Читать книгу Der blaue Vorhang - Ingo Rose, Barbara Sichtermann - Страница 9
Оглавление»Die Kunst ist Liebe. Liebe zur Wahrheit. Zur Schönheit. Und sogar zum Publikum.«
»Das meine ich nicht. Ich meine die Liebe Julias zu Romeo. Oder Eurydikes zu Orpheus. Die Wollust. Die Seligkeit. Kann mich all das wegreißen von der Bühne, von meinem blauen Vorhang? Sag mir, muss ich das fürchten?«
Die arme Mrs Duncan wusste nicht, was sie antworten sollte. Natürlich gab es diese Gefahr. Aber es wäre für sie selbst und für die gesamte Familie eine Katastrophe, wenn Isadora ausfiele. »Du stehst doch erst am Anfang deines Weges«, sagte sie leise, »geh ihn weiter.« In Isadoras Memoiren finden sich diese Sätze: »Mein Leben kannte nur zwei Leitgedanken – die Liebe und die Kunst. Oft zerstörte eine Liebe die Kunst, und oft beendete der herrische Ruf der Kunst tragisch eine Liebe. Die beiden standen in einem ewigen Kampf miteinander.« Damals in Budapest hat der Kampf begonnen.
Elizabeth kam an, die Frauen der Familie waren wiedervereint und wussten alle drei nicht, wie sie es so lange ohne einander ausgehalten hatten. Für Isadora aber gab es jetzt noch ein Magnetfeld außerhalb der Familie, das sie stärker anzog, als sie selbst es wollte; doch wenn sie in Oscar Beregis Armen lag, war ihr alles andere egal. Sie war rettungslos verliebt, er war es ebenso, aber abends mussten sie beide auftreten und durften keine Einsätze verpatzen. Beregi war ein offener Charakter und ein Mann der Tat, er fand es nur richtig und natürlich, dass er und seine amerikanische Julia heiraten sollten.
»Du weißt es, ich habe es dir gesagt – für mich kommt eine Ehe keineswegs in Frage«, sagte Isadora mit fester Stimme.
Er breitete die Arme aus. »Dann lass es eine wilde Ehe sein. Hauptsache, wir sind zusammen.«
»Aber – wie stellst du dir unser Leben vor? Ich werde nächste Woche auf Tournee gehen, und ich denke nicht daran, die Gastspiele abzusagen. Und du … du probst den Marc Anton …«
»Richtig. Und du kannst diese Rolle mit mir üben. Dein Urteil bedeutet mir alles. Was meinst du – wäre denn die Rolle als Frau an meiner Seite für dich so gänzlich unannehmbar? Du sitzt abends in der Loge und sagst mir in der Nacht bei einem Glas Tokajer, was ich noch ändern sollte?«
Und ehe Isadora antworten konnte: ›Wie wär’s, wenn ich des Abends auf der Bühne stünde und du zuschautest‹, hatte Beregi sie um die Taille gefasst und hinausgeleitet, um mit ihr eine Kutschfahrt anzutreten. Es ging zu einem Haus, in dem Oscar eine Wohnung für sich und seine Liebste mieten wollte. »Wie findest du es hier? Für den Anfang würde es genügen. Die Küche ist ganz neu eingerichtet.« Isadora stöhnte. Er küsste sie, und sie sagte:
»Ich möchte jetzt sofort mit dir ins Bett.«
»Einverstanden. Aber nur, wenn du mich heiratest.«
Nach und nach begriff Beregi, dass seine Geliebte es ernst meinte, wenn sie sagte, ihre Kunst stünde für sie an erster Stelle und sie wolle niemals eine Ehe eingehen. Er fand sie auf der Bühne ja auch so überwältigend, dass er ihr diese Einstellung zugestand. Andererseits hielt er sich selbst für die beste Partie der Welt, und deshalb hoffte er immer noch, dass sie es sich überlegen würde. Das hoffte er auch um seiner selbst willen. Denn schließlich: Hatte er jemals eine so leidenschaftliche Geliebte besessen? Die dazu noch unberührt in seinen Armen angekommen war? Eine Frau, die so wundersame Worte zu sagen wusste über seine Haare, seinen Mund, seine Stimme und sogar über seine Füße? Nein, das hatte er nicht. Einstweilen aber war sie unterwegs nach Franzensbad, und Oscar vertiefte sich in den Marc Anton.
Für Isadora war die Tour durch die Bäder eine Qual. Sie war so erfüllt von Sehnsucht nach Oscar und so unglücklich über seine Abwesenheit, dass sie keinen Schlaf fand und der Appetit ihr verging. Trotzdem trat sie auf und tanzte zu Gluck, Chopin und Wagner. Bald sah sie abgezehrt aus und musste ihre Tuniken enger stecken, man hätte sonst ihre schmale Gestalt in den wallenden Gewändern kaum noch wahrgenommen. Schließlich fiel sie krank aufs Lager. Glücklicherweise gab es in Franzensbad gute Ärzte. Die Mutter fütterte ihr Kind mit Rinderbrühe, Elizabeth half der Kranken bei der Wasserkur, aber es wurde nicht besser. Beregi erfuhr von ihrem Zustand und kam kurz entschlossen angereist. Er schlich sich sogar für die Nacht in ihr Krankenzimmer und sorgte so für eine nachhaltigere Therapie. Die Krankenschwester wurde wütend, als sie ihn entdeckte und warf ihn kurzerhand hinaus. Aber er blieb in der Nähe und besuchte Isadora täglich. Allmählich kam sie wieder auf die Beine. Sie liebte ihren Oscar und er sie, aber er musste wegen der Premiere des Julius Cäsar zurück nach Budapest und sie mit Mutter und Elizabeth weiter nach Karlsbad. Sie bemühten sich beide, dem Pathos der getrennten Liebenden Inspiration für ihre Bühnenpräsenz abzugewinnen, fühlten und wussten aber, dass es so nicht weitergehen konnte und eine Entscheidung anstand. Sie entschieden sich für die Trennung. Aber sie blieben einander gewogen und sahen sich später wieder.
Alexander Grosz übte keinerlei Druck auf seine Tänzerin aus, ganz im Gegenteil, er tröstete und besänftigte sie, wenn sie weinte, weil sie sich zu krank fühlte, um aufzutreten.
Er sagte: »Ich verstehe Sie gut, Isadora. Oscar Beregi ist ein großartiger Schauspieler und ein umwerfend schöner Mann. Wer könnte ihm widerstehen? Wäre ich eine Frau …«
Isadora putzte sich die Nase. »Schon gut, Alexander. Ich danke Ihnen für Ihre Sympathie. Aber was soll ich tun? Ich bin hin- und hergerissen. Oscar, die Bühne, der Mann, die Kunst –«
»Natürlich, das ist ein Konflikt. Aber ich denke, verzeihen Sie, auch ans Geschäft. Wir können uns noch fünf, sechs Tage ohne Auftritt leisten, dann wird es finanziell eng. Was halten Sie von München? Ich hätte da Verbindungen.« Isadora maß in Gedanken den Abstand von Budapest nach München und nickte traurig.
