Читать книгу Theodor Storm fährt nach Würzburg und erreicht seinen Sohn nicht, obwohl er mit ihm spricht - Ingrid Bachér - Страница 7
I
ОглавлениеWürzburg. Dies war der Ort, an dem sie sich trafen. Er lag nah am Fluss und unterhalb des Felsens, auf dem die Burg stand, und wirkte so gefasst doch maßlos für den, der aus dem Norden angereist kam. Ein Himmel wie Opiumseide, hatte Hans Woldsen ihm gesagt, darunter eine alte gesättigte Stadt.
Und zu dem Zeitpunkt trafen sie sich, als man auch in der Provinz mit der gebührlichen Verspätung darüber disputierte, von welchen Ahnen der Mensch nun wirklich abstamme – oder darüber, ob denn nicht wenigstens die Attribute, welche man selber den Göttern beigegeben hatte, noch als verbindlich zu achten seien, wenn schon der Kern der Anbetung verschwunden war und die Glorie, die zurückblieb, kaum mehr einen Schauder verursachen konnte.
Einige Jahre zuvor hatte es den Krieg 1870/71 gegeben und, als Folge dieser gemeinsamen patriotischen Anstrengung, die Gründung des Deutschen Reiches. Der erste, nun verebbende Aufschwung der Gründerjahre hatte die Einwohner ermutigt, die Mauern um ihre Städte zu durchbrechen, und hatte sie zugleich verunsichert, ob denn die Vernunft auch tatsächlich zur Toleranz führen würde, ohne welche die Aufklärung verkommen musste. Doch noch schien nichts entschieden zu sein. Die Gutwilligen nannten dies eine Zeit des Übergangs, als handle es sich nur um einen gewöhnlichen Wechsel innerhalb der Geschichte, eine Verschiebung der Macht zugunsten der Bürger; die sich freilich, trotz aller Erwartungen, nicht viel anders benahmen als zuvor, indem sie sich zuvörderst bei ihren Handlungen immer von der Nützlichkeit leiten ließen. So sich selbst überlassen und bei dem Versuch, sich in den Schutz eines neuen Gesetzes zu begeben, entdeckten sie ein mechanistisches Prinzip in allem und unterwarfen sich ihm. Der Zwang der Mechanik und der Aufstand dagegen, waren auf unterschiedlichste Weise Themen der Bücher, die Hans Woldsen beschäftigten. Vor allem liebte er jene in dieser Zeit von E. A. Poe, von Kleist und Zola, von Baudelaire und Herzen. In ihnen erkannte er, was seinem Denken verwandt war, und fand Tatbestände formuliert, die er zu fassen suchte, aufrichtig bewegt und zuweilen pessimistisch. Fasziniert von Geschichte, sah er, dass alles nach und nach entstand und doch als Gleichzeitiges seine Wirkung hatte.
Am 6. Februar 1877, abends gegen sieben Uhr, war Storm in Würzburg angekommen. Sogleich hatte ein Dienstmann sich seines Gepäckes bemächtigt und war zu den Droschken vorausgegangen, ohne ihm Gelegenheit zu geben, auf seinen Sohn zu warten. Er hätte gerne noch gezögert. Der Bahnhof schien ein Ort geselligen Treffens zu sein, geräumig genug für viele Menschen, die im Lichte der Gasbeleuchtung hin und her promenierten. Offensichtlich nahm man es hier nicht so streng mit dem üblichen Verbot, dass sich weder Schüler noch Personen, die nicht reisten, ausgenommen Beamte und Militärs, auf dem Gelände aufhalten durften.
Der Dienstmann warf die Koffer in eine Droschke, und so stieg Storm ein, fühlte sich genötigt dazu, was ihn beengte und ihm die Stadt, in die sie nun hineinfuhren, wieder verleidete. Er hatte sowieso nie Sinn fürs Südliche gehabt, und die Vorlieben seines Sohnes für Katholisches und Barockes waren ihm immer unverständlich gewesen, wenn sie ihm nicht sogar unpassend vorgekommen waren. Das Pferd hatte den Wagen gewendet, Storm sah die beiden Flanken der Ludwigstraße, Nobelstraße mit noch jungen Alleebäumen, breiten Bürgersteigen und schmalen Vorgärten. Erst nun bemerkte er, dass er sich diese Ausgabe hätte sparen können, denn das Haus, in dem er durch Vermittlung von Professor Rinacker Gast sein würde, war keine fünf Minuten Fahrt entfernt. Es stand in unmittelbarer Nähe des alten Bahnhofes, der nur kurze Zeit in Betrieb gewesen war, bevor man ihn zur Festhalle umbaute und die Gleise außerhalb des Walls verlegte, als die Stadt begann, ihre Grenzen zu verwischen.
