Читать книгу Saskia - Inge Nedwed - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеAus Westen kommend hat der Sturm leichtes Spiel. Kilometerweit fegt er über freies Feld. Reißt alles mit, was ihm nicht standhalten kann, bis er am Dorfrand auf die ersten Häuser trifft. Erbaut vor über hundert Jahren, sie kennen seine Kraft, leisten erbittert Widerstand. Bedrohlich knarrt es im alten Dachgebälk, Firstziegel klammern mit ganzer Kraft, um den Halt nicht zu verlieren. Die Mühlgasse trifft es besonders schlimm. Durch sie hindurch findet der Sturm einen neuen Weg, bläst ab wie ein Ventil, welches gerade geöffnet wird. Die Bewohner der Mühlgasse haben sich daran gewöhnt. Sturmschäden zahlt die Versicherung. Nur der Unrat bleibt wegzukehren, den der Sturm nach seinem Wüten jedes Mal hinterlässt.
Merle steht im warmen Wohnzimmer am Fenster und sieht den Blättern zu, die durch die Gasse tanzen. Der Sturm haucht ihnen neues Leben ein. Sie steigen auf, wirbeln und fallen nach seinem Takt. Ein Tanz folgt dem anderen. Regen peitscht dazwischen. In der Abenddämmerung bewegen sich die Äste der Kastanie beängstigend auf Merle zu. Eine Kastanie im Vorgarten einer Gasse, das ist schon etwas Besonderes, schmückt sie doch sonst den Straßenrand großer Alleen. Merle lässt die Rollläden herab. Endlich Wochenende. Das miese Wetter kann ihr nichts mehr anhaben. Der Einkauf ist erledigt. Gleich vom Büro aus ist sie heute in den Supermarkt gefahren. Ungewöhnlich leer war ihr Einkaufswagen. Omas Zettel war schnell abgearbeitet, für sich brauchte Merle nicht viel. Uli muss am Wochenende arbeiten und Tobi ist nach der Schule zu Matti gefahren. Ein Wochenende für mich allein, wie lang hat es dies schon nicht mehr gegeben. Merle fällt in den Sessel, schließt die Augen, streckt Arme und Beine von sich.
Riechst du die Schneeluft, fragte sie Uli am Morgen. Ich rieche nur Arbeit, wird spät werden heute Abend, bin bestimmt nicht vor um acht zu Hause, war seine Antwort.
Die Kastanie, ihre Äste sind kahl. Merle versinkt in Gedanken. Da gibt es das Bild mit den Großeltern, als Hochzeitspaar stehen sie vor dem Baum. Und es gibt das Bild mit Mutter. An den dicken Stamm gelehnt hält sie ihre zwei Mädchen im Arm. Die Kastanie gehört zu uns, jedes Familienmitglied kennt diesen Baum, schon seit Urzeiten, sagte Mutter immer. Ihr müsst aufpassen, wenn der Herbst der Kastanie sein buntes Kleid überzieht und die ersten Blätter fallen, dann hat unsere Saskia Geburtstag. Und wenn die Kastanie ihr Blätterkleid dem Wind geschenkt hat, die ersten Schneeflocken vom Himmel tanzen und den Winter anmelden, dann hat unsere Merle Geburtstag.
Wut steigt in Merle auf. Jedes Jahr erinnert sie der Baum daran. Saskias Geburtstag hat sie nie vergessen. Aber ihr gratulieren, das kann sie nicht. Die Telefonnummer ist noch immer in der Anrufliste gespeichert. Ein Knopfdruck würde genügen und sie hätte die Schwester am Telefon. Merle überlegt, zwei Jahre, nein, drei Jahre ist es her.
Alles Gute zum Geburtstag, sagte sie am Telefon. Saskia verstand sie nicht. Im Hintergrund vernahm Merle Stimmen und laute Musik.
Ich bin es, deine Schwester Merle, verstehst du mich? Du feierst Geburtstagsparty?
Das schrille Geräusch einer Tröte schmerzte Merle im Ohr. Sie aktivierte den Lautsprecher und legte den Hörer auf den Tisch. Saskias Stimme übertönte die anderen, sie bat ihre Gäste um Ruhe. Ohne Erfolg, der Hörer vibrierte. Meine Freunde sind hier, die jedes Jahr kommen, hörte Merle sie sagen.
Na dann, viel Spaß, sagte Merle und beendete das Gespräch. Ihre Freunde, die jedes Jahr kommen.
