Читать книгу Geschichten der Nebelwelt - Inga Kozuruba - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеDer Regen war nun schon seit einer Woche Gast in Starogrâd. Von kurzen Verschnaufpausen abgesehen, machte er sich überall breit. Manche Keller mussten bereits mit Eimern ausgeschöpft werden. Die Leute waren froh, dass ihre Stadt im Gegensatz zu manchen umliegenden Dörfern nicht vollständig in der Senke lag, wenn auch nicht auf der Höhe des Klosters. Dennoch bestanden die Straßen vor allem aus Matsch; man machte sich Sorgen um den Zustand der Dächer, und die allgemeine Stimmung war sehr gedrückt. An einem solchen Tag wollte niemand gern draußen sein. Und doch kamen am Abend, genau fünf Tage nach Timeons Rückkehr als Wahnsinniger, drei Fremde nach Starogrâd. Sie waren allesamt zu Pferd unterwegs und in Regenumhänge gehüllt, einer von ihnen ungewöhnlich groß, vermutlich ein Nordmann. Sie fragten die Wachen am Tor nach einer Bleibe und zogen schnurstracks zum Gasthaus, nachdem sie ihre Auskunft erhalten hatten. Die Blicke, die die Wachen untereinander austauschten, schienen ihnen entgangen zu sein, oder sie übersahen sie absichtlich. Sie wollten sicherlich auch endlich ins Trockene, an ein warmes Feuer, und ihren Bauch mit heißem Essen füllen und hinterher mit Bier.
Das Gasthaus, das ihnen genannt wurde, zeigte auf dem Schild einen tanzenden Bären und hieß dementsprechend „Der lustige Bär“. Das passte sehr gut zum Vornamen des Wirtes, der Bjarn hieß. Die Männer gaben die Pferde beim Stallburschen ab und überließen sie für einige Kupfermünzen seiner Fürsorge, bevor sie sich ins Innere begaben. Häuser wie diese kannten sie auswändig: Es gab einen großen Schankraum mit einem offenen Feuer und etlichen Tischen, einen Schanktresen, und den Bereich, der zu den Gästezimmern führte. Was ungewöhnlich war – es gab kaum Kundschaft. Bei dem Preis, der inzwischen für Nachrichten vom Kloster des Heiligen Boten ausgesetzt war, müsste diese Gaststätte vor Glücksrittern und Söldnern nur so wimmeln. Doch bis auf einige wenige Stammgäste und ein paar Stadtwachen an einem Tisch in der Ecke waren keine Besucher da. Man sah die Neuankömmlinge jedoch nicht zögern, die sich schnurstracks auf den Weg zum Wirt machten, der hinter dem Tresen aufragte wie ein Fels. Auf dem Weg durch den Raum schoben sie die Kapuzen ihrer Regenmäntel hinter sich, so dass die neugierig gewordenen Leute um sie herum endlich sehen konnten, wen es diesmal und inzwischen wider Erwarten in ihre Stadt verschlagen hatte.
Der kleinste der drei, wenn auch immer noch von einer angemessenen Größe für einen Mann, gab sich als erster zu erkennen. Er war ein vorteilhaft gekleideter, hübscher junger Mann mit schulterlangen, im Licht der Lampen rot schimmernden brauen Locken, der sicherlich nicht über den Erfolg bei den Damen klagen musste. Es war nicht verwunderlich, dass er sogleich dem hübschesten der drei Schankmädchen ein neckisches Lächeln zuwarf, das aber weder übermütig noch arrogant war, sondern genau richtig dosiert. Sie lächelte zurück, was nicht nur auf das hübsche Gesicht des Glücksritters zurückzuführen war, sondern weil sie genauso wie die beiden anderen Mädchen sich an diesem Tag sehr über eine Abwechslung freute. Seine grünen Augen funkelten spitzbübisch auf. Wer genau hinsah erkannte, dass das Grün seines Wamses perfekt auf seine Augenfarbe abgestimmt war, und die Stickereien darauf, die verspielte Füchse und aufblühende Lilien abbildeten, in ihrer Farbe genau das Schimmern seine Haare einfingen. Auf dem Rücken trug er kein Schild, sondern einen Beutel, in dem sich der Form nach wohl eine Laute befand. Eine fein gearbeitete Schwertscheide am Gürtel und ein nicht zu übersehender Dolch auf der anderen Seite zeugten davon, dass der gutaussehende Bursche alles andere als wehrlos war. Er bewegte sich auch nicht wie der verwöhnte Spross eines wohlhabenden Händlerhauses, doch für einen Adligen war er nicht prunkvoll genug ausgestattet. Er war offensichtlich ein zu Geld gekommener Glücksritter, der wohl auch bei den Damen mit Glück gesegnet war.