Während der langen Zugfahrt hatte Storm sich die Ankunft vorgestellt, sich die ersten Sätze überlegt, die er seinem Sohn sagen wollte, um seine eigene Befangenheit zu verbergen und doch zugleich den Ernst der Situation deutlich zu machen, der in der Freude der Wiederbegegnung nicht verlorengehen sollte. Hans musste das Opfer erkennen, das der Vater brachte, das er immer für ihn gebracht hatte. Storm bedachte das Wort und fand es zu gewichtig, zu belastend. Aber deutlich sollte die Freude sein und der Wille, dass er kam, um zu helfen, nicht um Hans zu gängeln, ihn zu beaufsichtigen. Wenn er daran dachte, sie hätten sich vielleicht nicht am Bahnhof verpasst, sondern Hans wäre, trotz brieflicher Ermahnungen, möglicherweise aus Feigheit gar nicht zum Bahnhof gekommen, so verwarf er diese Möglichkeit sogleich, weil sie ihn aufregte. Auch erinnerte ihn Feigheit zu sehr an Kampf und Bewährung. So oft er auch seinem Sohn gedroht hatte, in jähzornigen Ausfällen und mit unerschütterlicher Güte, nie war der Krieg erklärt worden, und es sollte jetzt nicht dazu kommen, nicht von seiner Seite aus.
Mach keine Vorwürfe, hatte Do noch am Morgen in Schleswig zu ihm gesagt, als sie sich von ihm verabschiedete. Er hatte ihr nachgesehen, der unscheinbaren, feinen Frau, so beschrieb er selber sie gerne, und war dann mit dem Zug in Richtung Hamburg gefahren. Dass sie ihn ein Stück Weges begleitete, hatte ihm die Fahrt erleichtert. Er war sozusagen auf den Weg gebracht worden, kam auch in ihrem Auftrag. Er wunderte sich, welch sonderbare Idee, als ob er Hilfe brauchte bei einer Begegnung mit seinem Sohn, dem guten alten Jungen, und doch hatte er sich, als er eben zur Droschke gebracht worden war und hinter seinem Gepäck herging, gefährdet gefühlt. Auch das Glockengeläut störte ihn. Es versetzte die Luft in ständige Vibration und umfing ihn, einem unsichtbaren Gegner gleich, der durch nichts zu enttarnen war. Als sie das Haus Ludwigstraße 12 erreicht hatten, war ihm gewiss, alles würde so schwierig werden, wie er es erwartet hatte.
Es ist kalt, sagte der Kutscher und trug die Koffer bis zur Tür, wo das Mädchen sie in Empfang nahm, das den Fremden in den zweiten Stock begleiten sollte. Ein ganz schön frostiger Winter, begann der Kutscher noch einmal, da sein Fahrgast nicht geantwortet hatte, und er betrachtete den Mann vor sich, wohl sechzigjährig, mittelgroß, eher klein, mit dem adretten Mantel, dem langen Schal und dem breitrandigen, sonderbarerweise weißen Hut. Dabei sah er ihn direkt an, eine Haltung, die Storms Zutrauen und Beifall spontan erweckte. So gab es doch ein gutes Omen vor seinem Eintritt in das Haus.
Drinnen war alles wie gewünscht, bekannt ihm die Chodowiecki-Kupferstiche an den Wänden, auch jene rührende Darstellung von Paul und Virginia mit dem Sklaven. Ein Motiv, das Storm vertraut war durch eine Tapete in der Reventlowschen Wohnung im Husumer Schloss. In jedem Raum standen Pflanzen in den mit Zink verkleideten Vertiefungen der Blumentische, und die Vorhänge vor den Fenstern hingen dicht und üppig herab, berührten mit den unteren Kanten fast den Boden. Die Möbel waren nicht wie bei ihm zu Hause schlichtes Biedermeier, sondern eher gekünstelt, neugotisch, was ihm sonst missfiel. Doch störte es ihn hier nicht, weil alles so bequem arrangiert war.