Ihren Trennungsschmerz verwandelte sie in Kunst. Sie ersann eine Variante der Geschichte von Iphigenie, einen Tanz, der den Abschied vom Leben am Altar des Todes darstellt. Für eine endgültige Genesung begab sie sich mit Elizabeth ins mondäne Seebad Abbazia (Opatija) auf der Halbinsel Istrien, den ersten Kurort an der österreichischen Adriaküste. Die beiden Frauen fuhren die schmale Küstenstraße auf der Suche nach einer Unterkunft rauf und runter und erregten so die Aufmerksamkeit der Leute in dem kleinen Ort, auch die des Erzherzogs Ludwig Viktor, des jüngsten Bruders vom österreichischen Kaiser. Ludwig Viktor, ein bekennender Uranier, lud die beiden kurzerhand in seine Villa im Garten des Hotels Stephanie ein, dort konnten sie wohnen. Das wiederum löste eine nicht geringe Irritation in den aristokratischen Kreisen des Kurortes aus, die sich neugierig an die Tänzerinnen wandten – doch nicht etwa aus Interesse an der Kunst, nein, die meisten wollten herausfinden, in welchem Verhältnis die Frauen zu Ludwig Viktor standen. Die Schwestern ließen es sich gut gehen, speisten ausgiebig und gingen schwimmen, natürlich nicht in dieser Reihenfolge. »Damals führte ich ein Badekostüm ein, das bald sehr beliebt wurde, eine leichte blaue Tunika aus hauchfeinem Crêpe de Chine, mit tiefem Nackenausschnitt, dünnen Trägern, einem Rock, der eben die Knie bedeckte, die Beine nackt. Es war noch üblich, vollständig in Schwarz gekleidet mit knöchellangen Hosen und Schuhen ins Wasser zu gehen. Man kann sich vorstellen, was für ein Aufsehen ich erregte. Der Erzherzog wandelte stets mit einem Opernglas bewehrt die Promenade entlang und beobachtete uns. Gut hörbar murmelte er: ›Ach, wie schön ist diese Duncan. Ach, wie wunderschön! Diese Frühlingszeit ist nicht so schön wie sie.‹«
Jener paradiesische Flecken Erde inspirierte Isadora Duncan zu einer wiederkehrenden Stilfigur ihrer Kunst. Denn hier in dem gemäßigten Klima wuchsen Palmen direkt vor ihrem Fenster, sie konnte sie oft beobachten.
»Ich bemerkte, wie die Palmblätter sich in der Morgenbrise wiegten und kreierte ähnliche Bewegungen für meinen Tanz, etwa das Flattern der Arme, Hände und Finger. Viele meiner Nachahmerinnen haben das zu kopieren versucht, ohne dass sie überzeugen konnten. Denn sie wussten nichts von der Quelle dieser Bewegungen, dem kontemplativen Zittern der Palme, und konnten sie daher nicht innerlich empfangen, bevor sie äußerlich Gestalt annahmen.«
Grosz kabelte, er habe da eine Anfrage: »Münchner Künstlerhaus. Stop. Was meinen Sie?« Von diesem Etablissement hatte Isadora gehört, es war erst vor wenigen Jahren unter dem Motto Das Haus soll allen Künstlern Münchens ein Sammelplatz sein für Frohsinn, Rat und ernste Tat eröffnet worden – ein opulent ausgestatteter Neorenaissance-Bau, der wegen seiner ungewöhnlichen Fassade ins Auge fiel. »Dort traf sich täglich ein Kreis von Künstlern um die Meister Kaulbach, Lenbach und von Stuck, um das gute Münchner Bier zu trinken und über Philosophie und Kunst zu debattieren.« Die Duncans und Grosz fuhren im November 1902 nach München, und Isadora trat im Künstlerhaus auf. Aber das war nicht selbstverständlich, es gab im Vorfeld Widerstände gegen den Auftritt einer Tänzerin, insbesondere von Franz von Stuck. Der Jugendstilmaler fand eine leicht bekleidete, barfuß tanzende Frau unpassend in diesem Tempel der Kunst. Dabei hatte sich der Mann über Jahre mit dem Thema Tanz in Paar- und Reigentänzen sowie einzeln tanzender Frauen intensiv beschäftigt. Also glaubte er kompetent zu sein und fürchtete, Isadora würde ihn enttäuschen oder, schlimmer noch, den Kunsttempel mit vulgärem Exhibitionismus entweihen. Wenn Isadora solchen Vorbehalten begegnete, trat sie meist einen Schritt auf die Menschen zu. Eines Morgens besuchte sie also den Künstler in seiner von ihm selbst errichteten großartigen Villa in der Prinzregentenstraße, zog sich um, tanzte für ihn in ihrer Tunika und setzte ihm anschließend über Stunden »die Heiligkeit meiner Mission – die Wiedergeburt der Religion mit den Mitteln des Tanzes« auseinander. »Später erzählte von Stuck, wie er mir anvertraute, seinen Freunden gern, dass er selten in seinem Leben so überrascht gewesen sei. Es habe sich für ihn angefühlt, als sei eine Waldnymphe vom Olymp herab in sein Atelier gestiegen. Natürlich gab er seine Zustimmung.«
Isadora hatte einen Riecher für die richtigen Orte ihrer Auftritte. So tanzte sie auch im Kaim-Saal in der Maxvorstadt, wo Arthur Schnitzlers Reigen uraufgeführt wurde und die weltweit erste Eurythmie-Vorführung stattfand. Und sie sorgte auch hier für eine Sensation. »Der Erfolg war unglaublich. Besonders die Studenten gebärdeten sich wie verrückt. Nacht für Nacht spannten sie die Pferde meines Wagens aus und zogen mich durch die Straßen. Dazu schmetterten sie ihre Studentenlieder und liefen mit Fackeln neben meiner Kutsche her. Oft standen ganze Gruppen stundenlang vor meinem Hotelfenster und sangen, bis ich ihnen Blumen und Taschentücher zuwarf, um die sie sich dann balgten, weil sie sie auf ihre Kappen heften wollten.«
Isadora ließ sich von diesem Enthusiasmus anstecken, in einem Studentencafé tanzte sie tatsächlich auf den Tischen, was in der Satire-ZeitschriftSimplicissimus Erwähnung fand. Sie schrieb in ihren Memoiren: »Die jungen Leute tanzten die ganze Nacht, ein wiederkehrender Refrain war ›Isadora, Isadora, ach, wie schön das Leben ist‹. Obgleich einige nüchterne Bürger der Stadt schockiert reagierten, blieb es doch ein unschuldiger Spaß – auch wenn mir Kleid und Schal regelrecht zerrissen wurden.«
Eines Abends entdeckte Isadora bei einem Auftritt im Künstlerhaus in der ersten Reihe das Profil eines Mannes, das ihr bekannt vorkam. Diese markante Nase, die hohe Stirn und die auffälligen Augenbrauen hatte sie schon irgendwo gesehen. Es war der seinem Vater sehr ähnliche Siegfried Wagner, der da begeistert applaudierte. Isadora war begierig zu hören, was der Sohn des hochverehrten Komponisten zu erzählen hatte. Siegfried Wagner war bei Engelbert Humperdinck in die Lehre gegangen, der bald in Berlin ein wichtiger Unterstützer Isadoras werden sollte. Jetzt kam Wagner mit einem Liliengebinde zu ihr in die Garderobe und sagte:
»Miss Duncan, was Sie auf der Bühne machen, davon könnten wir auch in Bayreuth eine Menge lernen. Wären Sie bereit, für unsere Festspiele zu arbeiten?«
Isadora lächelte erst einmal nur, wie sie es meistens tat, wenn sie Zeit brauchte, um einen Entschluss zu fassen. Dann sagte sie:
»Es wäre mir eine große Ehre, bei Ihnen im Festspielhaus aufzutreten. Aber – ich kann leider nicht singen.« Beide lachten, sie verlegen, er höflich. Dann sagte er:
»Sie wissen, dass Tanzeinlagen in den Opern meines Vaters eine wichtige Funktion erfüllen?«
»Tanzeinlagen –« wiederholte Isadora gedehnt, »Das eben biete ich nicht.« Und sie erklärte Siegfried Wagner das Niveau und den Anspruch ihrer Kunst, so gut es in der Eile ging.
