten, die einem anderen kleinen Mädchen angetan wurden? All diese Wunden auf einem Körper, die erkennen lassen, dass ihr Schmerzen zugefügt wurde? Er musste diese Wahrheit heute schon einem Elternpaar zumuten, das in die Gerichtsmedizin kommen musste, um ihr Kind zu identifizieren. Er musste daneben stehen, als das weiße Tuch, das den kleinen Körper bedeckte, angehoben wurde, um das Gesicht freizulegen. Engelsgleich lag sie da. Die blonden Locken umrahmten ihr Gesicht. So friedlich der Gesichtsausdruck, das einem die Vorstellung, sie würde nur schlafen, leicht gemacht wurde. Wäre da nicht dieser kalte Raum gewesen, diese nackten weißen Wände. Und der Schrei der Mutter. Der entsetzliche, langgezogenen Schrei einer Mutter, der alles genommen wurde. Ein Schrei, den Shane niemals wieder vergessen wird. Er wird sich an die vielen Schreie anreihen, die er schon im Kopf tragen muss.

Adam reißt Shane aus den Gedanken, weil er seine Hand nimmt und ihn noch einmal anfleht, ihm zu sagen, was mit dem Mädchen passiert ist. Shane spannt seine Schultern an, als könnte er damit die Bilder aus seinem Kopf vertreiben. Dann sagt er mit Nachdruck zu Adam:“ Wir können zu diesem Zeitpunkt nur sagen, dass Gewalt im Spiel war. Ob sie gelitten hat, kann ich dir nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Das ist alles, was du wissen musst und ich flehe dich an, mir bei dieser Sache zu glauben. Was du wissen musst, wirklich wissen musst, das werde ich dir sagen, aber auf gar keinen Fall mehr.“

„Also gut, danke.“ Adam lässt seinen Kopf sinken und starrt auf seine Kaffeetasse. Der Kaffee ist inzwischen kalt geworden, aber das macht nichts. Die Tasse ist nur da, um etwas in der Hand zu halten. Pete, der immer noch neben ihnen sitzt, traut sich nicht, die Stille zu durchbrechen. Er ist noch immer ganz weiß im Gesicht und sieht aus, als würde er sich in den nächsten Minuten erbrechen. Sarahs Schreie klingen noch in seinem Kopf und er schafft es nicht, an etwas anderes zu denken.

Auch Shane versinkt wieder in seinen Gedanken. Von der Gewalt hat er nur gesprochen, weil sie genau diesen Satz auch den Medien mitteilen werden, die sich darauf stürzen werden wie die Geier. Und eine klitzekleine Notlüge muss in einer Situation wie dieser in Ordnung sein. Er hatte gesagt, dass er nicht weiß, ob das Mädchen gelitten hat. Natürlich hatte sie gelitten, wie auch nicht. Sie war drei Monate von zuhause weg. Diverse Schnittwunden, Kratzer und blaue Flecken bedecken ihren Körper, von denen manche bereits angefangen hatten zu heilen. So engelsgleich und ruhig ihr Gesicht, so zerschunden ist ihr Körper. Jede Verletzung kam ihm vor, als würde das kleine Mädchen laut schreien. Sie haben den Körper den Eltern nicht gezeigt. Es wäre zu viel gewesen. Sie mussten erfahren, dass ihr Kind nie wieder zu ihnen zurückkehren würde. Mussten diese unerträgliche Wahrheit erfahren. In dieser Situation kann man ihnen nicht zumuten, zu erfahren, wie sehr dieses kleine Mädchen gelitten haben muss.

