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Kapitel 2
Оглавление15. Dezember 2022
Police Departement, Perth, Westküste Australien
Chiefinspector John Taylor griff eine zerfledderte Akte aus seiner Schublade.
Der Todestag seines Schwagers Steve White und seiner Schwester Olana jährte sich. Heute würde er die Mappe durch eine neue ersetzen. Dazu musste er die wenigen Blätter aus dem Hefter nehmen. Diese Arbeit vermied er bisher. Die ersten Jahre suchte er verzweifelt nach dem Durchbruch, um die Gründe für ihren Tod zu finden.
Olana und Steve, beide erfahrene Segler und ihr dreizehnjähriger Sohn Louis, sein Patenkind, verließen heute vor genau sechzehn Jahren den Hafen in Brisbane. Kein Sturm, kein hoher Seegang. Dennoch war das Schiff innerhalb weniger Stunden spurlos verschwunden. Die Küstenwache fand einen Tag später einen verstörten Louis in einem Rettungsschlauchboot. Der Junge war mit Seglerknoten festgebunden, die er nicht beherrschte.
Elena White, die Schwester seines verschollenen Schwagers, und er waren Louis‘ Paten und flogen aufgeregt und aufgewühlt nach Brisbane. In den ersten Tagen begingen sie Fehler, verboten Verwandten den Besuch, überließen Louis gutgläubig Psychologen und Ärzten.
Dass Louis in der ersten Woche niemanden erkannte, nicht wusste, wer er war, beunruhigte niemanden. Schließlich wuchs er außerhalb Australiens auf. Verwirrung trat ein, als er Elena und John einfach Mama und Papa nannte.
Nach zwei Wochen fielen die Erklärungen der Ärzte und Psychologen unsicherer aus, da in vergleichbaren Fällen die Patienten sich bereits an bestimmte Begebenheiten erinnerten.
Louis Gehirn schien einen vollständigen Neustart durchgeführt zu haben, eine komplette Löschung seines bisherigen Lebens. John stellte sich vor, wie der Junge zusehen musste, als seine Eltern ihn am Boot festzurrten und dabei mit dem Sog in die Tiefe gerissen wurden. Warum konnten beide sich nicht retten?
Solange Louis sich nicht erinnerte, blieb alles Mutmaßung. Sein vorheriges Leben war für den Jungen nicht mehr da. Zudem kannte er niemanden auf dem Kontinent, dachte John.
Die ledige Elena erwies sich als perfekte Mutter. Als Lehrerin besaß sie die nötige Geduld und Härte. Vielleicht hätte John irgendwie geschafft ein Vater zu sein. Leider sah er in Louis meist Olana. Er hasste sich, weil er dem Jungen unbewusst den Tod seiner Schwester vorwarf. Dafür versuchte er ständig für seine Schwägerin da zu sein. Sie kehrten mit Louis nach Perth zurück.
Eine mit Elena befreundete Psychologin, Nora Bachner, beriet beide intensiv, zeigte neue Wege auf.
Louis sollte jedes zweite Wochenende in Johns Wohnung schlafen. Elena wollte unbedingt einen männlichen Einfluss für Louis – ausschließlich Johns. Mit Bachners Hilfe kämpfte John gegen seinen Selbsthass an. Elena hätte ihn gern mehr eingespannt, aber der damalige Dienst ließ dies nicht zu. Mit der Zeit schlief Louis auch in der Woche bei ihm, weil der Junge mit ihm über alle möglichen Mädchen reden wollte.
Sein neuer Vater machte aus Louis einen Gentleman.
Der Polizist unterdrückte aufkeimende Gefühle für Elena. Er sprach nie darüber. Der Junge war fortan das Zentrum. Elena durfte nicht abgelenkt werden.
Sie versuchten alles, jeder auf seine Art, um Louis zu seinen Erinnerungen zu verhelfen.
Bis zum Unfall war der Junge ein normaler, frecher, aufgeweckter und mutiger Junge, der in Clubs schwamm und relativ gut in der Schule war.
Der Polizist hoffte mit Schockerlebnissen zum Erfolg zu kommen. Auch er und Elena begeisterten sich für die See. Die gemeinsamen Segeltouren bleiben erfolglos. Weder lösten sie Erschütterungen aus, noch zeigte sich Louis begeistert. Im Gegenteil. Steve hatte John stolz berichtet, wie Louis in Los Angeles eine Jollenregatta gewann. Der neue Louis wusste weder Knoten zu schlagen, noch begriff er den Unterschied zwischen Backbord und Steuerbord. Und seine Orientierung erst. John verzweifelte und gab auf.
Auf anderem Gebiet waren beide erfolgreich. Reiten. Elena brachte ihm Pferde näher. John unternahm mit ihm Kamelritte. Louis war ein Naturtalent. Jedes Tier, das er ritt, beugte sich seinem Willen.
Elena ging mit ihm schwimmen, hoffte dadurch, das Unterbewusstsein anzuregen und sich an frühere Abläufe zu erinnern. Neben Segeln war Louis ein guter Schwimmer gewesen. In Fremantle musste er schwimmen lernen und versagte.
Zu schlechter Letzt blieb Louis Fall nicht geheim. Neurologen und andere wurden auf ihn aufmerksam, wollten den Jungen für Studienzwecke gewinnen, um diverse Medikamente an ihm zu testen. Nicht autorisierte Vorträge brachten sogar Forschungseinrichtungen auf den Plan. Elena überließ die zahlreichen Anfragen dem nun wutentbrannten Polizisten.
Mit einem Anwalt formulierte er Anzeigen wegen Verletzung des Arztgeheimnisses an jene, die einen Vortrag gehalten hatten, an die Einrichtungen und die Kongressveranstalter, weil nicht freigegebene Gesundheitsinformationen eines Patienten öffentlich dargestellt wurden. John Taylor bot zwei Wege: Teurer Vergleich oder öffentlicher Prozess. Er drohte staatlich bestellten Gutachtern die Überprüfung an. Das hätte für jene Finanzausfall und Abstieg bedeutet. Die anfragenden Forschungseinrichtungen zahlten hohe Beträge, um ihre Namen aus der Presse und aus Ermittlungen herauszuhalten, da sie um ihre öffentliche Förderung bangten. Davon ausgenommen blieb die Psychologin Dr. Bachner. Ihr vertrauten beide.
Mit dem Geld bezahlte Elena Privatlehrer, Trainer sowie eine Privatschule und richtete für Louis einen kleinen Fond ein. Zusammen mit dem Erbe sollte Louis damit studieren können.
Weil weder die Whites noch die Taylors den Waisenjungen kannten, zumindest jene ausgewählten Verwandten, die Elena in die Nähe ihres Schützlings ließ, begriff keiner den Rabauken, wie ihn sein Vater Steve zuvor beschrieb. Wissbegieriger und fleißiger übersprang der neue Louis eine Klasse und ging jeder körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg.
Seit der Junge in Fremantle arbeitete, sah John seinen Pflegesohn nur zu den wichtigen Geburtstagen. Der jüngste Stationsarzt blieb nur kurze Zeit, um sofort wieder zur Klinik zu fahren. Das Vertrauen der Jugendzeit schien vorbei zu sein. Über beider Netzwerke erfuhren er und Elena, wie schnell seine Beziehungen zerbrachen. Die Frauen zerschnitten die Bande, meinte Elena, wenn sie über ihren Sohn sprachen. Zwei Freunde aus der Privatschule genügten Louis offenbar.