»Ich verstehe«, sagte Wagner, »und pflichte Ihnen bei. Es geht um mehr als um Einlagen. Beziehungsweise: Es geht um etwas ganz anderes. Um einen Appell an die Gottheit. Um eine Anrufung. Um Erhabenheit. Darum geht es uns auf dem Grünen Hügel auch. Ich bin sicher, wir werden uns einig. Ich werde meine Mutter bitten, sich an Sie zu wenden.«
Als Isadora an diesem Abend ins Hotel zurückkam, sah sie so abgekämpft aus, dass die Mutter fürchtete, ihre Kleine könne zu viel an Budapest und an die Liebe denken, und sich spontan eine attraktive Ablenkung überlegte:
»Hör mir zu, Dorita. Alexander spricht von Berlin. Er könnte da für dich die großen Soloabende organisieren, in der Kroll-Oper, verstehst du, fünftausend Plätze, und er wird es schaffen. Noch sind wir im Süden. Von hier aus ist es nicht weit nach Florenz. Was meinst du? Elizabeth wollte schon lange dorthin.« Isadora war einverstanden, und so brachen die drei Frauen ins schöne Italien auf. Für La Duncan war die Begegnung mit Florenz von besonderer Bedeutung, denn sie ging schnurstracks in die Uffizien und verliebte sich dort in ein Gemälde von Sandro Botticelli, sein Werk Primavera (= Frühling), das ihren Tänzen ein neues Leitmotiv vorgeben sollte. »Tagelang saß ich am Boden vor dem Bild; ein freundlicher alter Aufseher brachte mir schließlich einen Stuhl. Ich blieb so lange dort sitzen, bis ich die Blumen wachsen und die zarten Körper im Tanz sich wiegen sah, und in mir erwachte die freudige Gewissheit, dass ich dieses Bild tanzen und meinem Publikum die Botschaft der Liebe und des Frühlings mitteilen wollte.« Später, 1903 in Berlin, war Isadora immer noch im Banne Botticellis, und unter den Kunstfreunden in ihrem Publikum, die das berühmte Bild natürlich kannten, gab es nicht wenige, die ihr attestierten, wie eine Botticelli-Venus auf der Bühne zu schweben.
»Was Sie da sagen«, antwortete Isadora, »befriedigt mich tief. Denn Sie müssen wissen, dass ich in einem früheren Leben für Botticelli Modell gestanden habe.«
»Wie war er als Mensch denn so«, fragte ein vorwitziger Kunststudent, »der große Meister Botticelli?«
»Oh«, replizierte Isadora schlagfertig, »er erlaubte mir nach jeder Sitzung so viele der gemalten Orangen zu pflücken und zu essen, wie ich wollte, und davon habe ich heute noch meine gesunde Haut.«
Es war Frühling in Berlin, als Isadora in der Kroll-Oper, unweit des Brandenburger Tores, ihre Soli tanzte, diesmal mit großem Orchester. Sie sah nun die Stadt in einem anderen, freundlicheren Licht als bei ihrem ersten Besuch mit der Fuller-Company, vor allem, weil jetzt der Applaus ungeteilt ihr galt. Die jungen Leute im Publikum waren ähnlich enthusiastisch wie die Münchner Studenten, auch sie spannten nach den Vorstellungen die Pferde vor Isadoras Kutsche aus und zogen ihr Idol mit eigener Kraft heim ins Hotel Bristol – wo man ihr das vor Jahr und Tag eingelagerte Gepäck mit vielen Verbeugungen und Pardon-Beteuerungen zurückgab. Die Stadt sprach von ihr, man feierte sie und nannte sie in der Presse und auf den Programmzetteln »die Göttliche«. Eines Abends meldete sich der Berliner Journalist Erwin Rosen bei Isadora und lud sie zum Essen ein. Er wollte einen Artikel über sie schreiben. Noch hatte er sie nicht auf der Bühne gesehen und war voller Erwartung. Viele seiner Kollegen schwärmten von ihr – besonders von der subtilen Ausdruckskraft ihrer Arme und Hände. Rosen notierte: »Ich hatte in Münchener Zeitungen gelesen, dass ihre Tänze unter den Münchener Künstlern richtige Stürme der Begeisterung entfesselt hätten. So begab ich mich schleunigst zu ihr ins Hotel. Überschrift meines Artikels sollte sein: ›Die neue Tanzkunst‹. Ich verarbeitete da natürlich fast nur das, was die gute Duncan mir zu erzählen beliebte, aber ich gab aus Eigenem hinzu, welche Eindrücke ich empfing, als ich sie beim Essen ihres Hühnchens beobachtete. Dabei ging mir nämlich ein Licht auf. Wer so wunderschöne Hände hat und die Bewegungen dieser Hände und Arme so zu beherrschen versteht, dass das Zerlegen eines Hühnchens mit Messer und Gabel für den erstaunten Beobachter ein ästhetischer Genuss wird – der hat auch Rhythmus im Leibe und Grazie; es müsste also etwas dran sein an der neuen Tanzkunst!«
Nicht alle Kritiker und Kunstsachverständigen waren von Isadora angetan. Das Völkchen der Ballettomanen etwa verzieh der Avantgardistin ihre Schmähungen des Spitzentanzes nimmermehr und würdigte sie guten Gewissens herab. Insbesondere die Berliner waren nicht allzu galant. Schon bei Erwin Rosen spürt man einen leichten Spott, noch deutlicher machte sich der wortgewandte Kritiker Max von Boehn über die Botschafterin der neuen Tanzkunst lustig: Er nannte sie »die tanzende Gouvernante«. Und weiter: »Sie hopste auf der Bühne herum mit Arm- und Handbewegungen, als finge sie Fliegen, aber mochte zehnmal jede Nuance einer alten Vase abgesehen sein, es war zusammen doch kein Ganzes, nichts, was ein innerer Zwang beseelt hätte.« Immerhin erkannte er an: »Was sie als Tänzerin schuldig blieb, hat sie als Anregerin gut gemacht. Miss Duncan hat den Tanz wieder in seine Rechte als individuelle Kunst eingesetzt, sie hat die Bahn freigemacht für den neuen Tanzstil, der sich an der schematischen Akrobatik des Balletts nicht mehr genügen lässt.«
Wie alle Menschen, die etwas Neues bieten, hatte Isadora gelernt, Kritik achselzuckend hinzunehmen, zu ignorieren oder abzuwehren. »Mein Tanz wurde Gegenstand hitziger Debatten. Ganze Kolumnen erschienen ständig in den Zeitungen, die mich entweder als Genius einer neu entdeckten Kunstform feierten oder als Zerstörerin des klassischen Balletts beschimpften.« Es gab einen Bewunderer, der sogar eigens begründete, warum es unmöglich oder jedenfalls nicht richtig sei, Duncan zu kritisieren, und mit diesem Schriftsteller namens Karl Federn freundete Isadora sich an. Er schrieb: »Was das Ausdrucksvollste an ihr ist, ob ihre Hände, ihr Antlitz oder der vollkommene Fuß – wir wissen es nicht. Zur Kritik ihrer Tänze ist meiner Ansicht nach noch nicht die Zeit. Ihr Weg ist noch zu neu. Und das Wesentliche ihrer Tat, die Rückkehr zur individuellen Inspiration, lässt sich überhaupt nicht kritisieren.« Der Dichter, Anarchist und Vagant Peter Hille feierte Isadora so: »Ihre Kunst ist so einfach, Intuition, nicht Regeltanz; da bedarf es weiter keines Rezepts: nichts Künstliches, keine blutig getrippelten Zehen, nichts Vergewaltigtes, keine wirbelnden, lebendigen Kreisel – einfach Leben, das sich erlauscht und das Erlauschte tanzt. Deshalb wird diese Kunst auch so inbrünstig gehasst von allen Tanzmeistern und Kritikern der Welt, wie sie gelobt wird von freischöpferischen Geistern der Künstler.«
›Das Beste ist‹, dachte Isadora, ›ich stelle selbst ein für alle Mal klar, worum es mir geht.‹ Vor dem inneren Auge Botticellis Primavera mit den drei Grazien und im Kopf, in dessen cérébralen Regionen, die Ideen und Ideale ihrer Kunst, beschloss sie, alles zu Papier zu bringen, was sie an Erfahrungen, Vorstellungen und Zielen in sich hatte und mit sich trug. Dem Manuskript, das sie verfertigte und auf Einladung des Berliner Pressevereins dort zum Vortrag brachte, gab sie den Titel Der Tanz der Zukunft. Es wurde 1903 von dem renommierten Verleger Eugen Diederich in Leipzig als Buch herausgebracht, zweisprachig, auf Englisch und Deutsch.
»Der wahre Tanz sollte nun nichts anderes sein als eine natürliche Gravitation des Willens im Individuum, nicht mehr und nicht weniger als eine Übertragung der Gravitation des Weltalls in das menschliche Individuum.
Und du, o Pan, der du mitleidig und freundlich warst gegen die arme Psyche auf ihren Wanderungen, denke doch gütiger von meinen kleinen Versuchen, in deinen waldigen Lichtungen zu tanzen.