Das Mädchen zeigte ihm sein Zimmer und sagte, Frau Professor erwarte ihn in einer halben Stunde zum Nachtessen. Lina Strecker, die Witwe eines Chemieprofessors, hatte Jahre zuvor, als sie mit ihrem Mann noch in Tübingen lebte, den Ruf einer guten Gastgeberin gehabt. Auch jetzt verstand sie, zuzuhören und einzugehen auf jedermann. Dabei lenkte sie das Gespräch unauffällig auf ihre Art, damit es nicht gewöhnlich wurde, sondern immer eine gespannte Geläufigkeit behielt, gerade so als wirke jedes Gespräch mit an der Bedeutung nicht nur des Einzelnen, sondern auch der des Tages, des Ortes, ja, der zivilisierten Welt überhaupt. Sie nahm nur Gäste auf, von deren Anwesenheit sie sich einiges Vergnügen erhoffen konnte oder eine gewisse Anziehungskraft für ihre kleinen Gesellschaften, die sie regelmäßig gab. Einige Gedichte von Storm hatte sie gern gelesen, und obwohl sie Geibels Lyrik mehr schätzte, so fand sie doch etwas Eigenwilliges in den Versen des Holsteiners und würde sich später oft freundlich darüber äußern.
Entzückt war sie, dass Storm von zarterer Konstitution war, als sie erwartet hatte, und tatsächlich so aussah, als hätte er einen polnischen Vorfahren gehabt, was er stets behauptete und wessen man sich zu der Zeit sowieso gerne rühmte. Geradeso, als wäre sein Vater nicht von einer Mühle gekommen, wo schon die Großväter gewesen waren, oben in der Marsch, im platten Land, wo Nebel sich wie Rauch über alles deckt. In Lina Streckers Vorstellung ging das Marschgrün stumpf in ein bleiernes Meer über, alles flach wie das Ende.
In seinem Zimmer packte Storm die Koffer aus, breitete seine Sachen aus, nahm so Besitz vom Raum. Auf den Tisch legte er, was er seinem Sohn mitbringen sollte, die Hausschuhe, die seine Schwester Dette gestrickt und woran noch gestern der Schuster das Leder genäht hatte, die Taschentücher und Briefe der anderen Schwestern, dazu Lebertran und Fleischextrakt. Das alles gefiel ihm, und er bestätigte sich selber, dass er recht daran getan hatte, herzufahren, und nahm sich vor, wenig auf Hans einzureden. Es musste möglich sein, dass er nicht immer wieder in den alten Fehler verfiel. So würde er auch nicht erwähnen, dass er erwartet hatte, am Bahnhof abgeholt zu werden. Hans würde schon seine Gründe gehabt haben. Obwohl es dem Vater nicht aus dem Sinn gehen wollte, dass seine Briefe so unaufmerksam gelesen wurden, denn sonst hätte Hans die Ankunftszeit mehrmals unterstrichen lesen können. Wieder mal befand er sich in einem unangenehmen Zwiespalt, der seiner tätigen Natur widersprach, die nach verbindlichen Entscheidungen verlangte. Er wünschte, Hans gefällig zu sein, um von ihm wieder angenommen zu werden, und konnte doch nicht darauf verzichten, ihm gewisse Vorschriften zu machen, damit er in ein Leben kam, wie es für ihn passte und wünschenswert war, und mit dem er sich tätig einfügen konnte in die Familie, dem einzigen Halt. Von dort aus ließ es sich dann leicht in Salons wie jenen der Lina Strecker oder des Professors Rinacker wechseln. Eins griff ins andere und verpasste man den Einstieg, war alles verloren.
Storm steckte Familienphotos in die Tasche seiner Jacke, von seiner ersten Frau Constanze, die seit zwölf Jahren tot war, von ihren und seinen sieben Kindern, und die einzige Photographie von Do, seiner zweiten Frau, mit ihrer gemeinsamen Tochter. Dann versuchte er, sich auf den Namen der Töchter seiner Gastgeberin zu besinnen, die ihm genannt worden waren, und ging über den langen Flur in den Essraum, dessen Tür man schon halb geöffnet hatte, weil er seit einigen Minuten erwartet wurde.
