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Kapitel 2 Don Pedro und die "Neuen Menschen"

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Die drei Campesinos hatten die Schüsse gehört. Doch es war klug gewesen, die Richtung, aus der die Schüsse herüber gehallt waren, zu meiden. Sie hatten sich beeilt, ihr nahe liegendes Dorf zu erreichen. Es war still gewesen, den Mittag und die gesamte Nacht über. Im Morgengrauen hatten sie sich allerdings entschlossen nachzusehen, was sich dort an dem Ort der Schießerei abgespielt hatte. Man wusste ja nie, ob nicht auch Verwandte oder Freunde in Gefahr geraten oder gar tot waren. In einem armen Land wie dem ihren blieb es nicht aus, dass manch einer glaubte, die Situation mit Gewalt verändern zu müssen. Die Regierung antwortete selbstverständlich mit Gegengewalt. Und doch stellten Zwischenfälle dieser Art nur ein Vorgeplänkel dar, gegenüber dem, was sich Jahre später in dem Andenstaat Peru, dank des Sendero Luminoso, abspielen sollte! Die Campesinos waren es, die die Hauptlast solcher Auseinandersetzungen zu tragen hatten. Manchmal kam die Guerilla irgendwelcher Splittergruppen in ihre Dörfer, forderte Unmögliches und terrorisierte die Leute – zum "Wohl des Volkes", versteht sich! Dann wieder erschienen Regierungstruppen und suchten nach vorhandenen oder nicht vorhandenen Terroristen. Nach solchen "Besuchen" fehlten ab und an einige Männer und Frauen, verschwanden in Militärgefängnissen oder tauchten überhaupt nicht mehr auf. Die drei Campesinos machten sich auf den Weg und erreichten nach knapp einer Stunde die Chacra. In dem großen Gebäude fanden sie einzelne Kleidungsstücke, zwei Taschen und einen Korb. Die Erde vor und in dem Gebäude wies die Abdrücke vieler menschlicher Füße auf, denn sie war feucht und weich gewesen. Der älteste der drei Männer war ein erfahrener Jäger und verstand sich auf das Spurenlesen. Etwa dreihundert Meter weiter trafen sie auf die ersten leblosen bekleideten Bündel, welche einmal Menschen gewesen waren. Sie blickten sich vorsichtig um und besahen sich dann die Toten genauer. Löcher, aus denen Blut gelaufen war, zeigten, dass sie erschossen worden waren. Dann hatte man die Ermordeten einfach den Abhang hinunter gestoßen. Die Mörder waren ohne Zweifel in großer Eile gewesen, sonst hätten sie ihre Opfer verscharrt. Die drei fanden unter den elf Toten kein bekanntes Gesicht und machten sich – halb bedrückt, halb erleichtert – auf und davon. Diesmal wählten sie einen anderen Weg, der zwar steil bergan führte, aber eine Abkürzung bedeutete. Zu ihrem Entsetzen war dieser Pfad ab einer bestimmten Stelle mit weiteren Toten gepflastert. Diese wurden durch ihre Kleidung als Serranos ausgewiesen. Trotz ihres Grauens zwangen sich die Männer, genauer hinzusehen. Diese Getöteten wiesen keinerlei Schusswunden auf, hatten aber alle einen eingeschlagenen Schädel. Die Männer rätselten, was das zu bedeuten hatte, fanden aber keine Erklärung. Wieder kein bekanntes Gesicht! Zutiefst erschrocken und verwirrt kamen sie im Laufschritt in ihrem Dorf an. Polizei und Militär erfuhren in Windeseile von dem Massaker bei der verlassenen, abgelegenen Chacra. Und da diese Untat nicht auf ihr eigenes Konto ging, waren am nächsten Morgen die lokalen Zeitungen voll mit Berichten über den blutigen Vorfall. Die Kunde erreichte sehr schnell auch Lima und brachte die Angehörigen der ermordeten Reisenden auf den Plan. Pedro de la Cruz wurde durch heftiges unnachgiebiges Klingeln aus seinem leichten