Der zweite lüftete seine Kapuze wenig später – er war hoch gewachsen und kräftig gebaut, wenn auch nicht ganz so riesig wie der Gastwirt, was den Neuankömmling offensichtlich etwas erstaunte. Er trug seine glatten, kupferroten Haare ebenfalls schulterlang, ließ sich aber auch einen gepflegten Bart nach Art der Nordmänner stehen. Die riesige, mit zwei Händen geführte Streitaxt, deren Blätter mit eingravierten Frostwürmern und Eiskristallen verziert war, sprach eindeutig für eine Herkunft aus dem Norden. Unter dem eng zusammengezogenen Regenumhang sah man zwar nicht allzu viel von seiner Kleidung, aber als der Hühne die Kapuze nach hinten schob, konnte man bei einem günstigen Blickwinkel, wie ihn beispielsweise der Gastwirt hatte, eine gute Rüstung erkennen. Sie war nicht mehr ganz neu, aber in tadellosem Zustand, genauso wie die Waffe. Der großgewachsene Fremde nickte dem Wirt auf eine ganz bestimmte Weise zu, wie es im Norden Brauch war, und deutete mit der rechten Faust einen Schlag über dem Herzen an, bevor er die Hand öffnete und sie mit der Handfläche nach oben in Richtung des Wirts ausstreckte. Bjarn, der Wirt, imitierte die Geste und grinste leicht als Antwort.
Derjenige der Drei, der ihnen voranging, zeigte sich erst kurz bevor er vor dem Tresen angekommen war und stehen blieb. Das unversehrte linke Auge des Wirtes weitete sich, als das Gesicht des Mannes endlich sichtbar war. Der Mann mit der Narbe auf der linken Wange, die sein ansonsten ansehnliches Gesicht verunstaltete, und den grauen Strähnen im rabenschwarzen Haar war kein Unbekannter, wenn man wie der Wirt zuvor ein Leben als Söldner und Glücksritter gelebt hatte. Dies war kein geringerer als Nat der Dämonenjäger, und demzufolge mussten seine beiden Begleiter Hardy und Linus sein. Der Dämonenjäger trug Schwarz, über der Rüstung einen hochgeschlossenen, ärmellosen Wams mit einem weißen Verschluss, verziert mit einem nach oben zeigenden fünfzackigen Stern inmitten des Stehkragens. Dies waren die Vorschriften der Heiligen Kirche an alle Dämonenjäger, die geprüft und der Heiligen Wahrheit für treu befunden wurden. Abtrünnige Dämonenjäger brandmarkte man mit einem kopfüber stehenden Stern auf der Stirn, auf dass ihre Verderbtheit für jedermann sichtbar war. Sowohl Wams, als auch die übrige Kleidung und Ausrüstung des Dämonenjägers waren mit Runen und Symbolen in Form von Stickereien und aufgenähten Amuletten bestückt. Doch obwohl der Mann offensichtlich einer der Getreuen war, durchfuhr die meisten Anwesenden ein kalter Schauer, als er sich offenbarte. Wer sich immerzu Angesicht 'gen Angesicht gegen das Böse stellte, an dem blieb der Schatten irgendwann haften.
„Willkommen in Starogrâd“, brummte Bjarn freundlich, aber nicht im geringsten unterwürfig, wie Nat und seine Begleiter es oft in anderen Städten und Gasthäusern erlebt hatten.
„Habt Dank, Bjarn Bärenpranke“, antwortete Nat. Seine Stimme war dunkel, recht leise und leicht rauh. Dennoch war sie gut im ganzen Raum zu hören, wäre es vermutlich selbst in der deutlich lauteren Umgebung einer vollen Taverne. Er war unheimlich, daran bestand gar kein Zweifel.
