Читать книгу Die Tote am Steinkamp - Ingo M Schaefer - Страница 6
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ОглавлениеAuf der Straße Hinterm Halm radelte ich am einzigen Hochmoor Norddeutschlands vorbei zur Straße Am Ruschdahl. Rechts auf der kleinen Wiese malmten die schwarzen Mufflonschafe im durchsichtigen Frühnebel, der aus dem Feuchtgebiet aufstieg. Eine Elster flog aus der Richtung, in die ich wollte, recht niedrig auf mich zu. Ich stellte das Treten ein und rollte in der Hoffnung aus, der Vogel gewänne bald an Flughöhe. Erst das silberne Blinken im Maul des Ahnherrn der Diebe ließ mich auf die Bremse treten. Der fliegende Vater des Kontrastes vermied das typische Schäkern, wenn er aufgeregt war, fast sang er zu mir. Weil mir gerade Greifbares fehlte - der Lenker flog schlecht mit anhängenden Rädern und Gestell - stoppte ich und schrie, wedelte mit den Armen. Das Rad fiel zu Boden, während der asiatische Glücksbote in die Höhe schoss. Dabei fiel ihm etwas aus dem Schnabel. Der Tag begann glücklich, weil eine silberne dicke Fingerzierde auf den Asphalt prallte, mehrmals hüpfte und direkt vor meine Schuhe rollte. Mit dem Taschentuch nahm ich das Kleinod auf und betrachtete das Silber, das pica pica, die deutsche Unglücksbotin, mir vor die Füße gespuckt hatte.
Auch wenn ich eine böse Ahnung bekam, wollte ich starr an meinem Versprechen festhalten, das zwei Tage alt war. Mein gegebenes Wort enthielt unter anderem Überstundenabbau.
Ich sah im Baumwolltuch den Einen Ring, obwohl ich mich bisher nie zu den Herren zählte. In Silber lag er da. Im Kino verführte er in Gold. Die Realität ist trister. Klar, dass ich kein Feuer brauchte, um die eingravierten unlesbaren Kritzeleien zu sehen. Allein die dunkelroten Tupfer offenbarten, dass der besitzende Finger den Verschwindeschmuck unter Zwang abgeben musste.
Taschentuch und Ring stopfte ich in die Hosentasche und setzte mich auf meinen Alu-Carbon-Mustang.
Ich überquerte die Straße Am Ruschdahl, um schräg links in den kleinen Schleichweg zur Schule am Steinkamp zu radeln.
Die beste Schule der Welt, zumindest die künstlerischste, konnte man über Straßen erreichen oder nutzte eben heimliche blätterüberdachte Schleichwege, die nur die Schüler benutzten, um noch vor dem Lehrer in die Klasse zu schlüpfen. Sie waren so alt wie die Schule selbst und der erdige Trampelpfad gabelte sich vor mir. Nach rechts kam man zum Abstellplatz der Pennälerräder, vorbei an der Zimmerei; blieb man links, erreichte man den lehrerfreien Bereich. Ein paar Steinplatten lümmelten auf dem Boden. Aus dem Baumschatten herausgetreten breitete sich vor den Schülern eine riesige freie Fläche aus. Mit zunehmendem Alter wandelte sich riesig in überschaubar. Gute hundertfünfzig Meter von mir entfernt lag der Asphaltplatz mit zwei Fußball-Stahltoren. Dahinter befand sich der Basketballplatz und bildete zugleich die mir gegenüberliegende Schulgrenze. Zwei Asphaltplätze für Fußball und Basketball sorgten für Spiel und Gesundheit, eine große Wiese mit Büschen, Sichtschutzecken und einem Tümpel mit Schilf sorgten für Spaß. Die seitlichen Grenzen dieser lehrerfreien Zone waren rechts die Fensterfassaden der Klassenräume und links ein Schotterweg, der die Linie zwischen Schulgelände und Gärten zog.
So war das früher, als ich hier zur Schule ging.
Vor drei Tagen rasierte ein Bagger einem Teil der Wiese den Humus ab. Dunkle Planen lagen über scharfkantigen meterbreiten Gruben. Auf dem asphaltierten Fußballplatz lag Abraumerde, und auf dem Basketballplatz stand der Erdschieber.
Als Yannick und ich hier zur Schule gingen, hieß sie bereits Schulverbund Lesum. In jeder Pause, ob große mit zwanzig Minuten oder kurze mit fünf Minuten, lief unsere Klasse zum Fußballplatz. Tennisball in die Mitte und los ging es. Nur Koordinationskrüppel spielten mit einem großen Ball, den traf nämlich jeder. Unsere Mädchen schauten zu und lachten den aus, der nicht traf. Das war genug Antrieb für jeden. Heute würden Psychologen Mobbing schreien. Ich nannte es sich durchbeißen. Natürlich spielten die Frauen in Ausbildung öfters auch mit. Dann liefen wir im Sommer mit blauen Schienbeinen herum. Niemand wollte ein Weichei sein und trug Schoner.
Mir war egal, was andere sagten, die Schule am Steinkamp war die schönste der Welt und die künstlerischste auf jeden Fall.
Nun sollten gesundmachende Spielplätze für die Schüler einem großen dick machenden Parkplatz für Lehrer und Besucher weichen. Der Teich sollte trockengelegt und die Zufahrt über die jetzige Grabungsfläche erfolgen.
Statt einfach nachts mit zwanzig Lastern - so hätte ich es gemacht – Asphalt auf die Fläche zu kippen, zu walzen und am nächsten Morgen alles abzusperren, mussten zuvor Proben entnommen und Gutachten erstellt werden, die mehr kosteten als der gesamte Parkplatz mit den anvisierten darauf stehenden Autos. Da verging viel Zeit, sodass jemand davon erfuhr, den die Planungsnerds auf jeden Fall gar nicht dabei haben wollten oder einfach vergaßen: Die Landesarchäologin, Margas Freundin, Dr. Dorothee Scherbe, ebenfalls Professorin und auch Dr. Hatschi Causa einer noch nie gehörten Universität irgendwo in der Gobi oder einer anderen bekannten Wüste. Ein Wind flüsterte ihr das Parkplatz-Vorhaben ins Denkmalschutzohr und sie haute auf den Tisch des Senators. Das konnte sie gut, vor allem weil sie bei uns oft übte. Ich suchte regelmäßig Dellen im Tisch. Aber guter alter deutscher Lack auf guter deutscher Eiche hält Fäusten ziemlich lange stand. Zudem war sie nicht jeden Tag da.
Der Senator bekam vielleicht feuchte Augen, weil er fürchtete, beim nächsten Schulbesuch den alten Parkplatz benutzen zu müssen. So stellte ich mir das Gespräch jedenfalls vor. Pech für ihn. Das Gesetz gab unserer ersten Buddlerin im Land recht, weil die Planungsdepperten unbedingt unter dem Asphalt Kies aufschütten und Zement gießen wollten, damit die Lehrerpanzer bloß nicht im Boden versanken. Waren früher der R4 mit seiner Ritschratsch-Schaltung, die Ente oder der Käfer in himmelblau mit weißen Wölkchen die Lehrerautos, so musste heute der protektionierte betrügende Diesel-Vorstadtwagen mit Chromaufprallstange unbedingt im sichtbaren Lehrer Carport stehen. Passte früher ein Käfer auf einen Parkplatz, so brauchte das LUV, auch Lehrer-Urbanes-Vehikel genannt, eineinhalb Stellflächen. Dafür musste alles sportliche und Spaß machende für die Schüler weichen. Zudem entledigte sich die Schule eines lehrerfreien Bereiches, was für schelmische Denker wahrscheinlich der eigentliche Grund war.
2
Ob die Verwaltung zufällig auf mich zu kam, um mit mir über tausende angehäufte Überstunden zu sprechen oder ob da hinter meinem Rücken Absprachen stattfanden, bekam ich nie heraus. Jedes Jahr das gleiche. Meine Abteilung hätte die höchste Überstundenanzahl. Ja, K007 führte bundesweit und regelmäßig die Aufklärungsstatistik an - gemessen an den eingesetzten Stunden. Schlussendlich sei doch gerade nicht viel los und man könne ja etwas abbauen. Man hätte auch Verantwortung gegenüber Leitungspersonal. Alle Sätze endeten mit ,Sie verstehen, Herr Hauptkommissar‘. Meine Standardantworten - wie Ohne Fleiß kein Preis - zauberten verständnislose Augen auf die jungen Sesseldauercamper. Sowieso stieß ich auf Unglauben, wenn ich sagte, das ich gern tat, was ich tat. Meine Mitarbeiter blieben handverlesen, da sie so tickten wie ich.
Wir hatten zwei aufgeklärte Fälle, die nur für die Staatsanwaltschaft aufbereitet werden mussten. Eine polizeirätliche Bitte abschlagen? Mein bester Verhörer und Anpacker Markus Stenhagen sollte mit Rita Hornung den Abschluss machen. Frederike Talmann, meine zweite Gedankenleserin, und Chico Laurentis, die Klette und bester Verfolger, der inzwischen Seminare beim BKA gab, machten mit mir frei. Mindestens eine Woche. Danach sollten Markus und Rita dem Dienst fernbleiben.
