Читать книгу Was sich bewährt hat - Inge Friedl - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеSeit vielen Jahren führe ich Gespräche mit Menschen am Land und lasse mir von früher erzählen. Ich habe diese Menschen, meine Gesprächspartner, gefragt, was sie von der „alten Zeit“ am meisten vermissen, was früher also tatsächlich besser gewesen ist als heute. Ganz klar wurden zwei Begriffe am häufigsten genannt: Zufriedenheit und Gemeinschaft.
Das ist verblüffend, denn die Arbeit war hart, das Einkommen gering und das Leben war auch damals bestimmt nicht gerechter als heute. Dennoch war die Zufriedenheit groß und, obwohl der Tag randvoll mit Arbeit war, verfügten die Menschen über mehr Zeit als heute. Was hatten die Menschen früher, was wir nicht mehr haben? Woher kamen ihre Gelassenheit, Zufriedenheit und innere Ruhe?
Der Kulturphilosoph Byung-Chul Han hat festgestellt, dass jedes Zeitalter seine eigenen, besonderen Leitkrankheiten hat. Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts wären dies nach seiner Meinung Depression, ADHS und Burnout, resultierend aus einer allgemeinen Überforderung und Erschöpfung. Die Diagnose des Philosophen lautet: Wir sind eine „Müdigkeitsgesellschaft“. Faktum ist, dass alles immer mehr, immer schneller, überall und jederzeit sein muss. Das hat Konsequenzen für die psychische Gesundheit unserer Gesellschaft.
Wir hetzen von einem Termin zum anderen, sind gestresst und versuchen, Zeit zu gewinnen, indem wir sie einsparen. Wir haben so viele Möglichkeiten, dass uns die große Auswahl überfordert. Ob im Supermarkt oder bei der Lebensplanung, das Angebot ist riesig und alles scheint möglich. Und unser Dilemma ist: Je mehr Auswahlmöglichkeiten wir haben, desto unzufriedener und unschlüssiger werden wir.
Wir stehen unter Druck, uns im Leben zu verwirklichen und können schwer zur Ruhe kommen. Wir glauben, immer und überall erreichbar sein zu müssen und schalten unser Handy nicht einmal im Urlaub aus. Wir müssen in jeder Hinsicht flexibel sein und haben dabei einen gesunden Lebensrhythmus völlig aus den Augen verloren.
Nicht erst seit der Wirtschaftskrise 2008 fragen wir uns, worauf man sich überhaupt noch verlassen kann und was Bestand hat. Wir merken, dass es uns in vielen Bereichen gar nicht gut geht und dass auch das Lesen von Ratgeberbüchern oder das Besuchen von (teuren) Lebenshilfe-Seminaren uns nicht wirklich weiterhelfen kann. Was aber so nahe liegt, sehen wir hingegen nicht: noch vor ein, zwei Generationen war das Leben ein völlig anderes.
Da lohnt ein Blick zurück. Früher scheint etwas möglich gewesen zu sein, was wir heute ersehnen: ein Leben in Zufriedenheit und Gemeinschaft, ohne unnötige Hektik, dafür in angemessenem Tempo. Ein Leben, in dem man nicht alles gleichzeitig tun muss, sondern schön eines nach dem anderen, und in dem Multitasking ein Fremdwort ist, dafür Begriffe wie Feierabend, Bescheidenheit und Zufriedenheit existieren.
Das ist für die meisten eine unbekannte Welt. In Zeiten von Burnout, Depression und Stress ist es jedoch sinnvoll, etwas genauer hinzuschauen: Würde uns ein neuer Lebensstil mit altem Wissen helfen, dem Hamsterrad von Überforderung und Zeitdruck zu entkommen?
So wie Byung-Chul Han uns heute als „Müdigkeitsgesellschaft“ bezeichnet, könnte man ganz allgemein die Gesellschaft unserer Vorfahren als „Zufriedenheitsgesellschaft“ charakterisieren. Ganz gewiss waren früher nicht alle zufrieden, genauso wenig wie heute alle müde zu sein scheinen. Dennoch sind viele von uns ausgebrannt und erschöpft, obwohl es kaum je ein solches Freizeitangebot gab. Früher scheinen die Menschen gelassener und zufriedener gewesen zu sein, obwohl sie weniger Freizeit, weniger Selbstverwirklichung und in einigen Dingen gar keine Auswahlmöglichkeit hatten.
Es steht außer Diskussion, dass manche der alten Lebensweisen bestimmt nicht zur Nachahmung geeignet sind. Ich picke mir sozusagen die Rosinen aus dem Kuchen und erinnere an jene Dinge des alten Lebens, die absolut erstrebenswert sind.
Es geht in diesem Buch nicht um Ratschläge, sondern um den Erfahrungsschatz unserer Vorfahren. Es geht um einen Umgang mit Zeit, der uns wohl tut, um den Wert des Innehaltens und die Kraft der Sonntagsruhe, um echtes Miteinander und auch um die Frage, wie viele Dinge man zum Leben wirklich braucht.
Dieses Buch ist eine Entdeckungsreise zu Entschleunigung und ein wenig mehr Gelassenheit. Es hätte nicht geschrieben werden können, wenn ich nicht derart viele Expertengespräche geführt hätte. Bei diesen Experten, meinen Gesprächspartnern, möchte ich mich bedanken, bei den mehr als einhundert Frauen und Männern aus Salzburg, Oberösterreich, Steiermark, Kärnten und dem Burgenland, die ihre Lebenserfahrung und ihre Weisheit mit mir geteilt haben.
Inge Friedl