Adam will gerade aufstehen, um nach seiner Frau zu sehen, als ein lauter Schrei die Stille zerreißt. Alle drei Männer springen gleichzeitig auf und stoßen zusammen, als sie gleichzeitig durch die Tür wollen. Pete und Shane lassen dem besorgten Adam den Vortritt und folgen ihm. Sie vermuten den Ursprung des Schreies im Wohnzimmer, dieses scheint jedoch auf den ersten Blick leer zu sein. Erst beim näheren Hinsehen fallen ihnen die drei Personen auf der Terrasse auf, die im Kreis stehen und auf den Boden starren. Adam erreicht die drei als erster und starrt ebenfalls fassungslos auf den Boden. Eine Hand drängt ihn leicht zur Seite und Shane tritt in den Kreis, um zu sehen, was den Schrei ausgelöst hat. Kurz starrt er das kleine Paket an, das die Aufschrift „Für Mommy“ trägt. Er fasst sich jedoch sofort wieder und dreht sich um, um Pete Anweisungen zu geben. „Holen sie sofort Verstärkung. Wir brauchen die Spurensicherung, das volle Programm.“

Dann holt er sein Handy aus der Tasche, er scheint kaum gewählt zu haben, da redet er auch schon in das Telefon.

„Mc.Gee? Ich brauch dich hier. Sofort!“

Nach dieser Anweisung wendet er sich wieder der Familie zu, die immer noch im Kreis steht. Er bittet sie, hineinzugehen. Es sieht nicht danach aus, als ob das Paket gerade erst abgelegt wurde, also würde es keinen Sinn machen, sofort die Gegend abzusuchen. Er muss sich erst um die Familie kümmern, die nicht weiß, wohin mit ihren Gefühlen. Ist es mehr Angst als Grauen oder doch mehr Grauen als Angst, was sich in ihren Gesichtern wiederspiegelt? Gibt es zwischen diesen beiden Gefühlen überhaupt noch einen Unterschied?

Anne lässt sich von ihrem Mann ins Wohnzimmer führen. Sie merkt nicht, dass sie sich den Ellbogen an der Tür stößt, merkt nicht, wie fest Adam ihren Arm umklammert. Da ist nur ein neuer Satz in ihrem Kopf, eine neue Stimme die schreit: „ Er war hier! Hier, in ihrem Garten, während sie alle drinnen waren.“

Wieder füllt sich das Wohnzimmer mit Polizisten. Die Spurensicherung durchkämmt den Garten, sucht Hinweise auf denjenigen, der das Paket abgelegt hat. Alles zieht an Anne vorbei, als wäre sie in einer ruhigen Mitte, als wäre in ihrem Bereich die Zeit stehen geblieben und draußen bei den Anderen rennt sie doppelt so schnell weiter.

Shane, der mit der Spurensicherung auf der Veranda steht, kniet sich nun vor das Paket. Er trägt wie die anderen Gummihandschuhe. Vorsichtig öffnet er die kleine Schachtel, die nichts weiter als einen kleinen Zettel enthält. Er nimmt die Pinzette, die im gereicht wird, und hebt mit ihr den Zettel vorsichtig heraus. Um lesen zu können, was darauf steht, muss er den Zettel etwas drehen, da er ihn verkehrt hält. Dann erkennt er den Schriftzug.

Ich werde dich um 11 anrufen. Und du solltest besser rangehen, Mom, oder mein nächstes Souvenier ist eine Hand.“

Sofort lässt er den Zettel in die Schachtel fallen, steht auf und ruft nach Mc.Gee, während er sich die Handschuhe von den Händen streift. Dieser eilt sofort an Shanes Seite und fragt verwirrt, was den los sei.

„Er ruft in 5 Minuten an, wir müssen die Mutter vorbereiten.“

Ohne weitere Fragen zu stellen, folgt Mc.Gee Shane ins Wohnzimmer. Sie setzen sich auf den Stuhl gegenüber der Couch, auf der Anne immer noch regungslos sitzt.

„Es handelt sich um einen Hinweis, dass wir einen Anruf erhalten werden“, beginnt Shane zu erklären.