Und du, o Terpsichore, sende du mir ein wenig Trost und Stärke, dass ich deine Macht auf Erden verkünden möge mein ganzes Leben hindurch. Und nachher im schattenhaften Hades soll mein sehnsüchtiger Geist noch tanzen — bessere Tänze zu deinen Ehren.«
Übersetzt hatte den Text Karl Federn. Er schrieb dies im Vorwort: »Was Nietzsche ahnte und in künstlerisch-poetischer Erkenntnis schaute, das hat Isadora Duncan zur Tat gemacht. Wenn er sagte: ›Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden‹ – versuchen ihre Tänze, Gleichnisse der höchsten Dinge zu sein.«
Isadora hörte oft, dass sie etwas mache, was noch nie da gewesen sei, und so war es auch. Aber es gilt zu bedenken, dass sie mit ihrer Programmatik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs allein stand. Ihre Vision lag vielmehr im Zug der Zeit, die sich zunehmend für Freikörperkultur, Wandern, Turnen, Nacktbaden, Naturheilmethoden und gesunde Speisen, lose Kleider aus handgewebtem Stoff, Erziehungsprinzipien nach Art des verehrten Jean-Jacques Rousseau und seiner Devise »Zurück zur Natur« begeisterte. Man sprach von Lebensreform. Die Industrialisierung hatte die Städte verschandelt und die Luft verschlechtert – die Menschen wollten raus auf waldige Höhen und frei atmen. Aber nicht nur die äußere Natur war ihnen abhandengekommen, auch die innere. Ein seelisches Gleichgewicht verstand sich nicht mehr von selbst, und kaum noch jemand verspürte sie noch, die Gravitation des Weltalls im eigenen Solarplexus. All das musste zurückgewonnen werden – wobei es nicht recht klar war, ob es je vorhanden gewesen war. Wie oft in Umbruchzeiten verklärte man die Vergangenheit und sah sie als eine Ära, in der die Menschen besser mit der Natur gelebt, sich in ihrer Haut wohler und Gott näher gefühlt hätten. Und man beschwor ihre Wiederkehr. Es gab Gurus wie in Berlin den Maler Fidus, die ein neues frisches Lebensgefühl versprachen, wenn nur die Häuser so gebaut würden, dass in alle Zimmer einmal am Tag die Sonne schiene und wenn die Menschen täglich Gymnastik machten, sich fleischlos ernährten und barfuß liefen. So also war der Boden bereitet für eine Priesterin des natürlichen Ausdrucks im Tanz, und Isadora Duncan beschritt ihn sehr selbstbewusst und äußerst anmutig. Sie zweifelte nie an ihrer Mission und dachte immer öfter daran, dass es ihr vom Schicksal auferlegt sei, eine Schule zu gründen. Sie wollte die Kinder der Welt tanzen lehren, und zwar nicht nur ein paar auserwählte, sondern die gesamte junge Generation. Unter denen, die ihr auf der Bühne so frenetisch applaudierten, müssten doch mäzenatisch gesonnene, wohlhabende Persönlichkeiten zu finden sein, die nur darauf warteten, etwas Sinnvolles mit ihrem Vermögen anzufangen. Diesen großherzigen und einsichtigen Menschen würde sie es nahelegen, ihre Schule zu sponsern. In Berlin überzeugte sie tatsächlich mehrere Damen des Adels und einige Bankiersgattinnen, dass es unter den guten Werken, die die Zeit erfordere, nur wenige gebe, die so unverzichtbar seien wie ihre Schule.
Mutter und Töchter Duncan hatten schon lange drauf gewartet, und endlich kam er: ein Brief von Raymond. Er habe in den USA keine weiteren Aufträge bekommen, und jetzt hielte ihn nichts mehr in der alten Heimat. Er sei begeistert von Isadoras großen Erfolgen und von ihren üppigen Einkünften und sei nun unterwegs zu seiner Familie. Bruder Augustin, als Schauspieler durchaus erfolgreich, wolle sich anschließen, obschon ihm die Trennung von Frau Sarah und Tochter Temple sehr schwerfalle. Aber auch er spüre, dass die Wurzeln seiner Kunst in Europa lägen und suche neue Anregung. Isadora jubelte. Es stand noch ein Postscriptum in dem Brief. Raymond hatte nämlich einen Plan. Es gehe um einen ganz neuen Aufbruch. Was er damit wohl meinte? Isadora vertraute Raymond unbedingt. Wenn er sich etwas ausdachte, steckte immer etwas Großes dahinter.
Aber erst einmal waren es die Pläne ihres Agenten, denen Isadora Folge leisten musste. Es war das Jahr 1903. Alexander Grosz hatte für den Mai Auftritte in Paris ausgehandelt, und das war ganz im Sinne der Duncans, hatten sie doch diese Stadt verlassen, ohne das ganz große Publikum gewonnen zu haben. Und jetzt würde La Duncan im Théâtre Sarah Bernhardt ihr Debut geben, in einem ersten Haus an der Place du Châtelet; Georges Bizet und Charles Gounod hatten dort ihre Opern herausgebracht, die neue Tanzkunst passte gut hinein. Das Programm beinhaltete einen Reigen zu Botticellis Primavera, Bacchus und Ariadne, drei Stücke von Chopin und zwei Tänze ohne Musik: Der Tod und das Mädchen und Pan und Echo. Doch es war wie verhext; an fast allen der zehn Abende gab es freie Plätze im Theater, der Applaus klang verhalten, es blieb bei bloßen Achtungserfolgen. »Was ist los mit den Parisern?«, fragte Isadora ihre Mutter mit Tränen in den Augen. »Sie haben mich doch in den Salons zum Küssen rumgereicht …« Immerhin nahm sie teil an einem Fest für Auguste Rodin, der zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannt worden war. Sie tanzte noch einmal für den Meister, er besuchte ihre Vorstellung und pries ihre Kunst. Gleichwohl: Eine Resonanz wie die in Budapest, München oder Berlin war ausgeblieben. Enttäuscht fuhren Mutter und Tochter zurück in die preußische Hauptstadt. Dort warteten nicht nur Elizabeth, sondern auch noch Augustin und Raymond. Die Familie war wiedervereint und Isadora getröstet. Sie mieteten eine geräumige Wohnung in Charlottenburg, und Isadora absolvierte noch ein paar Auftritte im Thalia-Theater und in der Philharmonie. Als alle eines Abends um den Tisch herumsaßen, verkündete Raymond seinen Plan:
»Lasst uns auf eine Pilgerreise gehen.« Das Wort ›Pilgerreise‹ löste eine verhaltene Euphorie aus. Die Mutter fragte etwas besorgt:
»Und unser Ziel?«
»Die Quelle der Kunst: Griechenland.«
Nach dem Misserfolg in Paris war Alexander Grosz bereit, seine Tänzerin erst einmal ziehen zu lassen. Die guckte auf ihr Konto. Dort hatte es schon mal besser ausgesehen, der Abstecher nach Paris war ein Zuschussgeschäft gewesen, aber der Rest war immer noch beträchtlich, die Reise konnte angetreten werden. Isadora war jetzt 26 Jahre alt, sie hatte die halbe Welt befahren und ihr vorgetanzt. Von San Francisco aus war sie in die großen amerikanischen Städte des Nordens gefahren: Chicago, New York, Boston und hatte dort ein kleines Publikum gefunden. Sie war danach in Europa, in den Hauptstädten Englands, Frankreichs, Österreichs, Ungarns und Deutschlands aufgetreten und konnte in den meisten dieser Orte ein großes Publikum bezaubern. Dabei dachte sie oft daran, dass ihre geistige, künstlerische und spirituelle Heimat eigentlich noch woanders lag: in Griechenland eben. Von daher, aus der Antike, so war sie überzeugt, stamme letztlich alle überzeitliche Inspiration für eine hohe Kunst; insofern war es ihr aufgetragen, dieses Land kennenzulernen und vielleicht sogar zum Standort ihres künftigen Lebens und Wirkens zu erwählen. War es ein Zufall, dass sich gerade jetzt die Familie wieder zusammengefunden hatte? War es ihr und den anderen nicht bestimmt, zueinanderzustehen und beieinanderzubleiben, um aus der Gemeinsamkeit Erleuchtung zu gewinnen? Die Nähe des Clans fühlte sich warm an, und Wärme war eine Form der Energie, die Isadora für die Regsamkeit, die Geschmeidigkeit und die Grazie ihrer Glieder vor allem brauchte. Sie traf sich noch einmal, zum Abschied, mit Karl Federn, schrieb Briefe an Mary Desti, Charles Noufflard und Oscar Beregi. Dann packte sie ihre Tuniken, die Chitone und die blauen Vorhänge ein. Das Herz hüpfte ihr bei der Vorstellung, auf der Akropolis zu tanzen.