Der Wirt grinste – falls er beeindruckt war, so ließ er sich nicht das geringste anmerken: „Ihr seid gut informiert, werter Herr. Nun, ich nehme an, Ihr wollt hier speisen und übernachten, bevor Ihr zum Richter und dann 'gen Kloster aufbrecht?“
Der Dämonenjäger nickte: „So ist es. Und wir würden gern mit Euch und einem Mann der Stadtwache sprechen, um mehr Einzelheiten darüber zu erfahren.“
Der Satz war den Stadtwachen nicht entgangen und sie blickten allesamt in Richtung der Söldner. Wie der Zufall oder die Vorsehung es so wollte, war Lans unter ihnen, der die Tagesschicht gerne mit seinen Kollegen im „lustigen Bären“ beendete, bevor er nach Hause ging. Im schummrigen Licht der Lampen war zum Glück nicht zu sehen, dass Lans etwas blass geworden war, als der Dämonenjäger sich offenbarte. In seinem Inneren herrschte Chaos. Lans fühlte sich genauso aufgeregt und elend wie damals, als er um die Hand seiner Frau Varja angehalten hatte. Er hatte ganz genau gewusst, dass eine Ablehnung sein Leben zerstören würde, weil er nur diese eine Frau haben wollte und keine andere – doch andernfalls würde er ein sehr glücklicher Mann werden. Nun, auch nach all den Jahren schätzte sich Lans immer noch glücklich, auch wenn seine Frau und er bisher nicht mit Kindern gesegnet waren. Und an dem Dämonenjäger war etwas dran, das ebenso darüber entscheiden konnte, ob sie zum Untergang verdammt waren oder nicht. Als dann der Blick des Mannes genau bei Lans' Augen anhielt und ihn zu durchbohren schien, da wollte der Wachmann sein Gesicht zum Bierkrug abwenden und so tun, als ob er genauso wäre wie alle anderen – doch das konnte er nicht. Der Heilige Bote hatte ihm die Gabe nicht gesandt, damit er sich feige verbarg. Also hielt Lans dem Blick stand und nickte dem Dämonenjäger zu, egal wie unheimlich dieser ihm auch war. Dieser antwortete mit einem Nicken und lächelte leicht.
„Mein Sohn Osterik hilft Euch beim Tragen der Ausrüstung“, sagte der Wirt schließlich.
Wie aufs Stichwort erschien ein junger Bursche aus der Küche – ein junger Mann von vierzehn Lenzen, der in seiner Statur seinem Vater in nichts nachstand, wie dieser mit langem, rotblondem Haar gesegnet und einer Statur, die die jungen Mädchen sicherlich in Verlegenheit brachte. So wie der Bursche sich bewegte war sich Nat sicher, dass sein Vater ihm Kampfunterricht erteilt hatte. Möglicherweise würde Osterik also bald selbst in die Welt hinausziehen, um mit dem Schwert sein Glück zu machen. Das alles galt natürlich nur vorausgesetzt, dass die Träume, die Nat an diesen Ort gerufen hatten, sich nicht erfüllen würden. In wenigen Tagen würde sich entscheiden, ob die Stadt dem Untergang geweiht war oder nicht. Doch außer seinen Gefährten wollte Nat niemanden mit der schweren Last seiner Voraussicht belasten. Er war bereits dankbar, dass sie trotz aller Gefahren immer noch treu zu ihm hielten – so wie er stets bei ihnen war, wenn sie ihn gebraucht hatten. Sie waren von Waffenbrüdern zu Brüdern im Blute geworden, auch wenn sie keine von Geburt waren.
„Ein Zimmer mit drei Betten, bitte“, fügte Nat hinzu. Er ging davon aus, dass dies keine Schwierigkeit darstellen sollte, so leer wie das Gasthaus war.
Bjarn nickte, der Schalk trieb ihm ein Grinsen ins Gesicht, doch er verkniff sich den Witz, der ihm auf der Zunge lag, und sagte stattdessen: „Ihr achtet wohl auch im Schlaf aufeinander?“
Der Nordmann, der „Hardy“ genannt wurde, grinste zurück: „Das dürfte Euch aus früheren Tagen gut bekannt sein, Bjarn Bärenpfote. Reisende müssen gut aufeinander acht geben, und wir reisen immer.“
Bjarn kicherte: „Da habt Ihr Recht. Wohlhabendere Herrschaften verlangen nur häufiger nach separaten Räumlichkeiten, das ist alles.“
Hardy lachte: „Oh, ich will meine Münze lieber für gutes Essen, Bier und eine nette Gesellschaft ausgeben.“
Er warf einen interessierten Blick in Richtung einer kurvenreichen Frau mit einem langen, rotbraunen Zopf, die aus der Küchentür geschwebt kam. Ihre Wangen waren gerötet und die Bluse etwas weiter aufgeknöpft als man es bei einer Frau an einem so verregneten und kühlen Tag erwarten würde – doch der köstlich duftende, warme Luftschwall, der sie begleitete, war eine eindeutige Erklärung für die Erscheinung.
„Meine Frau Selena, die Zauberin am Kochkessel“, stellte Bjarn sie vor und nahm damit gleich alle weiteren Fragen vorweg.