Meine Bitte nach einer fünften zusätzlichen Kraft wurde im Gegenzug wie üblich abgeschmettert. Meine Leute wollten nur eine. Sie war im Einbruchdezernat. Kommissarin Birte Bechte hatte mal wie alle anderen für uns ausgeholfen und war sogar mir aufgefallen. Wir fünf prüften sie auf Herz und Hirn. Jedes Mal musste ich mit ihr für uns beide ärgerliche Gespräche führen. K007 sollte sehr gerne erfolgreich sein, aber bekam nicht mehr Leute. Das war meine Situation vor drei Tagen.
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Weil es um einen Parkplatz für Lehrer ging, führte die Schulbehörde das Bauvorhaben. Am Montag sollte das Amt der Landesarchäologie die Grabung am Steinkamp durchführen. Dr. Scherbe holte dafür extra einige Archäologie-Studenten nach Bremen. Leider brach am Freitag ein Kanalrohr in der Böttcherstraße. In diesem zentralen Stadtgebiet nahe der Weser lagen noch zahlreiche Bodenschätze aus den Anfängen der Stadt und Dr. Scherbe musste mit ihren eigenen Leuten archäologische Feuerwehr spielen, bevor Bagger und Zementmischer alles neu bauten. Die Studenten schienen arbeitslos. Die erste Erdchirurgin des Landes bat Marga die Leitung der Grabung am Steinkamp zu übernehmen. Bereits am Montag Vormittag hatte ich das Überstundenabbaugespräch. Ein Narr, wer an Zufall glaubte. So kam es, dass ich vorgestern hier vor meiner Frau antrat und nicht in meinem Büro. Seitdem half ich meiner Marga auf ihrer Grabung mitten in Lesum.
Ich war nicht das erste Mal auf einer Ausgrabung. Weil die Ehefrau eine weltberühmte forensische Anthropologin war und mich in jedes Museum schleppte, jeden Nachrichtendienst mit drei Buchstaben wie einen Schneckenpostdienst aussehen ließ, sah mein beabsichtigtes Feilschen um ein Grabungshelfergehalt folgendermaßen aus:
„Äh, Schatz!“, begann ich forsch.
„Du bekommst bereits eine üppige Beamtenvergütung. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft tut dir gut. Betrachte es als Urlaub.“
Damit waren die Verhandlungen über meinen angestrebten astronomischen Lohn, inklusive unsterblicher Ruhm und dagobertsche Goldschätze, beendet.
Am Morgen nach der Beurlaubung stand ich mit Schaufel und Spaten vor einem Stück grasfreier Erde. Meine andere Hälfte befahl: „Schabe ein Loch!“
Das tat ich die nächsten zwei Tage. Ich kam als erster, wollte Marga unterstützen, indem ich Planen wegzog, die Schaufeln und Kellen aus dem Bauwagen holte und sie vor die Gruben legte. Der Grabungslakai.
Ich stellte das Rad ab. Mein neuer Doppelständer hielt den Drahtesel in der Senkrechten.
Ich wollte zu einem links stehenden alten Bauwagen und sah mich um, während der Ring in meiner Hosentasche schwerer wurde. Etwas stimmte hier nicht. Die Schutzplane meiner Grube spannte ungewöhnlich straff, während die anderen Grubenbedeckungen locker lagen. Ich ging zu meiner Grube und kam mir wie der starre Frodo vor dem Schicksalsberg vor. Nur hob mich kein Sam hoch. Ich sah eine ältere blondierte Frau, die in meiner Grube lag. Sie trug einen Sommermantel, der halb ein dunkelblaues Abendkleid bedeckte. Sie war tot. Die Augen, die aus der Grube schauten, blickten irgendwohin nur nicht ins Leben. Drei Finger waren blutig gepickt. Die schwarzweiße Algaster hatte bereits anderen Blinkkram der Frau stibitzt. Hatte die fliegende Leichenfledderin auf mich gewartet, um mir den Einen Ring zu geben oder mich auf die Leiche vorzubereiten? Die Elster war nicht das erste Tier, das mich hier in Lesum zu einer Leiche führte.
Jeder anständige Bürger rief jetzt die Polizei. Ich war die Polizei. Karl Nagel, Leiter der K007. Mordkommission in Bremen. Warum ich nicht sofort die Kollegen rief? Mein Kopf war mir wichtiger, sonst wurde er abgerissen.
Meiner Frau Marga musste ich erklären, dass sie mit den studentischen Aushilfen nicht kommen durfte.
„Äh, Schatz“, sagte ich.
„Karl, warum rufst du mich an? Du bist vor fünf Minuten losgefahren. Du hast frei und sollst Überstunden abbauen.“
„Das will ich ja auch“, versicherte ich ihr. „In meiner Grube liegt eine tote Frau.“
„Mein Gott. Nee, ne. Das kann doch wohl nicht angehen. Besorge wenigstens Essen. Unseren vier Gästen genügt bestimmt Pizza.“ Sie legte auf.
Vergaß ich zu erwähnen, dass die Studenten bei uns wohnten?
Ich ahnte, meine Ausgräberlaufbahn endete schneller als geplant. Daher blieb ich stehen, um keine Spuren zu vernichten. Ich wählte die zweite Nummer.
„Ich bin es“, sagte ich Markus Stenhagen und gab ihm die Adresse durch. Er fragte nicht nach und legte auf.
Dritte Nummer. Spurensicherung.
„Karl, du hast Urlaub, oder wie das heißt“, sagte Yannick Helmke sofort, ohne dass ich mich melden musste. Mein Jugendfreund und das Wunderkind der Spurensicherung, die ich vor anderen auf „Spurg“ stutzte. „Laut meinen Informationen gräbst du gerade eine bronzezeitliche Abfallgrube an unserer alten Schule aus.“ Er ließ mich nicht mal grüßen. Gleich sagte er wohl Sachen wie ,Na, schaufelst du jetzt schon die Gruben für deine Leichen‘ und solche Dinge. Ich sagte dem Leiter der Spurg, wo die Leiche lag.
„Ich dachte, wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Warum musst du nur alles ins Gegenteil verkehren. Bald heißt es, du schaufelst Gruben für -“
„Verstanden!“, unterbrach ich ihn.
„Halte die Füße still und mach‘ Fotos und Filme!“
„Jawoll!“, sagte ich ohne die Hacken zusammenzuschlagen.
Vor wenigen Wochen bewilligte die Verwaltung uns diese neuartigen Wischminicomputer für die Hosentasche. Ich machte Fotos und filmte.
In den letzten zwei Tagen hackte, schaufelte und kratzte ich fest gepressten Sand. In der Zeit entwickelte man eine Beziehung zur Grube, und jeder sprach sehr viel mit den Grubennachbarn. Ich nutzte die Gelegenheit und wollte den Studenten nahebringen, dass die heutigen Problem-Fernsehpolizisten kein Maßstab für uns echten waren. Jedenfalls wollte ich Ermittler und Schutzpolizei in ein besseres Licht rücken und den jungen Leuten beibringen, dass eine vordergründige bequeme Wahrheit meist eine andere unbequemere Wahrheit verdeckte. Letztere war: Sie hörten mir überhaupt nicht zu.
Yannick und seine dreiköpfige Begleitung parkten den Geländewagen aus den Bremer Mercedes-Werken auf dem Kiesweg. Weil die Kollegen vom Lesumer Revier noch unterwegs waren, rammten sie selbst Pfähle in die Erde, kleideten sich in weiße Overalls und spannten ein rot-weißes, schräg gestreiftes Absperrband vom Kiesweg über die Bäume zu den Büschen. Danach fotografierten sie mit ihren Hightech-Kameras jeden Grashalm, bis mein Schulfreund vergangener Tage mir erlaubte wegzutreten.
„Bleib auf unserem Platz stehen“, befahl mir Yannick und zeigte auf den asphaltierten Fußballplatz. Ich kam mir vor als spielte ich „Rasen ist Lava“ und lief auf Zehenspitzen zum ehemaligen Bewährungsplatz.
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Stenhagen und Hornung kamen von der Treppe neben der Turnhalle, wie ich Markus zuvor empfahl, um Spuren zu schützen. Sie fuhren mit den VWs der Bremer Polizei vor. Wir hatten keinen genialen Leasingvertrag wie das LKA mit den angeschlossenen Laboren. Als beide bei mir ankamen, sah ich den nächsten Mercedes oben an der Treppe rasten. Die Gerichtsmedizin.