In letzter Zeit sahen sich Elena und John dagegen häufiger. Er rief sie an, lud sie zum Essen ein. Sie meldete sich bei ihm und kochte für ihn. Sie sprach über ihre Schule und ihre Lehrer, er über seine Fahndungserfolge und Misserfolge. Sie freuten sich, als Louis jüngster Stationsarzt wurde, dass seine Operationen für Aufsehen sorgten und der bisher mäßige Ruf der Klinik sich änderte. Viele Polizisten klopften John dankbar die Schulter, nachdem Louis einem Detective mit Schussverletzungen das Leben rettete. Weitere spektakuläre Fälle folgten.
Der Chiefinspector legte Blatt für Blatt in den neuen Ordner.
In einem Sommermonat voller Touristen erinnerte sich niemand an die drei. Das Schiff war einwandfrei. Die Whites an der Ostküste hatten dies immer wieder beteuert. Hotelmanager und Kellner bedauerten, wer täglich hunderte Menschen bedienen müsse, könne sich nicht an drei Personen erinnern. Das Verschwinden der Marie Celeste stuften die Behörden als Unglücksfall ein. Die obligatorische Untersuchung endete schnell.
John zweifelte an der Unfallversion, konnte sein Gefühl leider nicht beweisen. Weder fand man Leichen noch das Schiff und erst recht keine Verdächtigen. Zudem durfte er damals nichts untersuchen, nur die Kollegen in Brisbane.
Warum konnte ein Schiff mit zwei erfahrenen Seglern untergehen, ohne dass ein SOS abgesetzt wurde? Die einzige Erklärung sah John darin - Elena stimmte ihm zu -, dass sowohl das Funkgerät als auch der GPS Sender manipuliert worden waren.
Das Signal führte den Suchtrupp ins Leere. An den Koordinaten fand man kein Schiff am Grund. Dagegen konnte ein starker Störsender eine Ortung um hunderte Kilometer verschieben. War das geschehen? Wer hatte das gemacht? Hatte Steve sich Feinde gemacht? John fand nichts.
Er setzte sich mit der unbequemen Frage auseinander, ob Schwester und Schwager ihren Tod inszeniert hatten. Weder fand er Gründe dafür, noch fuhr die Marie Celeste in andere Häfen ein. Diese Überprüfungen führte er von Perth aus selber durch. Angeforderte Satellitenaufnahmen blieben ebenso ohne Befund. Das Schiff verschwand irgendwo im Pazifik. Sabotage erklärte alles. Leider fehlte ihm das Schiff und die Aussage seines einzigen Zeugen.
Den neuen Ordner legte er in die Schublade. Heute Abend besuchte er Elena.
Fremantle Primary School
„Miss McIntyre!“, rief Sophie und hob danach den Arm. Zuerst melden und dann rufen verstand sie nicht, konnte sie sich nicht merken.
„Ja“, ermunterte Emma die dreizehnjährige Inklusionsschülerin.
„Wenn die Menschen damals keine Gewehre hatten, wie konnten sie denn jagen? Sie können dann doch nicht Jäger und Sammler sein. Man kann doch nur mit einem Gewehr jagen.“
„Eine gute Frage, Sophie“, lobte Emma.
Als ein Junge sein Kichern nicht ganz unterdrücken konnte, sprach sie ihn sofort an.
„Kannst du bitte die Frage beantworten, Anthony. Du weißt: Kichern eine Fünf oder die Antwort eine Eins.“
„Man muss kein Gewehr haben, um zu jagen“, antwortete der Elfjährige, richtete sich an die Lehrerin. Auf den strengen Blick Emmas hin sah er schließlich Sophie an. „Nur weil heute alle mit Gewehren jagen, bedeutet es nicht, dass man ein Gewehr braucht, um ein Tier zu töten. Die Wonghies jagten mit Speerschleudern, Bumerangs oder Steinschleudern, bevor die ersten Siedler kamen. Gewehre wurden in China erfunden zum Böllern. In Europa wurden daraus Kriegswaffen gemacht.“
„Sehr gut, Anthony“, lobte die Lehrerin. „Ist deine Frage beantwortet, Sophie?“
„Ja?“, fragte Sophie ihre Frage vergessend und schaute aus dem Fenster.
„Fein.“
„Die Menschen hatten damals keine Smartphones?“, fragte eine andere Schülerin mit Staunen.
„Wie haben sie dann miteinander gechattet?“
Innerhalb kurzer Zeit überwanden die Schüler bei Emma ihre Ängste. Die junge Lehrerin erlaubte Unterbrechungen, um zu fragen. Eine Sechs für schlechtes Betragen verteilte sie, wer einen Klassenkameraden unterbrach. Als die Schüler merkten, dass ihre Lehrerin jede Frage ernst nahm, wandelten sie sich zu wahren Fragemonstern und lernten mehr, als wenn Miss McIntyre vom Pult referierte. Emmas Klassen eroberten die Herzen anderer Lehrer und wurden regelrechte Lieblingsklassen.
Am letzten Tag vor den Ferien fragte Elena als Schulleiterin absichtlich vor dem Kollegium, wie ihre jüngste Lehrerin das mache. Sie wollte, dass die Kollegen in den Ferien darüber nachdenken sollten. Sie war begeistert gewesen, als Emma ihr Vorgehen eine Woche nach ihrem Antrittsbesuch erklärte.
„Ich bestrafe jeden Kommentar zu einer Frage sehr hart“, antwortete Emma. „Die Fragen beantworten die Schüler und werden belohnt. Ein Kichern die Fünf, eine Antwort die Eins. Alle fühlen sich ernst genommen. Der Anfang erfordert Geduld und Strenge.“
Sie wandte sich zur Tür. Da fiel ihr noch was ein.
„Ach ja, und man darf nie abweichen, keine Ausnahmen machen, nie ein Kichern zulassen und jede dämliche Frage als Kenntnisstand ansehen.“
Woolworth, Fremantle
Louis stieg aus dem BMW i5 aus. Das Hospital nutzte für das Leitungspersonal die Werbekampagne des deutschen Autobauers, der sein Engagement in Down Under verstärken wollte und mit günstigsten Leasingraten lockte. Seit Induktionsparkplätze auf dem Kontinent aus dem Boden schossen wie Gras nach Regen, spielte die Reichweite der E-Fahrzeuge keine Rolle mehr. Ein Bonbon dazu: Je mehr Kilometer er fuhr, umso günstiger wurde die Rate. Den Deutschen war es wichtig, dass ihre Automobile fuhren und nicht standen. Sonst hätte er sich die Limousine nie leisten können. Die Art Werbung gefiel Louis, etwas anders dagegen weniger: Vierzehn Tage Zwangsurlaub.
Nach seiner Rückkehr aus Boston stürzte er sich in die Arbeit ohne an Urlaub zu denken. Seinen ersten Verdacht, dass seine Mutter dahinter steckte, verwarf er sofort. Ja, sie hatte überall Kontakte. Ja, sie wollte ihn glücklich sehen mit einer Frau, das hörte er dauernd aus ihrem Mund. Da brauchte er nicht fragen. Aber nie würde sie in seine Arbeit eingreifen.
Die Frauen machten mit ihm Schluss. Er sei nicht ehrlich, hörte er, weil er eine andere liebe. Die ersten Male verzweifelte er, weil da keine andere war. Schließlich nahm er es hin, glaubte, der Grund wäre nur vorgeschoben. Die letzte Frau monierte schließlich bei einem Dinner, er wäre mit seiner Arbeit verheiratet. Kein Mensch würde freiwillig den üblichen dreißig Stunden Bereitschaftsdienst machen. Und außerdem würden Ärzte doch wohl in Villen wohnen und teure Autos fahren. Zu dem Zeitpunkt fuhr er einen klapprigen aber treuen Dacia. Er lächelte müde, bezahlte und verließ das Restaurant.