„Einen Anruf?“, ruft Adam überrascht. „Und was soll ich machen, wenn ich rangehe? Etwas fragen? Etwas Verlangen?“

„Adam, der Hinweis enthält auch die Aufforderung, dass deine Frau an das Telefon gehen soll und wir denken, dass wir dieser Aufforderung nachkommen sollten.“

„Anne? Anne soll abheben?“ Adam blickt seine Frau an, die stumm neben ihm sitzt, nicht fähig etwas zu sagen oder sich zu bewegen. Vorsichtig nimmt er ihre Hand und drückt sie. „Anne? Liebling? Hast du gehört, was sie gesagt haben?“ Anne antwortet zuerst nicht, erst als Adam die Frage nochmal stellen will, flüstert sie leise: „Ja, hab ich. Was muss ich sagen?“ Sie versucht sich zusammen zu reißen, auch wenn alles in ihr „Ich kann das nicht“ schreit. Sie will einschlafen, sie will, dass der Schmerz aufhört, dass die Schreie in ihrem Kopf, und dass die Angst, die überall ist und mit jeder Sekunde wächst, verschwinden. Doch wird all das nicht geschehen. Nicht, solange ihr Kind nicht da ist. Sie zwingt sich Shane zuzuhören, wie er ihr all die Dinge erklärt, die sie nicht verstehen kann. Nach Sarah fragen, ein Lebenszeichen verlangen. Möglichst ruhig bleiben. Im Gespräch bleiben. Möglichst lange, damit die Fangschaltung, die bereits gestern eingerichtet wurde, zuschlagen kann. Dann warten sie. Es ist still, obwohl so viele Menschen im Wohnzimmer sitzen und mit ihnen warten. Anne nimmt nicht wahr, wer wo steht oder sitzt oder was die Personen in diesem Zimmer alles tun oder nicht tun. Sie sitzt nicht mehr auf der Couch, sondern auf einem Sessel vor dem kleinen Tisch auf dem das Telefon steht. Aber das macht keinen Unterschied, weil sie nicht spüren kann, ob sie gemütlich sitzt oder nicht. Sie könnte auch stehen, ohne es zu bemerken. Dann ertönt das unheilvolle Klingeln und obwohl Anne darauf gewartet hat, zuckt sie zusammen. Shane, der neben ihr steht, drückt den Knopf der Freisprechanlage und gibt Anne ein Zeichen.

„Hallo?“ meldet sich Anne zaghaft. Eine Stimme erklingt, die in einem so grässlichen Ton spricht, dass es jedem im Raum kalt über den Rücken hinabläuft. Hämisch, beinahe spöttisch sagt sie:“ Hat dir das Geschenk gefallen, mein Schatz? Ich muss sagen, dein Mädchen ist wunderschön. Wobei das zweite auch wirklich hübsch ist. War das ihre Tante, die sie mit dem silbernen Wagen zur Schule gebracht hat? Tststs, so spät aufstehen und zu Corners frühstücken gehen, und das an einem Schultag.“

Der danach folgende, lange Ton, der anzeigt, dass am anderen Ende wieder aufgelegt wurde, drückt sich mit derselben Grausamkeit in die Stille, wie die Stimme selbst. Anne starrt einfach nur fassungslos auf das Telefon. Es ging alles so schnell vorbei, dass sie sich nicht sicher ist, ob es wirklich passiert ist. Hat wirklich jemand gesprochen? Wirklich jemand angerufen? Oder hat sie sich alles nur eingebildet? Ein Mensch kann doch nicht so eine Stimme haben? Shane drückt auf einen Knopf und der Ton verstummt. Es herrscht vollkommene Stille. Nicht einmal ein Atemzug ist hörbar. Haben alle die Luft angehalten, weil sie sich nicht trauen zu atmen, oder ist es ihnen einfach unmöglich zu atmen, weil es die Angst verbietet? Diese Angst, die unaufhaltsam weiterwächst? Diese Angst die überall ist, weil diese Stimme alles vergiftet hat. Weil ein Monster in ihrem Garten war, so nahe an ihrem Haus, in dem sie sich bis jetzt immer sicher gefühlt haben.