Morgendämmerschlaf gerissen. Sein bester Freund Felipe de Ayala stand mit der Zeitung in der Hand vor der Tür und brachte vor Aufregung kein Wort heraus. "Por Dios! Felipe, mein Bester, ist etwas geschehen?", rief Don Pedro nicht wenig überrascht aus, und führte den so sichtlich Verstörten sachte am Arm in das große Wohnzimmer. Eine ältere, dickliche und verschlafene Frau trat leise ein. Das heftige Klingeln hatte auch sie aus ihrer kostbaren Ruhe aufgeschreckt. Isabella hatte Maria aushilfsweise, für die Zeit ihrer und Teresas Abwesenheit, zur Betreuung Don Pedros eingestellt. Nicht, dass der alte Herr besonderer Pflege bedurfte, aber irgendjemand musste für ihn kochen, denn er verabscheute es, auswärts zu speisen. Und er gab auch nicht allzu genau auf seine Kleidung acht. Maria erwies sich als schweigsam, tüchtig und eine gute Köchin. Jetzt stand sie wartend da, ob Señor de la Cruz irgendwelche Wünsche hatte. "Maria, trage uns bitte Kaffee auf. Ich glaube, mein Freund hat ihn nötig!" Don Felipe hatte seine Fassung größtenteils wiedergewonnen und ließ sich schwer auf einen der kostbaren antiquarischen Stühle fallen, der verdächtig ächzte und knackte. Er beschloss, seinen herzkranken Freund nicht mit der Hiobsbotschaft, welche er heute Morgen in der Zeitung entdeckt hatte, zu überraschen, sondern ihn sachte darauf vorzubereiten. Maria servierte in verschlafener Seelenruhe den Kaffee in den teuren, zarten Porzellantassen, und Don Pedro wunderte sich im Stillen über das Verhalten seines Freundes. Erst war er doch so sichtlich erregt gewesen, und nun wollte er nicht mit der Sprache heraus! Don Felipe kam auf dieses und jenes zu sprechen und zerdrückte die Zeitung, welche er immer noch nicht aus der Hand gelegt hatte. Scheinbar so ganz nebenbei wandte sich das Gespräch der verreisten Familie Don Pedros zu. Ob er schon etwas gehört habe von seinen Lieben? An diesem Punkt horchte Don Pedro auf. Die Art, wie sich Don Felipe nach seiner Familie erkundigte, und auch sein betrübter Blick beunruhigten ihn. "Mir will scheinen, mein Freund, dass du ein nicht leicht zu erklärendes Anliegen hast!", forderte Don Pedro den Zögernden auf. Don Felipe legte kurzentschlossen die Zeitung hin, denn sein Freund musste die tragische Geschichte ja doch erfahren! Don Pedro studierte den Bericht und wurde unter seiner bräunlichen Haut weiß wie die Wand. Und er las ihn abermals mit zitternden Lippen. Don Felipe beobachtete ihn besorgt und fragte sich, wo die Herztabletten waren, denn er fürchtete, dass sie gebraucht würden. Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, erhob Don Pedro sich steif und beherrscht. Wenig später war er angekleidet und befand sich mit Don Felipe – in dessen Wagen – auf dem Weg zur Polizei. Dort wurden sie zuvorkommend behandelt, denn sie waren vornehme – und was noch mehr zählte – wohlhabende Herren. Der Offizier klärte sie über das Massaker auf. Einunddreißig Tote seien gefunden worden. Ob es Überlebende gäbe? Nein, das wisse er nicht! Bis jetzt sei noch unbekannt, wie viele Menschen in dem Bus gewesen seien. Wer die Mörder waren? Auch noch ungeklärt! Die Leichen müssten identifiziert werden. Ob Señor de la Cruz Fotos von den Vermissten dabei habe? Don Pedro zog aus der Innenjackentasche seines beigen Anzuges ein kleines handliches Fotomäppchen. Die Aufnahmen waren an Glorias zwölftem Geburtstag gemacht worden: Isabella und ihre Tochter, die dabei waren, den Geburtstagskuchen anzuschneiden – Teresa Uro, die lachend eine Kanne Limonade