In seinem Appartement schlief er selten. Dort fühlte er sich nicht wohl und packte die Kartons nicht aus. Der Kühlschrank war leer, das Eisfach voll. Das Krankenhaus wurde sein soziales Umfeld, dessen Leitung ihn nun zur Pause zwang. Als Stationsarzt hätte Louis eine Vorbildfunktion und dazu gehöre ein geregeltes Privatleben - außerhalb des Hospitals
Tatsächlich sah er Kollegen, die nach ihrer Schicht zu Familie, Partner oder Hobby fuhren, mit gemischten Gefühlen. Dabei blieb er im Krankenhaus, um für seine Patienten da zu sein.
Als Chadakis Sekretärin ihn heute an der Tür abfing und den Zutritt verbot aus Gründen, die er hörte, aber nicht verstand, schlenderte er in der Stadt ziellos umher. Seitdem fragte er sich, ob er wirklich besser gearbeitet hatte. Er war enthusiastischer als die anderen, jung und musste Erfahrungen machen. Er las die neuesten Artikel und probierte die innovativsten Techniken aus. Er selbst sah sich auf einem langen Weg und konnte die Meter vor ihm doch nicht erwarten, wollte rennen, obwohl in seinem Beruf langsam gehen das Richtige war.
Und jetzt das mit seinem Lieblings-Woolworth. Geschlossen aufgrund einer Sicherheitsüberprüfung. Ein zweiter war ebenfalls geschlossen. Also fuhr er zum dritten in Fremantle. In diesem Ortsteil war er bisher nie einkaufen.
Louis ging zum Eingang des Supermarkts und achtete zuerst nicht auf den kleinen alten roten MINI, der etwas forsch auf den Parkplatz quietschte.
Bevor er über den losen Keilriemen nachdachte, klappte die Fahrertür auf und eine junge Frau sprang heraus. Ihr Haar war kurz, ihr Gang federnd und die Augen magnetisch. Louis blieb stehen und konnte den Blick nicht abwenden.
Bereits beim Aussteigen bemerkte sie den großen Mann aus den Augenwinkeln. Emma war Männerblicke und Pfiffe gewohnt. Sie vermied, ihn direkt anzuschauen, obwohl sein Blick nicht unangenehm war.
Sicher war sicher.
Nur keine falschen Zeichen setzen.
Sie zwang sich geradeaus zu schauen. Mit einer Münze entriegelte sie einen Einkaufswagen. Ein kurzer Seitenblick. Der Mann stand unbewegt und betrachtete sie. Sie konnte nicht anders und blickte zu ihm.
Sein Blick flackerte und schon kam er zurück, wo immer er gewesen war. So empfand sie es. Dann betrachtete sie ihn genauer, als er kopfschüttelnd zum Eingang ging.
Ein schwarzer Stein. Eine feste Hand. Augen wie das Meer. Ihr Bauch kribbelte.
„Louis? Bist du das?“, rief sie laut.
Sein Kopf ruckte zu ihr herum. Verständnislos schien er, dass sie ihn kannte. Er tat so, als ob er sie nie zuvor gesehen hatte.
„Entschuldigung!“ Er lächelte unsicher. „Kennen Sie mich?“
„Na, das will ich meinen“, lachte sie, froh ihn zu sehen. „Brisbane, wir beide, 13, Strand, Urlaub“, versuchte sie an Erinnerungen zu knüpfen. In seinem Blick las sie kein Erkennen.
Plötzlich war sie enttäuscht, dass er sie nicht erkannte. Schon wollte sie sich abwenden, als seine Stimme sie stoppte.
„Ich wünschte gern, äh, eine Frau wie dich zu kennen.“
Sie spürte, das er sie nicht fortgehen lassen wollte. Aber warum kannte er sie nicht, verdammt?
Das Kompliment gefiel ihr und sie lief rot an. Wieder drehte sie sich fort, ein wenig wütend über ihn, weil er sie vergessen hatte, und über sich, weil sie rot wurde.
„Warte! Ich wünschte, ich kann mich an Brisbane erinnern. Aber da war ich nie. Ich bin hier aufgewachsen.“
Emma wandte sich ihm voll zu.
„Wie heißt du?“
„Louis White.“
Jetzt war sie völlig sicher, ihren Louis vor sich zu haben. Sein Gesicht, die Statur, inzwischen ein Mann, ein ehrliches Gesicht. Er erkannte sie wirklich nicht.
Seltsam.
„Ich bin Emma McIntyre.“ Sie reichte ihm die Hand, nicht ohne Hintergedanken.
Louis konnte sein Glück kaum fassen. Nur zu gern schlug er ein. Ihre Hand passte in seine, als ob sie dahin gehörte - schon immer.
Sie war endlich zu Hause. Beschützt. Er hielt sie fest – wie früher auf die richtige Art. Er war es und er war es nicht. In seinen Augen lag kein Gefühl. Als sei er irgendwo, aber nicht hier bei ihr.
„Ich will dich nicht vom Einkaufen abhalten“, meinte sie.
Er ließ sie plötzlich los, als ob sie was Falsches gesagt hatte.
„Ah, ja. Hättest du Lust auf ein Getränk deiner Wahl. Ich lade dich ein.“
Sie schaute zu ihm hoch.
„Dafür“, sagte er hastig, „dass du mich angesprochen hast.“
„Gut. Ich muss aber trotzdem einkaufen. Ich trinke gern Kaffee.“
„Ich auch.“
„Du sprichst ganz schön verschwurbelt. Wie ein Arzt.“
Louis konnte sich nicht erinnern, jemals beim Einkaufen Spaß zu haben. Emma hatte ihn.
„Schau mal“, frohlockte sie, wollte ihn einbeziehen, „den Eisbergsalat gibt es im Angebot. Mit Zitrone und Hähnchenstreifen. Lecker. Oder bist du Vegetarier?“
Er schüttelte den Kopf.
„Dazu ein paar Tomaten und fertig ist der Emma Salat. Und da, och toll, dass die....“
Louis wollte, dass sie nie wieder aufhörte zu reden. Er war keine sechzehn mehr, ein Alter, in dem Jungen sich nicht trauten gegen das Mädchen was zu sagen, nur um keinen Streit zu bekommen, lieber dafür den Kuss. Als Emma Sauerkraut aus dem Regal nahm, verzog er angewidert das Gesicht. Sie nickte zufrieden. Sie mochte keine Männer, die alles aßen.
Der Einkaufswagen füllte sich mit Gemüse, Fisch, Fleisch, Obst.
„Du wolltest doch auch einkaufen“, meinte sie aufmunternd.
„Ich habe nie viel zu Hause“, zuckte er mit den Schultern. Er fühlte sich wie ein Langweiler.
„Ich würde umkommen, wenn ich zu Hause nichts zu essen hätte.“
„Ich esse auf der Arbeit, meistens“, erwiderte er. Hastig schlug er vor: „Was sagst du dazu: wir sagen uns nicht, welchen Beruf wir ausüben.“ Er wollte sich keine Vorträge anhören, warum Ärzte lange Bereitschaftsdienste hatten. Zwar hatte er nicht das Gefühl, dass sie so etwas sagen würde. Nur, das hatte er bei seinem letzten Date auch nicht erwartet. Er war vorsichtig, wollte sie erst kennenlernen. Sie sollte ihn kennenlernen. Zu oft definierte der Beruf den Menschen und Vorurteile beherrschten das Miteinander.
„Das gefällt mir, Louis.“
Sie rümpfte weder die Nase, noch kommentierte sie seine Pizzen, Dosensuppen und Fertiggerichte. Aber verschiedene Apfelsorten und Bananen packte er reichlich ein.
Als sie bezahlt hatten, stellte Emma ihm ganz bewusst die erste Falle, um ihn zu prüfen.