Irgendeine Stimme sagt:“ Haben Sie alles aufgenommen? Gut. Schicken Sie es zur Analyse.“ Doch wer es ist, wer antwortet und ob überhaupt jemand antwortet, nimmt Anne nicht wahr. Auch nicht, dass Adam plötzlich hinter ihr steht, und seine Finger sich in ihre Schultern krallen. Eiliges Treiben, hastiges Telefonieren, plötzlich flüstern sie alle miteinander. Doch Annes Welt steht noch still. Sie ist wieder in ihrer Blase. Gefangen, ohne ihre Umwelt wahrzunehmen. Debbies Name, von einem Fremden ausgesprochen, zersticht die Blase, wie eine Nadel einen Luftballon. Es kommt Anne so vor, als wäre sie mit einem Knall wieder in die reale Welt geschleudert worden.

„Wo geht Debbie zur Schule?“

Anne dreht sich zu der Richtung, aus der die Stimme kommt. Hinter ihr steht ein Mann, der zu Adam blickt. Doch bevor dieser reagieren kann, fragt Anne:“ Wieso wolle Sie das wissen?“

Überrascht blickt sie der Mann an. Erst jetzt erkennt sie, dass es Mc.Gee ist. Eine Reaktion von Anne hatte er nicht erwartet. Er blickt fragend zu Shane, der die Antwort übernimmt, wieder möglichst vorsichtig formuliert:“ Wir müssen nach diesem Anruf davon ausgehen, dass er möglicherweise auch eure zweite Tochter beobachtet. Solange wir nicht sicher wissen, ob das wahr ist oder nicht, werden wir sie unter Polizeischutz stellen.“

Da erst klingt der Satz noch einmal in Annes Ohren, erst jetzt hört sie den Inhalt und nicht nur die Stimme. „Das Zweite ist auch wirklich hübsch.“ War damit Debbie gemeint? Wollte er ihre Debbie auch noch holen? War ihm Sarah nicht genug? Die Angst um ein Kind ist kaum auszuhalten, aber um zwei Kinder, um die ganze Familie? Er war hier, und er sieht sie. Er beobachtet sie. Anne hebt den Telefonhörer ab. Ohne auf irgendjemanden zu achten, wählt sie automatisch Marrys Nummer.

„Marry? Ich bin es. Du musst Debbie zurückbringen! Sofort!“ Sie schreit so laut ins Telefon, als müsste sie ihre Schwester ohne Telefon erreichen.

„Gibt es etwas neues von Sarah?“, fragt Marry überrascht.

„Nein, aber er beobachtet euch. Er beobachtet euc!h Also nimm Debbie und komm sofort zurück!“

„So geht es natürlich auch “, murmelt Shane leise, nachdem Anne den Telefonhörer aufgelegt hat. Wieso auch? Es ist die einzige Möglichkeit! Wie konnte sie ihr Mädchen überhaupt zur Tür hinausgehen lassen? Sie musste hier bei ihr sein, sie durfte sie keinen Moment mehr aus den Augen lassen. Sie muss darauf achten, dass Debbie im Haus bleibt, damit dieses Monster nicht noch einmal einen Blick auf ihr Kind werfen konnte. Er hatte ihr ein Kind gestohlen, sie würde auf gar keinen Fall zulassen, dass er ihr das zweite auch noch nimmt. Nie wieder wird sie ihr kleines Mädchen auch nur für eine Sekunde aus den Augen lassen.

Im Wohnzimmer herrscht wieder vollkommene Stille. Oder kann Anne einfach nur die Geräusche nicht mehr wahrnehmen, blendet die Angst alles Unwichtige aus und sie ist wieder in ihrer eigenen Welt gefangen? Sie blickt Adam in die Augen, der sie nicht wahrzunehmen scheint. Er starrt immer noch auf das Telefon. Die Ruhe wird vom Schrillen der Türklingel zerrissen. Da sich weder Anne oder Adam, noch sonst jemand der Familie bewegt, geht einer der Polizisten, um die Tür zu öffnen. Er kehrt mit einem Jugendlichen zurück. Shane schätzt ihn auf den ersten Blick auf ungefähr 16 Jahre ein.