Raymond Duncan nahm es sehr ernst mit dem einfachen Leben. Er war Vegetarier, trug sommers wie winters offene Sandalen, die er selbst herzustellen gelernt hatte, außerdem schlichte Gewänder aus Wolle, die er zum Teil selbst spann, und er lehnte die Eisenbahn als roh, laut und stinkend ab. Doch Mutter und Schwestern konnten ihn überreden, von einer Reise zu Fuß, die ihm am liebsten gewesen wäre, abzusehen. Die Eisenbahn war nicht ganz zu vermeiden, doch wo immer es möglich sei, wolle man wandernd oder in Kutschen und Booten zum Lande der Verheißung vordringen. Von Venedig aus ging es über die Adria auf die griechischen Inseln zu, immer auf den Spuren des Odysseus, so weit sich diese anhand des Homer nachvollziehen ließen. Hier kam es zu ersten Enttäuschungen bezüglich der Mentalität und des Wissensstandes zeitgenössischer Griechen: die jungen Bootsführer wussten gar nichts von der Odyssee und dem Trojanischen Krieg und belächelten die ›griechischen‹ Gewänder ihrer Passagiere. Überhaupt war die Verständigung schwierig. Trotz seiner Nähe zur Antike hatte der Duncan-Clan es versäumt, Griechisch zu lernen, und unter den Bewohnern des Gelobten Landes war das Englische nicht eben verbreitet. Doch die Sprachschwierigkeiten fochten die Duncans nicht an. »Der Tanz ist elementar. Er ist die Sprache, die jeder versteht«, sagte Isadora. Als die fünf in Karvasaras (Amfilochia) an Land gingen und entzückt niederknieten, um den griechischen Boden zu küssen, sahen die Bootsmänner und die Leute am Strand einander höchst verwundert an. Man hatte ja schon manches von der anderen Seite des offenen Meeres, von Amerika, gehört, aber so verrückt hatte man sich die Einwohner dann doch nicht vorgestellt.
Die Duncans lösten ein, was sie bei ihrem ersten Landgang an Verrücktheit versprachen. Sie waren so erfüllt von der gefühlten spirituellen Verwandtschaft mit den alten Griechen, dass sie ihre Idole, die Gottheiten Zeus und Athene, Apoll und Aphrodite, die Helden Odysseus und Agamemnon, die Dramatiker Aischylos, Sophokles und Euripides zum Berühren nahe fühlten und ihnen in ihrer Einbildung tatsächlich begegneten. »Das schneebedeckte Haupt des Olymp tauchte auf«, schrieb Isadora, »dann wieder umgaben uns die tanzenden Nymphen der Olivenhaine. Manchmal gerieten wir in eine derartige Erregung, dass wir uns umarmten und in Tränen ausbrachen. Die schwerfälligen Bauern an den Bahnhöfen beäugten uns voller Erstaunen, sie hielten uns wohl für betrunken. Und doch war es nichts als der Ausdruck unserer Begeisterung bei der Suche nach höchster Weisheit – nach den blauen Augen der Pallas Athene.« In diesem Zustand der Verzückung beschloss die Familie, für immer in Griechenland zu bleiben. Leben, beten und tanzen wollten sie in einem eigens zu erbauenden Tempel – möglichst nah bei der Akropolis, und mindestens auf gleicher Höhe. Es gelang ihnen in der Tat, einen passenden Hügel zu finden, von dem aus die Akropolis zu erblicken war, und sie erkundigten sich nach dem Kaufpreis des Geländes. Die Anhöhe Kopanos gehörte seit Menschengedenken fünf Bauernfamilien, die sie, kahl und öde wie sie war, für wertlos hielten. Das Interesse der seltsamen Ausländer trieb den Preis in die Höhe, und die Duncans mussten tief in die Tasche greifen, um das Land zu erwerben. Sie taten es gleichwohl und begannen sogar mit einem Tempelbau, sie schleppten das Gestein den Berg hinauf und arbeiteten im Verein mit örtlichen Maurern, die sie zu bezahlen hatten, Tag und Nacht, wobei sie zwischendurch im Mondschein tanzten. So ging es weiter, bis sich herausstellte, dass es auf dem Kopanos kein Wasser gab, er also als Ort für eine Besiedlung untauglich war. Raymond bohrte lange weiter in der trockenen Erde, in der verzweifelten Hoffnung auf eine Quelle, aber es war nichts zu machen. Der Clan musste zudem einsehen, dass die Kosten seines Vorhabens die verfügbaren Mittel weit überstiegen, und so ließen sie die Maurerkellen sinken und zogen weiter nach Athen.
Dort tanzte Isadora hingebungsvoll auf dem Berg über der Stadt, wo die große Tempelanlage noch in alter, wenn auch stark angeschlagener Pracht zu besichtigen war.
»Mit dem Parthenon hatten wir den Gipfel der Vollendung erschaut. Es schien mir, dass der Geist, den ich suchte, die unsichtbare Göttin Athene war, die noch immer die Ruinen des Parthenon bewohnte.« Um Kontakt zu den Athenern zu finden, wandten sich die Duncans an die Universität, wo es unter den Studenten einige gab, die gleichfalls für die Antike schwärmten und über Isadora in der Zeitung gelesen hatten und die bereit waren, der Tänzerin aus dem fernen Amerika Auftrittsmöglichkeiten in örtlichen Theatern zu verschaffen. Einen solchen Tanz hatte man im neuzeitlichen Athen noch nie gesehen, und schnell verbreitete sich der Ruhm Isadoras bis in die höchsten Kreise. König Georg I. selbst kam mit Gefolge, um eine Vorstellung anzusehen, aber hier sprang der Funke nicht über. Seine Majestät applaudierte respektvoll, doch ohne echtes Hochgefühl. »Ich spürte sofort, dass er kein Verständnis für meine Kunst aufbrachte. Für königliche Herrschaften dürfte das konventionelle Ballett auch in Zukunft der Tanz schlechthin bleiben.«
Die Herbergen in Griechenland waren schlicht, aber unsere Pilger bereit, mit kaltem Wasser und frugalen Mahlzeiten vorliebzunehmen, suchten sie doch vor allem Nahrung für den Geist. Eines Tages kam Augustin von der Poststelle mit rotem Gesicht und zitternden Händen heim.
»Ich muss euch gestehen«, rief er in die Runde, »dass ich es ohne meine liebste Frau und das Kind nicht länger aushalte. Wir haben korrespondiert. Sarah will mit unsrer Tochter zu uns stoßen. Was meint ihr?«
Elizabeth sah ihre Mutter an, Isadoras Blick suchte Raymonds. Niemand sprach. Augustin vergrub sein Gesicht in den Händen. Da sagte Isadora:
»Wird sie sich bei uns aufgehoben fühlen? Du weißt, wir sind hier nicht im Urlaub. Wir haben eine Mission.«
»Wenn Sarah«, meldete sich die Mutter, »ihren Mann vermisst und kommen will, dann ist es für uns eine menschliche Pflicht, sie aufzunehmen. Man kann später immer noch sehen –«
»Wir alle«, unterbrach Isadora, »haben dich gewarnt, Augustin! Eine Eheschließung ist für uns nicht hinnehmbar. Ich selbst stand vor der Frage einst … Meine Entscheidung war klar. Die Kunst darf keinen Rivalen haben in Gestalt eines Ehegespons.«
Augustins Hände zitterten immer noch. Er stand auf und sagte:
»Dann werde ich euch verlassen müssen. Es ist mir zutiefst … Ich kann nicht …« Er stammelte noch dies und das und wollte davonlaufen, aber Raymond hielt ihn auf.