Ungefähr zur gleichen Zeit blieb der junge Mann, der schon etliche Male die Straße hin und her gegangen war, gegenüber dem Haus Nummer 12 stehen und sah zu den Fenstern im zweiten Stock hoch, wie angezogen vom Licht, das Wärme und Wohlhabenheit versprach. Doch war es allein die Vorstellung, dass sein Vater nun dort oben war, die ihn hier stehen ließ. Storm hatte sein Kommen angekündigt, und so würde er pünktlich eingetroffen sein, auf ihn war Verlass. Woldsen hätte hinaufgehen können. Lina Strecker hatte ihm gesagt, dass sie auch ihn erwarten würde. Das war eine Freundlichkeit seinem Vater gegenüber, er wusste das. Es wäre ihr recht, hatte sie gesagt, als er am Tag zuvor vorbeigekommen war, um ihr den genauen Ankunftstermin ihres Gastes mitzuteilen, wie ihm sein Vater aufgetragen hatte. Freilich vergeblich, denn Lina Strecker hatte längst Nachricht von Storm bekommen, verbunden mit dem Dank dafür, dass er bei ihr wohnen könne, was ihm die Sorge um die große Ausgabe für ein Hotelzimmer nahm. Es war sicher, dass er längere Zeit bleiben wollte, einzig zu dem Zweck, durch seine ständige Anwesenheit Hans zu zwingen, nun endlich die nötigen Examen zu machen, ihm beizustehen, einem Schutzheiligen gleich, durch die vier letzten Stationen der Prüfungen.
Natürlich wird er den Aspekt der fehlenden silbernen Flügel, wie Storm das sonst ausdrückte, in diesem ersten Brief nicht erwähnt haben, sondern die Freude, in so angenehmer Gesellschaft zumindest die Abende verbringen zu dürfen … Hans kannte all diese verbindlichen Sätze, die sein Vater so gut beherrschte und jede Konversation leicht machten. Auch der Brief, den er bekommen hatte, mit dem Hinweis, wann er sich am Bahnhof einzufinden hätte, enthielt nicht sonderlich Unangenehmes, nicht einmal die Bitte, noch sparsamer das Geld auszugeben. Kein Brief also, der den Druck auf den Magen rechtfertigte, welchen er jedes Mal empfand, wenn er von zu Hause Post bekam, als könnte es nur Missverständnisse geben.
Der junge Mensch, da am Vorgartenzaun, wusste, was auf ihn zukam, und wünschte, es in den Gewichten auszugleichen, es in der Schwebe zu halten, dabei war ihm die Distanz nun nützlich. Die Kälte an diesem Abend hatte etwas Verletzendes, trotzdem war es ihm angenehm, hier zu stehen und die Familie so nah und zugleich in netter Entfernung zu haben, genaugenommen den Mittelpunkt der Familie, die zentrale Kraft.
Dass er dort oben anwesend war, fixierte den Vater, und das war beruhigend. Nun war er dort greifbar, während er sonst öfter irrational anwesend sein konnte auf die verschiedenste Weise. Zuweilen im Hörsaal, wenn Hans auf die Sprache des vortragenden Professors plötzlich mehr achtete als auf den Inhalt des Gesagten, oder im Julius-Spital, wenn der Chefarzt ihn rief und schon ungeduldig über das Ausbleiben der Antwort wurde, bevor er überhaupt die Frage gestellt hatte. Doch am schlimmsten war es, wenn Hans Woldsen Visite in den Armensälen mitmachte, und die Geschichte wechselte auf ihre gewohnte Art, so dass die Kranken ihn ansahen, als wäre er diese väterliche Figur, die er gerade nicht sein wollte.
Gewiss, dort oben war jetzt eindeutig der Vater – und er unten auf der Straße. Überdies hatte er hier den Vorteil, zu Hause zu sein, der andere war in der Fremde, wenigstens was die Stadt anging. Nur in der Wohnung würde der Vater heimisch sein. Hans hatte das gestern begriffen, als er Lina Strecker besuchte. Er sah, dass sich hinter den Gardinen Schatten bewegten. Wahrscheinlich war man mit dem Essen fertig. Jemand stand nah beim Fenster, ohne die Vorhänge zu öffnen und hinauszusehen. Vielleicht war es Wally, Lina Streckers Tochter. Er hatte sie einmal im Julius-Spital getroffen und sie hatte ihn, mit ihrer spontanen Naivität, an seine Schwester Lucie erinnert. Er überlegte, welchen Eindruck sein Vater auf Wally machen könnnte und versuchte, ihn sich vorzustellen ganz losgelöst von allen Erinnerungen, die sie miteinander verbanden, und den Kenntnissen, die sie voneinander hatten und die gewiss manchmal die falschen waren.