Stenhagen und Hornung kamen zu mir. Es gab nichts zu sagen. Rita reichte mir Handschuhe und Schuhüberzieher, nicht um die Treter zu schützen sondern den Tatort vor meinen Sohlen. Ich hielt den Beutel hoch und rief Yannick zu:
„Hey, Meister Gandalf von der hohen Spurg. Das hättest du mir auch geben können.“
Wie üblich zogen sich seine Mundwinkel nach unten. So war das immer mit uns. Er verscheuchte mich. Ich scheuchte ihn. Er würde stundenlang um Marker herumscharwenzeln. Er würde betonen, dass es sich um Fachgespräche handelte. Ich hielt ihm entgegen, ohne meine Leichen würden sie sich nie sehen. Mein Tatort war ihr Treffpunkt. Das wäre genug. Zudem sei er glücklich verheiratet.
Dr. Sonja Marker stieg aus, winkte mir zu. Sie ging ans Heck, um den blauen Overall anzuziehen. Die Leiterin der Gerichtsmedizin schleppte ihre Koffer die Treppe herunter. Sie war schlau und intelligent. Mittlerweile war ich es leid allen den Unterschied zu erklären. Ihre einfachen Erklärungen über Todesursachen waren beides. Leider hörten die meisten Kollegen nie zu, weil die Leichenanalystin außerdem hungrige Blicke einfing. Dafür strahlte sie satte Männer wie mich regelmäßig an, was die Hungrigen sauer machte.
Mich interessierte, was die Leiche sagte, und Dr. Sonja Marker dolmetschte mir.
„Hallo, Herr Nagel“, grüßte sie und strahlte mich an. Ich grinste zurück.
„Moin, Frau Dr. Markert!“, nickte ich.
„Hallo, Dr. Marker. Dort in der Grube“, mischte sich Stenhagen sofort ein. Ich war nicht im Dienst.
„Haben Sie nicht frei?“, grinste sie mich an und überging meinen Stellvertreter.
Ich zuckte nur mit der Schulter. Es gab nichts zu sagen. Sie ging direkt zur Leiche.
„Bist du zurück, Chef?“, fragte Stenhagen.
„Chico und Frederike riefen vorhin an und sie fragten, ob sie gebraucht werden“, berichtete Rita.
„Vorerst machen wir es wie besprochen“, raunte ich beiden zu. „Diese provisorische Absperrung muss auf das gesamte Gebiet ausgeweitet werden und ruft den Gafferwagen. Informiert die Kollegen. Yannick wird ja wohl irgendeine Spur finden.“
Yannicks behaubte Overalls suchten in Sträuchern, zwischen den Gräsern und in den Gruben nach Abfall. Jedes Kaugummipapier und die sonstigen Schülerreste fielen in Müllsäcke.
Yannick kam zu mir, nachdem er gefühlte Stunden mit Misses Gerichtsmedizin tratschte und sie, wie ich meinte, von der Arbeit abhielt.
„Na, hast du den alten gelben Tennisball gefunden, den du damals ins Gebüsch geschossen hast, und den wir nie fanden?“, rief ich laut über den Platz.
„Du bist nicht informiert. Den hat der alte Kort gefunden und behalten, als Erinnerung an uns. Er hat es mir gebeichtet bei einem Jahrgangstreffen. Er bat mich, den Ball in seinen Sarg zu legen. Was ich getan habe.“
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Mittlerweile standen mehr Personen um mich herum. Staatsanwalt Weinhaus zappelte umher und wartete wie wir alle auf Marker, die sich ungewöhnlich viel Zeit ließ. Die Absperrung stand. Seit ich angeordnet hatte, das die Gaffer offen gefilmt wurden und wir laut wegen unterlassener Hilfeleistung mit Gefängnis drohten, gingen die Bremer recht schnell weiter an rot-weiß gestreiften Flatterbändern. Vor allem sorgte der Mannschaftswagen mit der Aufschrift MOBILES GEFÄNGNIS für Abschreckung. Vor einem Jahr hatte ich genug und schlug dem Präsidenten vor, wie ein einfacher Mannschaftswagen Gaffer weitergehen lassen würde. Aus einem Testwagen wurden zwei, dann drei mit Bereitschaftsfahrer und Beifahrer. Zurzeit buchte die Feuerwehr fast täglich die Kollegen und sorgte für Geldfluß, über den unsere Verwaltung sich freute und die Lorbeeren einsteckte, weil sie die Einnahmen als Einsparungen deklarierte, was die Verwaltungskosten verringerte. Das war deren Sache. Mir war wichtig, dass wir in Bremen kein Gafferproblem mehr hatten. Damit hatte ich den Präsidenten geködert. Mittlerweile war der Lack und das Gitter aus dem Baumarkt wieder drin. Zahlen taten auf jeden Fall die Gaffer. Jetzt stand der Wagen auf dem Rasenplatz neben dem Schleichweg und sorgte für ein rasches Vorbeigehen.
Wir alle atmeten auf, als Marker aus der Grube stieg.
„Der Tod trat zwischen zehn und zwölf Uhr nachts ein. Es ist unklar, was den Tod bewirkt hat. Das Genick ist gebrochen. Ich muss feststellen, wie das passieren konnte. Keine Würgemale, keine Druckpunkte am Hals, um den Genickbruch zu erklären. Allerdings ist das nur die vordergründige Wahrheit, weil ich ein Pflaster an der Schulter gefunden habe, das eine Rötung ante mortem, vor dem Tod, hervorgerufen hat. Die Tote heißt Martha Grenitz und muss sofort in die Gerichtsmedizin.“
„Ein Pflaster am Nacken?“, fragte ich.
„Zwischen den Schulterblättern“, sagte sie.
„Pflaster? Hautreizung? Das erinnert mich an ein Unfallopfer. Vor vier Wochen fast vor meiner Haustür. Hatte die nicht auch ein Pflaster auf dem Rücken?“, fragte ich laut. An der Reaktion der anderen erkannte ich, dass meine Stimme dröhnte.
Marker seufzte und blickte Yannick an.
„Das war ein Nikotinpflaster“, sagte Weinhaus.
„Hast du es untersucht?“, fragte ich Yannick.
„Das war nicht nötig“, schaltete sich Weinhaus ein. „Ein tragischer tödlicher Verkehrsunfall ohne Fremdeinwirkung. Die Tote hatte nullkommasieben Promille und viele Zeugen bestätigten, dass niemand am Unfall beteiligt war. Keine Mitfahrer. Das Unfallopfer Frau Lewinski wollte zu spät abbiegen. Alkohol war im Spiel. Es gab keinen Grund für weitere Untersuchungen oder der K007 den Fall zu übergeben.“
„Und dass man sich selbst kein Pflaster zwischen die Schulterblätter kleben kann, das ist niemandem aufgefallen? Abendkleid? Hatte Lewinski nicht auch ein Abendkleid an?“
Marker nickte.
„War das Pflaster auch zwischen den Schulterblättern?“, fragte ich.
Niemand sagte etwas.
„Es tut mir leid“, sagte Dr. Marker zerknirscht. „Ich werde das Unfallopfer Lewinski exhumieren lassen und gründlicher untersuchen.“
„Ich kann Ihnen da nichts vorschreiben, Dr. Marker. Aber ist das notwendig? Bedenken Sie, was das für die Angehörigen bedeutet“, schaltete sich Weinhaus ein, um den teuflischen Advokat zu spielen.
Und was das für dich bedeutete, dachte ich sauer.
„Wir werden sehen, was gefunden wird“, erstickte ich den aufkommenden Streit. Mein Name war Programm. Ich nagelte jede Form von Inkompetenz ans Kreuz und verabschiedete mich soeben aus dem Stollen des Überstundenberges.
„Ist das Unfallauto noch auf dem Hof?“, fragte ich Yannick.
Er nickte.
„Komplettes Programm“, wies ich ihn an. „Gibt es hier Fußspuren?“
„Schwach. Das Gras hat sich in der Frühe wieder aufgerichtet.“
„Gibt es da nicht irgendwelche Scanner, die das Gelände ohne Halm abbilden?“
„Nein.“
„Und mit einem Super-Föhn alles austrocknen, bis das Grünzeug zu Staub zerbröselt? Dann bleibt nur der Abdruck in der Erde und der Gips kann fließen.“
Yannick starrte mich an, um mir zuzustimmen:
„Ich denke, in einem kleineren Maßstab bekomme ich das hin. Gute Idee, du Linksfuß.“
„Soweit ich weiß, hast du immer den Ball geholt.“
Wir lachten. Später würde ich ein Kreuz im Kalender machen, weil wir gemeinsam lachten.
„Wir müssen sie jetzt bergen. Und die Plane auch“, bat Marker um Hilfe. Also auf die Körperträger warten.
Rita und Markus gingen fort, um in der Nachbarschaft Zeugen zu suchen.
Ich übergab Yannick laut „freiwillig und ohne Zorn“ den „Einen Ring mit Taschentuch“ an „Gandalf von der Spurg“, der ihn diesmal mit gewohnt nach unten gezogenen Mundwinkeln entgegennahm. Nirgendwo donnerte der Himmel und hell blieb es auch.