Hardy lehnte sich vor, seine Laune nur ansatzweise getrübt: „Freut mich, werte Frau. Was habt Ihr uns denn heute anzubieten?“
Sie schmunzelte: „Nun, da Ihr heute am Sâriltan hier seid, gibt es einen Eintopf mit Fleisch zur Feier des Tages. Dazu selbstgebackenes Brot, gemischtes eingewecktes Gemüse und zum Abschluss einen würzigen Käse und Honigwein.“
Hardy lehnte sich genüsslich zurück mit einem Lächeln der Vorfreude auf den Lippen: „Großartig! Wir nehmen alles, und dazu reichlich Bier!“
Die beiden anderen Glücksritter grinsten nur in sich hinein. Bei Fragen des Essens war Hardy wohl derjenige, der bei ihnen den Ton angab.
Die drei luden ihre Ausrüstung in dem ihnen zugewiesenen Zimmer ab – an dem auf den ersten Blick nichts zu beanstanden war – und nahmen an einem der vielen freien Tische Platz, um zu speisen. Hardy und Linus ließen sich durchaus einiges an Zeit mit ihrem Mahl – der eine, der sich nicht nur eine große Portion, sondern auch einen für seine Körpergröße angemessenen Nachschlag gönnte, der andere, der offensichtlich gegen die Langeweile der Schankmädchen etwas unternehmen wollte. Nat dagegen aß recht schnell und eher weniger als man von einem Mann seiner athletischen Statur erwarten würde. Während seine beiden Gefährten also noch bei den Speisen waren, griff Nat nach seinem Bierkrug und schlenderte gezielt zum Tisch der Stadtwachen, schnurstracks zu Lans – der dankbar war, die Angelegenheit endlich hinter sich zu bringen. Er war außerdem froh, dass der Dämonenjäger ihn nicht zu sich rief, wie Lans befürchtet hatte. So blieb er mitten unter den Seinen und der Dämonenjäger war der Eindringling, der die Höflichkeit zu wahren hatte.
„Ich wünsche einen guten Abend, Herren Stadtwachen“, sprach der Dämonenjäger dann auch wie erwartet. „Darf ich mich für ein paar Fragen zu Euch gesellen?“
Die Männer hatten keine Einwände. Nat schob sich einen Stuhl zurecht und positionierte sich so, dass er Lans direkt ins Gesicht sehen konnte. Dieser spürte ein merkwürdiges Kribbeln in seinen Zehen und Fingern. Er war bisher noch nie einem leibhaftigen Dämonenjäger begegnet, hatte nur die vielen Gerüchte über diese Leute gehört. Angeblich waren sie selbst zur Hälfte von dämonischem Blut, Kinder der Verderbnis, die einst ihre Welt heimgesucht hatte – als die Welt noch jünger und wundersamer war. Sie waren Relikte einer Vergangenheit, von der nur noch Sagen und Legenden zeugten. Lans warf noch einmal einen aufmerksamen Blick in Nats Augen, drehte dabei seinen Kopf etwas zur Seite, um einen anderen Blickwinkel zu erhaschen – und siehe da, zumindest bei diesem Dämonenjäger stimmten die Gerüchte. Nats Augen reflektierten das Licht einer der Lampen so wie man es bei einer Katze erwarten würde.
Dem Dämonenjäger war das Interesse des Wachmanns nicht entgangen, aber er ließ sich nichts anmerken. So wie dieser sich verhielt war es klar, dass eine Sehergabe in ihm glimmte – stark genug, dass er sich ihrer bewusst war. Ob er sie kontrollieren konnte, das stand auf einem anderen Blatt. Nat selbst hatte seine Träume, die ihm gelegentlich beunruhigende Visionen und Warnungen schickten. Wären diese nicht gewesen, dann wären er und seine Gefährten jetzt in eine vollkommen andere Richtung unterwegs, auf der Suche nach einem lohnenswerten Ziel. Doch wenn er einen vollkommen düsteren Traum voller gestaltloser Schrecken und eines unheimlichen Ekels durchstehen musste, um vor dem Aufwachen ein kristallklares Bild eines Ortes und ein zielsicheres Gefühl für eine Richtung zu haben, dann spielte die Belohnung keine große Rolle. Dann war es seine Pflicht, sich der Vorsehung zu beugen und Schlimmeres zu verhindern. Das war er seinen Ahnen und seinem toten Lehrmeister schuldig.