Vielleicht ging der Vater gerade jetzt in sein Zimmer, um Manuskriptblätter zu holen. Kein geselliger Abend ohne geistige Nahrung, dachte Hans, und wie ruhig dabei alle wurden. Die Tür schloss Storm eigenhändig zu. Niemand sollte aus Versehen störend hineinkommen, wenn die Stimmung sich auszubreiten begann, das Hintersinnige, das seinen Schlupfwinkel in den Geschichten gefunden hatte und in solch beruhigten Stunden heraus durfte ins Abgesicherte, Eingezäunte. Beschnitten war das Unheimliche, schicksalhaft Tödliche auf die aller privatesten Konflikte, die zu lösen waren mit der einsichtsvollen Haltung eines Menschen, von dem alles abhing. Hans fand, es sprach für seinen Vater, dass er wusste, die erlösenden Worte waren nicht auszusprechen. Es sei denn, es hätte eine Umkehrung aller Verhältnisse gegeben, und man wäre von dem mörderischen Prinzip abgekommen, in dem der Schöpfer den Erlöser als Opfer bestimmt. Doch daran war nicht zu denken.
Hans Woldsen achtete darauf, aber das Licht im Salon wurde nicht schwächer, die Flammen wurden nicht heruntergeschraubt, um die Atmosphäre zu erzeugen, die beim Vorlesen so erwünscht war und die Imaginationsfähigkeit steigerte. Wahrscheinlich war der Gast am ersten Abend zu müde, oder hatte auch er Schwierigkeiten, sich in der Situation zurechtzufinden, musste sich mehr zusammennehmen und achtsam sein im Gespräch, um zu verstehen, wer sein Gegenüber war: der Verlobte von Wally, ein Dr. Erich Schmidt, und vielleicht auch Professor Rinacker, den Storm von einem früheren Besuch in Würzburg kannte, und dann natürlich die Gastgeberin, die alles so trefflich zu arrangieren verstand. Hans erinnerte sich, Lina Strecker gab allem Bedeutung. Wenn ich irgendwo in einer fremden Stadt bin, besuche ich als erstes die Kirchen und die Friedhöfe, daran erkennt man alles, hatte sie zu ihm gesagt und ihn angesehen, als sei dies ein Argument zu ihren Gunsten.
Nein, er würde nicht hinaufgehen. Es war gut hier draußen. Die Luft hatte selbst in der Strenge des Winters noch immer den Anhauch von etwas Lustvollem in sich. Na, dann schlaf schön, alter Herr, dachte er und blieb doch stehen. Erst als einer, der vorüberging, ihn anrief mit seinem Namen, löste er sich von seinen Gedanken, die ihn mit den Menschen dort im Haus verbunden hatten. Er kannte den Hund, der mit dem Fremden auf der anderen Straßenseite lief, jetzt zu ihm hinüberwechselte und dann jenem anderen wieder folgte, und so eine zufällige Verbindung zwischen ihnen herstellte. Es war ein herrenloser Hund, der auch ihn schon früher begleitet hatte, geduldig und gierig.
Woldsen! rief der Mann ein zweites Mal, jetzt lauter, als sei er zuvor im Zweifel gewesen. Angerufen mit dem Mädchennamen seiner Großmutter, den er als zweiten Namen erhalten hatte und oft anstelle des Nachnamen des Vaters gebrauchte, wandte Hans sich ab. Es verlangte ihn danach, in große Räume zu kommen, und seien es Kellergewölbe, wenn es nicht weitläufige Gemächer sein konnten. Er liebte das Unbequeme. Ja, stürzte plötzlich wie flüchtend fort, als hätte er sich hier schon zu lange aufgehalten.