in der Hand hielt – wieder das Geburtstagskind in seinem roséfarbenen Kleid und den goldfarbenen Schuhen, ein Geschenk an sich drückend, umringt von ebenso kleinen, aber schwarzhaarigen Mädchen. Der Offizier betrachtete die blonde Gloria mit merklichem Interesse. "Das ist Ihre Enkelin, Señor de la Cruz?" "Ja, mein Schwiegersohn war Deutscher." "Mir ist nicht bekannt, dass sich unter den Toten ein blondes Mädchen gefunden hätte! Man weiß natürlich nicht . . .", der Offizier brach ab. Ein kleines Militärflugzeug brachte Don Pedro und Don Felipe – der darauf bestand, ihn zu begleiten – und andere Angehörige zu dem Dorf, das dem Unglücksort am nächsten lag. Vor der Reihe der Toten, die man bereits in Särgen mit Gesichtsfenstern aufgebahrt hatte, weinten viele Menschen. Don Pedro griff sich schwer atmend an die Herzgegend und schluckte schließlich eine Tablette, die er einem vergoldeten Pillendöschen entnahm. "Warte du hier, ich werde sie mir ansehen!", erklärte Don Felipe mitfühlend, aber energisch. Don Pedro nickte wortlos, denn dumpfe Schmerzen durch pochten seinen Brustkorb, und er fühlte sich außerstande, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Er fürchtete zutiefst den Augenblick, in dem der Freund kommen würde, um ihm mitzuteilen, dass er sie gefunden habe. Mit rasendem Puls wartete er. Don Felipe indes kämpfte sich von Sarg zu Sarg, aber er konnte weder Isabellas spanisches noch Teresas indianisches Gesicht oder Glorias Blondhaar ausmachen. Er wandte sich halbwegs erleichtert an einen in der Nähe stehenden Polizisten. "Sind das wirklich alle?", fragte er fast herrisch. "Ja, Señor, wir haben die ganze Gegend gründlich abgesucht!", erwiderte der Mann vorsichtig und leicht beleidigt. Don Felipe beeilte sich, die hoffnungsträchtige Botschaft zu überbringen, und er ließ sich mit Don Pedro auf einem staubigen Erdwall nieder, der eine Art Grenze zwischen zwei Grundstücken darstellte. "Ich habe sie nicht gefunden, es ist anzunehmen, dass sie noch am Leben sind!" Jäh erhellte sich Don Pedros verdüsterter Blick – so etwas wie zaghafte Zuversicht glomm in ihm auf. Tiefe Ringe und eingefallene Wangen waren die sichtbaren Zeichen des Herzanfalls und seiner seelischen Erschöpfung. Ein älterer Polizeioffizier, alarmiert durch den jungen Polizisten, den Don Felipe angesprochen hatte, kam auf sie zu und stellte höflich einige Fragen. Bald war er darüber im Bild, was die beiden Herren hier zu suchen hatten. Mit freundlicher Gleichgültigkeit sprach er sein Bedauern aus. Denn die Auseinandersetzung mit den Folgen von "la muerte"- dem Tod - war sein tägliches Brot, und er war nach so vielen Dienstjahren bar jeder Erschütterung, solange die Angelegenheit ihn nicht selbst betraf. Außerdem war er von Haus aus nicht gerade ein Menschenfreund. Don Pedro erkundigte sich nach der Möglichkeit, den Ort des bösen Geschehens selbst zu besichtigen, und Don Felipe half dem Ansinnen mit ein paar großen Scheinen nach, die noch so neu waren, dass sie knisterten. Rasch und diskret steckte er sie dem Offizier zu, der daraufhin freundlicher wurde und sofort einen Jeep mit zwei jungen Polizisten – den einen als Fahrer, den anderen als Wächter – bereitstellte. Als geborene Peruaner waren beide Herren weit davon entfernt, sich über die Bestechlichkeit des Mannes zu empören. Sicher, sie waren sich bewusst, dass Korruption eine schwere Hypothek für ihr Land darstellte. Doch was hätten sie daran ändern können? So war es immer gewesen, und so würde es wohl auch bleiben! Ein