„Ähm, tut mir echt leid. Ich wollte hier keine Aufregung veranstalten. Das Paket ist keine Bombe oder so. Das war nur ich.“ Adam erwacht so plötzlich aus seiner Erstarrung, dass weder Shane noch seine Kollegen schnell genug reagieren können. Er stürmt auf den Jungen zu und drückt ihn mit einem Würgegriff gegen die Wand. „Du hast mein Kind?“, schreit er wie von Sinnen,“ Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?“

Mc. Gee und Pete ziehen mühsam den um sich schlagenden Adam von dem Jungen weg, der sich keuchend an den Hals fasst. „Alter, ich habe überhaupt niemanden. Ich hab nur das Päckchen, dass mir die Kleine und ihr Dad gegeben haben, hinterlegt.“

Shane blickt den Jungen kurz an, bevor er sich vor Adam stellt, und mit lauter Stimme sagt:“ Das ist er nicht Adam, das ist nur ein kleiner Botenjunge, der keine Ahnung hat, um was es hier geht.“

Der Junge blickt etwas verwirrt durch den Raum und murmelt leise:„ Eigentlich dachte ich, es wäre so eine Art romantische Schnitzeljagd. Zumindest hat das der Dad gesagt.“ Shane vergewissert sich, dass sich Adam wieder beruhigt hat und fordert dann den Jungen auf, alles zu erzählen. Sie erfahren, dass er von einem Mann mit schwarzen Mantel und Hut, der „schwer in Ordnung“ zu sein schien, angesprochen wurde. Ein kleines blondes Mädchen, das eine kleine Schachtel mit der Aufschrift „für Mommy“ in der Hand hielt, begleitete ihn. Sie gaben ihm diese Adresse und baten ihn, das Paket an der Terrassentür abzulegen. Die kleine Schachtel hatte er heute am frühen Morgen abgelegt, damit es die Mutter, wenn sie zum Kaffeetrinken auf die Terrasse geht, entdeckt. Eine romantische Schnitzeljagd als Überraschung für Mommy. Er war ganz gerührt von dieser Idee, bis er wieder hier vorbeifuhr und entdeckte, dass alles voller Polizisten war. Er dachte, dass sie Angst vor einer Bombe oder ähnlichem hatten, also ist er hergekommen, um sie aufzuklären. Der Junge beendet die Geschichte mit einem geseufzten: „Und hier bin ich“, und blickt die Polizisten rund um ihn erwartungsvoll an. Shane zieht ein Bild hervor und fragt:“ Ist das das Mädchen?“ Der Junge schüttelt den Kopf, meint aber, dass sie sich sehr ähnlich sehen.

„Mc.Gee “, sagt Shane mit einem so scharfen Befehlston, dass der Junge erschrickt.“ Zeig ihm die Bilder der anderen Mädchen. Und wir brauchen ein Phantombild von dem Mann.“

„Ähm, ich weiß nicht so recht, ob ich da helfen kann “, murmelt der Junge. „Ich hab von dem Mann nicht so viel gesehen. Er hatte den Hut ins Gesicht gezogen. Ich dachte wegen einer Verletzung oder so, da wollte ich nicht hinstarren. Ist ja unhöflich, jemand so anzuglotzen.“

„Und wenn Sie nur das Kinn gesehen haben, ist es immer noch besser als nichts “, meint Shane nur und wendet sich den anderen zu. „Nehmt von dem Jungen Fingerabdrücke, die werden auf der Schachtel sein, vielleicht haben wir Glück und es sind andere auch oben. Mc.Gee, die Fotos!“, ruft er ungeduldig. Mc. Gee zuckt kurz nervös zusammen und fischt dann sein Smartphone aus der Tasche. Er hält es dem Jungen vor die Nase und zeigt ihm verschiedene Fotos. „Die ist es. Wieso habt ihr denn ein Foto von ihr?“, fragt der Junge verwirrt. Shane lächelt ihn leicht amüsiert an. Er scheint nicht der Hellste zu sein, denkt Shane, sonst hätte er zwei und zwei kombiniert und daran gedacht, dass es möglicherweise ein vermisstes Mädchen ist. Schnell wischt den kurzen Gedanken der Ablenkung beiseite und fragt:“ Welche?“