Obwohl es dunkel war und die Straße kaum erleuchtet, in die er nun einbog, sah er weit entfernt wieder den Mann mit dem Hund und folgte ihm ruhiger und ohne sich Mühe zu geben, den Abstand zu verringern. Es war ihm plötzlich eingefallen, woher er diesen Mann kannte. Auch an dessen Namen erinnerte er sich, Rademacher. Er hatte nach einer Rauferei lange im Spital gelegen und half nun zuweilen als Pfleger aus. Hans ging ihm absichtslos nach, einfach so, wie einer, der im Nebel ohne Lampe geht, froh ist, in einiger Entfernung einen anderen vor sich zu sehen, der ein Licht hält. Die Büttnergasse war eng, kaum zwölf Fuß breit, und roch nach vergorenem Wein, faulendem Holz und Eisenstaub.
Er band sich den Schal fester um den Hals, es fehlte ihm ein Mantel. Im Vorbeigehen strich er mit den Fingern über die vorspringenden Quader aus Sandstein, welche hier die Sockel der Häuser bildeten, und als ein Wagen vorbeifuhr, wich er den Pferden aus, indem er auf die Treppenstufe eines Hauses trat. Beim Markt traf er, näher jetzt, wieder Rademacher, erstaunt, dass dieser nun kleiner und sonderbar zusammengedrückt wirkte, ein anderer war. Doch änderte dies nichts. Manchmal lebte Hans so allein, dass er, ganz animalisch, wie er sagte, und ohne das in irgendeiner Weise abfällig zu meinen, die Gegenwart eines Menschen brauchte.
Stunden später saßen sie sich gegenüber, Götte, wie immer dozierend, und Hans Woldsen, wortkarg, die Finger noch weiß von der Kälte, die draußen geherrscht hatte. Er war einem plötzlichen Entschluss folgend bis an das nördliche Ende der Stadt gegangen, um Sonja zu treffen. Er hatte gehofft, er könnte sie sehen und mit ihr reden und vielleicht würde es ihr gelingen, ihm auszureden, was ihn bedrückte. Sie war der einzige Mensch, dem er vertraute, und sie erwiderte seine Liebe so fraglos selbstverständlich, dass es ihn manchmal erschütterte. Aber dann war er, kurz bevor er den Weg hinter der Mauer hätte einschlagen müssen, wieder umgekehrt, weil er so fremd nicht zu ihr kommen wollte, so eingefangen, wie er jetzt war von dem, was doch nicht anwesend war, was in Husum geschah und in Heiligenstadt, Jahre zurück, und sich nun ausbreitete mit Bildern, die er spöttisch abwies, ohne sie loswerden zu können. Als Vierzehnjähriger hatte er sein Gesicht langsam dem Spiegel genähert, um zu sehen, ob zu irgendeinem Zeitpunkt dieser Bewegung sein Bild eine Ähnlichkeit mit dem seines Vaters zeigen würde, ob da etwas war, was ihn vorbestimmte, festlegte. Er hatte aber nur Züge entdeckt, die an seine Mutter erinnerten, was ihm nicht unangenehm gewesen war.
Hörst du mir zu, oder nicht? fragte Götte, der ungern seine Worte verschwendete, und außer Woldsen hörte ihm hier in der Schänke keiner zu. Es waren allesamt arme Leute, welche in dem dunstigen Licht mal in ihrer Nähe auftauchten, mal wieder verschwanden, zumeist Tagelöhner, Sandfischer und Handlanger. Auch waren einige Studenten dabei, welche Woldsen aus dem Julius-Spital kannten, wo er oft mit dem Assistenzarzt Dienst machte. Doch waren sie weit jünger als er und blieben für sich.
Ich höre dir zu, sagte Woldsen zu seinem Freund, der eifrig weitersprach, der geborene Chronist, für den alles die gleiche Wichtigkeit zu haben schien, einerlei, ob er über die neuen technischen Apparate in der Universität oder über die Teilnehmer der Gesellschaft sprach, die am Sonntag beim bayerischen König zu Tisch gewesen waren, über die Art, wie man durch Anleihen und Schuldverschreibungen ein Vermögen zu machen imstande wäre, hätte man nur das Grundkapital – oder über die neuen Feineinstellungsverfahren der Artillerie, welche unlängst hier in die Kaserne verlegt worden war. Er breitete eine Fülle von Berichten, Aufgelesenem, Gehörtem aus. Als Detailkenntnisse wurden sie geordnet und verwahrt, abrufbar unter der Bedingung der Beziehungslosigkeit. Denn träten alle diese Fakten in Verbindung, würden sie ihren Charakter verändern und sich anders darstellen. So aber, wie Götte redete, als Sammler, der ausschließlich aufbewahren und archivieren wollte, konnte alles für ihn interessant sein und nichts brauchte ihn zu bewegen.
