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Kapitel 2

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Auf einmal waren die Freunde von damals wieder da. Nicht nur die Namen, sondern auch die Gesichter standen ihm nun wieder deutlich vor dem geistigen Auge: Daniel, Milena, die Geschwister Andrea und Thomas, Wolfgang und Michal. Manchmal gesellten sich auch andere zur Clique – wie zum Beispiel Ricarda, welche lediglich in den Sommerferien dazu stieß; aber dies war der harte Kern.

Die meisten von ihnen kannten sich bereits aus dem Kindergarten, der von Nonnen geleitet und vom Pfarrer regelmäßig inspiziert wurde. Später saßen sie auch zusammen in einer Schulklasse. Die Zucht war streng; aber sie ließ sich deswegen leicht ertragen, weil die Kinder sich hernach nach Herzenslust austoben konnten. Niemand setzte ihnen Schranken. Sie waren frei und die Welt stand ihnen offen. Die Berge, die Wälder, die Elbe – alles war für sie ein einziger großer Abenteuerspielplatz, worin es eine weitere bedeutende Attraktion gab: die Eisenbahn. So manche waren regelrecht auf die Gemeinschaft mit den Freunden angewiesen; denn viele fanden zu Hause in der Familie nicht die Wärme, die sie sich wünschten, da die Eltern mit existenziellen Sorgen behaftet waren und sich nicht ihren Kindern zu widmen im Stande waren, wie sie es vielleicht selbst gern täten.

So erklärte es sich leicht, dass sich mitunter so grundverschiedene Charaktere zusammenfanden, die unter anderen Umständen einander geradezu feind hätten sein können. Auch Sidonius wunderte sich im Nachhinein, dass seine Clique trotz der beachtlichen Verschiedenartigkeit der Mitglieder derart zusammengehalten hatte.

Die frisch erwachte Erinnerung an die Kindheit beschränkte sich nicht nur auf das letzte mit den Jugendfreunden gemeinsam verbrachte Weihnachtsfest. Sidonius, der mit der Eisenbahn nach Dresden gekommen war, dachte nun ganz besonders an den Tag, da die neue Eisenbahnstrecke zwischen Aussig und Teplitz eröffnet worden war. Es war der 20. Mai 1858 gewesen, ein sonniger, warmer Frühlingstag, ein großer Tag für Aussig und alle Orte, welche an diese Bahnlinie angeschlossen waren – und ein großer Tag für Sidonius und seine Freunde, welche den Bau der Strecke mit großem Interesse penibel verfolgt hatten. Man kann sagen, es war ein Höhepunkt ihrer Jugend, wenn nicht der Höhepunkt schlechthin.

Er war noch dabei, seinen Sonntagsanzug anzuziehen, als es unten an der Tür klingelte. Sein Vater öffnete und Sidonius hörte, wie Milena scheu und mit tschechischem Akzent fragte, ob Zdeněk zu Hause sei.

„Hier gibt es keinen Zdeněk!“, fuhr der Vater sie an und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Zdeněk beeilte sich, die Fliege fertig zu binden, und eilte hinaus, wo er das verängstigte Mädchen einholte. Milena wirkte mager und etwas schwächlich. Sidonius hatte manchmal den Eindruck, dass sie sich in der Clique wohler und geborgener fühlte als zu Hause bei ihren Eltern. Er kannte ihre Familie kaum, hatte ihr ärmliches Wohnhaus nur aus der Ferne gesehen. Er wusste gar nicht, wie viele Geschwister Mila eigentlich hatte. Jedenfalls recht viele und die Sorgen im Hause Rath waren entsprechend groß. Der Vater arbeitete am Hafen.

Auch Mila trug ihr Sonntagskleid.

„Tut mir leid, Mila“, entschuldigte er sich für seinen Vater. „Aber du weißt ja, wie er ist. Er meint es nicht böse.“

„Schon gut“, erwiderte Milena und gab sich souverän. Es war ihr indes anzumerken, dass sie den Schrecken noch nicht ganz verarbeitet hatte.