Sie gab sich nicht damit zufrieden, dass der Louis aus dem Urlaub sie nicht kannte.
Sie wartete ab. Damals in Brisbane war Louis der Motor gewesen, der sie zu jedem Unsinn mitnahm. Sie wurde nicht enttäuscht.
„Wollen wir zuerst zu dir fahren?“, schlug er vor und erklärte weiter. „Dann fahren wir mit meinem Auto zu mir, abladen und dann Kaffee trinken. Ich bringe dich wieder heim.“
„Gern, das ist ja dein Glück, dass ich vor einer Woche in die Nähe gezogen bin. Sonst wäre es ne lange Strecke gewesen.“
Am Eingang dachte er über sie nach, wie sie sich gab.
„Ich schätze bei dir steht ein Karton herum, wenn überhaupt.“
Er trug ihre Einkaufstaschen. Das hatte er von seinem Vater, dem Inspector, gelernt, der, was den Umgang mit Frauen betraf, sehr streng zu ihm war.
„Einer Frau Koffer und Taschen tragen? Jederzeit oder du bist ein Weichei.“
„Eine Frau von oben herab anschauen? Niemals. Sie sind Gefährten, kein Eigentum. Faschisten sehen das allerdings anders.“
„Je aufmerksamer du auf sie achtest, um so weniger keift sie. Einen Faulenzer will keine haben, und das ist richtig so.“
„Einer Frau die Tür aufhalten? Unbedingt. Ein Schwächling, der das nicht macht.“
Weder ein Schwächling oder Weichei, noch ein Faschist schon gar nicht ein Faulenzer wollte er sein. So oft und solange hörte er das, bis es tief in ihm verankert war.
Und doch war sein Vater alles andere als ein leuchtendes Beispiel langfristiger Beziehungen.
„Wo hast du vorher gewohnt?“, nahm er den Faden des Umzugs wieder auf.
„Fast in Perth.“
„War es da nicht schön?“
„Das würde zum Beruf führen.“
„Fühlst du dich hier wohl?“
„Ja, Western Australia ist schon speziell, aber Fremantle.“ Sie sprach nicht weiter.
„Ich weiß, ich bin einer“, lachte er. „Bisher haben wir jeden Ankömmling infiziert. Du wirst schon sehen. In drei Monaten antwortest du auf die Frage deiner Herkunft, Fremantle, Westaustralien, glaub mir.“
Sie fuhren schweigend mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock.
Wie er sagte. Ein Karton war nicht ausgepackt und stand vor einem Heizkörper.
„Ja, ich hasse Kartons“, gab sie unumwunden zu und lächelte. „Der muss morgen früh dran glauben.“
Na prima, dachte er. Seine Wohnung sah anders aus.
Als sie sein Auto erreichten, schubste sie ihn leicht.
„Wenn du dir den leisten kannst, verdienst du mehr als ich“, sagte sie betont neidisch.
„Kostet mich derzeit neunzig Dollar im Monat. Ich muss erst zeigen, dass ich ihn verdiene“, wehrte er ab.
„Aha, irgendwie kommen wir immer auf Berufe. Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“
„Gut“, grinste er. „Ich ahne etwas“.
Er öffnete die Beifahrertür für sie.
Elenas Haus, Fremantle
„Welche Farbe hat die Mappe jetzt?“ Sie griff seine Hand und drückte sie.
„Woher...?“, fragte er verblüfft.
Elena lächelte John an.
„Letztes Jahr hast du mir diese Mappe ausführlich beschrieben und dass eine neue fällig sei. Da heute der Tag ist, du hier und ein Mann bist, ging ich davon aus, dass seit heute ein nagelneuer Ordner die Blätter zusammenhält.“
Er grinste.
„Wie schaffst du das nur, solch eine Banalität so aufregend zu beschreiben, dass es wie ein tolles Ereignis klingt? Das bewundere ich so an dir.“ Sein Daumen erforschte ihren Daumenballen.
„Eine Lehrerin weiß einen langweiligen Stoff interessant zu machen. Das kann ich nicht ablegen. Der Kaffee müsste durch sein. Holst du Teller und Besteck?“
Sie standen auf und arbeiteten Hand in Hand. Manchmal sah er sie an, ihre leichten Bewegungen, ihre schlanke Figur. Sie beobachtete ihn ebenfalls. Die ersten grauen Haare machten ihn attraktiver. Anders als seine gleichaltrigen Kollegen, die nach allen Seiten in die Breite gingen, war er durchtrainiert wie ein Zwanzigjähriger. Sie genoss seine Anwesenheit, seine männliche Präsenz. Er führte ein gänzlich anderes, körperbetontes Leben. Heute würde sie ihn nicht gehen lassen.
„Du bist befördert worden, oder?“, fragte sie eher rhetorisch.
„Ja, ich möchte gern mit dir und dem Team feiern.“
„Natürlich bin ich da, Herr Chiefinspector.“
Aus ihrem Mund hörte sich das sehr gut an. Sie stellte den Kaffee auf den Tisch.
„Jetzt leiten wir beide“, sagte er heiser.
Sie horchte auf.
„Das war mir nie wichtig“. Sie sprach langsam, als sie seinen Blick erwiderte.
„Ich weiß, aber mir.“ Er griff ihre Hüfte.
„Ich weiß“, sagte sie rau, als seine Lippen ihren Hals liebkosten.
Der Kaffee wurde kalt.
Fremantle Hafen
„Wenn du Kartons hasst, solltest du lieber im Auto bleiben.“
„Netter Versuch. Du warst in meiner Wohnung. Ich werde mir deine anschauen. Wie lange wohnst du da?“
„Zwei Jahre.“
Es war ihm peinlich. Andererseits hatte er bisher nicht viel übrig für seine Wohnung gehabt. Er schloss auf.
Emma wartete, ob er mehr sagen würde. Als nichts kam, wuchs die Enttäuschung über ihn. Zuerst tat er so, als kenne er sie nicht, und jetzt war es ihm plötzlich peinlich eine Frau in seine Wohnung zu nehmen und gab keine Erklärung. Louis der Junge interessierte sie mehr als Louis der Mann.
Als sie die Wohnung betrat, war sie wieder enttäuscht. Da fuhr er ein modernes Auto, mochte es auch günstig sein, sein Appartement kostete bestimmt doppelt soviel wie ihres und er stellte die tollen Panoramafenster mit Kartons voll. Ein Zimmer sah aus wie das Schlafzimmer, ohne diesen Namen zu verdienen. Schon war sie versucht seine Einladung abzusagen. Sie hatte zugesagt und stand zu ihrem Wort.
Trink den Kaffee und geh dann, sagte sie sich.
Die Küche blitzte in Chrom und Stahl wie ein OP Saal. Der Kühlschrank war leer und sauber, die Tiefkühlbox gut gefüllt. Alles verwirrte sie. Die Kartons sagten ,kein Interesse'. Die Küche teilte im Gegensatz jedem mit, dass Schimmel keine Chance hatte.
Möglicherweise versteckten sich die gemütlichen Dinge in den papiernen Kisten. Zu gern hätte sie einen Karton nach dem anderen aufgerissen.
Diese Pappquader sahen wie eine aufgeschichtete Mauer aus, die widerspiegelte, wie stark Louis sich abgrenzte. Sein Wunsch nicht die Berufe zum Thema zu machen war ein Teil dieser Wand; sein Wunsch sie nicht in die Wohnung zu führen: Festung; dass er sie nicht kannte: hochgezogene Zugbrücke.
Schlimmer für sie war, dass er sie anscheinend mochte und dennoch behauptete sie nicht zu kennen.