Gleich einem Händler bot Götte sein herbeigeschafftes Wissen an, begierig, ob sein Freund zugreifen würde bei der einen oder anderen Ware.
Du weißt, ich halte es mit Stirner, sagte er, wie zur Verteidigung seiner selbst, jenes wunderbare: Verwerte dich!, was er uns zugerufen hat, dieses eindeutige Bekenntnis eines Egoisten, fuhr er fort, wohl auch um Woldsen zu reizen, der nicht nur die abschätzige Meinung der Sozialisten über Max Stirners Hauptwerk teilte, sondern dem darüber hinaus dies Denken zuwider war, als eine elende Selbstbespiegelung, die alles einenge.
Es könnte einen dabei der Mangel an sittlichem Denken stören, sagte Götte, bedacht, die Gegenseite zu beliefern.
Auch das ist möglich. Woldsen hatte nicht viel Lust zu reden. Zwar war ihm allmählich warm geworden, obwohl im »Stachel« wenig geheizt wurde und es mehr die Ansammlung von Menschen war, die Wärme gab. Doch verlor er noch immer nicht das Gefühl einer gesteigerten Unwirklichkeit, das ihn schon draußen auf der Straße erfasst hatte. Das Halbdunkel im Raum unterstützte dies und auch der Hunger, den er nun spürte. Dabei aß er kaum etwas vom Brot und auch nicht von dem Käse, den Götte ihm hingeschoben hatte. Speisegeruch und Bierdunst bereiteten ihm Übelkeit, ohne dass er deswegen gewünscht hätte, fortzugehen. Sondern er blieb, fasziniert und beruhigt von dem, was sich um ihn herum abspielte, von den Bewegungen der Menschen, welche sich an die langen Tische setzten, wieder aufstanden, fortstrebten, wiederkamen, beim Schanktisch blieben. Es zog kalt von der Tür her, sobald jemand sie öffnete, und einen Augenblick wurde es dann ruhiger. Gleich darauf begann wieder der Lärm und die Unruhe um die Tische herum von einigen, die schlaftrunken waren und sich noch wach hielten.
Frontgänger, dachte Hans, sie sehen aus, als sei Krieg und sie müssten ihr Leben improvisieren oder sie seien schon auf der Flucht. Er wunderte sich, dass ihm dieser Einfall nicht früher gekommen war, so sichtbar war es, dass sie alle nur mit dem minimalsten Aufwand lebten, ihre Barschaft im Gürtel, an den Füßen das einzige Paar Schuhe. Immer darauf aus, zu überleben, tauschten sie Erfahrungen aus und Hinweise, geheimbündlerisch wie Besiegte im besetzten Land. Durchaus nicht freiwillig arm und ohne die mitreißende Größe der von Leidenschaft bewegten Menschen, sondern erbarmungswürdig und zuweilen trostlos, war bei ihnen das zu spüren, was sonst verlorenzugehen schien, das Unmittelbare der Existenz, das nicht abgelenkte Tatsächliche. Woldsen wusste, dass dies der Grund war, warum es ihn immer wieder in die Kneipen und Kaschemmen zog, warum er, wenn er den Tag über in der Universität oder im Spital gearbeitet hatte, nur hier hingehen wollte und warum er auch heute blieb.