paar Scheine hatten gegen eine kleine Gefälligkeit den Besitzer gewechselt, und jetzt waren sie auf dem Weg zu dem gewünschten Ziel. Das war die Hauptsache! Die Einsamkeit der Landschaft wirkte auf sie beide bedrückend. Schweigend hingen sie ihren Gedanken nach. Don Pedro fragte sich, wie hier jemand – insbesondere seine zarte, des Öfteren kränkelnde Enkelin Gloria – überleben sollte. Angesichts dieser Tatsache verdüsterte sich sein Gemüt erneut. "Das Mädchen ist nicht alleine. Und glaube mir, Isabella und Teresa werden alles daransetzen, sie wieder heil nach Hause zu bringen!", sagte Don Felipe in die Stille, als ob er die Gedanken des Freundes erraten hätte. Dieser warf ihm einen dankbaren Blick zu. Die Unglückschacra und die Selva kamen in ihren Sichtbereich. Neben dem großen Gebäude bedeutete Don Pedro dem Fahrer anzuhalten, was dieser dankbar tat, denn ihm war nach einer Zigarettenpause zumute. Die beiden Herren stiegen durch gerüttelt und steif geworden aus. Sorgfältig betrachteten sie die Umgebung. Besonders die Selva erweckte Don Pedros Aufmerksamkeit. Sein Herz machte sich wieder verstärkt bemerkbar. Vorsichtig setzte er sich auf einen von der Sonne erwärmten Felsen und nahm vorbeugend eine zweite Tablette ein. Eine Ahnung war da in seinem Innern, die er in Gedanken umzusetzen versuchte. "Ob sie etwa . . .? Nein, das würden sie sicher nicht wagen! Oder doch?" Nachdenklich starrte er auf die Selva, die er jetzt zum zweiten Mal in seinem Leben zu Gesicht bekam, und plötzlich wuchs in ihm die Gewissheit, dass sie in der Selva Schutz gesucht hatten! Und dann wanderten seine Gedanken über vierzig Jahre zurück zu der Zeit, als er selbst ein junger Mann Anfang zwanzig gewesen war und sich in den Urwald geflüchtet hatte, um sein junges Leben zu retten. Damit hatte seine geliebte, leider schon verstorbene Frau Luisa zu tun gehabt. Don Pedro erinnerte sich nun wieder an jede Einzelheit: Luisa Navarro de la Cruz war die Tochter einer spanischen Einwandererfamilie, die aus nicht ganz klaren – aber wahrscheinlich politischen – Gründen ihre Heimat Andalusien verlassen und den Sprung in das südamerikanische Peru gewagt hatte. Señor Ramon Navarro hatte sehr klein angefangen. Mit einem Ländchen, das auf einer ausgebreiteten Decke Platz gefunden hätte. Doch das Geschäft wuchs! Im zweiten Jahr hatte die Familie Navarro genug zum Leben, im dritten Jahr herrschte bescheidener Überfluss. Und ab dem vierten Jahr konnte man die Navarros getrost als wohlhabend bezeichnen, ab dem fünften waren sie reich! Señor Ramon Navarro führte außerhalb seines Geschäftes eher ein stilles, zurückgezogenes Leben. Er verbrachte es in seiner Bibliothek in der Gesellschaft leichter, würziger Weine und entzog sich auf diese Weise seiner Gattin Ines und seinen hitzköpfigen Söhnen – vier an der Zahl. Außer der einzigen Tochter Luisa fürchtete er sie insgeheim alle, denn sie waren ein lauter, wilder, streitbarer Menschenschlag. Der feine gebildete aus vornehmer, aber verarmter Familie stammende Mann war seiner urwüchsigen ungestümen Macha (tonangebende Person) Ines auf Dauer nicht gewachsen, besonders auch dadurch, dass die Söhne nach der Mutter geraten waren und diese allzu willig unterstützten. Also teilte er seine Liebe zwischen Tochter Luisa und den würzigen Weinen auf und blieb zur Sicherheit in der Bibliothek. Luisa und ihr Zwillingsbruder Luis waren die jüngsten Kinder des Ehepaares. Luisa, das einzige Mädchen der Familie, wurde von Mutter und Brüdern eifersüchtig geliebt