»Mutter hat recht. So leidenschaftlich wir auch hier die Götter suchen – das Menschliche darf dabei nicht verloren gehen. Telegrafiere ihr, sie soll sich auf den Weg machen.« Raymond hatte seinen eigenen besonderen Grund, dem Bruder entgegenzukommen. Er war verliebt in eine schöne Griechin. Sie war Sängerin und hieß Penelope.
Einige Wochen später wuchs dann der Duncan-Clan um zwei weitere Personen an. Isadora bewog die Schwägerin, ihr französisches Kostüm abzulegen und in einen luftigen Chiton zu schlüpfen. Der fünfjährigen Tochter namens Temple zeigte sie, wie man tanzt, und fand in der Kleinen eine eifrige Schülerin. Elizabeth nahm Sarah unter ihre Fittiche und machte mit ihr einen Ausflug nach Kopanos. Dort lagen die Grundmauern des Duncan-Tempels in der Sonne wie eine antike Ruine. »Wer weiß«, sagte Elizabeth, »vielleicht bauen wir unser griechisches Haus irgendwann doch noch zu Ende.«
Auch in Athen gab es Museen, Isadora sah sich in ihnen um. Was sie aber wirklich faszinierte, waren die byzantinischen Kirchen und die orthodoxen Gottesdienste mit ihren wundervollen Gesängen. In dieser geistlichen Musik verberge sich, meinte sie, das Erbe der griechischen Chöre. Sie war immer schon davon ausgegangen, dass der Chor, den es in der griechischen Tragödie gibt, nicht wie in den zeitgenössischen Inszenierungen einfach nur seinen Text hinausposaunt hat, sondern dass diese Texte ursprünglich gesungen worden waren. Nun wusste oder ahnte sie, wie das geklungen hatte. An der Universität war ihr ein junger Seminarist begegnet, der sie und ihren Tanz bewunderte und Englisch sprach. Jetzt bat sie ihn, ihr dabei behilflich zu sein, einen Chor zusammenzustellen, mit dem sie Aischylos’ Drama Die Schutzflehenden aufführen wollte. Als Chorsänger stellte sie sich eine Gruppe von Jungen mit besonders schönen, klaren Stimmen vor. Der angehende Priester war sofort bereit, für Isadora so einen Chor zu gründen, und mit einem Dutzend lernbereiter, neugieriger Knaben studierte Isadora dann die Chöre des Aischylos ein. Daraus entwickelte sich eine eindrucksvolle Darbietung, die große Resonanz fand – sicher auch deshalb, weil die Eltern der Jungen mit allen Verwandten und Bekannten ins Theater strömten, um ihre begabten Söhne singen zu hören und tanzen zu sehen. Isadora selbst führte den Chor an, Elizabeth übernahm die Regie nach den choreografischen Ideen Raymonds. Für die Duncans war diese Vorführung die Erfüllung eines Traums, denn mit ihr, so empfanden sie es, war ihnen nichts weniger gelungen als eine Wiedergeburt der antiken Bühnenkunst. Aber nach nur wenigen Auftritten erlahmte das Interesse der Athener an ihrer eigenen Vorvergangenheit; Raymond glaubte, dass Die Schutzflehenden in Nordeuropa bessere Chancen auf ein nachhaltiges Echo haben würden und schlug vor, fürs Erste nach Berlin zurückzukehren. Isadora schickte Telegramme an Grosz, in denen sie einen Eindruck ihrer jüngsten Arbeit zu geben versuchte, und bat ihn um Unterstützung. Und sie ging intensiv mit sich selbst zu Rate. Eines Abends stieg sie allein zur Akropolis empor, um die dort versammelten Götter noch einmal zu befragen. Die Antwort war Schweigen. Isadora gab sich geschlagen. »Plötzlich erschien es mir, als ob alle unsere Träume wie eine schillernde Seifenblase zerplatzten, und ich erkannte, dass wir nichts anderes waren und niemals etwas anderes sein konnten als moderne Menschen. Wir konnten nicht fühlen wie die alten Griechen! Ich selbst bin nichts anderes als eine schottisch-irische Amerikanerin, die vermutlich den Rothäuten Amerikas nähersteht als den klassischen Griechen.«
Weder gab die Herberge weiteren Kredit noch waren die Arbeiter vom Kopanos bereit, länger auf ihren Lohn zu warten. Augustin hatte noch Bares dabei, ebenso Sarah; sie gaben ihr letztes Geld, um alle Schulden zu begleichen und Rückfahrkarten zu bezahlen. Dann hieß es Aufbruch. Aber so ganz mit leeren Händen wollten die Duncans nicht von Hellas scheiden. Sie nahmen zehn der musikalischen Knaben mit – nachdem der hilfreiche Seminarist den Eltern versichert hatte, dass es auf eine exquisite Bildungsreise gehe und auch sich selbst als Betreuer angeboten hatte. Grosz kabelte zurück: in Wien wolle man die neue Produktion mit dem Knabenchor im Carltheater herausbringen. Also ging es erst einmal nach Österreich. Es kam, wie Raymond vorhergesehen hatte. In Wien waren die zahlreichen Kunstjünger sehr viel aufgeschlossener für die Chöre des Aischylos als im Mutterland des großen Dramatikers. Allerdings musste Isadora auf Zuruf im Anschluss noch mehrmals die Schöne blaue Donau tanzen, um das Publikum in der Leopoldstadt vollends zufriedenzustellen. Hermann Bahr besprach den Abend lobend. Isadora lernte den einflussreichen Wiener Schriftsteller persönlich kennen und gewann in ihm einen Freund.
Das Jahr 1904 hob an, der Reiz der griechischen Chöre mit den lauteren Knabenstimmen und der temperamentvoll den Chor anführenden Miss Duncan sorgte für volle Häuser auch in München und Berlin. Dort, im Berliner Thalia-Theater, traf Isadora erneut auf Grosz.
»Da bist du ja wieder«, sagte der Manager. »Mag sein, dass du eine Weile ohne dein deutsches Publikum auskommen konntest. Aber das deutsche Publikum hat sich nach dir gesehnt. Und nicht nur das deutsche. Weißt du, mit wem ich gerade verhandele? Mit einem Theaterdirektor in St. Petersburg. Dein Ruf ist bis in die Weiten Russlands gedrungen.« Isadora wusste, dass Grosz ihre griechische Pilgerfahrt als eine idée fixe abgetan hatte. Sie mochte nicht zugeben, dass er im Recht gewesen war, wollte jedoch nicht mit ihm streiten.
»Alexander«, sagte sie, »die Welt wird vom Geld regiert. Aber ich lasse mich unter dieses Joch nicht beugen. Ich weiß, dass die Menschen in letzter Instanz etwas anderes suchen. Ich kann ihnen das geben: Sinn. Erhebung. Berührung mit dem Universum …«
»Und all das hast du ausgerechnet in Griechenland zu finden geglaubt?«
»Ach«, seufzte Isadora, »mach dich nur lustig über mich. Ich versichere dir, dass der Besuch des Parthenons einen neuen Menschen aus jedem macht, der diesen Tempel betritt. Sogar aus dir. Aber die Griechen unserer Zeit sind nicht mehr cérébrale. Die lange Türkenherrschaft hat ihnen den Geist ausgetrieben. Lord Byron kam zu spät.«
»Byron starb in Griechenland an einer schlichten Infektion. Und nicht im Kampf gegen die Türken.«
»Was hast du bloß gegen Legenden, Alexander!«
»Gar nichts. Solange ich Geld mit ihnen verdiene. Du weißt, meine Schöne, dass du selbst trotz deiner Jugend eine Legende bist. Alle Welt ruft nach dir – die Welt jenseits von Griechenland, wohlgemerkt. Fürs Jahresende habe ich schon mit Baden-Baden, München, Würzburg, Heidelberg und Dresden abgeschlossen. Und hier, dem jüngsten und verführerischsten Ruf wirst du gewiss Folge leisten, auch wenn für mich nichts dabei rausspringt.« Er reichte ihr einen großen Brief. »Ich habe diese Post für dich beantwortet und erklärt, dass du erst später frei sein wirst. Lies, es ist die ganz große Ehre.« Die Absenderin war niemand anderes als Cosima Wagner aus Bayreuth.