Spielte er mit ihr? Wollte er ihr heimzahlen, weil sie damals so plötzlich unfreiwillig abgereist war? Sollte sie ihn darauf ansprechen?
Nein.
Sie weigerte sich sein Spiel zu spielen.
Er war froh, als sie wieder im Auto saßen. Seine Idee, nicht über Berufe zu reden, lief völlig falsch. Er schämte sich jetzt, wie er wohnte. Ihr Appartement war gemütlich, ein Ort um sich zu erholen. Seine zwei Räume waren kalt und nichtssagend. Ihr Gesichtsausdruck beim Betreten der Wohnung genügte. Sie war enttäuscht. Wenn er jetzt mit seinem Beruf kommen würde, stünde er als Ausreden suchender Versager da. Er verstand nicht, warum sie vor dem Woolworth darauf bestand, ihn zu kennen, aus Brisbane, als Dreizehnjährige. Er sollte das Kaffeetrinken absagen. Anscheinend schien sie ihn zu kennen. An sie hätte er sich auf jeden Fall erinnert.
Hatte er einen Doppelgänger? Sollte er das ansprechen? Oder einen Witz über seine Wohnung machen? Alles was aus seinem Mund kam, würde falsch sein. Daher sagten viele Männer in solchen Situationen lieber nichts. Louis war da ganz anders.
„Vor drei Tagen“, begann er, „rettete ich einem Mann das Leben. Er sagte mir, dass er mit seiner Frau über fünfzig Jahre verheiratet war. Sie konnten stundenlang nebeneinander sitzen und schweigen und doch fühlten sie sich einander nahe. Wenn ein Partner das Schweigen nicht ertragen kann, muss er erklären, warum. Meine Wohnung ist, wie sie ist. Du bist enttäuscht. Ich schäme mich. Bisher war mir die Wohnung nicht peinlich. Jetzt ja. Aber Wohnungen sind veränderbar und ich habe jetzt Urlaub.“
Gerade wollte sie ihn noch bitten anzuhalten. Jetzt war sie sprachlos. Sie blieb sitzen und staunte.
Wenn sie bestimmt hätte, säßen sie im Starbucks. Er führte sie zu einer kleinen Kaffeebar im alten Fremantle-Hafen. Die erneuerten Lagerhallen boten kleinen Geschäften günstige Bedingungen.
„Du hast die Qual. Traditionelle Röster bieten hier in Kleinmengen seltene Bohnen aus Äthiopien an. Wenn du magst, bestellen wir zwei unterschiedliche Sorten und teilen.“
Sie nickte und fragte sich, warum Kaffee aus Äthiopien anders sein sollte als Starbucks Kaffee. Fototapeten zeigten Kaffeesäcke. Schlichte Holzstühle mit Ledersitzen. Paletten stützten die Bar oder bildeten Sitzgruppen auf der Terrasse.
Die beiden Designer Tassen standen vor ihnen. Er schob ihr eine Tasse hin und eine zu sich. Der erste Schluck war eine Gaumenexplosion. Sie kannte die Werbeaussagen diverser Spots über Gaumenexplosionen. Dies war nach zahllosen Kaffeetassen dennoch ihre erste Gaumenfreude.
Der Frust, dass er sie nicht kennen wollte, saß unvermindert tief.
„Ich dachte, du führst mich zu Starbucks.“ Man ging einfach dorthin. Sie wusste nicht, warum sie auf Konfrontation aus war. Die Kaffeebar gefiel ihr, aber sie wollte dagegen sein. Sie suchte, um etwas gegen ihn zu haben. Ihr fiel nichts ein.
„Für mich ist wichtig“, erklärte Louis, „dass die beiden deutschen Inhaber mit Hingabe ihre Kaffeesorten zusammensuchen und ihren Angestellten ordentliche Gehälter zahlen und selber Dacia fahren. Im Starbucks zahle ich überteuerte Getränke aus südamerikanischen Ausschussbohnen, finanziere die Villen und Limousinen der Chefs und unterstütze die Mindestlohnkultur einer Aktiengesellschaft. Die beiden hier eröffnen demnächst in Melbourne und Brisbane mit derselben Philosophie kleine Kaffeebars. Kaffeehäuser haben in Europa eine lange Tradition. Deinem Gesichtsausdruck nach hat dir der Kaffee geschmeckt. Mir schmeckt er besser als der Ami-Kaffee.“
„Aber Vorurteile gegen Amerikaner hast du nicht“, sagte sie ernst.
„Vorurteile? Es ist meine Meinung.“
„Wissen bildet eine Meinung und nicht Glaube.“ Sie hatte Lust auf Streit, etwas gegen ihn zu setzen. Sie wollte ihn schlecht machen, weil er sie dauernd durcheinanderbrachte. Er log doch, dass er sie nicht kannte.
„Du solltest zuerst den Kaffee im Starbucks probieren“, riet sie ihm. „Das ist eine Weltmarke. Die werden geprüft und haben eine Riesenauswahl.“
„Schmeckt dir der Kaffee bei Starbucks besser?“ Er hob die Tasse hoch.
„Darum geht es nicht.“ Sie fühlte sich in eine Ecke gedrängt.
„Also antwortest du nicht mit ja oder nein. Wo ist das Problem? Dir schmeckt dieser Kaffee besser. Dennoch hältst du mir vor, dich nicht zum Ami gebracht zu haben, wo es schlechteren Kaffee für mehr Geld gibt, um einen Ausbeuter zu unterstützen, obwohl du hier in Fremantle einen besseren Kaffee bekommst zu fairen Bedingungen. Übrigens diese Tasse ist günstiger als der Starbuckskaffee und man hat eine freundliche Bedienung.“
Sie war wieder sprachlos. Er verstand einfach nichts. Man ging einfach zu Starbucks, weil, weil ... sie fand jetzt keinen Grund, aber diese Blöße wollte sie sich nicht geben, nicht vor ihm.
„Du verstehst nichts“, sagte sie einfach, spielte den Ball zurück.
„Dann erkläre es mir, bitte, damit ich verstehe.“
„Es sind viele Gründe“, sagte sie lahm.
„Ich habe Zeit“, erwiderte er und beugte sich vor.
Sie sagte nichts.
Er wartete.
Lange.
„Du suchst einfach nur Streit?“, fragte er. „Ist es das? Weil ich nicht in die Schublade passe? Jemand, der eine Kartonlandschaft als Wohnung hat, muss oberflächlich sein. Übrigens, jetzt suche ich Streit. Ich kündige ihn an. Du sagst, dass Meinung aus Wissen entsteht und unterstellst mir Vorurteile gegen Amerikaner zu haben. Starbucks ist nicht Amerika, genauso wie das Hofbräuhaus nicht Deutschland ist. Ich habe zwei Jahre in Boston gearbeitet. Da gibt es, wie überall in der Welt, gute und blöde Menschen, Starbucks und gute Coffeeshops. Wenn du mich eingeladen hättest und nach Starbucks gegangen wärst, hätte ich erst auf Nachfrage gesagt, dass ich dort jeden Kaffeeausschank probiert habe. Die Kette ist langweilig im Geschmack und den Preis nicht wert. Da es ein Ami-Laden ist, gehen die Amis da rein. Die Unabhängigen haben leckere Mischungen aber nichts vergleichbares wie hier. Äthiopien ist nun mal die genetische Heimat des Kaffees. Nirgendwo sonst gibt es hunderte Sorten. Mir scheint, du weißt nicht, dass alle Kaffeebohnen aus Asien und Amerika von einer Pflanze abstammen, die illegal aus Äthiopien geschmuggelt wurde. In den Staaten bekommst du Amerika-Kaffee, da können die Coffeeshops machen, was sie wollen. Ich weiß es und habe daher keine Vorurteile. Ich probierte Starbucks. Da schmeckt einfach nichts. Ich würde nie eine interessante Frau zum Kaffee trinken dorthin einladen. Wenn Starbucks dir allerdings so wichtig ist, kann ich dort auch Kakao trinken.“
„Dann danke ich für die Einladung.“ Sie war sauer und hatte gar nicht richtig zugehört. Sie war wütend, weil sie sich lächerlich gemacht hatte und er ihr den Spiegel vorgehalten hatte. Aber viel schlimmer war etwas anderes. „Ich finde es eine Beleidigung, dass du so tust, als ob du mich nicht kennst, und das macht alles andere hinfällig. Wir haben soviel zusammen gemacht, hast dich mit einem Jungen wegen mir geprügelt. War das alles Lüge?“ Sie stand auf. „Bemühe dich nicht! Ich bin groß. Ich komme alleine nach Hause.“
Sie lief hinaus und davon.