und bewacht – auf eine sehr unvernünftige Weise. Die Probleme begannen, als Luisa sich danach sehnte, von dem Podest der Tugend, auf das ihre Familie sie gestellt hatte, herunterzusteigen, um einem jungen Mann in die Arme zu sinken und eine eigene Familie zu gründen. Sie war inzwischen sechzehn und noch nicht einmal verlobt – eine Schande in einer Zeit, in der vierzehnjährige Ehefrauen durchaus üblich waren! Aber ihre wilden Brüder hatten jeden Freier, der darum bat, um sie werben zu dürfen, in ihrem andauernden unvernünftigen Zorn nicht nur abgewiesen, sondern unter Drohungen davon gejagt. Luisa fürchtete zu Recht, ihr Leben als alte Jungfer oder als unfreiwillige Nonne in einem Kloster verbringen zu müssen. Doch auf dem täglichen Gang in die Kirche – selbstverständlich eskortiert von ihrer Mutter, einer Dienerin und ihrem Zwillingsbruder – wandte sich ihr Schicksal. Ihr Weg kreuzte sich dabei mehrmals mit dem von Pedro de la Cruz, der bald ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein zarter, immer intensiver werdender Flirt mit den Augen entwickelte sich. Tag und Nacht stand ihm dieses spanische Filigranfigürchen, mit seinem lackschwarzen Scheitel, welcher für den Kirchgang größtenteils mit einer weißen teuren Spitzenmantilla bedeckt war und seinen grazilen Bewegungen vor Augen. Und dann dieses Gesicht – fein, lebendig und sichtlich intelligent! Nach der siebten Begegnung stand er vor der Kirche und betrachtete sinnend die im Staub sichtbaren Abdrücke von Luisas Puppenschuhen. Da wusste er plötzlich, was er zu tun hatte. Diskret erkundigte er sich bei dem Priester in der Kirche nach der schönen Unbekannten. Dieser gab ihm bereitwillig Auskunft – aber nicht ohne ihn vor dem gefährlichen Anhang der reizenden jungen Dame zu warnen! Denn mancher der schnöde Abgewiesenen hatte bei dem Pater sein vor Liebe und verletztem Stolz angeschlagenes Seelenleben ausgebreitet. Daraufhin wartete Don Pedro erneut auf Luisa, die auch pünktlich wie immer – umgeben von ihren unvermeidlichen Wächtern – erschien. "Ich will dir meine Aufwartung machen, denn ich liebe dich!", sagten seine Augen zu ihr, und sie verstand. "Ich würde dich willkommen heißen, aber es ist gefährlich!", erwiderte ihr bejahender und zugleich warnender Blick. Unauffällig ließ sie ein mit Blumen besticktes weißes Seidentüchlein zu Boden gleiten. Doch ehe Don Pedro den zarten Liebesbeweis an sich nehmen konnte, trat Bruder Luis auf den Plan! "Ah, Sie sind der Señor, der es wagt, meiner Schwester aufzulauern!", schrie er laut, und seine Augen wurden schwarz vor Empörung. "Das werden Sie bereuen, Señor, wirklich bereuen!" Der Sechzehnjährige rannte los, um seine Brüder herbeizuholen, die sich nicht weit entfernt von der Kirche aufhielten. "Bringen Sie sich in Sicherheit!", rief Luisa verzweifelt, während ihre Mutter auf sie einschimpfte. Woher sie den Señor denn kenne? Ob sie der Untugend verfallen sei? Don Pedro, der Mittelpunkt dieses Dramas, stand verdattert und ratlos da, bis Luis mit seinen drei Brüdern nahte! Ihre bösen Absichten waren unverkennbar, und Don Pedro ergriff die Flucht und lief diesen kleinen stämmigen Männern, die schlechte Läufer waren, schnell wie ein Hase davon. Dann entwickelte sich die Angelegenheit sehr rasant. Unser jugendlicher Held hatte schlimmstenfalls damit gerechnet, unter Drohungen vor den Traualtar geschleppt zu werden. Nach der Hochzeit hätten sich normalerweise die wütenden Brüder in treue und hilfsbereite Verwandte verwandelt. Doch die Navarros