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Ich stand mit Atemschutz und Gummihandschuhen im wohl keimfreiesten Obduktionsraum Deutschlands. Marker sprach ihr Fachkisuaheli ins Mikrofon, damit jeder Mediziner sie verstand. Dann gab sie dem Diktierprogramm den Befehl für eine zweite Datei und sprach deutsch hinein. Das Tolle daran war, dass ihr Programm das sofort in Schrift umwandelte und auf zwei verschiedenen Seiten ausdruckte. Jede zweite Seite gehörte mir.
Sie hielt mir das Formular für meine Anwesenheit hin.
„Dieses Pflaster ist kein Nikotinpflaster“, stellte sie fest. „Darunter ist eine untypische Hautverfärbung. Der Tod trat durch Genickbruch ein. Sie stieß mit dem Kopf voran in die Grube. Ich finde keine Abwehrspuren des Sturzes, so als ob sie nichts spürte. Ich schließe eine Vergiftung nicht aus.“
„Ein seltsamer Fundort, ein seltsamer Tod. Wie kann jemand nichts spüren.“
„Es gibt zahllose Gifte, die jemanden orientierungslos machen, lähmen. Ein Nervengift zum Beispiel könnte dafür verantwortlich sein, dass die Arme den Sturz nicht abfingen. Ein solcher Schutzreflex muss ausgeschaltet gewesen sein.“
„Statt Nikotin enthielt das Pflaster Gift? Sie konnte sich das Pflaster nicht selber aufkleben. Das bedeutet, Martha Grenitz ist ermordet worden?“
Sie nickte und reichte mir drei Fundbeutel, die ich Yannick bringen würde.
Im ersten Beutel las ich auf dem Ausweis die Lesumer Adresse. Bördestraße. Das Opfer war siebenundfünfzig Jahre alt. Zigaretten, ZIP Feuerzeug und eine Geldscheinklammer. Ohne Hunderterscheine machte sie nicht viel her. In dem zweiten Beutel war der Schlüsselbund für das Auto und mehrere Sicherheitsschlüsssel mit einem durchbohrten Minihufeisen als Anhänger, wie man sie auf Mittelaltermärkten kaufen konnte. Im dritten Beutel lag das Pflaster.
Ich unterschrieb die Missachtung der angeordneten Überstundenabbaubitte. Beim nächsten Mal kam ich nicht mehr so glimpflich davon. Dann hatte ich keine andere Wahl und musste verreisen. Der Verdacht auf einen Serientäter oder eine Täterin machte jetzt jeden Verwaltungshansel mundtot.
Im Markerschen Drucker kopierte ich den Bericht viermal.
Ich lief zu meinem missmutigen Jugendfreund Yannick und übergab ihm die Fundbeutel.
Er führte mich in einen Raum. Drei flache gläserne Terrarien - zwei mal zwei Meter breit - enthielten ausgestochene Wiesen, denen im Glaskasten das Wasser entzogen wurde. Eine Mitarbeiterin prüfte Anschlüsse und fotografierte die verschiedenen Stadien.
„Moin, Karl!“, grüßte sie mich, bevor ich was sagen konnte.
„Moin, Anna!“, erwiderte ich und hob die Hand. Meine Schwägerin. Margas Schwester. Seit zwei Jahren zurück in Bremen.
Die Gräser in den Kästen waren bereits vertrocknet und die Oberschicht war bereits von Schwarz in Grau übergegangen.
„Zufrieden?“, fragte der Meister der Steppe.
Ich nickte. Bereits zwei verschieden große Fußabdrücke wurden sichtbar.
„Jemand brachte oder schob sie zum Fundort. Dieser Ausschnitt ist zwischen Kiesweg und Grube entnommen worden. Dort gingen zwei Menschen.“ Er zeigte mir einen gläsernen Kasten daneben. „Diese Probe kommt aus dem Bereich, in dem du das Fahrrad abgestellt hast“, erklärte der Guru der Fährtenleser. „Abdrücke unterschiedlich großer Männer. Deine habe ich identifiziert. Das war nicht schwer. Die Fußspuren des anderen ähneln denen aus der vorherigen Probe und deine Spur ist scharfkantiger. Der andere hat größere Schuhe als du.“
„Dafür traf ich immer den Tennisball im Gegensatz zu den Kindersärgen manch anderer. Also Täter bringt Martha zur Grube und entweicht über den Schleichweg. Das willst du sagen?“
„Oder über den Fahrradplatz. Bekommt keiner mit“, meinte er.
„Hoffen wir, dass du einen Gipsabdruck machen kannst, der absolute Klarheit schafft.“
Seine Mundwinkel zeigten nach unten.
Ich ging am besten sofort, sonst stritten wir uns wie üblich, wer damals die meisten Tore schoss.
7
Zurück im Büro zappelten Chico und Frederike am großen Tisch, die wie Nestküken die Hälse aufrissen für Futter. Sie erhielten die Berichte und lasen. Rita und Markus kamen pünktlich zur Besprechung zurück.
Wir saßen am runden Tisch, der noch Platz für vier oder fünf Personen hatte. Im Gegensatz zu anderen war ich davon beseelt, dass man als Ermitttlerteam bestens arbeitete, wenn alle Mitarbeiter alle Informationen hatten. Ich ließ fünf Gehirne arbeiten statt eins. Das mochte beim Lesen etwas Zeit kosten, aber dafür irrte niemand im Nebel der Vermutung. Noch Fragen warum meine Abteilung schnell und effizient war?
Martha Grenitz besaß vier Boutiquen. Der Ehemann Heiner Grenitz eröffnete vor fünundzwanzig Jahren den ersten Laden in Lesum. Nach zwei Jahren übernahm das Geschäft seine Frau. Seitdem expandierte sie langsam und eröffnete weitere in anderen Stadtteilen. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, die in Berlin und München lebten.
Allzu beliebt war Martha nicht. Sie wohnte mit ihrem Mann in einem großen Einfamilienhaus an der Bördestraße. Blieb zu klären, ob das Testament Überraschungen bot.
Markus und ich fuhren zum Witwer.
Als wir vorm Haus der Grenitz´ parkten, stand ein Golf in der Einfahrt. Dahinter stand ein Audi. Der Audi war das Firmenfahrzeug. Die Motorhaube des Käferersatzes war entfernt warm.
Ich klingelte.
Ein Mann ungefähr sechzig Jahre alt, schütteres Haar, runder Kopf, Trainingsanzug öffnete.
Wir zeigten Marken, stellten uns vor.
„Worum geht es?“, fragte er genervt.
„Dürfen wir herein kommen?“
Er trat beiseite und ließ uns bis in den Flur. Er bot uns keinen Platz an, also blieben wir stehen. Wir kamen ungelegen. Von oben hörte ich die Tür zugehen und einen Schlüssel umdrehen.
„Sie haben Besuch?“, fragte Markus.
„Nein, ich bin allein.“
Ich sah Markus an und dann nach oben. Er ging die Treppe hoch.
„Brauchen Sie dafür keinen Durchsuchungsbefehl?“, fragte Heiner Grenitz.
„Da Sie gesagt haben, sie seien allein, und da wir die Polizei sind, müssen wir Sie schützen“, sagte ich. „Möglicherweise ist oben ein Einbrecher, den Sie noch nicht bemerkt haben.“
Stenhagen stand vor der verriegelten Tür.
„Kripo Bremen, öffnen Sie sofort!“
Ein Schlüssel drehte sich.
„Ziehen Sie sich bitte an!“, hörte ich Markus‘ ruppigen Ton.
„Gehen wir doch in die Stube, Herr Grenitz. Setzen Sie sich!“ Ich wartete, bis der alte Seitenspringer saß.
„Wo waren Sie gestern zwischen neun Uhr abends und zwölf Uhr nachts?“
„Hier!“, sagte er.
„Kann das jemand bezeugen?“, fragte ich.
„Nein, ich war allein.“
„Ihre Frau kann das nicht bezeugen?“, stellte ich die Falle.
„Martha? Nein“, lachte er. „Die ist irgendwo, wahrscheinlich bei jemand anders. Hören Sie! Meine Frau und ich sind nur auf dem Papier verheiratet. Sie hat das Auto und die obere Etage und ich die untere. Sie bringt Männer und ich Frauen mit.“
„Warum ließen Sie sich nicht scheiden?“, fragte ich.
Er sagte lange nichts.
„Hat sich nie ergeben“, meinte er schließlich.
„Ich muss Ihnen leider sagen, das Ihre Frau heute morgen in einer Ausgrabungsgrube am Steinkamp tot aufgefunden wurde. Ich bitte Sie zur Identifizierung mitzukommen. Es tut mir leid!“
Weder der Witwer noch die Frau, eine Agnes Senner, konnten unsere Fragen beantworten. Wann kam der Audi zurück? War ihre Frau allein? Hörten sie zwei Türen auf- und zuschlagen?
Frau Senner kam vor einer halben Stunde. Ihr Alibi war noch zu prüfen. Aber ihre schauspielerische Leistung bestand darin ihre Brüste nach vorne zu schieben und mit den Wimpern zu schlagen. Ich konnte sie vom Verdächtigenhaken losmachen.