Der Kellner hielt ihn zurück. Er legte schnell zwei Scheine hin und rannte ihr nach. Als er auf die Straße stürzte, war sie bereits verschwunden.
Er kannte sie ganz sicher nicht. War sie gestört? Nie hatte er sich mit jemandem wegen eines Mädchens geschlagen. Ganz klar, dass sie alles erfand, weil er sich niemals mit Männern körperlich anlegte. Seine Hände und sein Kopf waren sein Kapital, seine Zukunft.
War Emma sauer, weil sie keine Argumente mehr hatte? Glaubte sie ihn zu kennen und schusterte sich eine Geschichte zusammen. Er ärgerte sich, dass er sich wie ein Lehrer gegenüber einem Schüler verhalten hatte. Andererseits hatte er klar gesagt, dass es seine Meinung war. Sie konnte doch ihre haben.
Sie flüchtete und gab ihm keine Chance.
Jede Schwierigkeit, jeder Streit wurde ausgefochten, bis man gewann oder mit dem Kompromiss zufrieden war. Dieses Verhalten verdankte er seiner Mutter und seinem Vater. Durchhalten, das Gespräch suchen, Gewalt vermeiden. Lag darin sein Problem mit den Frauen? Er öffnete sich, während viele seiner Geschlechtsgenossen schwiegen oder lieber prügelten. Fanden Frauen das attraktiver? Kamen sie mit einem argumentierenden Mann nicht klar. Schublade auf - Mann rein.
Er hatte sie anders eingeschätzt.
Schade.
Er mochte sie.
Verdammt.
Sie ließ sich in den Rücksitz des Taxis fallen. Was war mit ihr los? Nie ließ sie einen Mann stehen. Rächte sie sich an ihm, stellvertretend für alle gescheiterten Beziehungen? Sie konnte, wollte, durfte ihm nicht glauben, dass er sie nicht erkannte. Dafür gab es keinen Grund. Zu Anfang vielleicht, nicht jeder hielt wichtige Erinnerung ständig parat, wie sie. Spätestens in der Kaffeebar hätte er sie doch erkennen müssen. Dann ließ er sie dumm da stehen. Warum bestand sie nur auf Starbucks? Weil sie dort mal hin wollte. Andere schwärmten davon. Wie sie sich verhielt, musste er sie für eine dumme Frau halten. Dabei hatte er ihr Brücken gebaut, erkannte sie jetzt. In ihrer blinden Wut wollte sie davon nichts hören und Scham ließ sie weg rennen. Er kannte ihre Wohnung. War er einer dieser Stalker? Warum fiel sie immer auf solche rein? Wie dumm war sie gewesen.
Plötzlich fiel ihr ein Ausweg ein. War das möglich? Sie dirigierte den Taxifahrer um.
Louis sah so verdammt gut aus.
Mist.
Elenas Haus, Fremantle
„Ich möchte, dass du bleibst.“ Sie legte ihren Kopf auf seine Brust. Elenas Fingernägel sorgten für ein ständiges Zittern auf seiner Haut.
„Ich auch.“ Ihr Körper war glatt und geschmeidig. Sie war ganz Frau. Er drehte sich und küsste sie leidenschaftlich. Sie erwiderte den Kuss und setzte sich auf ihn.
Es klingelte.
Ungläubig sahen sie sich an. In beiden Gesichtern stand keine Frage. Das konnte nur er sein.
John Taylor lächelte.
„Bleib liegen, ich regle das.“
Sie rollte zur Seite und haute auf die Matratze.
Er stand auf, zog sich die Hose an. Er war fit, sein Oberkörper war muskulös. T-Shirt war nicht notwendig.
„Besser, wenn ich das von Mann zu Mann kläre, wenn er fragt, was ich hier mache.“
„Er ist erwachsen. Wir sind ihm keine Rechenschaft schuldig.“
„Klar, und warum reden wir darüber?“
„Geh schon und mach es kurz“, schnurrte sie und räkelte sich.
„Genau so bleiben“, grinste er.
Sie warf ihm ein Kissen nach.
Er eilte zur Haustür und riss sie auf.
Eine Frau?
Sie wusste nicht wohin. Nach Hause konnte sie nicht, weil er wusste, wo sie wohnte. Zum Glück hatten sie keine Nummern ausgetauscht. Zumindest drohten auf diesem Weg keine permanenten Anrufe. Sie reagierte instinktiv durch ihre Erfahrungen, weil ihre Ex-Freunde sich als Stalker entpuppten. Ihre Freundin Yvonne war im Urlaub. Zu ihrem Vater konnte sie nicht. Ihre Chefin fiel ihr plötzlich ein.
Dass ein Mann öffnete, überraschte sie nur kurz. Natürlich hatte eine starke Frau ein Prachtexemplar.
„Guten Abend?“, grüßte John Taylor fragend
„Entschuldigung. Mein Name ist Emma McIntyre. Ist Misses White zu sprechen? Es ist dringend.“
John Taylor spürte Elenas beruhigende Hand auf seinen Rücken.
„Miss McIntyre?“ Sie schob sich an ihm vorbei.
„Es tut mir leid, dass ich sie störe. Ich wusste nicht wohin“, sprudelte es aus Emma heraus. „Es ist meine Schuld. Ich wollte...“
„Kommen Sie doch rein. John, das ist Miss McIntyre, eine meiner Lehrerinnen. John Taylor“, stellte sie ihn vor und machte eine kleine Pause. „Mein Mann!“
Der Polizist war baff und glücklich.
„Ich mach mal Kaffee.“ Er entwischte in die Küche und schloss die Tür. Die Frauen brauchten Kaffee und nicht ihn.
Elena führte die junge Frau ins Wohnzimmer
„Ich weiß nicht mal, warum ich durcheinander bin.“ Emma redete drauflos. Die auf der Arbeit so fast perfekte Frau, scheiterte an Beziehungen, die den Namen nicht verdienten, bekam Elena mit.
„Ich bin hierher gezogen, um neu anzufangen. Heute läuft er mir über den Weg. Der Junge, der mich im Herzen ein Leben lang begleitete. Ausgerechnet er will mich nicht kennen. Dabei hatte ich mit ihm den schönsten Urlaub in meinem Leben. Ich weiß, sie müssen mich für bescheuert halten. Jugendliebe im Urlaub. Aber das war so tief mit ihm. Sowas habe ich nie wieder erlebt. Ich kann das nicht beschreiben. Es war....“
„Magisch?“, fragte Elena sanft.