„Was könnt ihr mir über die jüngsten Vorkommnisse in der Stadt sagen?“, fragte er in die Runde hinein.
„Es hat wohl zum Fest der Verkündigung begonnen, Herr“, antwortete ihm Max, der jüngste und gesprächigste in der Runde. „Die Pilger sind in den Tagen zuvor zahlreich angekommen wie jedes Jahr, und wie jedes Jahr, zogen sie 'gen Kloster, um ihre Segnung zu empfangen. Doch sie kehrten nicht zur üblichen Zeit zurück, und auch nicht in den Tagen danach.“
„Und das Kloster leuchtet seitdem merkwürdig des Nachts, und es wird immer heller“, fügte Lans leise hinzu. Auch wenn die anderen Wachleute nichts davon hören wollten, so war er sich sicher, dass seine Beobachtung den Dämonenjäger interessierten würde.
Dieser nickte: „Das ist nicht ungewöhnlich an Orten, zu denen mich die Vorsehung ruft. Ich nehme an, die Stadtherren haben bereits Kundschafter ausgeschickt, um Nachrichten vom Kloster und den Pilgern zu bringen?“
Max nickte eifrig: „Aber selbstverständlich, Herr. Es wurden Boten ausgeschickt, weil man sich um die Gläubigen und die Mönche sorgte. Doch auch die Boten fehlen seitdem. Es waren eigentlich recht gescheite Männer, und sicherlich nicht hilflos.“
Der Dämonenjäger nickte erneut und stellte die nächste Frage, auf die er dem Anschein nach schon die Antwort zu wissen schien: „Und die Söldner sind ebenfalls allesamt verschollen?“
Ein verlegenes Schweigen legte sich über die Runde. Lans antwortete schließlich leise: „Alle bis auf einen. Der Söldner namens Timeon kehrte vor genau einer Woche zurück und er ist ganz und gar dem Wahnsinn verfallen.“
Das Gesicht des Dämonenjägers verfinsterte sich leicht: „Das kann ein gutes oder ein böses Omen sein. Haben sich die Schwestern seiner angenommen, oder ist er im Gefängnis weggesperrt?“
Lans seufzte: „Ich habe ihn zu den Schwestern gebracht. Sie sorgen für ihn, aber man sagt auch, dass sie sehr darüber klagen, wie anstrengend das ist. Sie müssen ihn die meiste Zeit gefesselt halten, weil er sich immerzu die Augen auskratzen will, und flößen ihm zur Nacht betäubende Tränke ein, damit er schlafen kann. Wenn er wach ist, dann ist er ganz still, solange die Fesseln angelegt sind, aber sobald man sie auch nur etwas lockert, beginnt er zu toben und zu heulen. Man bekommt kaum ein vernünftiges Wort aus ihm heraus, er bettelt nur immerzu nach dem Schutz des Sterns.“
Nat lächelte schief und deutete auf den Verschluss seines Kragens. Lans nickte: „Ja, genau diesen Stern meint er. Darum sagen die Schwestern wohl, dass es für ihn noch Hoffnung gibt. Immerhin erkennt er das Heilige Symbol noch als das, was es ist.“
Nat nickte erneut. Der Stern war ein kompliziertes Symbol, das wussten jedoch nur die Eingeweihten. Ein unglaublicher Trick war er, verwandt mit dem zehnseitigen Edelstein des Ostens, verwandt mit so manchem anderen geheimen Zeichen, ein uraltes Symbol für Wissen, Hoffnung und Macht. Als die Menschen des Westens sich seiner als Zeichen ihres Glaubens zu bedienen begannen, da war er schon uralt. Die Mächte, die ihm damals innewohnten, hatten es ihm gestattet, in dieser neuen Zeit nicht an Bedeutung zu verlieren. Man musste nur die Nuancen richtig lesen können. Das weiße Gold und Silber, aus dem die Kragenzierde der Dämonenjäger bestand, sprachen Bände von dieser alten Zeit, doch kaum jemand wusste noch von dieser Vergangenheit, - und das war gut so. Die Ordensritter des Heiligen Rächers waren sehr leicht mit ihrem Urteil bei der Hand, und sie pflegten eher mit Feuer und Schwert zuzuschlagen, als im Zweifel Gnade walten zu lassen. Der Vater würde die seinigen schon erkennen und im Himmel empfangen.