Wir nahmen Grenitz mit. Markus begleitete ihn zur Identifizierung der Leiche.
8
„Was kannst du mir über das Gift sagen?“
„Aconitum, Blauer Eisenhut“, gab der Vater der Giftanalyse bekannt.
„Du meinst Aconitum napellus, Europas giftigste Pflanze?“
„Ja. Das Pflaster auf Matha Grenitz ist damit getränkt. Das tödliche Gift dringt durch die Haut ein.“
„Hast du das Pflaster von Lewinski noch?“
„Nein!“, gab er zu.
„Wenn Lewinski auch ein Abendkleid trug, gibt es vielleicht Extraktreste am Sitz. Du hast doch noch das Unfallauto.“
„Das Pflaster hat eine Plastikseite und wir konnten einen Fingerabdruck sicherstellen. Er gehört nicht zum Opfer und ist nicht in der Datenbank. Das Lewinski Auto ist als nächstes dran.“
„Und der Ring?“, fragte ich.
„Echtes Silber. Das Blut gehört zur Toten. Allerdings ist das keine europäische Ausführung. Nach den Filmen gab es zahlreiche Franchisenehmer, die für den jeweiligen Kontinent die Rechte kauften. Dein Ring hat eine Silberlegierung, die typisch für Südamerika ist und nur dort verkauft werden darf. Mach was draus!“
9
Rita rief die Kinder der Grubentoten an. Außer Schock und Unverständnis erkannte sie keine Ungereimtheiten in den Stimmen.
„Das Opfer war gestern Abend im Statt-Theater in Vegesack“, sagte Frederike. „Sie fuhr mit dem Auto hin und zurück. Sie muss das Fahrzeug zuhause abgestellt haben oder der Täter. Von der Garage zum Fundort sind es fast siebenhundert Meter Weg“, sagte Chico. „Ich ruf die Spurg an, um das Auto zu untersuchen.“ Ich nickte. „Martha schien ein Drache zu Hause zu sein, wenn man den Nachbarn glaubte. Sie war Mitglied im Verband Bremer Unternehmerinnen. Sieht so aus, als ob sie vor der Übernahme des Geschäfts Hausfrau war.“
„Damit gäbe es eine weitere Übereinstimmung mit Frau Lewinski, wenn auch sie vergiftet wurde“, fuhr Frederike fort. „Sie übernahm vor sechsundzwanzig Jahren das Geschäft ihres Mannes, einen Getränkehandel. Allerdings verkaufte sie das Geschäft und eröffnete einen Food und Party Lieferservice, der auch im Internet vertreten ist.“
„Vor fünfundzwanzig und sechsundzwanzig Jahren, hm“, sagte ich. „War Irene Lewinski auch im Verband?“
„Nein“, sagte Rita. „Aber hier ist ein Insolvenzantrag vor drei Tagen. Der Ehemann hat alles geerbt.“
„Er verkauft also nicht, sondern ist insolvent?“, fragte Markus.
„Ruft jemanden vom Dezernat Wirtschaftskriminalität“, bat ich. „Der soll uns erklären, wie ein gesunder Lieferservice innerhalb drei Wochen insolvent wird. Besorgt die Unterlagen beider Firmen. Wir müssen prüfen, ob da Verbindungen sind.“
„Oder der Mann ist unfähig“, meinte Frederike. „Sein erstes Geschäft ging ja auch unter.“
„Wir müssen erklären, warum sie zur Grabung ging und wer sie begleitete. Ab zehn Minuten Hautkontakt macht Aconitum bereits Lähmungen, Orientierungslosigkeit und Atemnot. Die Täterin oder der Täter brauchte sie nur zur Grube dirigieren. Sie kann selber hinien gefallen sein. Wenn sie sich nicht das Genick gebrochen hätte, wäre sie an der Vergiftung gestorben.“
Ich rief Yannick nochmal an.
„Was macht die Trockenlegung?“
„Warte bis morgen!“ Er legte auf.
Ich rief Dr. Marker an.
„Was macht die Exhumierung?“
„Ich fahre gleich los.“ Sie legte auf.
„Lewinski fuhr auf der A270 stadteinwärts“, berichtete uns Chico. „Von Vegesack kommend verfehlt sie die Abfahrt Rotdornallee, rast in die Leitplanke und das Fahrzeug überschlägt sich. Sie starb im Krankenhaus. Laut den Rettungsleuten war sie orientierungslos. Sie hatte etwa nullkommasiebenacht Promille. Grund genug für den Staatsanwalt auf Unfall zu setzen. Das sind bereits zwei Unternehmerinnen, vorher Hausfrauen, mit erfolglosen Männern.“
„Wir müssen herausfinden, wen beide Frauen vorher getroffen haben, der ihnen so nahe kommen konnte, um ein Giftpflaster auf den Rücken zu kleben. Wer hätte Zugang zu den Fahrzeugen?“, fragte ich. „Wer hätte Kenntnis über blauen Eisenhut? Der wächst in Gebirgslagen, nicht bei uns. Warum merkten sie nichts? Chico, hauch der Spurg in den Nacken!“ Als er grinste, kühlte ich ihn ab. „Und lass meine Schwägerin in Ruhe, wenn du es nicht ernst meinst!“
Jetzt grinsten Frederike und Rita.
10
Markus gab bekannt, dass die Geliebte des Witwers tatsächlich ein Alibi besaß. Beide gaben zu, dass die neue Isolierung der Fenster und Außenwand schalldicht war. Niemand im Wohnraum hörte ein leise anrollendes Auto. Beschallte dazu der Fernseher den Raum, hörte man kein Türenschlagen.
Ich nahm mir vor, Yannick in drei Stunden wieder zu scheuchen.
Bis dahin musste er Autos auseinandergerissen und eine Wiese in Steppe verwandelt haben.
Chico kam herein mit roter Backe. Laut Verkehrspolizei war der Lewinski Unfall etwas ungewöhnlich. Anhand der Überwachungsaufzeichnungen fuhr die verstorbene Unternehmerin auf der linken Spur über die Verteilerkreuzung Bremen Nord, die in meiner Jugend ein Kreis war. An der Abfahrt zur Rotdornallee schnitt sie plötzlich die rechte Spur, rammte die Leitplanke, überschlug sich und zerknitterte den Kotflügel eines Unbeteiligten.
Auf den ersten Blick konnte man schlussfolgern, dass sie zu spät die Ausfahrt nehmen wollte. Mit einem scharfen Rechtsschwenk hätte ich gegen diese Vermutung nie etwas gesagt. Das implizierte eine aktive Handlung. Laut Zeugen begann die Rechtsfahrt geradewegs in die Leitplanke lange vor der Brücke am Heidbergstift. Für mich gab es keine vernünftige Erklärung, warum sie so etwas willentlich tat. Vorübergehende Achtlosigkeit kam nicht in Frage. Spätestens auf der rechten Spur hätte sie etwas gemerkt. Der Wagen schien führerlos zu fahren. Ein ins Lenkrad greifender Beifahrer war vorstellbar, aber zahlreiche Zeugen, die anhielten, sahen keinen Beifahrer fliehen. Ein lähmendes Gift erklärte den Unfall und wie er geschah. Irene Lewinski konnte durch das Gift der Mönchskappe nicht mehr lenken.
Frederike und Rita erstellten ein Täterprofil. Die beiden wollten das gerne machen, weil sie Fortbildungsseminare dazu besucht hatten. Demnach war die Täterin eine dreißig bis vierzigjährige Frau, alleinstehend, frustriert und sie ließ ihren Hass an erfolgreichen Frauen aus. Beide wurden mit Blauen Eisenhut unschädlich gemacht, danach starben sie.
„Etwa weil Gift das Vorrecht der Frau ist?“, fragte ich. „Emanzipation ist keine Einbahnstraße. Wir schließen nichts aus. Ist Marker mit der Exhumierung schon weiter? Hört endlich auf in Kategorien zu denken! Ihr seid lange genug bei mir, um zu verstehen, dass wir dann nie jemanden verhaften.“
„Ja, Chef. Aber beiden Taten fehlt der männliche Gewaltaspekt.“
„Achso, wenn wir unsere Jagdwaffen hängen lassen, sind Frauen die Täter. Meint Ihr die Idee der vergifteten Pfeile, der rostigen Klingen oder Aas in Brunnen zu werfen, kommt von Frauen?“
„Nein, Chef!“
„Giftheil, Fischerkappe, Sturmhut, Würgling und wie es sonst noch heißt, verdammt!“, rief ich. „Blauer Eisenhut ist die beliebteste Mordwaffe in Europa. Römer, Päpste, Henker. Beide Geschlechter haben es benutzt. Wenn kein Notarzt kommt, ist das der grausamste Tod, den man sich vorstellen kann. Diese Pflanze ist tödlich. Zwei Gramm reichen. Die Morde spiegeln weder Hass noch Frust. Wir brauchen mehr Informationen. Wann kommt endlich der Kollege aus dem Wirtschaftsdezernat? Der muss etwas erklären. Die Opfer verbindet, dass sie Unternehmerinnen waren und die Firmen ihrer erfolglosen Ehemänner übernahmen.“
„Wenn die Spurensicherung an Lewinskis Fahrzeug Spuren blauen Eisenhuts findet“, meinte Chico, „haben wir eine weitere Verbindung.“
Das Telefon klingelte. Rita nahm ab.