„Die Zweite.“

„Gut, Sanders, sie halten hier die Stellung. Ich und Mc.Gee fahren zu den Eltern.“

Ohne weitere Worte verlässt Shane mit Mc. Gee das Haus. Sie durften einem Elternpaar Hoffnung machen. Konnten ihnen mitteilen, dass es ein Lebenszeichen von ihrem Kind gibt. Leise flüstert er ein Stoßgebet zum Himmel. Er betete darum, dass sie ihnen diese Hoffnung nicht wieder rauben mussten.

Er lächelt, als er den Telefonhörer auflegt. Kichernd tritt er aus der Telefonzelle heraus und blickt auf das Schulgebäude hinüber. Wenn er Glück hatte würde, jemand die Schwester anrufen. Und er würde hier warten und den Gesichtsausdruck beobachten, wenn ihr klar werden würde, dass er sie die ganze Zeit beobachtet hat. Er hat hinter ihr gesessen, als sie mit ihrer Nichte beim Frühstück saß. Er hatte dem Mädchen die Gabel aufgehoben, als sie ihr hinuntergefallen war und hatte sie angelächelt. Beinahe hätte er sie angefasst, hätte ihre Finger berührt. Aber er konnte sich gerade noch zurückhalten. Man hätte meinen können, dass alles in Ordnung ist, ein ganz normaler Ausflug einer Tante mit ihrer Nichte. Wären da nicht die traurigen Augen gewesen und immer wieder der nervöse Blick auf das Handy. Ein Außenstehender hätte meinen können, dass sie auf der Flucht sind oder verfolgt werden. Ein amüsantes Detail, wenn man bedenkt, dass sie tatsächlich verfolgt wurden, ohne es zu bemerken.

Er stellt sich zur Bushaltestelle, um nicht aufzufallen. Da kramt die Tante, die, wie er beim Frühstück herausgefunden hat, Marry heißt, auch schon in ihrer Tasche und zieht ihr Handy heraus. Er hätte es beinahe versäumt, weil er sich kurz weggedreht hat. Sie hebt ab. Ihre Lippen bewegen sich kurz, wahrscheinlich für einen Gruß. Sie sagt noch etwas und dann ist der da. Der Ausdruck auf den er gewartet hat. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich so plötzlich, als wäre sie zu einer völlig anderen Frau geworden. Gehetzt dreht sie sich im Kreis. Sie haben ihr also verraten, dass sie verfolgt wurde. Bestimmt sucht sie ihn. Kurz blickt sie ihn direkt an, er lächelt ihr zu, aber sie weiß ja nicht, dass er sie beobachtet, und sie steht zu weit weg um es zu erkennen. Gerne würde er den Moment festhalten, doch das würde zu sehr auffallen. Aber er hat immer noch die Kameras, die er beim Haus installiert hat. Hoch in einem Baum, fern von allen Blicken, und mit freier Sicht auf die meisten Zimmer im Haus. Er könnte sich alles ansehen, wenn er zuhause ist. Nachdem er heute das Paket abgeliefert hat, muss er nun seinen Beobachtungsposten hinter der Hecke aufgeben. Sie in natura zu beobachten, wäre natürlich noch besser, aber der Brief und der Anruf waren ein wahrlich aufregender Schachzug von ihm. Er spielt gerne Spiele und er ist ein sehr guter Spieler, er würde sogar sagen, der Beste Und da die anderen nun wissen, dass sie in diesem Spiel mitspielen, werden sie bestimmt auch zu guten Gegenspielern. Natürlich nicht so gut wie er, aber sie bringen bestimmt eine Spannung rein, die er sehr genoss.