hielten sich nicht an das Gängige und schickten Don Pedro ernstzunehmende Morddrohungen ins Haus, die ihn und seinen Vater Fernando de la Cruz in Angst und Schrecken versetzten. Don Fernando dachte nicht daran, seinen einzigen Sohn durch diese Burschen zu verlieren und leitete alles Nötige zu seiner Rettung in die Wege. In Begleitung eines finsteren Menschen namens Bruno, der als Leibwächter fungierte, schickte er ihn auf geheimen Pfaden zu einem entfernten Verwandten, der einen schwunghaften Holzhandel betrieb, in die Selva. Dort begann für den jungen Don Pedro eine harte Prüfungszeit. Der finstere Bruno ließ ihn tatsächlich keine Minute aus seinen düsteren Augen. Ununterbrochen paffte er übel riechende Zigarren und blieb nervtötend wortkarg. Als Don Pedro ihn bat, doch wenigstens kurzfristig das Rauchen aus Rücksicht auf ihrer beider Lungen einzustellen, erwiderte der Pistolero nur unwirsch, dass er sich zwar verpflichtet habe, ihn zu bewachen, aber nicht sich von den Moskitos auffressen zu lassen! Selbstverständlich könne der junge Herr zwischen dem Rauch und den Navarro-Brüdern wählen . . . Don Pedro entschied sich augenblicklich und ohne zu zögern für die Zigarren! Standhaft ertrug er den menschlichen Schlot an seiner Seite, das andauernde Kreischen der Sägen, die Dschungelschwüle und den zwar hilfsbereiten, aber unfreundlichen Verwandten. Doch Luisa schlug er sich nicht aus dem Kopf. Er war kein Held, aber stur! Bis jetzt hatte er alles erreicht, was er wollte. Und so war er sich sicher, dass er heiraten würde – Luisa natürlich, und keine andere! In seinen langen Nächten entwarf er allerlei Pläne, um sie doch noch zu gewinnen. Luisa indessen war maßlos verzweifelt! Die Mutter ließ sie keinen Schritt mehr aus dem Haus und hielt sie wie eine Gefangene. Was noch schlimmer war, ihre Gespräche wandten sich öfter und öfter einem in ihren Augen gottgefälligen Leben im Kloster zu. Doch nach zwei Monaten familiärer Haft wandte sich abermals ihr Schicksal. Luisa schlich zu ihrem Vater in die Bibliothek und klagte ihm traurig ihr Leid. Don Ramon erwachte durch die Verzweiflung seiner Tochter aus seiner weinseligen Bibliotheksisolation und schlagartig wurde ihm klar, dass er zu lange zu viel geduldet hatte. Doch jetzt musste er etwas unternehmen – und wenn es das letzte Mal in seinem Dasein war. Diese Macha und ihre unvernünftigen Söhne waren dabei, das Leben seiner einzigen Tochter zu zerstören! Er besänftigte Luisa und schickte sie auf ihr Zimmer. Dann machte er sich auf den Weg in die Höhle des Löwen. Aufrecht und mit zusammengekniffenen Augenbrauen trat er seiner Frau und den Söhnen gegenüber und erklärte ihnen mit kalter Stimme, was er zu tun gedachte: Er würde sich bei Señor Fernando de la Cruz entschuldigen und dessen Sohn Pedro herzlich willkommen heißen – falls dieser überhaupt noch wolle! Seine Tochter Luisa würde auf ihren Wunsch hin heiraten! Als ein Entrüstungssturm losbrechen wollte, gebot er Einhalt und drohte seinen Söhnen und ihrer Mutter, sie auf der Stelle zu enterben, wenn sie es wagen sollten, ihm zu widersprechen! Ines starrte den verwandelten Gatten fassungslos an und begriff, dass er es ernst meinte. So kam es, dass Ramon Navarro persönlich bei Fernando de la Cruz vorsprach, dass Don Pedro aus der Selva zurückgerufen wurde und dass einen Monat später, nach einem ausführlichen Gespräch mit Vater und zukünftigem Schwiegervater, die Hochzeit stattfand. Gute Zeiten waren gefolgt. Luisa erwies sich als die Frau, welche er immer