„Ah, hallo! Ja, danke. Ich gebe es weiter.“
Wir sahen sie an.
„Dr. Marker hat die Leiche Lewinskis geborgen. Sie ist auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Der Witwer war komisch gewesen, eher abwesend und resigniert.“
Warum erwähnte die Leiterin der Gerichtsmedizin das?
„Wir gehen essen!“, befahl ich. „Chico, leite das Telefon auf die Zentrale um und sage denen, wir sitzen in der Kantine.“ Dort waren Arbeitsthemen verboten und unsere Gehirne konnten entspannen. Das vermied Gehirnknäuel und brachte uns auf neue Ideen.
Zurück im Büro wartete auf uns Oberkommissar Hanneke aus dem Dezernat für Wirtschaftskriminalität. Er saß nach kurzer Begrüßung und Erklärung auf einem freien Platz am Rundtisch.
„Es ist ganz einfach. Der Mann gründet eine Firma mit persönlicher Haftung, kann aber mit Geld nicht umgehen, verschuldet sich. Dann überträgt er das Geschäft seiner Frau. Jetzt hat weder die Firma noch die Frau Schulden. Sondern nur der Mann, der in der Firma einen Vierhunderfünfzig-Euro-Job hat. Jeder Gerichtsvollzieher geht mit leeren Händen zurück. Der Mann verdient zu wenig für eine Verfolgung. Der Schuldner sitzt auf seinem Vollstreckungsbescheid und bekommt nichts. Die Frau ist Inhaberin und der Mann könnte sie weiterführen. Der Lohn ist unter der Pfändungsgrenze, und die Frau erhält die Gewinne. Die Gläubiger gehen leer aus und erhalten nie ihr Geld.“
„Das ist legal?“
„Ja, das Gesetz kümmert sich nicht um Schuldeneintreibung. Dafür gibt es das Insolvenzverfahren. Da bekommen die Gläubiger auch selten Geld zurück. Das Entscheidende aber ist, dass mit der Übertragung auf die Frau auch die Firma plötzlich schuldenfrei ist und damit an Wert gewonnen hat. Es sind ja die Schulden des Mannes als Gewinn in die Firma geflossen. Obwohl ohne Vermögen leben die Männer im Wohlstand.“
„Was geschieht, wenn die Frau stirbt?“, fragten alle gleichzeitig.
„Das hängt vom Testament ab, würde ich sagen. Da die meisten Frauen um die dreißig bis vierzig Jahre alt sind, wenn sie die Firma übernehmen und da das statistische Sterbealter der Frauen bald über 85 Jahre liegt, haben wir keine Statistiken darüber. Ein Anstieg dieser Form der Schuldenumgehung ist erst zehn bis fünfzehn Jahre alt.“
„Wie kann eine Firma plötzlich in Insolvenz gehen, wie der Partyservice der Lewinskis mit mehreren Standorten und festem Kundenstamm, also ein gesundes Unternehmen?“, fragte ich.
Er hob eine dünne Akte.
„Ich habe das nachgeprüft. Das war ja eine Ihrer Fragen, Hauptkommissar. Laut Steuerunterlagen hat der Lewinski Partyservice mit drei Küchen einen Gewinn vor Steuern über jährlich Zweihundertfünfzigtausend. Keine Unregelmäßigkeiten. Letzte Prüfung vor zwei Jahren. Frau Lewinski starb am sechsten Mai. Zwei Tage später trat der Ehemann das Erbe an. Das Firmenvermögen, Fonds und Konto, belief sich auf zweihundertsiebenundfünfzigtausend Euro. Am folgenden Tag buchte er einen Flug nach Brasilien.
Am selben Tag wurde das Vermögen eingezogen. Den Flug konnte er nicht mehr bezahlen. Einer der seltenen Fälle, wo der Gerichtsvollzieher voll zugeschlagen hat.“
„Der Gerichtsvollzieher?“, fragte Chico.
Das Telefon klingelte. Rita ging ran, sah sich um, starrte mich an und notierte sich etwas.
„Man hat eine tote Frau über 50 Jahre alt gefunden. Eine Petra Müller in Lesum.“
„Markus und Rita. Ihr fahrt dahin und gebt die Daten durch. Frederike und Chico. Wir drei bleiben hier und hören noch zu.“
Nachdem die beiden aufgebrochen waren, ließ ich den Kollegen weiter reden und aufnehmen.
„Ja, der Gerichtsvollzieher. Gegen Herrn Lewinski bestanden zwei Vollstreckungsbescheide. Das war der Grund für die Übertragung der Firma an seine Frau. Die Bescheide gingen gegen ihn, nicht gegen die Firma oder gegen die Frau.“
„Wie hoch war die Gesamtsumme?“
„Insgesamt zweihundertfünfzigtausend Euro. Laut den Unterlagen des Gerichtsvollziehers konnten zwei Vollstreckungen erfolgen. Da Fluchtgefahr bestand, hat der Gerichtsvollzieher sofort beschlagnahmt.“
„Wie läuft das mit einem Vollstreckungsbescheid? Gibt es da keine Verjährung?“, fragte Rita.
„Die sind dreißig Jahre gültig“, erklärte Hanneke. „Es gibt Firmen, die sich darauf spezialisieren Vollstreckungsbescheide zu übernehmen. Die Firmen legen Dateien an und lassen bots, automatische Kleinprogramme, das Internet durchsuchen, ob sich Lebensumstände ändern. Die Dateien enthalten Namen und Zugehörigkeiten. Taucht irgendein Name aus dieser Datei in Todesanzeigen auf, blinkt es und der Gerichtsvollzieher wird gerufen.“
„Nicht wenige töten für viel weniger Geld, sehr viel weniger“, fluchte ich.
„War bei Lewinski eine Firma beteiligt?“
„Das muss man beim Gerichtsvollzieher nachfragen“.
11
Ich stand mit Chico vor einem Mehrfamilienhaus in der Halmstraße. Diese Straße wellte Pflastersteine, seit ich denken konnte. Ich beglückwünschte unsere umsichtigen Ämter bei jeder Durchfahrt, dass hier niemals der Versuch unternommen worden war, das Pflaster durch raserfreundliches Asphalt zu ersetzen. Die Zeit wandelte die Straße automatisch in eine verkehrsberuhigte Zone. Die Knippköppe mit ihren tiefergelegten Fußgängerzermatschern mieden vorsorglich diese Straße.
Ich klingelte bei Familie Hemlock. Die Tür öffnete sich, ohne dass jemand über die Freisprecheinrichtung fragte, wer wir seien.
Wir gingen in den zweiten Stock. Eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm lächelte uns an. Ich fragte mich, ob wir hier richtig waren. Laut Akte stand vor mir die Besitzerin der Vollstreckungsbescheide gegen Hermann Lewinski.
„Hallo?“, fragte sie.
Wir zückten unsere Marken und Ausweise. Außer einem leichten Stirnrunzeln las ich weder Sorgen noch ein schlechtes Gewissen im Gesicht. Ich stellte uns vor. Sie ließ das Kind herunter und bat uns in die Wohnung.
„Möchten Sie Kaffee?“, fragte sie, während die Kleine um die Beine der Mutter hervorlugte.
„Nur wenn es Ihnen keine Umstände macht“, sagte ich.
Sie geleitete uns ins Wohnzimmer, in dem ich nichts erkannte, das auf zweihundertfünfzigtausend Euro hinwies. Dafür eine Couch vom Ihlpohler Möbelmarkt, vielleicht weil Meyerhoff zu weit war. Ein Regal aus Schweden. Viele kleine gerahmte Fotos hingen an den Wänden. Ein Nordseebild über der Couch wärmte mein Heimatherz. Die Drei-Zimmerwohnung ließ mich die Straße, und was wir da draußen erlebten, vergessen. Das Kind war zu beneiden.
Und ich erkannte die obligatorische Chromdeckenleuchte aus dem Hause meines Freundes Hinnerk, der wahre Obi wa Kenn obi. Diese Standlampe allerdings war komplett. Mir hatte er seinerzeit den Standfuß und die Glühbirne zum doppelten Preis verkaufen wollen, damit ich, wie er anpries, meine ganze Kreativität ausleben könne sozusagen zum Künstlerpreis. Was soll ich sagen. Marga warf mir sauer den Stahlfuß auf die Zehen und die Birne an meine.
12
Kein fixer Aufbrühkaffee, keine Kaffeemaschine. Frischer gemahlener Kaffee in einem Bodum Kaffeebereiter. Ein Sieb drückte die gemahlenen Kaffeebohnen zu Boden. Über dem Sieb blieb ein starker tiefschwarzer Kaffee, in dem der Löffel steckenblieb. Genau denselben Kaffee machte Marga.