Nat sah prüfend zu Lans: „Und Ihr sagt, das Leuchten wird heller?“
Der Wachmann nickte, wenn auch leicht verunsichert über den abrupten Themenwechsel: „Ja, Herr. Ich bin mir ziemlich sicher. Ich habe es immer wieder mit einem anderen Licht verglichen.“
Nat schmunzelte: „Sehr löblich. Jedoch ist das kein allzu gutes Zeichen. Nun, habt Dank für Eure Auskünfte. Ich werde Eure Freundlichkeit morgen gern beim Richter erwähnen.“
Die Wachleute wechselten die Blicke, zuckten mit den Schultern und nickten. Unheimlich oder nicht, getreue Dämonenjäger genossen ein gewisses Ansehen unter den Leuten, und eine positive Bemerkung von seiner Seite konnte ihnen zum Vorteil gereichen. Nat verabschiedete sich und setzte sich erneut an den Tisch, an dem Hardy inzwischen genüsslich am Käse knabberte und Linus die Laute zu stimmen begann. Er würde natürlich nicht so pietätlos sein und ein lustiges oder gar zotiges Lied anstimmen, aber in seinem Repertoire fanden sich auch angemessenere Musikstücke.
Mit dem „Tiefen Levon“ traf Linus genau die richtige Stimmung – einem Lied über einen tiefen und geheimnisvollen Fluss, eine holde Maid mit einem gebrochenen Herzen und einem wehmütigen Ausgang der Geschichte. Das Publikum lauschte gebannt seiner ausdrucksvollen Stimme, wie sie abwechselnd die Klage des Mädchens und die Einflüsterungen des Flusses wiedergaben, und insbesondere die Wachen äußerten ihre Begeisterung laut und deutlich. Aus dem Augenwinkel sah der Barde, wie die erneut in der Tür der Küche erschienene Selena ihren Mann leicht anstupste und dieser daraufhin den Schankmädchen die Anweisung gab, den Gästen noch eine Runde Met nachzuschenken.
Es folgten weitere Lieder und weitere Getränke, doch der Dämonenjäger hielt sich bereits beim zweiten Met zurück. Es war zwar durchaus seine Gewohnheit, die herrliche Wirkung des Alkohols zu nutzen um tief und traumlos zu schlafen, doch nicht so kurz vor einem Einsatz, und schon gar nicht wenn er das Gefühl hatte, dass er jede Hilfe brauchen konnte, die ihm zuteil wurde. Er war dankbar darüber, dass ein Söldner sich in Starogrâd niedergelassen hatte, der ganz genau wusste, wie er mit Leuten wie ihm und seinen Gefährten umzugehen hatte. Er war dankbar für den Wachmann mit der Sehergabe, der ihm ohne es zu wissen ein paar wichtige Details zugespielt hatte. Und er war dankbar dafür, dass es zumindest einen Überlebenden gab, wie sehr sein Geist auch vom Grauen im Kloster mitgenommen war. Er würde von diesem Mann schon das eine oder andere erfahren, selbst wenn dieser keiner Sprache mehr mächtig sein sollte.
Während Linus mit seiner Musik die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zog, versenkte sich Nat in seinem Inneren und öffnete im Geist sein drittes Auge. Die Taverne wurde erfüllt von schimmernden Lichtern und dem Schein der Auren der Leute um ihn herum. Hardy und Bjarn teilten sich die tiefrote Glut, die allen Nordmännern zu eigen war und die sie zusammen mit dem riesenhaften Körperwuchs, dem muskulösen Körperbau und den feurigen Mähnen von den legendären Vorfahren, den Kaniden, geerbt hatten. Selenas Licht schimmerte in saftigen Grüntönen und Nat konnte beinahe den herrlichen Geruch von einer Wiese im Frühling in der Nase spüren. Ihr Sohn, der ebenfalls der Musik lauschte und insbesondere bei den Heldenliedern aufmerksam wurde, strahlte in sonnigem Gelb. Das war ein gutes Zeichen – sowohl für sein Gemüt, als auch für das Glück, das ihm inne war. Alle drei hatten ein starkes Licht gemeinsam, eine kräftige Aura. Was auch immer an Finsternis auf sie zukam, ihr Licht könnte es vielleicht durchstehen, ohne zu verlöschen.
