Читать книгу Frank Zappa. 100 Seiten - Ingo Meyer - Страница 4
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Juli 1982, der Sommer war auch in Minden (Westfalen) ganz ordentlich, obwohl nicht, wie der des darauffolgenden Jahres, von geradezu tropischer Qualität. Fußball-Weltmeisterschaft in Spanien, Torwart Toni Schumacher schlug Patrick Battiston im Halbfinale gegen Frankreich ein paar Zähne aus, doch letztlich holte Italien den Cup. Die Neue Deutsche Welle wurde noch nicht zur Gänze vom Kommerz zugrunde gerichtet, beherrschte aber die Radioprogramme beinahe vollständig; Bilder im Kopf für diese Zeit werden sich mühelos einstellen, wenn ich drei Songs erwähne: SPLIFF, »Carbonara«, SPIDER MURPHY GANG, »Skandal im Sperrbezirk«, und natürlich TRIOs Geniestreich »Da da da«.
Was tat man in der ostwestfälischen Provinz als Teenie mit 13 Jahren? Nicht viel anderes, als hätte man sich in der Metropole befunden: Man lernte heimlich das Rauchen, die sieben Mark für einen »Konti«, zehn kleine Flaschen Herforder Pils im orangen Pappkarton, ließen sich immer auftreiben – und vielleicht kam man auch jetzt schon dahinter, wie sich das andere Geschlecht anfühlt. In dieser Reihenfolge. Wem das nicht reichte, blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Kultur zu stürzen, in meinem Fall auf Musik und Literatur (die Kunst kam erst später). Es gab damals Wochen, in denen ich beinahe jeden Tag eine LP erwarb, viel Blödsinn natürlich auch, der sehr bald wieder weggeschenkt werden musste, aber bei Karstadt an der Tränke, einen Steinwurf von der zweimal im Jahr zuverlässig zu Überschwemmungen neigenden Weser entfernt, stand bei den Neuerscheinungen Frank Zappas Album Ship Arriving Too Late to Save a Drowning Witch, ein Monstertitel, aber ansprechend schlicht in Schwarzweiß. Das Cover zierte ein Droodle, der im stilisierten Motiv mit den Insignien des Künstlers und dem Titel des Albums spielte, das war evident. Für zwölf Mark neunzig.
Zappa? Der Name wie ein Blitzschlag – und doch mit Obertönen von Unsinn, man wusste wohl, ein Spinner, »Bobby Brown« schien mir mäßig komisch, eher etwas zum Schunkeln; in der Bravo wurden höchstens Tour-Daten vermeldet (Zappa war gerade, oftmals seltsam schlecht gelaunt, aber mit exzellenter Band, auf Europa-Tournee), im Musikexpress gelegentlich eine Besprechung, selten ein Interview.
Also los. »No Not Now«, okay, eine Disco-Parodie mit gepitchten Stimmen, das ging wohl gegen die BEE GEES und Konsorten, aber warum fast sechs Minuten lang, immer und immer wieder? »Valley Girl«, mit dem berühmten Monolog von Moon, Zappas älterer Tochter, der den amerikanischen Wortschatz dauerhaft um einige Phrasen wie »gag me with a spoon« oder »grody to the max!« bereichert hat, zugleich sein größter Hit in den USA. Was ich damals für einen ungemein breiten, vulgären Dialekt hielt, war, so weiß ich heute, derjenige verzogener Töchter aus der Upperclass des San Fernando Valley. »I Come from Nowhere«, eine harte Rocknummer mit befremdlich schrägem, zwar rhythmisch, doch nicht melodisch treffendem Gesang und irrwitzigen Breaks, bis nach einigen Minuten offenbar der Chef ein ungeheuer aggressives und temporeiches Gitarren-Solo intoniert, das fetzt und dröhnt und mich atemlos in den Sessel prügelte, bis ich mich darauf besann, dass noch eine zweite Seite zu hören war.
Das Titelstück von über zwölf Minuten wiegte mich zunächst in sanften Groove, es setzt jedoch sehr bald zu bizarren Exkursionen an, mit denen man jede Party sprengen kann. Darin gleich zwei ausufernde Turnübungen auf der Gitarre, aber seltsam zwingend, zum Ende sogar swingend, es wird ohne Pause zu »Envelopes« übergeleitet, einem Stück buchstäblich zum Davonlaufen, weil es, wie ich sehr viel später lernte, in seiner vagierenden Harmonik alle abendländischen Hörgewohnheiten torpediert. Zum Schluss noch »Teen-Age Prostitute«, in der eine Opernsängerin darüber klagt, wie schlecht sie doch ihr Zuhälter behandele. Verhaltener Applaus im Abspann – war das etwa ein Live-Album? Ende.