„Ja, magisch. Heute treffe ich ihn beim Einkaufen. Ich sprach ihn an. Aber er behauptete, mich nicht zu kennen, nie in Brisbane gewesen zu sein. Aber er ist es, ganz sicher. Gesicht, Statur, nur als Mann. Immer war ich überzeugt, dass er irgendwo war. Jetzt treffe ich ihn und verliere den Boden unter den Füßen, weil er mich nicht kennt. Ich reagierte wie eine dumme Pute, stritt und bin abgehauen, weil er mich nicht wiedererkannte.“ Sie berichtete, was im Kaffeehaus geschehen war und ihre Angst, das auch dieser Mann ein Stalker wäre. Er würde ja ihre Wohnung kennen.
„Emma, darf ich Sie Emma nennen?“, unterbrach Elena sanft und ungeduldig.
Die junge Frau nickte.
„Ich verstehe nicht, warum Sie zu mir kommen.“
„Sie sind die einzige, zu der ich Vertrauen habe und, weil ich hoffte, dass Sie diesen Mann kennen.“
„Ich?“, fragte Elena verdutzt.
„Derselbe Name. White. Da dachte ich ...“
„Wie heißt der Mann?“, fragte Elena ahnungsvoll. Ein Schauer breitete sich über ihren Rücken aus.
„Louis White. Ich glaube, er ist Arzt oder Wissenschaftler.“
Kaffeebecher zerbrachen laut am Boden. Das Tablett klapperte und der Kaffee verteilte sich über die Kacheln.
Emma sah zwei zu Stein erstarrte Menschen.
Fremantle
Vergeblich klingelte er bei seinem Vater. Zu seiner Mutter wollte er nicht. Er brauchte jemanden zum Reden, wie damals. Seine beiden Freunde bereiteten ihre Urlaube mit ihren Familien vor, packten und fuhren heute los. Sie hatten keine Zeit. Klar, Ferien begannen. Das Krankenhaus bedeutete für ihn Sperrgebiet. In sein Appartement zog ihn nichts.
Er wusste nicht, an wen er sich wenden sollte.
Emma, wie sie aus dem MINI sprang, voller Leben, voller Tatendrang. Wie Wut und Zorn ihr Kinn vorstreckten, ihr Gesicht hart machten, reizte ihn. Sie war wunderschön, attraktiv. Der Zorn machte sie begehrenswerter.
Sein Handy klingelte. Mutter. Er drückte sie weg.
Emma, wie sie davon rauschte, wie ihre Augen funkelten.
Sie war die begehrenswerteste Frau, die er jemals kennengelernt hatte und er wollte nicht wie ein Bittsteller oder Schlimmeres vor ihrer Tür lungern.
Louis fühlte sich ausgestoßen aus Fremantle, wie ein Aussätziger.
Wenn alle Welt meinte, er wäre in Brisbane gewesen, dann war es Zeit, den Pazifik zu sehen. Er fuhr zur Tankstelle, um den Akku zu laden, und kaufte ein Zelt, Schlafsack und Matte.
Dass er Emma mit der Welt gleichsetzte, fiel ihm nicht auf.
Elenas Haus, Fremantle
Eine Ewigkeit schienen Elena und John erstarrt. Emma griff die Hand der älteren Frau, die zuckte und lächelte.
„Es tut mir .. uns leid!“ Elena drehte sich zu John um, der die Scherben nicht beachtete. Langsam setzte er sich neben seine Liebe, legte den Arm um sie. Elena schmiegte sich an ihn, als ob sie fünfzehn Jahre nachholen müsste.
„Louis ist unser Sohn“, erklärte sie Emma. Sie bat die junge Frau mit einer Handbewegung den Ausruf zu unterbinden. „Wir haben ihn adoptiert. Haben Sie, hast du ihn vor sechzehn Jahren in Brisbane kennengelernt?“
Emma nickte, unfähig etwas zu sagen.
„Mein Gott, du kennst ihn, wie er früher war, bevor...“ Sie brach ab. John übernahm.
Er erzählte der fassungslosen Emma die mysteriösen Umstände, die dazu führten, dass Louis in einem Rettungsboot gefunden wurde, gab ihr einen Einblick, was mit Louis Gehirn geschehen sein könnte, so dass sein Leben und alle ihm bekannten Menschen aus der Erinnerung löschte.
„Oh mein Gott, und ich habe ihn stehen gelassen“, schimpfte Emma mit sich.
„Bitte, mach dir keine Vorwürfe“, warf Elena ein. „Kein Mensch könnte das verstehen. Leider kann er darüber auch nichts wissen. Aber du bist ein Teil seiner Vergangenheit. Seines verlorenen Ichs. Kannst du uns sagen, wie er früher war?“
Als ob sie einen Stöpsel gezogen hatte, floss es aus der jungen Frau heraus.
Die wenigen heimlichen Stunden am Strand und im Meer, wohin er sie überall mitnahm, nur mit ihr alles erkunden wollte. Für sie der erste Junge, der sie ernst nahm. Jeden Tag schenkte er ihr Steine, die er im Sand fand. Als er den Jungen schubste, der sie ärgerte, wusste sie, dass er sie mehr mochte, als er zugeben wollte. Sie küsste ihn.
„Er hielt mich fest, wie ich mir immer wünschte. ,Ein König beschützt seine Königin' sagte er. Meine … Eltern verboten mir jeden Kontakt zu Louis.“ Sie stutzte. „Wenn ich jetzt daran denke, sie haben nie gesagt, warum. Ich habe mich nicht getraut ohne Erlaubnis mitzufahren. Er stand am Heck und winkte mir zu, die ganze Zeit, bis ich das Schiff nicht mehr sah. Am selben Tag zwangen sie mich fort. Ich sah ihn nie wieder. Ich kannte seinen Nachnamen nicht - bis heute. Die Erinnerung an ihn schuf Hürden für meine Beziehungen.“
„Er sagte wirklich ,Ein König schützt seine Königin'?“, fragte John erstaunt.
„Ja“, gab Emma zu.
Das würde der Louis, den John kannte, niemals sagen. Der Satz klang eher nach seinem Schwager und – nach ihm. Das Verhalten eines Gentleman gegenüber Frauen musste John dem Jungen hart anerziehen, kam aber nicht aus Louis Herzen. Der dreizehnjährige Louis dagegen schien den natürlichen Beschützerinstinkt der Männer in sich getragen zu haben.
„Wir müssen Nora anrufen“, schlug Elena vor, die das gerade Gehörte einordnete. „Emma, nenne mich bitte Elena. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, was es mir bedeutet, dass du hier bist. John, ruf sie an, ob wir kommen können. Ich versuche, ihn anzurufen.“
Sie nahm ihr Fairphone der vierten Generation. Man hörte nur die Mailbox.
„Ich schreibe ihm eine Nachricht, dass er mich anrufen soll“, meinte sie und tippte schon.
John Taylor holte sein Smartphone heraus.
„Hallo, Nora? Hier ist John Taylor. Ja, ne Weile her. Nein, es geht um Louis. Es ist so, bei uns sitzt eine junge Frau, die Louis vor dem Unfall getroffen hat. Die beiden hatten sich gern und trafen heute aufeinander. Können wir vorbei kommen? Nein, Louis ist nicht da. Ach … So? … Er soll also nicht kommen? Ihn auch nicht anrufen? … Gut, wir fahren sobald wie möglich los.“
„Ohne ihn?“, fragte Elena und runzelte die glatte Stirn.
„Sie fürchtet ein Desaster.“
Emma erschrak.
Fremantle Highway
Ihr Gesicht ließ ihn nicht los. Das war keine Schauspielerei. Sie meinte wirklich, war fest überzeugt, ihn zu kennen. Dass er sich nicht erinnerte, tat er achselzuckend ab. Seine Kindheit kannte er nicht. Das akzeptierte er als junger Mensch. Er lebte im Jetzt. Geschichte interessierte ihn nicht, nur das Morgen, das Besser machen, und alles Bekannte als änderbar betrachten.