Frau Hemlock setzte sich auf einen Stuhl, den sie aus einem anderem Zimmer brachte.
„Worum geht es?“, fragte sie.
„Kennen Sie eine Martha Grenitz?“, fragte Chico.
„Nein.“
„Kennen Sie eine Irene Lewinski?“, fragte ich.
„Nein, aber“, fügte sie freundlich hinzu, „Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Worum geht es? Da wo ich herkomme, Lesum,“ betonte sie und schaute uns mit hochgezogenen Brauen von oben herab an, wie wir Lesumer das so machen. Das liegt in unserem Blut. „Hier in Lesum hat man Anstand genug eine Frage zu beantworten. Und wenn ich mir recht überlege“, sie dehnte die Pause, „gilt dies überall. Sollte die Bremer Kriminalpolizei eine Ausnahme sein, sollte die Bremer Kriminalpolizei anstandlos sein?“
Sie drückte das Sieb langsam herunter.
Diese Frau gefiel mir. Jemanden bei den Eiern packen, nannten wir das.
„Die beiden genannten Frauen sind tot,“ erklärte ich. „Eine wurde ermordet, eine starb unter fragwürdigen Umständen. Die Witwer dieser Frauen schulden Ihnen per Vollstreckungsbescheide insgesamt eine halbe Million Euro.“
Himmelblaue Seelenblicker durchbohrten mich und Chico, als ob wir ihr erklärten, Zeitreisen und Beamen wären jetzt neu im TUI Angebot. Mein Untergebener konnte nur blinzeln.
„Kommt gleich die versteckte Kamera?“, fragte sie lustig. Dann wurde sie ernst, sehr ernst, so ernst, dass ich mich unwillkürlich zurückversetzt als Junge vor der Schultafel stehen sah, die Lehrerin mir vor der Klasse die unmöglichste Aufgabe stellte, man im Boden versinken wollte und der Anblick der grinsenden Mädchen das Gehirn entleerte. Ein Seitenblick auf Chico, dem ging es genauso.
Diese Frau drückte mit voller Kraft zu.
„Es gibt Dinge, über die macht man keine Witze, meine Herren. Ich schlage Ihnen also vor, um das bis jetzt gute Ansehen der Bremer Kriminalpolizei nicht ins Gegenteil zu wandeln, dass sie mit dem Unfug aufhören und mir erklären, was sie wollen.“
Ich legte Marke und Ausweis auf den Tisch.
„Bitte rufen Sie eins-eins-null an“, bat ich. „Nennen Sie bitte denen die Dienstnummern auf diesen Ausweisen und lassen sich die Namen sagen. Damit zeigen wir, dass wir es ehrlich meinen. Es ist, wie ich gesagt habe.“ Ich entnahm meiner Innentasche einen Briefumschlag und entfaltete den Inhalt. Mehrere Kopien. „Hier ist die Übertragung der Vollstreckungsbescheide auf sie. Der Gerichtsvollzieher hat vor drei Wochen zwei in einer Gesamthöhe über zweihundertfünfzigtausend Euro eingetrieben. Das Geld wurde auf Ihr Sparbuch überwiesen. Hier ist der Überweisungsbeleg des Gerichtsvollziehers. Das ist der Grund, warum wir hier sind. Ihrem Gesicht entnehme ich, dass sie nichts darüber wissen.“
Die Frau wurde blass, als sie die Papiere studierte.
„Das Konto kenne ich nicht. Was bedeutet das?“
„Ich sollte erklären, dass dieses Geld wirklich legal Ihr Geld ist. Sie können darüber verfügen. Sie brauchen nichts zurückgeben, Frau Hemlock.“
„Aber woher? Wer hat mir so was übertragen?“
„Das hoffte ich von Ihnen zu erfahren. Leider lief alles über einen Anwalt, der sich wohl auf sein beruflich erlaubtes Schweigen konzentrieren wird.“
Sie nahm meine Marke in die Hand, drehte sie mit den Fingerspitzen.
„Meine Eltern sind tot“, gab sie bekannt. „Ich habe keine Verwandten. Meinen Vater kannte ich nicht. Meine Mutter verunglückte vor sieben Jahren. Weder schulde ich anderen etwas, noch schulden andere mir etwas. Mein Mann und ich kommen gut zurecht. Ich weiß nicht, was ein Vollstreckungsbescheid ist.“
„In der Regel versuchen Geschäftsleute auf diese Weise Geld von anderen Geschäftsleuten gesetzlich einzutreiben.“
„Ich habe nie eine Firma besessen“, rief sie erstaunt.
„Ich frage mal anders. Wer könnte Ihnen Gutes wollen?“, fragte ich.
Sie stand auf und ging hin und her.
„Meine Mutter hat nie wieder geheiratet. Es gab dennoch Männer in meinem Leben. Einer war besonders. Ich muss sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Er brachte mir auch Geschenke, ist mit uns verreist. Mir schien, das war Liebe. Dann verschwand er. Ich erinnere mich, dass meine Mutter sehr traurig war und ständig darüber sprach, dass Leute ihn betrogen hätten. Jedenfalls sah ich ihn nie wieder. Wie hieß er nochmal, Martin, Johann, ach, ich weiß es nicht.“
„Schon gut, Frau Hemlock“, beruhigte ich sie. „Oft erinnert man sich, wenn man es nicht bewusst will. Ich möchte Sie für morgen um etwas bitten.“
13
Chico spielte Babysitter und fuhr mit dem Mädchen zur Wache, während ich mit der Mutter zur Sparkasse in der Hindenburgstraße ging. Jennifer Hemlock wandte sich direkt an den Schalter und fragte, ob auf ihren Namen ein weiteres Konto existierte.
Das wurde bestätigt.
Seit wann sie es hätte
Das Sparbuch wurde vor fünfundzwanzig Jahren eingerichtet durch die Kanzlei Henriksen. Der Kontostand betrug 251.015,36 Euro. Sie müsse das Sparbuch vorlegen.
Sie hatte keins und legte dafür ihren Ausweis vor. Warum man sie nie über das Sparbuch informiert hätte?
Auf dem Sparbuch wäre erst vor kurzem diese Summe drauf gekommen. Man hat es wohl nicht erwähnt, weil mit der Eröffnung fünf Euro eingezahlt wurden. Der Bankkaufmann wusste nicht mehr zu sagen, außer dass er sie gern beraten würde, um das Geld gewinnträchtig anzulegen, da das Sparbuch nicht mehr zeitgemäß als Geldanlage sei.
Frau Hemlock ging hinaus. Ich folgte.
„Dann zur Kanzlei. Sie machen das sehr gut“, munterte ich sie auf.
„Wer macht so was?“, fragte sie mich.
„Genau den suche ich!“, sagte ich ehrlich.
14
In der marmornen Empfangshalle gegenüber dem Lesumer Bahnhof saßen wir in ledernen Sesseln, als die Empfangsdame uns herbei rief. Dabei schickte ich eine vorbereitete SMS weg.
Ein Mann meines Alters stellte sich als Doktor der Rechte Alois Stehnke vor.
„Sie sind Jennifer Hemlock? Darf ich Ihren Personalausweis sehen?“
Sie zeigte ihn. Der Anwalt strahlte.
„Und Sie sind?“, fragte er mich.
„Hauptkommissar Nagel.“ Ich zeigte ihm Marke und Ausweis.
„Oh!“ Seine Stirn zeigte Falten.
„Ich möchte gern mein Sparbuch erhalten, das ihre Kanzlei eingerichtet hat“, sagte die Viertelmillionärin.
„Dann kommen Sie doch bitte in mein Büro.“
„Herr Nagel kommt mit“, bestand sie. Der Anwalt zuckte mit den Schultern.
Im Büro. Schwarzer Teppich. Glastisch, auf dem nur der obligatorische aufgeklappte Laptop stand. Eine lederne Sitzgruppe am Fenster. Eine Schrankwand mit abweisenden Fronten machten mir klar, dass hier ohne Durchsuchungsbefehl nichts zu bekommen wäre. Dr. Gesetzlückensucher setzte sich an seinen tragbaren Computer und tippte auf der Tastatur.
„Hm“, brummte er. „Ja, Frau Hemlock. Ich bedauere. Ihr Sparbuch befindet sich im Schließfach der Sparkasse.“
„Sie wissen also, dass Frau Hemlock dieses Sparbuch besitzt“, stellte ich fest.
„Selbstverständlich. Wir wurden beauftragt es einzurichten,:“
„Von wem?“, fragte ich.