Saskias Worte klangen lange nach. Merles Brustkorb bebte, ihr Herz klopfte, als wollte es sich überschlagen. Ihr Puls raste, pochte in der Halsschlagader und drohte, sie zu sprengen. Ein Zustand aus Wut und Ohnmacht, der Kopf ist leer, unfähig, sich zur Wehr zu setzen. Dieses Gefühl der Enge überkommt Merle oft, wenn sie sich verletzt fühlt. Ihre Freunde! Und die Familie? Für sie gab es keine Einladung. Noch nicht einmal für Matti, ihren eigenen Sohn.
Und Uli war vielleicht sauer.
Wir haben Matti bei uns aufgenommen und deine Schwester feiert Party. Fällt der nichts Besseres ein, was ist das für eine Mutter? Die braucht sich hier nicht mehr blicken zu lassen, kalt wie Hundeschnauze, schimpfte er.
Es ist meine Schwester, erwiderte Merle leise.
Was ist nur aus Saskia geworden, warum ist sie so? Merle erhebt sich schwerfällig aus dem Sessel. Wie oft stellt sie sich diese Frage, Ablenkung, nur das hilft ihr in diesen Momenten. In der Küche sortiert sie den Einkauf. Zucker, Mehl, Milch, Brot und Butter für Oma. Oma versorgt sich selbst, hat ihre eigene Wohnung im Erdgeschoss. Darüber ist Merle froh, so kommt sich die Familie nicht ins Gehege, jeder hat seinen Freiraum. Oma ist trotz ihres hohen Alters pflegeleicht, nur ihre verknöcherten Ansichten sorgen oft für Streit. Merle versucht dann zu schlichten. Lasst Oma in Ruhe, sie ist hier die Chefin im Haus. Einen alten Menschen kann man nicht mehr ändern, festgefahrene Bahnen, erklärt sie Tobi, wenn der wütend die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zuknallt.
Aus der Speisekammer holt Merle Omas Korb. Hässlich ist er. An mehreren Stellen hat sich das Geflecht aufgelöst. Oma hat den alten Korb akribisch mit Bindfaden geflickt, wegwerfen kann sie nichts. Einen neuen will sie nicht. Mein Lebensspender, nennt Oma den Korb scherzhaft. Ohne ihn würde ich verhungern. Merle nimmt den Korb, füllt ihn mit dem Eingekauften und bringt ihn in Omas Küche. Dann öffnet sie vorsichtig Omas Wohnstubentür. Wie gewöhnlich sitzt Oma um diese Zeit vor dem Fernseher. Merle muss ihn leiser stellen, um sie zu verstehen.
Du bist zu Hause, ich habe dich gar nicht gehört. Ein fürchterliches Wetter ist das heute.
Merle drückt Oma zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Oma möchte die Begrüßung erwidern, doch Merle wendet sich ab und täuscht ein Niesen vor.
In Omas Taschen der Kittelschürze ist immer ein sauberes Taschentuch. Das weiß Merle, als Kind suchte sie schon danach. Eigentlich suchte sie damals weniger nach einem Taschentuch, sondern viel mehr nach den interessanten Dingen. Meine heiligen Schatzkammern, so nennt Oma heute noch die vollen Taschen. Alles, was irgendwie noch zu gebrauchen ist, verschwindet darin.
Oma schöpft keinen Verdacht, als Merles Hände in die Taschen gleiten.
Ein sauberes Taschentuch, ihr werdet es nie lernen. Oma schüttelt den Kopf.
Geschickt ertasten Merles Finger den Inhalt, sie muss das kleine Ding hier finden. Sie zieht das Taschentuch heraus und putzt sich die Nase. Der Trick hat funktioniert.
Danke, Oma. Merle triumphiert, sie öffnet ihre Hand und hält Oma das in den Taschen gefundene Hörgerät unter die Augen.
Wie wäre es denn hiermit?
Hilfe, schreit Oma. Dieses Thema kann sie nicht leiden, wenn es aufkommt, ist sie wirklich taub.
Lass mich mit diesen Ersatzteilen in Frieden, reicht schon, wenn ich meine Brille suchen muss.
Ich habe dir deinen Lebensspender in die Küche gestellt, es ist alles drin, was du aufgeschrieben hast. Wir Frauen werden am Wochenende allein sein.
Oma erzählt Merle von der Quizsendung, die gerade im Fernsehen läuft.
Ich habe die richtige Antwort gleich gewusst, Allgemeinbildung, die Jugend weiß doch heute gar nichts mehr.
Ach, Oma, stöhnt Merle. Ich könnte morgen deine Fenster putzen.
Bei dem Wetter? Auf dem Friedhof muss das Grab abgedeckt werden.