So stolz Isadora war, dass die Tochter Liszts und Witwe des großen Komponisten sie als Mitwirkende zu den Bayreuther Festspielen bat, sosehr fühlte sie sich aber doch in der Pflicht, ihre Sängerknaben weiter zu betreuen und mit ihnen aufzutreten. Der Gedanke an eine Tanzschule hatte sie nie verlassen und würde sie ihr Leben lang begleiten. Hier waren ja nun schon mal zehn Schüler. Die Vorstellungen in den vergangenen Wochen und das Verhandlungsgeschick ihres Agenten hatten ihr Konto wieder gefüllt, und sie glaubte jetzt ein Haus erwerben zu können, in dem sie die griechischen Jugendlichen und viele weitere Schüler und Elevinnen unterbringen könnte. Einstweilen logierten sie noch alle miteinander im Hotel, die Kosten waren hoch und Isadora mit der Leistung des jungen Seminaristen, der auf die Knaben aufpassen sollte, unzufrieden. Sie stellte ihn zur Rede:
»Was ist los, mein Lieber, gestern fehlten bei der Vorstellung zwei Jungen. Wir mussten improvisieren.«
»Das tut mir leid, Miss Duncan, aber ich tue, was ich kann. Vielleicht sollte ich Ihnen gestehen …«
»Was denn bloß?«
»Es ist wie einen Sack Flöhe hüten. Sie glauben es nicht. Die Bengel klettern nachts aus dem Fenster und vergnügen sich in den Bars am Tiergarten.«
»Nicht möglich! Es sind Kinder.«
»Das dachte ich auch. Aber sie wachsen ja. Und entwickeln neue Interessen …«
Isadora fasste sich an die Stirn. »Jetzt wird mir auch klar, woher die Misstöne rühren, die ich immer öfter höre. Könnte es sein, dass der Stimmbruch …«
Der junge Priester nickte traurig. Bald darauf, nach Rücksprache mit Elizabeth und Raymond, schickte Isadora ihren Chor samt Betreuer zurück nach Athen. Grosz war heilfroh, endlich wieder ein volles Isadora-Duncan-Programm zu Gluck, Beethoven, Schubert, Chopin und Wagner anbieten zu können, ohne irgendwelche altgriechischen Prätentionen. Er schickte Isadora auf Gastspielreise nach München und Köln. Sie absolvierte die Tournee in Begleitung ihrer Mutter und musste sich damit abfinden, dass der Familienclan nunmehr in Auflösung begriffen war. Raymond reiste zurück nach Griechenland, wo seine Penelope auf ihn wartete und er den Tempelbau fortsetzen wollte. Augustin und seine Frau erwogen die Heimkehr nach Amerika. Elizabeth sah sich in Berlin nach einem Haus für die zu gründende Schule um. Dafür brauchte sie Geld. Also musste Isadora die Kasse aufbessern und tanzen, tanzen, tanzen. Bei den Bayreuther Festspielen hatte sie nun endgültig zugesagt. Kurz vor ihrer Abreise erhielt sie einen Brief von der Freundin Mary Desti. Die wünschte sich ein Wiedersehen. Isadora schickte ihr ein Telegramm: »Wir treffen uns in Bayreuth. Stop. Auf dem Grünen Hügel.«
An einem warmen Frühlingstag kam Isadora mit ihrer Mutter in Bayreuth an. Im Hotel Schwarzer Adler nahmen die Frauen ein Zimmer, das groß genug für tägliche Tanzproben war, zu diesem Behufe ließen sie ein Klavier bringen. Beinahe täglich kamen Boten mit Grüßen von Cosima Wagner, die zum Mittag- oder Abendessen lud oder zu einer Soiree ins Haus Wahnfried. Dieses Haus war ein Geschenk König Ludwigs von Bayern an den verehrten Komponisten gewesen: »Hier, wo mein Wähnen Frieden fand – Wahnfried – sei dieses Haus von mir benannt.« Bei den täglichen Zusammenkünften waren meist etwa fünfzehn Gäste anwesend, bekannte Musiker und Künstler, Adlige von Rang bis ganz nach oben. Cosima Wagner dominierte die Tafel taktvoll und würdig vom Kopfende her. Oft spielten abends Quartette, besetzt mit den Besten ihres Fachs, Isadora traf die Dirigenten Hans Richter, Karl Muck und Felix Mottl, den Kunsthistoriker Heinrich Thode, Cosimas Schwiegersohn, und den Komponisten der Oper Hänsel und Gretel, Engelbert Humperdinck. In den Gesprächen ging es meistens um Musik und die Festspiele, aber auch um moderne Kunst und Politik. Isadora beteiligte sich lebhaft, sie erwähnte öfters ihren Plan einer Schulgründung. In Humperdinck fand sie einen interessierten Zuhörer. »Das könnte ich mir reizvoll vorstellen«, sagte der Komponist, »für tanzende Kinder Musik zu machen!« Auch bei schwierigen Themen wie Philosophie und Lebensreform stieg Isadora mit kräftiger Stimme ohne Angst vor den erlauchten Diskutanten ein, wobei man ihr die Fehler, die sie im Deutschen machte, nachsah, war sie doch als Person so überaus anziehend, wenngleich oft provokant. Nach dem Essen erging sich Frau Wagner gern mit Isadora im Park der Villa am Rande des Bayreuther Hofgartens.
»Nehmen Sie doch meinen Arm, Isadora. Wissen Sie, es ist mir manchmal eigenartig zumute, wenn ich hier am Grabe Richards vorbeigehe, mir ist dann, als spräche er zu mir.«
»Da ist nichts dabei, Cosima, sprechen Sie ruhig mit ihm, das kann sehr helfen. Ich unterhalte mich auch mit den Geistern der Vergangenheit, den Geistern der Antike.«
»Das freut mich sehr, dass Sie es mir nachsehen.«
»Wie sollte ich nicht. Ich bewundere Sie und Ihre Arbeit und alles, was Sie hier geschaffen haben.«
Isadora war genau die Art Frau und Künstlerin, die sich Cosima Wagner als Schwiegertochter und Braut für ihren damals 35-jährigen Sohn Siegfried wünschte. Das konnte sie offen nicht äußern. Stattdessen sagte sie:
»Isadora, ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie im Tannhäuser auftreten. Ich sehe Sie als eine der drei Grazien im Bacchanale. Richard hat das klassische Ballett ebenso wenig gemocht wie Sie, ihm hätte Ihr Tanz sehr gefallen, das weiß ich. Was meinen Sie?«
»Siegfried hat mich ja mit dieser Aussicht hergelockt. Ja, ich tanze gern im Bacchanale, ich betrachte es als eine Auszeichnung.«
Damit war es beschlossen. Nun benötigte Isadora noch eine standesgemäße Unterkunft, im Hotel war zu viel Trubel und letztlich doch zu wenig Platz, zumal Miss Duncan sich ein buntes soziales Leben wünschte und ähnlich interessante gesellige Abende geben wollte wie Frau Wagner. Bei einem Spaziergang entdeckte Isadora nicht weit entfernt vom Festspielhaus ein ziemlich heruntergekommenes, bildschönes Gebäude, das von einer Bauernfamilie bewohnt wurde: Philippsruh, einst Jagdhaus des Markgrafen Friedrich von Bayreuth. Sie bot den Bauern eine beträchtliche Summe, damit diese ihr das Haus für eine Saison überließen und bestellte Innenarchitekten, Maler, Tapezierer und andere Gewerke für eine gründliche Renovierung. Die Wände ließ sie in einem zarten Grün tünchen. Während der Sanierungsarbeiten fuhr sie nach Berlin und suchte dort Sessel, Sofas, Ruhekissen, rosa Lampen und Bücher aus – es gab keine Stühle – und nahm danach Philippsruh in Besitz. Isadora: »Das Haus hatte ein großes, wundervoll geschnittenes Wohnzimmer, alte marmorne Stufen führten in einen romantischen Garten.« In diesen Tagen kam Mary Desti mit ihrem Sohn in Bayreuth an; Isadora war stolz, die Freundin in ihrem stilvoll eingerichteten Jagdhaus empfangen zu können. Mary hatte inzwischen zum zweiten Mal geheiratet und hieß jetzt Mrs Sturges. Ihr Mann hatte den kleinen Preston adoptiert und nichts dagegen, dass seine Familie in Europa auf Bildungsreise ging.