Die Stadtwachen und Schankmädchen waren im Vergleich zu den dreien recht gewöhnliche Lichter, bunte Glasmurmeln neben funkelnden Edelsteinen. Doch sie waren gesund, und so rein wie ein gewöhnlicher Mensch es sein konnte. An ihnen war nichts zu erkennen, das das grausame Schicksal rechtfertigte, das sie womöglich bald ereilen würde. Lans allerdings war wiederum ein besonderer Fall. Seine Aura war interessant, und Nat konnte nicht sagen, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Wenn er selbst solche seltsamen Schlieren zeigen würde, dann hätten ihn die wachsamen Augen der Heiligen Rächer schon längst vor ein Schiedstribunal geschleppt – einfach nur, um sicher zu sein. Es blieb zu hoffen, dass der Mann niemals den Weg eines solchen Richters kreuzen würde. Doch nach seinem aktuellen Kenntnisstand hatte Nat keinen Grund, dem Wachmann zu misstrauen, und er würde sich hüten, auch nur einen Hauch seiner Zweifel zu zeigen. Vielleicht würde genau das der Anstoß sein für eine Entwicklung, die er nicht in Gang setzen wollte. Wenn die Dinge schon einen schlimmen Verlauf nehmen sollten, dann nicht seinetwegen.
Also zog er sich in die Wirklichkeit der anderen Leute um ihn herum zurück und lauschte dem letzten Lied, das Linus an diesem Abend zum Besten gab, bevor sie sich mehr oder weniger angeheitert in ihre Betten begaben – Linus etwas später und etwas heiterer als die beiden anderen. Natürlich tat er nichts, das einen Makel über den guten Ruf seiner Auserwählten für diesen Abend bringen würde. Aber es gab viele Arten zu zweit Spaß zu haben, und wer konnte schon sagen, wie lange er noch zu leben hatte? Zu dem Zeitpunkt schlief Hardy bereits tief und fest, schnarchte leise dabei, während Nat wie üblich in seiner Meditationshaltung mit ineinander verschränkten Beinen und seitlich hinabgestreckten Armen mit sternförmig 'gen Boden gerichteten Fingern saß, bevor er sich dem Schlaf überließ. Als Linus dann spätabends, als es langsam auf Mitternacht zu ging, endlich ins Zimmer hineinschlich, rollte der Dämonenjäger nur leicht mit den Augen. Der Barde grinste zurück, nicht im geringsten schuldbewusst oder peinlich berührt. Ohne ein Wort zu sagen entledigte sich Linus seiner Kleider, und der leichten Rüstung mitsamt Unterhemd darunter, und legte sich zusammen mit seinem Messergurt ins Bett. Wenig später war auch er eingeschlafen.
Nat verblieb noch auf dem Boden und ließ die Eindrücke des Tages in seinem Kopf Revue passieren. Die Anreise nach Starogrâd war in keinem Punkt auffällig verlaufen, es gab kaum einen Grund, an sie zurück zu denken. Der Regen war zu dieser Jahreszeit in dieser Gegend nicht ungewöhnlich, auch wenn er sich vielleicht etwas länger hielt als üblich. Der Wind wehte nicht allzu stark und kam nicht aus Richtung des Klosters, so dass auf diesem Weg nichts aufzuschnappen war. Doch mit dem Licht hatte Lans ganz und gar Recht gehabt, und das war kein gutes Zeichen. Seltsame Lichter waren oft die Begleiterscheinung von übernatürlichen Ereignissen – einem Ausbruch magischer Kräfte, einem Ritual, oder Erscheinungen außerweltlicher Wesenheiten. Diese Information bestärkte seine Vermutung, dass es im Kloster ganz und gar nicht mit rechten Dingen zuging. Wahrscheinlich hatte man es mit einer Form von Besessenheit zu tun, vermutlich waren mehrere Personen betroffen, und diese hatten wohl zuerst das Kloster an sich gerissen und hinterher dafür gesorgt, dass keiner der Pilger, Boten und Glücksritter zurückkehren konnte. Vielleicht war die Ursache aber auch eine andere. Doch was auch immer dort geschah, das Böse war noch nicht bereit, sich mit der Welt außerhalb des Klosters einzulassen, und darin lag Nats größte Hoffnung auf Erfolg. Wenn die Besessenen oder gar schlimmeres erst aus den Klostermauern nach außen dringen würden, dann müssten sie sich richtige Sorgen machen. Er war wohl noch rechtzeitig eingetroffen, um das Schlimmste zu verhindern. Und wieder einmal war er dafür dankbar, dass seine Gefährten so waren wie sie waren, und keine anderen. Andernfalls müsste er ohne sie aufbrechen. Doch ihr Licht war stark und würde der Finsternis standhalten können.