Warum hielt sie so daran fest, ihn zu kennen? Warum war es ihr so wichtig?
Er verschwieg seiner Mutter, seinem Vater und anderen seine fehlenden Erinnerungen. Es gab Babyfotos - mehr nicht. Er fand sich damit ab. Außerdem wollte er nicht weiterhin wie ein rohes Ei behandelt werden, weil er nicht wusste, warum er zur Bachner, der Psychotante, gehen musste. Je weiter er zurückblickte, umso dumpfer und schwammiger wurde es. Das mochte er nicht.
Jetzt wollte er zurückblicken, wollte Emma als Teenager, wollte die Vergangenheit sehen, um sie zu verstehen.
Er wollte jetzt der Junge sein, den sie kannte.
Eine ihm unbekannte Mauer bekam einen feinen unsichtbaren Riss.
Praxis Dr. Bachner, Fremantle
Sie saßen in weichen Sesseln und die Psychologin hörte aufmerksam zu, wie Emma über ihren Urlaub mit Louis sprach.
Als Emma nichts mehr einfiel, schrieb Bachner weiter, unterstrich Wörter.
„Miss McIntyre.“
„Nennen Sie mich bitte Emma! Ich komme mir komisch vor, wenn sich alle außer mir duzen.“
„Dann also Emma, du bist eine Goldgrube.“
„Das versteh ich nicht.“
„Es ist so“, übernahm Elena. „Ich bin Louis Tante, die Schwester seines Vaters Steve. John ist Louis Onkel, der Bruder seiner Mutter Olana. Steve war Journalist, ließ sich in der ganzen Welt einsetzen. Olana ging überall mit, nahm ihrem Mann aber das Versprechen ab, dass die Familie jederzeit wieder nach Australien zurückkehren würde, wenn Olana es wollte. Sie war Polizistin und konnte jederzeit wieder anfangen.“
„Louis wuchs in Europa, Asien, Südamerika und den USA auf“, fuhr John fort. „Ich sah Louis erstmals in Melbourne zu seiner Taufe. Danach verließen sie Australien. Natürlich blieb ich in Kontakt mit meiner Schwester. Aber was berichtet eine Mutter über ihren Sohn? Wie toll er aß, dass er schon laufen konnte, während andere saßen, welche Preise er als Segler und Schwimmer gewann. Solche Sachen. Als Mensch kannten wir Louis nicht. Nach Jahren als Weltenbummler wollte Olana wieder zurück. Sie bewarb sich in Perth und bekam die Stelle.“
„Steve wollte eine Auszeit, um seinen ersten Roman zu schreiben“, erzählte Elena weiter. „Die Whites besaßen die Marie Celeste, unsere Familienjacht. Sie bot acht Personen Platz. Zwei, besser drei Segler konnten sie führen. Steve und Olana wollten sie von Brisbane nach Perth auf der südlichen Route überführen. Allerdings wollte Olana auch Louis prüfen. Es war ja nicht so, als ob Louis zum ersten Mal auf einem Boot stand. Aber ein vollwertiger Segler war er mit seinem Alter natürlich nicht. Als wir ihn in Brisbane trafen, stand uns ein unbekannter Junge gegenüber. Ich musste ihm das Schwimmen beibringen. Er kann es nicht.“
„Ich fuhr mit ihm segeln. Er kannte keinen Knoten“, fügte John Taylor hinzu.
„Emma“, bat Dr. Bachner. „Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dich zu befragen. Jetzt sind deine Gefühle wichtig. Sie haben meist eine stärkere Erinnerung als der Verstand. Je mehr ich erfahre, wie Louis früher war und worin die Gegensätze bestehen, umso besser können wir ihm helfen. Ich widersprach der Störungsdiagnose. Dann wären die Symptome anders und würden ihn in seinem Beruf hindern. Louis ist weder gestört noch gespalten. Auf dem Pazifik oder unmittelbar davor muss etwas mit ihm geschehen sein, dass er an sich erkannt hat. Der Unfall war der Auslöser, dass sein Gehirn dies zum Überleben brauchte und alles andere entweder wirklich vergessen ließ oder abkapselte. Dieses Neue macht ihn in seinem Beruf so erfolgreich. Du weiß ja, was er ist.“
„Nein“, gab Emma zu. „Er wollte ein Spiel daraus machen, damit wir uns kennenlernen ohne den Beruf des anderen zu kennen. Keine Frage durfte Hinweise auf den Beruf geben.“
„Das ist erstaunlich“, rief Elena.
„In der Tat“, gab Bachner zu. „Du scheinst eine Verbindung zu ihm zu haben, die er unbewusst haben will. Er wollte für dich gut da stehen. Louis ist sonst völlig egal, was andere, vor allem Frauen, über ihn denken.“
„Was macht er beruflich?“, fragte Emma.
„Er gehört zu einer kleinen Gruppe junger Chirurgen, die in der Welt bereits höchstes Ansehen genießen. Er hat in Boston Wunder vollbracht. Das macht ihn zu einem der arrogantesten Menschen der Welt.“
„Niemals!“, rief Emma empört.
„Du bist weggelaufen, wahrscheinlich, weil er dich in die Enge getrieben hat. Er geht nur vorwärts. Automatisch sind seine Gegenüber in der Defensive.“
„Aber man fühlt sich nicht unterlegen“, gab Emma zu. „Er ist offen und ehrlich. Arrogante Menschen, wie ich sie kenne, sind nicht ehrlich.“
„Er achtet nicht auf andere“, sagte Bachner hart. „Weil er nur die Verbesserung einer Technik sieht, den Kampf gegen den Tod. Ihm geht es nicht um die Patienten, nicht um Menschen, sondern mit jeder OP der Beste zu sein. Welche Klinik hat schon einen so jungen Stationsarzt? Ich hatte heute im Krankenhaus zu tun. Das Thema Nummer eins wollt Ihr bestimmt wissen. Ihm ist Urlaub befohlen worden, weil er in den letzten zwei Jahren nie Urlaub machte. Niemandem fiel es auf, weil er nie einen Fehler machte. Frag John, wie die Polizisten heute über das Fremantle Hospital reden. Bei Notfällen fragen die Rettungsdienste tatsächlich dort an, ob Louis Bereitschaft hat. Rettungsdienste aus dem Umland fahren das Krankenhaus an. Fremantle hat einen enormen Prestigeschub erfahren.“
Dr. Bachner legte den Block beiseite und setzte ihre Fingerkuppen aneinander.
„Wir wissen nicht, wer Louis vorher war, welchen Charakter er hatte. Ich vermute, dass er mit dem Unglück seine Mitte verlor.“ Sie blickte Emma fest an. „Du warst bereits als Mädchen bestimmt wunderschön mit langen Haaren. Alle Jungen sind dir gefolgt.“
Emma nickte leicht.
„Was hat er dem Jungen getan? Genau.“
„Nur geschubst.“ Emma sah zur Seite. Sie wollte Louis beschützen. Wie die Frau über Louis redete, gefiel ihr nicht. Das war nicht Louis. In seinen Augen lag keine Arroganz - aber auch kein Erkennen. Bachners Worte stachen tief.
Die Psychologin spürte Emmas Widerwillen.
„Schließe deine Augen, geh zu ihm zurück.“
Emma schloss die Augen. Sie sah den Strand und den dicken Jungen, der nach ihrer Brust grabschte. Louis trat ihn gegen das Schienbein und schubste ihn zu Boden. Der Dicke wedelte hilflos mit den Armen.
„Er war also viel größer als Louis“, stellte Bachner fest.
Emma nickte, sprachlos, dass sie sich so lebhaft erinnern konnte.
„Er hat dich beschützt, und das ist kein Charakterzug des neuen Louis.“