Ich habe noch keinen Grabschmuck, Uli wollte sich um Reisig kümmern, nächstes Wochenende, verspricht Merle.
Oma streichelt Merles Hand, ich weiß ja, dass du daran denkst. Ich hätte dich nicht erinnern sollen.
Der Schmerz sitzt auch nach vielen Jahren noch tief. Schweigend sehen sich die Frauen an. Die eine vermisst die Tochter, die andere die Mutter.
Meine kleine Karla war ein liebes Mädchen. Im Krieg ist sie geboren, in der schlechten Zeit. Opa war in Russland. Ich wünsche mir einen Karl, schrieb er von der Front. Aus Karl wurde Karla, er hat seine Tochter nie gesehen. Merle kennt die alten Geschichten, trotzdem hört sie Oma immer wieder gern zu.
Du hast viel von deinem Opa, Familie muss zusammenhalten, sagt Oma, als Merle sich verabschiedet und eine gute Nacht wünscht.
Merle hat es sich auf der Couch bequem gemacht. Familie, Mutters Grab, die ersten Jahre haben sie und Saskia es zusammen gepflegt. Für die Bepflanzung hatte Saskia ausgefallene Ideen.
Stiefmütterchen kommen mir nicht aufs Grab, die hat doch jeder. Unsere Mutter würde sich darüber nicht freuen.
An diesem Ort fühlten sich die Schwestern verbunden. Sie sprachen über ihre Kindheit, verrieten sich ihre Gefühle, teilten Sorgen und Ängste. An diesem Ort gab es keine Tabus, selbst über ihre Männer redeten sie. Mutter hört uns zu, unsere Gespräche werden ihr gefallen, sie wird immer bei uns sein, darin waren sich die beiden sicher.
Hat Saskia das alles vergessen? Dass sie mit Oma nicht klarkam, kann Merle verstehen, aber warum hat sie ihren Sohn im Stich gelassen? Kinder verlassen ihre Eltern, das ist normal, sie müssen sich abnabeln, wenn sie reif dafür sind. Aber Eltern verlassen doch nicht ihre Kinder! In den Nachrichten sucht Merle Ablenkung. Unwetterwarnungen, orkanartige Böen mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 120 Stundenkilometern, Schneefälle in den Kammlagen. Keinen Hund jagt man bei diesem Wetter auf die Straße. Auf der Treppe poltert es. Uli, endlich. Er schimpft, alles pitschnass.
Merle nimmt ihm die Sachen ab. Ich koche dir einen Tee.
Du könntest mir morgen eine Thermoskanne voll mitgegeben. Uli zieht sich die Schuhe aus. Ich werde wahrscheinlich auch nächstes Wochenende arbeiten müssen.
Was, schon wieder?
Das Wetter, wir kommen auf der Baustelle einfach nicht voran.
In der Küche bereitet Merle für Uli das Abendbrot. Uli sitzt am Tisch und überfliegt die Zeitung. Erhöhung der Mehrwertsteuer und des Krankenkassenbeitrags, ich will mich heute nicht mehr aufregen. Er legt die Zeitung zur Seite. Wie kommt Tobi morgen zurück, fragt er.
Darum brauchen wir uns nicht zu kümmern, er will den Bus nehmen.
Uli runzelt die Stirn. Hoffentlich denkt Tobi an die Schule. Ich sehe ihn nie lernen. Die Abiturprüfungen sind nicht mehr weit.
Tobi macht das schon. Lass den Kindern ihren Spaß. Ich freue mich, dass sie sich so gut verstehen.
Und wie läuft es bei Matti?
Erstaunlich gut, jetzt, wo er seine eigene Wohnung hat. Tobi will ihm helfen, ein Hochbett zu bauen. Er hat sich aus deiner Werkstatt Werkzeug mitgenommen.
Hoffentlich bringt er es wieder zurück!
Ich habe heute mit Mattis Ausbilder gesprochen, erzählt Merle. Ihre Augen strahlen. Kein unentschuldigtes Fehlen, immer pünktlich. Sie haben ihn zum Klassensprecher gewählt. Er kann über Matti nichts Negatives berichten.
Na, ich weiß nicht. Koch, Gemüse putzen, im Kochtopf rumrühren, das ist doch nichts für den Jungen, in dem steckt doch mehr.
Fang nicht wieder an, beschwert sich Merle. Der Junge muss Freude an seinem Beruf haben. Du hast doch auch klein angefangen. Und wenn er seine Lehre schafft, ist das schon ein großer Erfolg. Danach kann er sich immer noch entscheiden, vielleicht für die Hotelfachschule. Im Moment träumt er von seiner eigenen Gaststätte, man darf ihm die Träume nicht nehmen.