wieder für sich gewählt hätte. Auch sie fand ihr Glück bei ihm. Drei Kinder waren ihnen geboren worden, zwei Knaben und dann ihre Tochter Isabella. Sie blieb ihnen als einzige, denn die beiden Jungen verstarben im zarten Kindesalter während einer Typhusepidemie. Don Pedro hatte sich nie eine casa chica -ein kleines Haus – wie man eine illegale Zweitfamilie nannte – zugelegt, so wie es viele Männer seines Standes taten. Und wie man es auch seinem Freund Don Felipe nachsagte. Nein, er brauchte keine Mätresse, seine aufregend lebendige und feurige Luisa war ihm genug. Wie einen kostbaren Schatz verbarg er seine ungewöhnlich glückliche Ehe sorgfältig vor Freunden und Bekannten, denn man war allzu schnell als impotenter Pantoffelheld verschrien. Es war ihm gelungen, dass man ihn in jüngeren Jahren für einen verschwiegenen Genießer gehalten hatte. Keiner ahnte, dass dieses wissende Lächeln jetzt seiner eigenen Frau galt! Don Pedro befand sich wieder in der Gegenwart. Mühsam erhob er sich von dem Felsen. Don Felipe eilte herbei und langsam gingen sie zu dem Jeep, der sie zum Dorf bringen sollte. In Don Pedro war die Gewissheit, dass sie lebten. Und so kehrte er nach Lima zurück, um auf sie zu warten! Die "Neuen Menschen" lösten sich als Gruppe fast so schnell wieder auf, wie sie entstanden war. Das unüberlegte Massaker hatte ihr Ende bedeutet und die sieben Guerilleros in alle Winde zerstreut. Ihre einzelnen Lebensläufe waren so verschieden wie die Männer selbst. Eduardo Carillo kehrte nach Kuba zurück und betrat nie wieder einen der Andenstaaten. Von da an führte er ein bemerkenswert ruhiges Leben. Ex-Commandante Suarez dagegen betätigte sich als einzelgängerischer Bandit, in dem peruanisch-bolivianischen Grenzgebiet, das auch seine Herkunftsgegend war, und lebte von kleineren, manchmal blutigen Diebereien. Nicht weit von dem Dorf seines eigenen Ayllu zog er sich in einer der besagten Räubereien eine stark blutende, im Übrigen harmlose Fleischwunde zu, die ihn schwächte. Mühsam entkam er seinen aufgebrachten Häschern. Ebenso mühsam und scheinbar vergeblich versuchte er, die Blutung zu stoppen. Doch sie hörte nicht auf, und er begann um sein böses, entartetes Leben zu fürchten. Da beging er den größten Fehler seiner Laufbahn: Er kroch entkräftet in das Dorf seines Ayllu und schleppte sich in eine Scheune am Rande der Ortschaft. Seine Anwesenheit dort blieb nicht lange verborgen. Der Besitzer des Schuppens, ein Cousin zweiten Grades von Suarez, wollte einen Sack voll Kartoffeln dort abstellen. Es war Juni, die Zeit der Kartoffelernte, und der erdverschmierte müde Campesino sehnte sich danach, seinen neugeborenen Sohn in den Armen seiner jungen Frau wiederzusehen. Obwohl er für zwei hatte arbeiten müssen, war er dankbar und zufrieden, dass die Frau und der Sohn die schwierige Geburt doch noch lebendig überstanden hatten. Doch anstatt sich zu seiner Familienidylle begeben zu können, entdeckte er Suarez hinter einigen schon abgestellten Säcken. Ohne den Verwundeten anzusprechen oder sich gar um ihn zu kümmern, wandte er sich um, lief los und informierte jeden nur erreichbaren Mitbewohner über die Anwesenheit des gefährlichen Verwandten. Mit den Tacllas (spatenähnliche Grabstöcke) in den Händen umstellten die Männer des Ortes die Scheune. Sie hatten seinen Tod beschlossen, weil er das wichtigste ungeschriebene Gesetz, das sonst jeder, ob Campesino, Militär, Guerillero oder Normalbürger seiner Gruppe gegenüber einhielt, gebrochen hatte: Suarez, dieser