Читать книгу "Halt's Maul, jetzt kommt der Segen…" - Inger Hermann - Страница 7
ОглавлениеVorüberlegungen
»Vater unser, der du bist im Himmel … «
»Wo ist der Himmel?«
»Der Himmel? Überall. Gott ist überall.«
»Ist er dann auch im Drei-Farben-Haus?«
»Drei-Farben-Haus? Was ist denn das?«
»Naja, wo die Nutten … Sie wissen schon. Wo die Männer immer reingehen. Ich will nur wissen, ist Gott auch da drin?«
Und ich antworte: »Ja.«
Ich kann von Gott nur sprechen, kann nur Religionsunterricht halten, wenn ich ihm zumute, überall zu sein. Der Gott, der in Klöstern und Kirchen beheimatet ist, an den ich mich in Gebet und Meditation wende, den ich unter dem Sternenhimmel erfahren kann, diesem Gott sind meine Schüler nie begegnet.
Verschiedene Wege mag es geben, religiöse Erfahrungen zu vermitteln. Mit diesen Kindern – Großstadtkindern, entwurzelt, geschunden, gedemütigt – bleibt für mich nur der eine: mit ihnen in die Tiefe auch ihrer dunkelsten Alltagserfahrungen hineinzugehen und zu vertrauen: »Der Name dieser unauslotbaren Tiefe ist Gott« (Tillich).
Wenn eine Frage und damit oft ein Abgrund sich auftut, bereit sein, mich abzuseilen in ihre Dunkelheit, das heißt für mich Religionsunterricht.
Manchmal scheint mir, dass diese Schüler mehr noch als behütete Gleichaltrige, nur an wirklich existentiellen Fragen interessiert sind: Wo ist Gott, wenn ich geschlagen werde? Oder: Wenn mein Vater säuft, mag ihn Gott dann immer noch? – Warum reden wir von Gott, wenn es ihn doch gar nicht gibt, gar nicht geben kann, in so einer beschissenen Welt?
Wie kann Christus Herr der Religionslosen werden? Was bedeutet »religionsloses Christentum«? Diese Frage Bonhoeffers wird zur zentralen Frage. Dass die meisten heutigen Stadtkinder »Religionslose« in der ganzen Tragweite dieses Wortes sind, dass sie in einer religionslosen Gesellschaft leben und in eine religionslose Zukunft hineinwachsen, dessen sind wir uns eher zu wenig bewusst. Zugleich gilt für jedes dieser Kinder, ob sie nun getauft sind oder nicht: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein«. Und – so erstaunlich es klingen mag – dieses unbewusste Wissen um ihre Gotteskindschaft ist nicht verschüttet; verschüttet vielleicht, und unbewusst bestimmt, aber doch ein Funken, der sich entfachen lässt.
Viele Kinder und Jugendliche erleben sich als unerwünscht und überflüssig auf dieser Welt: den Eltern, den Wohnungsnachbarn, der Gesellschaft eher lästig. Diese Wunde ihres Unerwünschtseins lässt sie in ihrem Menschsein verkümmern. Sie fühlen sich ungeborgen auf der Dunkelseite einer Wegschau-Gesellschaft, die sich ihre Nöte, ihre Fragen und Herzschmerzen nicht zumuten will.
»Dein Ort ist, wo Augen dich ansehen.
Wo sich die Augen treffen, entstehst du …
Du fielest, aber du fällst nicht.
Augen fangen dich auf.« (Hilde Domin)
Damit fängt für mich Religionsunterricht an: Mit den Augen fang ich dich auf. Ich nehme dich wahr. Deine Wahrheit ist unser Ausgangspunkt, nicht meine.
Dass mit diesem problem- und beziehungsorientierten Religionsunterricht der Übergang zur Seelsorge fließend geworden ist, nehme ich nicht nur in Kauf, sondern sehe gerade darin eine Chance.
Es bedeutet, dass Glaubensinformationen – ob es sich um biblische Texte, Gebete und Psalmen oder kirchliche Traditionen handelt – nicht um ihrer selbst willen unterrichtet werden, sondern nur soweit sie durchlässig werden für heilende Erfahrung. Kinder dort abzuholen, wo sie sich nicht befinden, außerhalb ihrer Ängste und Probleme, ist Zeitverschwendung. Solange ich die oft grausige Wirklichkeit ihres Alltags vor der Schultüre lasse, bedroht sie uns wie ein wütender Köter. Erst wenn ich sie mit ins Klassenzimmer hereinnehme, lässt sie sich zähmen.