Götte begann wieder zu reden, ließ nicht nach, ein Gespräch aufzubauen, mit einer Dringlichkeit, als hielte er sich an Worten fest in unruhiger Zeit. Es ist doch so, dass es einiges bei Stirner gibt, was man sich merken muss. Manches ist richtig, das meint auch Professor Tischecker. Vor allem, wenn man nun die Gesetzgebung des Deutschen Reiches beobachtet, und Götte sagte das etwas maliziös, kann einem diese Maxime gar nicht mehr aus dem Sinn gehen, so genau wird sie dabei beherzigt, indem man alles nur nach dem Wohl der Wirtschaft einrichtet. Und ermahnend fuhr er fort: Würdest du dich mehr damit beschäftigen, könntest du sehen …
Lass gut sein, beschwichtigte ihn Woldsen, den ganzen Tag schon bin ich unaufmerksam. Es gibt so Zustände im Traum. Alles ordnet sich ohne mein Zutun, hat etwas Zwanghaftes. Etwas geschieht, und ich rufe: Halt! So nicht! Und doch läuft alles was geschieht so vor mir ab, als wäre es eine längst beschlossene Sache, wäre gar schon früher geschehen und würde mir jetzt erst vorgeführt. Und ich habe keine Möglichkeit einzugreifen. Sieh zum Beispiel mal den Mann dort, und dabei wies er auf den Kleinverwachsenen, der sich gerade bei der Schankwirtin niedergelassen hatte, sollten sich die Ideen deines Herrn Stirner durchsetzen, wird man sich bald nur noch ekeln vor dem Schiefen, wie vor Dreck, und Woldsen lachte, mein Gott, was ist schon Dreck! Und er begann zu trinken und betrachtete sie, die da saßen und wie er kaum Geld hatten für den billigsten Wein, Bier tranken und warteten, dass die Nacht sich endlich im Tag auflösen und sie freigeben würde.
Er schrieb an Karl, seinen Lieblingsbruder, fünf Jahre jünger als er, auch Losche genannt oder »der stille Musikant«, wie ihn der Vater bezeichnete, nachdem er eine Novelle über ihn mit diesem Titel geschrieben hatte: … Es ist wie die Windung einer Schraube, eine Bewegung bedingt die andere, legt sie zwanghaft fest. Zeitweise hatte ich gehofft, davon freizukommen, wenigstens im Privaten. Das lässt sich kaum trennen. Du siehst ja selber, was um uns herum geschieht. Immer wünschte ich ein Regime, in dem Vernunft Einsicht heißt in das Wesen der Dinge, nicht Macht über sie. Jetzt aber wird die Vernunft eingespannt, um eine Mechanik in Gang zu setzen, analog der Gesetzmäßigkeit des Absoluten, doch beschränkt auf unsere Art, zum Ende hintreibend. Es sind nicht einmal die Nihilisten, von denen hier so viel die Rede ist, die diese Entwicklung stark forcieren, sondern an ihnen wird nur deutlich, wie sich dieser Wandel auf uns alle auswirken muss, da durch die Abwesenheit von allem Größerem der Mensch dazu verdammt zu sein scheint, sich selber bis zur Absurdität als Einzelner wichtig zu nehmen. Welche Schuldgefühle wird es nun geben, immer wieder auf uns zurückprojiziert, und wie unlösbar werden so die persönlichen Konflikte von jedem von uns werden. Ich für mein Teil wünsche da nicht mitzumachen. Doch kann es wohl sein, dass die Mechanik, welche nur nach Profit und Verlust werten kann und uns alle zu etwas Verwertbarem macht, auch mich erfasst so oder so. Vater ist hier, es wäre mir lieber gewesen, er hätte Dich geschickt. Er hat sich schon bei Rinacker und Ficke angesagt. Meinen Widerwillen vor Prüfungen kennst Du, es ist dann, als wiederhole sich alles. Tatsächlich würde es mir genügen, hier als ärztliche Hilfskraft im Krankenhaus zu arbeiten. Es gäbe da Chancen wie im vorigen Jahr, als Vater meine Abmachung wieder rückgängig machte. Freilich wäre damit wohl kein bürgerliches Leben zu führen. Wie auch immer, ich würde gern in Würzburg bleiben und mich langsam voranbringen. Ich brauche keine andere Zuflucht als diese Stadt und bin ganz und gar unwillig, sie zu verlassen, um irgendeiner Karriere willen, die ich nicht als meine ansehen kann und auf die vorzubereiten mich Vater nun schon seit Jahren anhält. Dafür zahlt er mir noch immer das Zimmer und die notwendigsten Ausgaben, was aber alles nicht aufwiegen kann und weswegen ich auch kein solch bedrücktes Gewissen habe, wie er wohl anzunehmen scheint. Wenn er wünscht, dass ich so lebe, wie er es für richtig hält, dann ist das Geld ein recht mageres Gehalt. Vielleicht hätte ich 1868 sterben sollen, wie er damals annahm, doch bin ich so widerstandsfähig wie krank.