entartete Sohn ihres Ayllu, hatte vor Jahren sein eigenes Dorf überfallen und seine eigenen nahen und fernen Verwandten beraubt, misshandelt, drei sogar getötet! Und das vergaßen sie ihm nie! Sie bereiteten ihm ein grausames, aber schnelles Ende mit ihren Tacllas und vollendeten ihr Werk so gründlich, dass keine Spur mehr von Suarez zu finden war. Er und sein Name wurden nie mehr erwähnt. "Suarez? Nie gehört! Wer soll das gewesen sein, Señor?" Mit ihm waren die "Nuevos hombres" endgültig gestorben. Die ältesten Mitglieder der Gruppe, die Gebrüder Juan und José Gonzales, begaben sich über die peruanisch-bolivianische Grenze, nachdem sie sich von Suarez getrennt hatten, und versuchten in der bolivianischen Unterwelt mitzumischen. Das nahmen ihnen die Einheimischen übel. So beeilten sie sich, das Land zu verlassen und wechselten nach Brasilien über. Dort verdingten sie sich als Pistoleros an einen reichen landhungrigen Hacienda-Besitzer, der Grund und Boden überwiegend analphabetischer Kleinbauern an sich raffte, die nur von der Hand in den Mund lebten. Genau genommen gingen die Brüder Gonzales nun unter umgekehrtem Vorzeichen auf Menschenjagd. Aus den "Rettern der Menschheit" waren endlich jene Räuber geworden, die sie im Grunde immer gewesen waren. Trotz ihres gewalttätigen Lebenswandels sollten sie beide steinalt das Zeitliche segnen und eine Horde illegitimer Nachkommen hinterlassen. Pepe, der jüngste Guerillero der "Nuevos hombres", der als Wache vor das große Gebäude abkommandiert gewesen war, verkraftete das Massaker nicht und wurde gerade zwanzigjährig zu einem ausgeprägten Säufer, der betrunken in seine Becher voller Schnaps und Chicha – ein alkoholhaltiges Maismehlgetränk der Quechua - weinte und Tag und Nacht von Schuldgefühlen erdrückt wurde. Zwei Jahre später erlag er einer schweren Leberzirrhose. Die beiden restlichen Mitglieder von Suarez‘ Truppe waren zwei weitläufig miteinander verwandte junge Männer, gebürtig aus der Provinz Ayacucho. Sie liefen zu einer kleinen, militanten Splittergruppe über, die sich später "Sendero Luminoso" nennen sollte. Der eine, ein einfältiger, etwas langsamer Bursche, wurde bei seinem ersten und letzten Versuch, sich als Bombenleger zu betätigen, in der Nähe der Stadt von Regierungssoldaten verhaftet und in ein kleines Militärgefängnis gebracht. Bei dem ersten "Spezialverhör" schwieg er verstockt. Beim zweiten "Plauderstündchen" gestand er alles, was es überhaupt zu gestehen gab – einschließlich dem Massaker in der abgelegenen Chacra. Die Militärs freuten sich richtiggehend, endlich jemanden in der Mangel zu haben, der tatsächlich etwas wusste und zu verraten hatte. Darum beschlossen sie, diese "informative Unterhaltung" "verschärft" fortzusetzen. Leider gab der schwächliche Gefangene plötzlich seinen Geist auf, nachdem ihm jeder Knochen, der überhaupt gebrochen werden konnte, zerschlagen war. Verpackt in einem handlichen grauen Müllsack wurde er auf der städtischen Müllhalde abgeladen und später von Anwohnern eilig verscharrt. Denn Ärger mit der Polizei war unter allen Umständen zu vermeiden. Sein entfernter Verwandter dagegen, ein Analphabet zwar, erwies ein einmaliges Talent im Umgang mit Explosionsgeschossen. Zeit und Ort wählte er mit unheimlicher Sicherheit, einen Misserfolg gab es bei ihm nicht. In Kürze verwandelte sich der unwissende Dorfjunge in einen der meistgesuchten Terroristen Perus. Aber gefasst wurde er nie!

Der Schrei des Jaguars

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