Zwei Voraussetzungen gibt es für heilsamen Religionsunterricht: Die Wahrheit des Kindes und die Wahrhaftigkeit des Lehrers. Der oft erschreckenden Realität des Alltags halte ich nur stand, wenn ich ihr mit meiner Realität, das heißt, mit meinem ganzen Menschsein begegne. Authentizität als Notwendigkeit. Jede religiöse Floskel fällt ab. Nur was ich selber glauben kann, was als Erfahrung in mir lebt, ist wichtig.
Dazu gehört auch, dass ich oft keine Antwort habe, sondern ihnen vermittle: nicht im Antworten bin ich euch voraus, aber im Suchen. Wenn es dann gelingt, dass wir uns gemeinsam auf die Suche machen, weil unsere Angst, Fragen zu stellen, allmählich abfällt, dann wird Religionsunterricht wesentlich und macht oft sogar Spaß.
Inzwischen vergeude ich auch keine Zeit mehr damit, die Kinder sprachlich umzuerziehen. Ihre Sprache ist nicht prüde. Meine sprachliche Schock- und Schmerzgrenze wurde anfangs ständig überschritten, bis ich erkannte, dass hinter den unflätigsten Formulierungen entweder besonders schlimme Leiderfahrung oder tiefe existentielle Fragen stecken. Danach konnte ich darauf verzichten, auf gepflegter Ausdrucksweise zu bestehen und mit dieser Überforderung manch gequälte Frage zum Verstummen zu bringen. So interessiert mich jetzt nur noch der Aufschrei, die Not, die sich darin ausdrücken will.
Das heißt nicht, dass es keine verbindlichen Formen gibt. Ich verstehe sie auch als »Geborgenheitsrituale«. Zum festen Rahmen gehört das gemeinsame Sprechen von Gebet oder Psalm am Anfang und der Segen am Schluss der Stunde.
Kinder, deren Familienleben von pädagogischer Beliebigkeit und einem durchsäkularisierten Alltag geprägt ist, spüren, dass es zum Beispiel im Segen nicht nur um bestimmte Worte, sondern wirklich um die Nähe Gottes geht. In den ängstigenden Abgrund von Orientierungslosigkeit und fehlendem Urvertrauen scheint für Sekunden ein heilender Strahl.
Während alle Schüler, die Kleinen und die Großen, meist schnell spüren, dass sich bei Segen und Gebet Faxen und Störungen von selbst verbieten, bleibt dazwischen genug Raum für Grobheiten und Rempeleien, bis hin zu verbaler und körperlicher Gewalt. Diese manchmal gemeine Rohheit gegeneinander macht mich ratloser als alle kleineren oder größeren Schweinigeleien.
Fragte ich mich anfangs, warum diese oft selbst so verletzten Kinder und Jugendlichen kaum Hemmungen haben, andere zu verletzen, so weiß ich inzwischen nur zu gut, dass sie prügeln, eben weil sie Geprügelte sind. Schlagende Kinder sind geschlagene Kinder. Im eigenen Leiden ist ihnen die Fähigkeit zum Mitleid verloren gegangen. Ein Kind, das in seinem Fühlen jahrelang ignoriert oder beschämt wurde, kann nicht mehr mitfühlen.
»In jeder Faust steckt ein wimmerndes Herz«. Dieser Satz kann zum Schlüssel werden. Kann Religionsunterricht die Gewaltbereitschaft der Kinder verändern? Das ist eine immer wiederkehrende Frage. Ich bin überzeugt, dass wir das Problem der Fäuste nur lösen können, wenn wir uns den wimmernden Herzen zuwenden. Denn der Satz gilt auch in seiner Umkehrung: Jedes wimmernde Herz kann zur Faust werden, wenn wir es nicht hören.
Wenden wir uns also den wimmernden Herzen zu – das scheint mir der wichtigste Auftrag heutigen Religionsunterrichts. Hier gibt es den Raum, über schmerzliche Erfahrungen, Ängste und Hoffnungslosigkeit zu sprechen.
Kann man mit diesen Beziehungsinvaliden, vollverkabelt und spracharm, wie sie sind, überhaupt ins Gespräch kommen? Ja: Über die Wahrnehmung ihrer seelischen Verstümmelung. Und hier schließt sich der Kreis. Wenn es mir gelingt, auch und gerade das gewalttätige Kind achtsam und – wenn ich die Kraft aufbringe – liebevoll wahrzunehmen, kann Erstaunliches entstehen.