Sidonius fand es schade, dass sein Vater sich so wenig für ihn, seine Interessen und seine Freunde interessierte. Die meiste Zeit verbrachte Oberstudienrat Meyer, Professor für Geschichte und alte Sprachen am Aussiger Gymnasium, in der Schule oder in seinem Arbeitzimmer und man bekam ihn nur selten zu sehen. Seine Welt schien am Schultor zu enden. Sein Arbeitszimmer war ein Stück Schule. Sidonius’ älterer Bruder Wilhelm war seit einiger Zeit verheiratet und lebte in Karlsbad. Sidonius vermisste ihn; aber er hatte ja seine Freunde.

Die Freunde trafen sich vor dem neu gebauten Bahnhof im Westen der Stadt, wo bereits eine große Menschenmenge auf die feierliche Eröffnung der Bahnstrecke durch den Aussiger Bürgermeister und verschiedene kaiserliche Staatsdiener aus Wien, vor allem aber auf den Anblick des ersten hier einfahrenden Zuges wartete.

Alle Freunde waren von ihren Müttern in ihre elegantesten Anzüge beziehungsweise Kleider gesteckt worden und man merkte ihnen an, wie unwohl sie sich darin fühlten, vor allem in den unbequemen Sonntagsschuhen, wo sie es doch gewöhnt waren, barfuß zu laufen.

Sidonius sah unter den Leuten auch andere Kameraden aus der Schule und dem Kindergarten, die mit ihren Eltern gekommen waren. Dort drüben stand Michaela. Er kannte sie auch aus dem Kindergarten. Sie hatte sich dort geradezu mütterlich um ihn gekümmert, obschon sie jünger war als er. Wenn es Gruppenspiele und -tänze gab, suchte Michaela sich stets Sidonius als Partner aus. Außerhalb des Kindergartens trafen sie sich nie, was Sidonius im Nachhinein bedauerte. Er wusste eigentlich nie genau, wo sie wohnte. Wie lange hatte er sie nicht gesehen? Heute war sie eine junge Dame – fast zum Verlieben, zumal in diesem eleganten Kleid. Er winkte ihr zu. Sie sah und erkannte ihn und winkte ihm freudig lächelnd zu. Er bedauerte es, dass Michaela nicht zu ihrer Clique gehörte; aber er war sich nicht sicher, ob sie dazugepasst hätte.

Sie suchten sich einen Weg zum Bahnsteig, um überhaupt etwas sehen zu können. Das Gemurre der Erwachsenen, die sie dabei anrempelten beziehungsweise denen sie auf die Füße traten, kümmerte sie wenig. Endlich ertönte aus der Ferne ein Schnaufen, Zischen und Pfeifen. Der Zug näherte sich, und die Kinder hielten den Atem an und starrten gebannt in die Richtung, aus welcher der Zug kommen sollte. Eine Rauchsäule war zu sehen, dann die Lokomotive, dann der ganze Zug. Die Borsig-Lokomotive – Daniel kannte sich ganz genau aus – rauchte und schnaufte und beeindruckte zusätzlich durch ihre riesigen Speichenräder, die von mächtigen Kuppelstangen angetrieben wurden. Ein, zwei, drei, vier, fünf – nein, sechs Waggons zog die Maschine hinter sich her. Diese waren ebenso wie Lokomotive mit farbenfrohen Blumengirlanden geschmückt. Aus den Fenstern schauten jubelnde Fahrgäste. Sidonius hätte einiges darum gegeben, mit unter den Passagieren sein zu dürfen, und gewiss nicht nur er allein. Die Blaskapelle begann zu spielen. Als der Zug mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam, betrat erst der Bürgermeister das bereitgestellte Podium, um seine penibel einstudierte Rede zu halten, und alle anderen anwesenden Staatsdiener taten es ihm hernach gleich.

Allen war der Wunsch anzusehen, diese neue Strecke selbst auszuprobieren beziehungsweise überhaupt einmal mit der Eisenbahn zu fahren; denn nicht allen hatte sich bisher dazu eine Gelegenheit geboten. Daniel, der in der Gruppe die Rolle eines Häuptlings innehatte, versicherte, dass sie schon in Bälde damit fahren würden, und es klang wie ein Beschluss.

Kommet, ihr Hirten

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