Ich stand wie versteinert, bis meine Mutter mit dem Kommentar »Junge, was hörst du für Musik?« zum Abendessen rief. An CREAM, DEEP PURPLE und AC/DC hatte sie sich gerade gewöhnt, aber das hier war noch mal etwas deutlich anderes. Heute kann man mit ihr, hochbetagt, die Sheik Yerbouti oder Apostrophe (’) auflegen, denn gegen lange Gitarren-Soli (»Yo’ Mama«) oder Napoleon Murphy Brocks Kaspereien hat sie nichts einzuwenden.
In Momenten besonderer Verwerflichkeit musste ich mir dann immer wieder diese Gitarren-Soli geben, bis ich es im Frühjahr 1986 genauer wissen wollte. Die Kommentare meiner – jetzt – Kifferkumpel schwankten zwischen ›abgefuckter, geldgeiler Typ‹, ›Freak‹ und ›Hexenmeister‹, aber in den Plattensammlungen ihrer Mentoren, allesamt gut zehn Jahre älter und mit den einschlägigen Karrieren behaftet, fand sich nicht selten schweres Vinyl mit Titeln wie Uncle Meat, Hot Rats, Roxy & Elsewhere oder Zappa in New York. Ein Kosmos ward eröffnet. Doch in Zeiten vor dem Internet geriet die Informations- und Materialbeschaffung außerordentlich schwierig, im Plattenladen standen stets nur die drei, vier letzten Alben dieses ungeheuer produktiven Geistes, in der Stadtbibliothek fand ich lediglich eine unkluge, doch als Buch erschienene Diplomarbeit zur Sozialkritik in der Rockmusik am Beispiel Frank Zappa von 1985 und eine veraltete, dazu euphorisch-distanzlose und nur bis 1975 reichende Monographie aus der Feder eines französischen Autors. Es brauchte damals Jahre, um selteneren Exemplaren aus Zappas umfänglicher Liste an Veröffentlichungen auch nur zu begegnen; begieriges Staunen, als ich in Vorwendezeiten auf dem Westberliner Touristen-Flohmarkt an der Straße des 17. Juni unverhofft die Burnt Weenie Sandwich in den Händen hielt. Bongo Fury, mit Captain Beefheart, endlich. Das Debüt Freak out! war schon damals ziemlich kostspielig. Ich wusste ja nicht einmal, wie diese Scheiben aussahen, nur, dass es sie geben musste.
In den späten Achtzigern hatte ich sie bald komplett, aber von den damals in kurzer Folge erscheinenden Doppel-CDs mit Live-Aufnahmen aus zwanzig Jahren Bühnenkarriere dauerhaft auf Trab gehalten, versuchte ich, meine Mitschüler zu missionieren, mit bescheidenem Erfolg. Leider habe ich nur ein einziges Zappa-Konzert besucht, am 5. Mai 1988 mit seiner Bigband in Dortmund, wohl nicht das beste der Tour, aber doch beeindruckend. Im Nachklapp handelte ich mir meinen ersten und bisher letzten Tripper ein, eine Anekdote, die dem Meister gefallen hätte (»Why Does It Hurt When I Pee?«, Joe’s Garage, Act I).
Entgegen einem zählebigen Mythos hat Zappa niemals auf die Bühne defäziert, weder allein noch gemeinsam mit Captain Beefheart, und erst recht nicht anschließend eine Geschmacksprobe genommen. Wohl aber habe er einmal hinter der Bühne »Scheiße gegessen«, und zwar »am Buffett des Holiday Inn in Fayetteville, North Carolina, im Jahr 1973«.
Zappa hat mich, wie zahllose andere, zum Jazz gebracht, ein unschätzbarer Dienst. Thank you, Frank. Heute habe ich, ebenfalls wie viele andere, Phasen, in denen ich ihn wochenlang höre, dann wieder geraume Zeit gar nicht. Setzt er aber zum Solo an, meist ekstatisch, gelegentlich auch kontemplativ, doch stets von seltsamen Geschichten kündend, könnte ich endlos zuhören, daran hat sich nichts geändert. Aber da ist noch viel mehr. Der Reihe nach.