Читать книгу Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein - Immanuel Kant, Иммануил Кант - Страница 2
Ein Schreiben an Herrn Professor Hufeland zu Jena im Jahr 17971
ОглавлениеDaß meine Danksagung, für das den 12. Dez. 1796 an mich bestellte Geschenk, Ihres lehrreichen und angenehmen Buchs »von der Kunst das menschliche Leben zu verlängern« selbst auf ein langes Leben berechnet gewesen sein dürfte, möchten Sie vielleicht aus dem Datum dieser meiner Antwort vom Januar dieses Jahres zu schließen Ursache haben; wenn das Altgewordensein nicht schon die öftere Vertagung (procrastinatio) wichtiger Beschlüsse bei sich führete, dergleichen doch wohl der des Todes ist, welcher sich immer zu früh für uns anmeldet, und den man warten zu lassen an Ausreden unerschöpflich ist.
Sie verlangen von mir »ein Urteil über Ihr Bestreben das Physische im Menschen moralisch zu behandeln; den ganzen, auch physischen, Menschen als ein auf Moralität berechnetes Wesen darzustellen, und die moralische Kultur als unentbehrlich zur physischen Vollendung der überall nur in der Anlage vorhandenen Menschennatur zu zeigen«, und setzen hinzu: »wenigstens kann ich versichern, daß es keine vorgefaßte Meinungen waren, sondern ich durch die Arbeit und Untersuchung selbst unwiderstehlich in diese Behandlungsart hineingezogen wurde«. – Eine solche Ansicht der Sache verrät den Philosophen, nicht den bloßen Vernunftkünstler; einen Mann, der nicht allein, gleich einem der Direktoren des französischen Konvents, die von der Vernunft verordneten Mittel der Ausführung (technisch), wie sie die Erfahrung darbietet, zu seiner Heilkunde mit Geschicklichkeit, sondern, als gesetzgebendes Glied im Korps der Ärzte, aus der reinen Vernunft hernimmt, welche zu dem, was hilft, mit Geschicklichkeit, auch das, was zugleich an sich Pflicht ist, mit Weisheit zu verordnen weiß: so, daß moralisch-praktische Philosophie zugleich eine Universalmedizin abgibt, die zwar nicht allen für alles hilft, aber doch in keinem Rezepte mangeln kann.
Dieses Universalmittel betrifft aber nur die Diätetik, d. i. es wirkt nur negativ, als Kunst, Krankheiten abzuhalten. Dergleichen Kunst aber setzt ein Vermögen voraus, das nur Philosophie, oder der Geist derselben, den man schlechthin voraussetzen muß, geben kann. Auf diesen bezieht sich die oberste diätetische Aufgabe, welche in dem Thema enthalten ist:
Von der Macht des Gemüts des Menschen, über seine krankhafte Gefühle durch den bloßen festen Vorsatz Meister zu sein.
Die, die Möglichkeit dieses Ausspruchs bestätigenden, Beispiele kann ich nicht von der Erfahrung anderer hernehmen, sondern zuerst nur von der an mir selbst angestellten; weil sie aus dem Selbstbewußtsein hervorgeht, und sich nachher allererst andere fragen läßt: ob es nicht auch sie ebenso in sich wahrnehmen. – Ich sehe mich also genötigt, mein Ich laut werden zu lassen; was im dogmatischen Vortrage2 Unbescheidenheit verrät; aber Verzeihung verdient, wenn es nicht gemeine Erfahrung, sondern ein inneres Experiment oder Beobachtung betrifft, welche ich zuerst an mir selbst angestellt haben muß, um etwas, was nicht jedermann von selbst, und ohne darauf geführt zu sein, beifällt, zu seiner Beurteilung vorzulegen. – Es würde tadelhafte Anmaßung sein, andere mit der inneren Geschichte meines Gedankenspiels unterhalten zu wollen, welche zwar subjektive Wichtigkeit (für mich) aber keine objektive (für jedermann geltende) enthielten. Wenn aber dieses Aufmerken auf sich selbst und die daraus hervorgehende Wahrnehmung nicht so gemein ist, sondern, daß jeder dazu aufgefordert werde, eine Sache ist, die es bedarf und verdient, so kann dieser Übelstand mit seinen Privatempfindungen andere zu unterhalten wenigstens verziehen werden.
Ehe ich nun mit dem Resultat meiner, in Absicht auf Diätetik angestellten, Selbstbeobachtung aufzutreten wage, muß ich noch etwas über die Art bemerken, wie Herr Hufeland die Aufgabe der Diätetik, d. i. der Kunst stellt, Krankheiten vorzubeugen, im Gegensatz mit der Therapeutik, sie zu heilen.
Sie heißt ihm »die Kunst das menschliche Leben zu verlängern«.