Als die Glocke schließlich Mitternacht schlug um dann bis zum Morgengrauen zu verstummen, begab Nat sich ebenfalls zu Bett. Sein Geist war noch immer viel zu wach, sein Verstand wälzte die Gedanken hin und her, fragte sich, ob er die richtigen Schlussfolgerungen aus dem gegebenen Wissen gezogen hatte, ob er die Wahrnehmung seines inneren Auges richtig deutete, ob seine Träume ihn nicht womöglich doch auf die falsche Fährte lockten. Das Kloster war gewaltig, eines der größten klerikalen Bauwerke außerhalb der Weißen Stadt Poliâron. Wenn die Gläubigen darin dem Bösen anheimgefallen waren, dann würde es ein harter Kampf werden. Nat wagte nicht an die Geheimnisse zu denken, die sein Lehrmeister ihm auf seinem Sterbebett anvertraut hatte. Das könnte ihn alles kosten, könnte alles zunichte machen, was er erreicht hatte. Er hoffte vor allem, dass diese schlimmste Befürchtung sich nicht bewahrheiten würde. Der morgige Tag würde ihm weiterhelfen. Es hatte keinen Sinn mehr, sich den Kopf zu zerbrechen. Also zwang er sich dazu, langsam und ruhig zu atmen, so langsam, dass allein der Mangel an Luft genügte, um das Gewirr in seinem Kopf zu lichten und ihn endlich ins Land der Träume zu schicken. Sein letzter wacher Gedanke flatterte erschrocken vor der Erkenntnis davon, dass er nicht schon wieder träumen wollte.
Dunkelheit und fauliger, süßlicher Gestank überall. Es ist feucht, als wäre der Regen von draußen nach drinnen gesickert und würde nun überall schweben. Ein widerliches Gefühl von Euphorie und Ekel zugleich. Nichts ergibt einen Sinn, nicht die grässlichen Schreie, nicht das abartige Stöhnen und auch nicht das verrückte Gelächter. Etwas streicht über meinen Rücken und hinterlässt eine Spur aus Gänsehaut, sie sich ausbreitet wie Wellen auf dem Wasser. Doch es ist nichts hinter mir, nur die faulig-feuchte Dunkelheit. Und doch, ich spüre etwas. Nein, nicht etwas, vieles. Ich bin nicht nur nicht allein, ich bin weit unterlegen. Ich bin es, über den gelacht und gespottet wird in einer Sprache, die man nur in einem Traum wie diesem verstehen kann. Wie schön, dass das nur ein Traum ist. Meine Waffen und meine Rüstung sind bei mir, weil ich sie brauche. Mein Geist sieht klar. Das Licht hat mich noch nicht verlassen. Die Finsternis zieht sich zurück, als hätte sie sich an mir verbrannt. Ich sehe verzerrte Gestalten, Leiber mit verrenkten Gliedmaßen, Gesichter mit ausgerissenen Augen und abgebissenen Nasen, aufgeschlitzten Mündern und lang und kraftlos heraushängenden Zungen. Ich sehe blutige Striemen und wie von Krallen frisch geschlagene Wunden. Ich sehe sie an und in meinem Hinterkopf zähle ich die Anzahl der Körper, die mich mit hasserfüllten Augen beglotzen. Es sind nicht so viele, wie das Kloster Einwohner hatte, aber es sind mehr als genug. Vielleicht sind nicht alle hier. Aber warum sind sie so? Was ist die Ursache? Zeig dich mir, ich verlange es!
Noch mehr Gelächter. Mein Licht hält sie lediglich zurück. Es ist nicht stark genug, um sie in wahrhaftige Furcht zu versetzen. Sie wissen, dass sie mir über sind. Sie werden über mich herfallen, sobald ich mir nur die kleinste Schwäche erlaube. Ich trotze und mein Licht erstrahlt etwas heller, doch mir ist klar, dass ich das nicht in alle Ewigkeit durchhalten kann. Früher oder später kriegen sie mich, wenn es nur Kraft gegen Kraft heißt. Ich muss gerissen sein, ich muss wissen, wo ihre Stärken und wo ihre Schwächen liegen. Was zeichnet sie aus? Welche Art Dämonen haben sie verdorben? Kann ich die Zeichen deuten? Alles verschwimmt im suppigen Nebel, der nach frischem Blut riecht und sich so warm wie ein Dampfbad anfühlt. Ich ersticke in seinem klebrigen Dunst. Ich weiß, auch das ist ein Zeichen. Ich bin kaum mehr als ein Tier, das in die Enge gedrängt ist, reduziert auf seinen Körper, der verzweifelt zu atmen versucht. Ich weiß, irgendwo in meinem Gedächtnis ist alles zu finden, das ich brauche, um diesem Übel ein Ende zu machen. Ich muss nur aufwachen. Wach auf. Wach auf! WACH AUF!