Ich kann eine Prügelei unterbrechen und versuchen, die Schuldfrage zu klären, von der Tugend der Gewaltlosigkeit und Fairness sprechen – wenn ich mir von der Rolle des moralischen Dompteurs Erfolg verspreche. Ich kann aber auch den Oberprügler herausziehen und in den Arm nehmen, seine Schultern, den Nacken oder die Boxhand streicheln. Oft weicht die Aggressivität sofort und spürbar aus dem Raum. Bei größeren Schülern ist das so äußerlich nicht möglich, aber auch bei ihnen kann ich durch ein sanftes Berühren, durch eine Frage herausfinden: Was macht dich so kaputt, was tut so weh, dass du jemand anderen verletzen musst? »Es sind die Schwachen, die grausam sind; Güte kann man nur von den Starken erwarten« (Leo Rosten).
Wenn festgestellt wird, dass den christlichen Kirchen der Wind ins Gesicht blase, und dies auf eine zunehmende Entkoppelung von kirchlichem Christentum und gesellschaftlichen Werten zurückzuführen sei (Wolfgang Huber), dann wirkt sich das bis in den Religionsunterricht aus. Die Rahmenbedingungen – etwa durch die Stellung des Faches im Stundenplan, die Zusammenlegung von Gruppen u. a. – sind die eine Seite der Sache. Schwerer noch wiegt die Entwertung durch die Eltern. Wenn eine Schülerin traurig erzählt, der Papa habe gesagt Reli zählt nicht und ihr für die Eins keine Mark geschenkt hat, die gäbe es nur für wichtige Fächer wie Mathe, dann wird mir auch als Lehrerin klar, dass ich mit diesem Fach auf einer anderen Werteskala angesiedelt bin.
Ich kann die zunehmende Säkularisierung betrauern oder meine Antennen ausfahren, um gerade in dieser materialistischen und konsumorientierten Zeit die ebenfalls zunehmende Sehnsucht nach religiöser Erfahrung aufzuspüren. Damit komme ich um den »Zeugnischarakter« des Religionsunterrichts nicht herum. Diese unbehausten jungen Menschen erleben sich in einer Zeit des Niedergangs, und die angstvolle Vorwegnahme einer bedrohlichen Zukunft nimmt ihnen oft den Atem zum Leben und Lernen.
Und was setze ich dagegen? Eine Glaubensgewissheit? Einen Wertekanon, der doch auch brüchig genug ist?
In allen Klassen lernen wir den 23. Psalm: »… und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich.« Keine Zusage, dass das finstere Tal erhellt oder man ihm enthoben werde: »Du bist bei mir.« Das ist alles, was ich ihnen – stellvertretend sozusagen – anbiete, jede Stunde neu: Ich bin bereit, mit dir in deine dunklen Erfahrungen zu gehen, ich halte die Hilflosigkeit aus, auch wenn ich nicht helfen kann. Ich wende den Blick nicht vom Entsetzlichen ab, auch wenn es mich entsetzt. Neben dein fehlendes Urvertrauen setze ich mein Vertrauen in deine Einmaligkeit und Kostbarkeit. Neben die Realität deiner Verzweiflung halte ich die Realität von Gottes Liebe. Ich weiß, das erklärt gar nichts, das nützt dir gar nichts – aber spürst du, dass sich etwas verändert, in dir, in mir, in uns? Ich weiß auch keinen Namen dafür. Wir wollen es namenlos lassen. Das unergründbare Geheimnis, das nicht hilft und doch verändert. »Kommunikation von Hoffnung« (W. Huber) – könnte die so aussehen?
Theologen mögen verzeihen, dass ich mich häufig auf theologisch ungesichertem Terrain befinde. Selten ist die Möglichkeit nachzuschlagen oder nachzufragen. Die Theologie aus dem Herzen mag manchmal anfechtbar sein, aber sie ist wirksamer und wärmender als manch abgesicherte Lehrmeinung.
Wenn ich einmal glaubte, der Weg ginge über Wissensvermittlung zur Erziehung und nur ausnahmsweise zur Beziehung mit den Schülern, so sehe ich den Weg des heutigen Religionsunterrichtes eher umgekehrt: Von der Beziehung allmählich zur Erziehung und dann durchaus auch zur Wissensvermittlung. Heilsgeschichte ohne Heilung geht völlig an den Bedürfnissen der Kinder und damit auch der Schule und der Gesellschaft vorbei.
In diesem Religionsunterricht geht es um die Beheimatung des Heiligen im Groben, in der Weihnachtszeit würde ich formulieren: Es geht um die Geburt Gottes im Stall.
Höchstes Gebot
Hab Achtung vor dem Menschenbild,
Und denke, dass, wie auch verborgen,
Darin für irgend einen Morgen
Der Keim zu allem Höchsten schwillt.
Hab Achtung vor dem Menschenbild,
Und denke, dass, wie tief er sinke,
Ein Hauch des Lebens, der ihn wecke,
Vielleicht aus deiner Seele quillt!
(F. Hebbel)