Er nimmt seine Benennung von demjenigen her, was die Menschen am sehnsüchtigsten wünschen, ob es gleich vielleicht weniger wünschenswert sein dürfte. Sie möchten zwar gern zwei Wünsche zugleich thun: nämlich lange zu leben und dabei gesund zu sein; aber der erstere Wunsch hat den letzteren nicht zur notwendigen Bedingung: sondern er ist unbedingt. Laßt den Hospitalkranken jahrelang auf seinem Lager leiden und darben und ihn oft wünschen hören, daß ihn der Tod je eher je lieber von dieser Plage erlösen möge; glaubt ihm nicht, es ist nicht sein Ernst. Seine Vernunft sagt es ihm zwar vor, aber der Naturinstinkt will es anders. Wenn er dem Tode, als seinem Befreier (Jovi liberatori), winkt, so verlangt er doch immer noch eine kleine Frist und hat immer irgend einen Vorwand zur Vertagung (procrastinatio) seines peremtorischen Dekrets. Der in wilder Entrüstung gefaßte Entschluß des Selbstmörders, seinem Leben ein Ende zu machen, macht hievon keine Ausnahme: denn er ist die Wirkung eines bis zum Wahnsinn exaltierten Affekts. – Unter den zwei Verheißungen für die Befolgung der Kindespflicht – »auf daß dir es wohlgehe und du lange lebest auf Erden« – enthält die letztere die stärkere Triebfeder, selbst im Urteile der Vernunft, nämlich als Pflicht, deren Beobachtung zugleich verdienstlich ist.
Die Pflicht das Alter zu ehren gründet sich nämlich eigentlich nicht auf die billige Schonung, die man den Jüngeren gegen die Schwachheit der Alten zumutet: denn die ist kein Grund zu einer ihnen schuldigen Achtung. Das Alter will also noch für etwas Verdienstliches angesehen werden; weil ihm eine Verehrung zugestanden wird. Also, nicht etwa weil Nestorjahre zugleich durch viele und lange Erfahrung erworbene Weisheit, zu Leitung der jüngeren Welt, bei sich führen, sondern bloß weil, wenn nur keine Schande dasselbe befleckt hat, der Mann, welcher sich so lange erhalten hat, d. i. der Sterblichkeit, als dem demütigendsten Ausspruch, der über ein vernünftiges Wesen nur gefällt werden kann – »du bist Erde und sollst zur Erde werden« – so lange hat ausweichen und gleichsam der Unsterblichkeit hat abgewinnen können, weil, sage ich, ein solcher Mann sich so lange lebend erhalten und zum Beispiel aufgestellt hat.
Mit der Gesundheit, als dem zweiten natürlichen Wunsche, ist es dagegen nur mißlich bewandt. Man kann sich gesund fühlen (aus dem behaglichen Gefühl seines Lebens urteilen), nie aber wissen, daß man gesund sei. – Jede Ursache des natürlichen Todes ist Krankheit: man mag sie fühlen oder nicht. – Es gibt viele, von denen, ohne sie eben verspotten zu wollen, man sagt, daß sie für immer kränkeln, nie krank werden können; deren Diät ein immer wechselndes Abschweifen und wieder Einbeugen ihrer Lebensweise ist, und die es im Leben, wenngleich nicht den Kraftäußerungen, doch der Länge nach, weit bringen. Wie viel aber meiner Freunde oder Bekannten habe ich nicht überlebt, die sich bei einer einmal angenommenen ordentlichen Lebensart einer völligen Gesundheit rühmten: indessen daß der Keim des Todes (die Krankheit) der Entwickelung nahe, unbemerkt in ihnen lag, und der, welcher sich gesund fühlte, nicht wußte, daß er krank war; denn die Ursache eines natürlichen Todes kann man doch nicht anders als Krankheit nennen. Die Kausalität aber kann man nicht fühlen, dazu gehört Verstand, dessen Urteil irrig sein kann, indessen daß das Gefühl untrüglich ist, aber nur dann, wenn man sich krankhaft fühlt, diesen Namen führt; fühlt man sich aber so auch nicht, doch gleichwohl in dem Menschen verborgenerweise und zur baldigen Entwickelung bereit liegen kann; daher der Mangel dieses Gefühls keinen andern Ausdruck des Menschen für sein Wohlbefinden verstattet, als daß er scheinbarlich gesund sei. Das lange Leben also, wenn man dahin zurücksieht, kann nur die genossene Gesundheit bezeugen, und die Diätetik wird vor allem in der Kunst das Leben zu verlängern (nicht es zu genießen) ihre Geschicklichkeit oder Wissenschaft zu beweisen haben: wie es auch Herr Hufeland so ausgedrückt haben will.
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Im dogmatisch-praktischen Vortrage, z. B. derjenigen Beobachtung seiner selbst, die auf Pflichten abzweckt, die jedermann angehen, spricht der Kanzelredner nicht durch Ich, sondern Wir. In dem erzählenden aber, der Privatempfindung (der Beichte, welche der Patient seinem Arzte ablegt), oder eigener Erfahrung an sich selbst, muß er durch Ich reden.