„Bedaure. Der Auftraggeber will geheim bleiben.“
„Dr. Stehnke“, sagte ich. „Ich untersuche drei Mordfälle und ihr Auftraggeber sollte mir ein paar Fragen beantworten. Er ist des Mordes verdächtig. Ich bitte Sie, mir den Namen zu nennen. Wir beide kennen uns noch nicht.“
„Sie wissen, dass ich das nicht kann. Aber ich werde meinen Mandanten informieren, dass er sich stellen soll, um die Missverständnisse auszuräumen.“
„Wie Sie meinen, Dr. Stehnke. Wie ich bereits sagte, wir kennen uns nicht. Damit meinte ich, dass Sie mich nicht kennen.“ Ich griff in meine Jackentasche, holte den Schrieb raus und legte ihn auf die glatte Platte. „Ich habe mich vorbereitet und dies ist ein Durchsuchungsbefehl für alle Räume dieser Kanzlei. Wenn ich alle sage, meine ich alle. Wissen Sie, ich bin da sehr genau mit der Vorrecherche. Deswegen bekomme ich solche Befehle. Das ist Ihr Exemplar.“ Ich schob das Blatt auf seine Seite. „In genau einer halben Minute klingelt es. Sollten Ihre Leute sich meinen Mitarbeitern in den Weg stellen, verhafte ich jeden. Ich werde meine Leute anweisen, genau zu sein, einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Es ist immer sehr lästig ganze Aktenschränke aufzuladen, warum nicht hier untersuchen. Leider folgt mir die Presse auf Zeh und Nagel. Sie können sich gern vor die Kamera stellen und Polizeischikane schreien. Wir beide wissen, dass Ihre wirklich lukrativen Kunden früher als sofort die Zusammenarbeit mit Ihnen aufkündigen. Ich weiß ja nicht, was Sie dann machen. Aber sie haben beste Kontakte zu Gerichtsvollziehern, wie man mir zwitscherte. Ich frage noch einmal, freundlich und höflich. Ein letztes Mal. Wer ist der Auftraggeber, der ihnen angewiesen hat, Vollstreckungsbescheide gegen die Herren Heiner Grenitz, Philipp Lewinski und Stefan Heine an Frau Jennifer Hemlock zu übertragen? Hier geht es nicht darum, dass die Herren mit ihren Schulden davonkommen, sondern wer ihre Frauen ermordete. Zudem sorgen Sie dafür, dass Frau Hemlock sofort ihr Sparkassenbuch bekommt.“
Dr. Findet-nicht-die-Lücke wollte aufbrausen, besann sich, weil er merkte, dass er nicht alles haben konnte. Sein Geschäft war ihm wichtiger. Es klingelte.
Unser Gegenüber schrak auf.
„Manuel Stedinger!“, platzte es aus ihm heraus, und er gab noch die Adresse dazu.
Ich stand auf.
„Das war ein Schuss vor den Bug, Herr Doktor. Jetzt kennen wir uns. Wenn es um Mord geht, seid Ihr Anwälte für mich Dünnbretter, durch das ich mich mit einem Schlag hindurchtreibe.“
Ich sammelte die Kollegen am Flur ein. Draußen nahm ich Frau Hemlock beiseite.
„Vielen Dank, dass ich mit durfte. Aber jetzt geht es für Sie direkt zur Tochter. Wenn Sie das Sparbuch nicht bekommen, rufen Sie mich an.“
„Seien Sie freundlicher!“, empfahl die junge Mutter mir für meinen weiteren Weg.
15
„Sag mir bitte, dass du im Lewinski Auto was gefunden hast“, flötete ich nach Hemlocks Wunsch in den Hörer.
„Ich habe was gefunden. Zufrieden?“, knurrte Yannick.
Ich wartete. Er seufzte.
„Frage wenigstens!“, bat er.
„Was hast du gefunden?“
„Blauen Eisenhutextrakt ungefähr in der Höhe des Sitzes, der mit der Lage des Pflasters nach den Fotos auf Lewinskis Rücken identisch ist. Sonja konnte am Rücken noch Klebereste festellen, der die Lage auf dem Sitz bestätigt. Und einen fremden Nagelrest. Kein Treffer in der Datenbank.“
16
Rita und Markus brachten den Verdächtigen ins Büro. Er setzte sich zufrieden und selbstsicher hin. Ich drückte die Aufnahmen-Taste an der Tischseite und sprach laut, was das Protokoll vorgab. Name, Zeit, Ort.
„Manuel Stedinger. Sie haben drei Frauen aus niederen Beweggründen, aus Geldgier, ermordet.“
„Das ist nicht wahr.“
„Wir haben einen abgebrochenen Fingernagel im Fahrzeug der ermordeten Irene Lewinski gefunden. Ihren Fingernagel. Ihre Schuhe haben Erdrückstände vom Steinkamp. Ihre Sohlen wurden mithilfe der Gipsabdrücke identifiziert. Ihre Fingerabdrücke sind auf dem Pflaster, das Marta Grenitz getötet hat. Zudem fanden wir Ihre Handrillen an der Mordwaffe, mit der Sie gestern Ester Heine getötet haben. Nach dem fast perfekten Mord an Lewinski wurden sie ziemlich schlampig. Den ersten Mord stufte man leider als Unfall ein. Die Beweise gegen Sie sind erdrückend. Was wollen Sie dann noch leugnen? Sie haben diese drei Frauen getötet.“
„Das bestreite ich auch gar nicht.“
Für einen kurzen Moment war ich sprachlos, baff.
„Ich korrigiere Sie gern, Herr Hauptkommissar. Wenn Sie das Band zurück spulen, habe ich Ihrer Behauptung widersprochen aus niederen Motiven getötet zu haben.“
„Wie bitte?“, fragte ich verdattert.
„Der Tatbestand niederer Beweggrund, hier Geldgier, impliziert, dass ich durch die Tat finanziell profitieren wollte. Das ist nicht der Fall. Ich gewinne keinen Cent. Wie wollen Sie mir einen niederen Beweggrund beweisen? Zu Jenny Hemlock habe ich keinen Kontakt und sie hat keinerlei Verbindungen zu den drei Frauen. Sie hat bis gestern nichts gewusst. Die Sparkassenangestellten werden eidesstattlich erklären, sie gestern erstmals über das Sparbuch aufgeklärt zu haben, als sie danach fragte. Ebenso die Kanzlei und deren Angestellten. Frau Hemlock hat keinerlei Beziehung zu Personen innerhalb der Kanzlei. Sie werden in meinem Computer Dateien finden. Briefe. Jährlich schrieb ich den drei Frauen und bat um Begleichung der Schulden, bot großzügige Ratenzahlungen an, dass der juristisch Kunstgriff der Firmenübertragung auf den Partner unziemlich und ungerecht sei. Sie haben nie geantwortet. Stets blieb ich freundlich, um die Begleichung zu erbitten. Lewinsky und Grenitz waren starke Raucherinnen. Sie wussten nicht, wer ich war. Ich spürte ihnen nach. Als ich feststellte, dass sie regelmäßig ausgingen, folgte ich ihnen. Sie flirteten mit mir. Ich hatte keine Schwierigkeiten, ihnen die präparierten Rauchpflaster zu verpassen. Ich habe sie dahin gebracht aufzuhören. Ich bot ihnen an, es damit zu versuchen. Die ersten waren natürlich echte Nikotinpflaster. Es war auch nicht schwer sie zu überreden, dass ich ihnen die Pflaster auf den Rücken klebte, damit sie nicht hinkamen. Lewinski beim Abschied im Auto und Grenitz beim Spaziergang. Grenitz bekommt bald Besuch vom Gerichtsvollzieher. Er hat automatisch das Erbe angetreten. Bei Meier wird der natürliche Lauf entscheiden.“ Er beugte sich vor. „Wie egal allen war, dass ihre Männer Schulden hatten. Kein Anstand. Keine Ehrlichkeit. Diese Leute haben damals meine Beziehung zerstört, weil ich pleite war. Ich war glücklich mit Karina Hemlock und ihrer Tochter. Ich kratzte das letzte Geld zusammen, um die Vollstreckungsbescheide an Jenny zu übertragen. Ich brach nach Chile auf, um Gold zu schürfen, bevor der Hype losging. Ich machte gutes Geld, das nun aufgebraucht ist. Die Schwermetallvergiftung durch die Goldgewinnung lässt mich das Ende absehen. Der Tod durch Aconitum ist grausam, was die Frauen verdient haben. Ich bereue nichts. Die Männer müssen jetzt zahlen. Ich gab der Kanzlei klare Anweisungen. Es gab mir das Gefühl, wenigsten für das Mädchen etwas zu tun, was in meiner Macht stand. Karina machte ein glückliches Mädchen aus ihr. Sie war damals ein Engel und ist es noch. Sehen Sie sich die Tochter an. Auch Engel brauchen auf der Erde Geld.“
„Das Urteil wird dennoch auf niedere Beweggründe lauten“, sagte ich betont freundlich. „Ihre Opfer waren arglos, als sie ihnen die Pflaster hinterrücks aufdrückten.“
Drei Wochen später las ich im Lesum-Kurier, dass die Parkplätze nicht gebaut wurden. Die Stadt plante, gleich die ganze Schule abzureißen, jene Schulgebäude, die für ihre Gesamtkonzeption in Deutschland einen Kunstpreis erhielten.
Ende