Als Marry mit dem Mädchen in der Hand zurückkehrt und sich wie ein gehetzter Hund ins Auto setzt und davonfährt, macht auch er sich auf dem Weg. Er setzt sich in sein Auto und fährt zurück zu seinem Haus. Als er die Tür aufmacht, hört er aus einem Zimmer leises Schluchzen. Diese kleine Göre, dass sie auch niemals Ruhe geben kann. Ihr Schluchzen ist gegen das Schreien des neuen Mädchens nicht schön anzuhören, und wenn er sie die ganze Zeit hören muss, verdirbt ihm das den Spaß. Er öffnet die Zimmertür, tritt vor das Mädchen und gibt ihm eine schallende Ohrfeige. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst still sein!“, schreit er es an. Sofort bedeckt das Kind ihr Gesicht mit einem der Kissen, um das Schluchzen zu unterdrücken. Wie einfach es wäre das Kissen gegen das Gesicht pressen und warten, bis sie für immer verstummt. Doch er kann sie noch nicht entsorgen. Er braucht sie noch. Das Spiel ist noch nicht zu Ende, und er hat noch weitere Geschenke, die er überreicht werden müssen. Er schließt die Tür wieder hinter sich. Das Schluchzen ist beinahe verstummt, nur hin und wieder klingt es leise durch die Tür. Er geht an der Kellertür vorbei, aus der heute keine Schreie erklingen. Vielleicht schläft sie noch, vielleicht schont sie auch einfach nur ihre Stimme. Das ist gut, sie würde sie noch brauchen und Heiserkeit verdirbt den reinen Klang. Er geht an der Badezimmertür vorbei und betritt den nächsten Raum. Mehrere Bildschirme sind hier auf einem großen Tisch aufgebaut. Sie alle sind schwarz, doch als er die sich setzt und die Maus berührt, erscheinen überall Bilder. Das Haus der Familie aus allen Blickwinkeln beleuchtet. Immer noch konnte er sein Glück kaum fassen, dass das Haus so viele Glasfronten besaß. Sie fühlten sich unbeobachtet, weil eine dicke Hecke das Grundstück umrahmt. Sie dachten nicht daran, dass man Kameras auch auf Bäumen installieren konnte, und dass man Hecken umgehen konnte. Er drückt ein paar Tasten, und die Bilder ändern sich. Es sind Aufnahmen vom Vortag. Entzückt betrachtet er die Aufnahmen. Es würde ein langer Tag werden, doch er wollte alles sehen, wollte keinen Moment verpassen. Wollte die Momente, die er bereits gesehen hat, noch einmal genießen. Er musste auch noch seinen Film entwickeln. Er hatte ja wunderschöne Fotos gemacht. Er besitzt immer noch Analogkamera, so kann er die Bilder in seinem ganz privaten Fotostudio selbst entwickeln. Welch eine Freude es ihm jedes Mal wieder bereitet, wenn auf dem vormals weißen Papier langsam die Gesichter auftauchen, wenn langsam die Angst sichtbar wird. Wie liebte er es, wenn sie ihm von dem Papier entgegenschrien. Er blickt auf die Pinnwand, die hinter den Bildschirmen aufgebaut ist. So viele Schreie, festgehalten im perfekten Augenblick. Neben den Gesichtern der Mädchen hat er Fotos von deren Müttern gepinnt. Gesichter voller Panik und Angst. Sie hatten alle eine Ähnlichkeit und doch ist nur diese eine perfekt. Sie alle waren nur Nebenfiguren. Die neuen Gesichter, die Hauptfiguren seines Spieles passen nicht auf diese Pinnwand. Er wird eine neue Wand machen müssen, um ihnen gerecht zu werden. Eine größere, um seine Schönheiten zu würdigen. Noch im Gedanken versunken, wendet er den Blick wieder den Bildschirmen zu. Erfreut entdeckt er, dass sich die Mutter gestern gemeinsam mit der Großmutter ins Bett gelegt hat. Sie hat also geschlafen. Vielleicht zum letzten Mal. Er wird dafür sorgen, dass sie nicht mehr schlafen wird und es wird ihm eine unglaubliche Freude bereiten, ihr zuzusehen. Aber das muss noch warten, er hat noch einiges vor, denn das Spiel ist noch nicht zu Ende. Es hat gerade erste begonnen.


Das Spiel

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