Merle sucht im Küchenschrank nach der Thermoskanne. Uli gähnt, ich mach mich gleich ins Bett, bin total geschafft.
Aufgestützt auf seine großen Hände, die auf der Tischplatte ruhen, erhebt er sich. Der Tisch knarrt. Merle kann nicht hinsehen, der arme Tisch, wieder einmal hält er der Belastung stand. Merle spürt Ulis Hände auf ihren Wangen.
Bis morgen früh, sagt er. Stellst du mir den Wecker auf 5.00 Uhr?
Nur wenn ich den Weckdienst bezahlt bekomme. Fordernd zeigt Merle mit dem Zeigefinger auf ihre Wange. Uli drückt ihr einen Kuss auf die vorgegebene Stelle. Schlaf gut, sagt Merle und streichelt seine Hände. Sie sind rau, die Haut ist aufgesprungen. Die kalte Jahreszeit verschont auch sie nicht. Merle liebt seine Hände. Sie sind harte Arbeit und festes Zupacken gewöhnt und können trotzdem zärtlich sein. Mit verächtlichem Blick straft sie die Hände mancher Kollegen im Büro. Lange, dünne Finger. Lange Nägel, sorgfältig mit Feile in Form gebracht. Hände mit leichenblasser Haut, durchzogen von hervortretenden dunkelblauen Blutbahnen. Bleistifthalter hat Merle diese Hände getauft. Solche auf ihren Wangen? Merle schüttelt sich. Sie räumt das herumstehende Geschirr in die Spülmaschine und verlässt die Küche.
Im Wohnzimmer liegt Merle wieder auf der Couch. Die Fernbedienung gehört heute ihr. Sie drückt die Kanäle durch. Da habe ich freie Auswahl, brauche mir nicht Ulis Fußball anzusehen, und dann kommt nur Nonsens. Auf Omas Quizsendungen hat sie auch keine Lust. Als sie in der Fernsehzeitung blättert, klingelt das Telefon. Um diese Zeit, das können nur die Kinder sein. Merle nimmt den Hörer ab. Eine unbekannte Frauenstimme meldet sich.
Guten Abend, entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Meyer, ich bin die Nachbarin Ihrer Schwester.
Merle ist erschrocken, hat sie richtig verstanden, Saskias Nachbarin?
Die Frau ist aufgeregt. Ihr Redeschwall lässt Merles zögerndes Fragen ersticken. Merle versteht nur Rettungsdienst, Katholisches Krankenhaus. Hund und Wohnungsschlüssel sind bei ihr.
Katholisches Krankenhaus? Gegen dieses Krankenhaus ist Merle allergisch. Mutter haben sie dort verloren, krampfhaft hält sie den Hörer in der Hand. Danke, sagt sie. Die Frau am anderen Ende hat lange aufgelegt. Merle geht zurück ins Wohnzimmer. Ihre Hände zittern. Was soll das, ist bestimmt nur wieder so ein Trick von Saskia. Mit wem kann ich sprechen? Uli munter machen, Matti anrufen? Oma? Alles sinnlos! Merle versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Und warum soll sie sich um alles kümmern, hat Saskia ihr nicht schon genug aufgeladen?
Bleib ruhig, denkt Merle. Morgen Vormittag kann ich ins Krankenhaus fahren, sehen, was los ist, und dann entscheiden.
Merle liegt im Bett. Sie kann nicht einschlafen. Der Sturm wütet unverändert. Er misst seine Kraft an der Giebelwand, hinter der das Schlafzimmer liegt. Die Wand bebt, hält aus und hält aus. Ein dumpfes Krachen. Merle lauscht, weiter weg, nicht vor unserem Haus. Ein kaputtes Dach, das fehlte jetzt noch! Das Licht der Straßenlaterne scheint ins Schlafzimmer. Uli hat die Rollläden nicht geschlossen. Merle hat keine Lust, noch einmal aufzustehen. Der Lichtschein streift Ulis Gesicht. Er schläft fest. Sein Atem ist gleichmäßig, ab und zu ein kleiner Schnaufer. Zum Glück schnarcht er nicht. Soll sie ihm morgen früh von dem Anruf erzählen? Er wird sich aufregen, das macht er immer, wenn es um Saskia geht. Vielleicht ist mit Saskia wirklich etwas Ernstes, erst jetzt werden ihr die aufgeregten Worte der Nachbarin bewusst. Warum kümmert sich Saskias Jan nicht?