»Liebste Mary«, sagte Isadora, »wenn du es immer noch ernst meinst mit der Kunst, solltest du das Heiraten sein lassen.«
Aber Mary gehörte, was Fragen der Emanzipation betraf, noch zur alten konservativen Garde und fand, dass es die Pflicht der Männer sei, für den Lebensunterhalt der Ihren aufzukommen. Sie sagte:
Isadora in Philippsruh bei Bayreuth, 1904
»Dir liegt das Publikum zu Füßen, du hast einen Agenten, der für Einkünfte sorgt. Das ist etwas anderes. Wer bezahlt mir die Schiffspassage und später die Schule für Preston?«
Isadora küsste Mary auf den Mund.
«Weißt du, was mir vorschwebt? Dass ich für dich und Preston und vielleicht später mal für meine Kinder das Geld ertanze – und zwar so viel, dass es für dionysische Partys reicht.«
Mary machte große Augen. »Kinder?«, fragte sie. »Du denkst an eigene Kinder, obschon du niemals heiraten willst?«
»Und ob. Ich betrachte es als das Recht jeder Frau, Kinder zu haben von wem immer sie möchte, ohne sich dafür Ehefesseln einzuhandeln.«
Die Proben für die Festspiele begannen und beflügelten Isadora, entsprach doch diese Musik ihrem Sinn für Erhabenheit und Ekstase. »Ich verpasste keine Probe des Tannhäuser, des Ring und des Parsifal, bis diese Musik mich in einen andauernden Rauschzustand versetzte. Um sie besser zu verstehen, lernte ich die Texte aller Opern auswendig, bis ich eines Tages Sieglinde war, die in die Arme ihres Bruders Siegmund sank.« In dieser außerordentlichen psychischen Verfassung verlangte es Isadora nach der Liebe; also schickte sie ein dringendes Telegramm nach Budapest mit der Bitte an Beregi, sich nach Bayreuth aufzumachen und ihr Gast in Philippsruh zu sein. Es fügte sich, dass der Schauspieler gerade frei hatte, er kam sofort angereist und umarmte seine Fast-Verlobte stürmisch. Mit ihm als künstlerischem Berater komponierte sie die Choreografie des Bacchanale. Am Ende führte ihre Art des freien Tanzes zu einer absurden Kombination mit den beiden Ballerinen, die als Co-Grazien ihre gewohnten Pirouetten drehten. Bei Publikum und Presse aber gewann Isadora. »Sie zeigt natürliche harmonische Bewegung im klassisch-griechischen Stil. Statt Tütü, Korsett und rosa Strümpfen trägt sie fließende Gewänder und tanzt nicht in Spitzenschuhen, sondern barfuß. Duncan erschafft den modernen Tanz und ist die Erste, die sich nach den klassischen Musikwerken auf eine ganz neue, weiblich-freizügige Weise bewegt. Tanz ist für sie körperlich-seelische Einfühlung in die Musik.« So stand es in der Zeitung. Die Direktorin der Events indes, die Grande Dame Cosima, war jetzt ganz froh, dass sich zwischen ihrem Siegfried und Isadora keine intime Liaison hergestellt hatte. Zwar wusste sie vorher, worauf sie sich einließ, als sie die Duncan engagierte, aber der sittenstrengen Matriarchin war die Tunika der Tänzerin dann doch allzu durchsichtig. Sie ließ ihr ein langes, weißes und blickdichtes Hemd in die Garderobe schicken, auf dem beigefügten Kärtchen stand zu lesen:
»Liebe Isadora, bitte ziehen Sie dieses Kleid über, tun Sie mir den Gefallen. Man sieht all Ihre Rundungen; neben den Korsagen und den Strumpfhosen der anderen beiden Grazien erweckt das einiges Aufsehen.« Doch Isadora blieb unnachgiebig, »Ich tanze und kleide mich, wie ich es für richtig halte oder gar nicht.« Frau Wagner gab nach, sie wollte auf keinen Fall einen Tunika-Skandal heraufbeschwören.
Isadoras Salon in Philippsruh florierte, die Prominenz kam und soupierte und diskutierte – das Gastgeben über alle Grenzen hinweg lag der Amerikanerin im Blut, sie genoss es, auch, weil es sie inspirierte. Die Korrespondenz mit Künstlern, Literaten und Gelehrten hatte eine ähnliche Funktion. Immer noch schrieb sie Briefe an Karl Federn, und er teilte ihr seine neuesten Gedanken zu Nietzsche und dem Zarathustra mit. In London war sie einst auf die Schriften des Naturforschers Ernst Haeckel gestoßen, sein Buch Die Welträtsel, das sie in englischer Übersetzung las, beeindruckte sie sehr; es war und ist eines der wichtigsten populärwissenschaftlichen Werke in der deutschen Buchgeschichte. Haeckel hatte der Evolutionslehre Darwins zum Durchbruch verholfen, viele von dessen Prognosen waren ja seither von der Wissenschaft bestätigt worden. Isadora schrieb dem Naturforscher einen Brief, in dem sie ihre Dankbarkeit ausdrückte, nicht viel später kam die Antwort, man blieb im Briefkontakt. In der Presse stieß Isadora nun auf die Nachricht, dass eine Ehrung anlässlich des siebzigsten Geburtstags Haeckels geplant sei. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, den Mann nach Bayreuth einzuladen? Gedacht, getan. Bald schon konnte Isadora den Jubilar mit der Kutsche vom Bahnhof abholen. Hier sahen sich beide das erste Mal. Isadora war beeindruckt von Haeckels athletischer Figur, seinem großen weißen Bart und seiner lässigen Kleidung. »Er verströmte einen feinen Duft, der an Gesundheit, Stärke und Geist gemahnte, man könnte es Intelligenzparfum nennen.« Haeckel bezog ein mit Blumen geschmücktes Zimmer in Philippsruh. Freudig eilte Isadora ins Haus Wahnfried zu Cosima, um den Gast anzukündigen. Der brauchte ja auch eine Eintrittskarte für den Parsifal. Die Hausherrin reagierte kühl, Isadora hatte deren katholische Frömmigkeit unterschätzt und auch den Brauch, die Logenplätze für die Aufführungen kostenlos nur an enge Freunde abzugeben. Dennoch erhielt Isadora die begehrte Karte, man konnte sie ihr schlecht verweigern. Im Festspielhaus wandelte die Tänzerin barfuß und in Tunika Hand in Hand mit dem großen Haeckel. Die fünfstündige Aufführung ließ der Mann der Wissenschaft stoisch über sich ergehen. Da er keine Einladung ins Haus Wahnfried erhielt, natürlich nicht, beschloss Isadora, ihrerseits ein Essen für den Freund zu geben. Sie lud eine illustre Schar Bekannter ein, darunter den Fürsten Ferdinand von Bulgarien, den Tenor Alfred von Barry, die Schwester des Kaisers, Prinzessin Charlotte von Preußen, Heinrich Thode und Engelbert Humperdinck. Ihre Mutter, Oscar und Mary halfen bei den Vorbereitungen. Isadora hielt persönlich die Laudatio auf Haeckel. Danach tanzte sie für ihn und die anderen. So endete ihre Bayreuther Saison. Beregi fuhr zurück nach Budapest, Haeckel nach Jena und Mary mit dem Jungen nach Amerika. Isadora packte für Berlin. Von da aus würde sie, so hatte Grosz es mitgeteilt, zu Auftritten nach Baden-Baden, München, Heidelberg, Würzburg und Dresden reisen. Im Anschluss daran, gegen Ende des Jahres, war sie für St. Petersburg gebucht. Die aufregendste Neuigkeit aber hatte Elizabeth per Brief mitgeteilt: Sie hatte ein Haus für die Duncan-Schule gefunden. Es war neu, groß und im romantischen Stil erbaut und lag im Grunewald.