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2. »Kurz vor dem Brechreiz«. Die Rezeption von Beauvoirs Anderem Geschlecht 1949 45

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Wenn Das andere Geschlecht sehr schnell berühmt wurde, so hängt dies nicht zuletzt mit dem Skandal zusammen, den das Werk 1949 erregte. Genauer gesagt, war es nicht die Buchausgabe, sondern es waren einige vorveröffentlichte Kapitel, die eine Reihe von Zeitgenossen – auch Zeitgenossinnen zum Aufschreien brachten. Schon im Sommer zuvor – von Mai bis Juli 1948 – war in der Zeitschrift Les Temps modernes, die Sartre mit Beauvoir und anderen nach der Befreiung Frankreichs von deutscher Besatzung gegründet hatte, in mehreren Folgen ein Text unter dem Titel »Die Frau und die Mythen« erschienen. Von diesem Text, der in der 2. Hälfte des 1. Buches wiederauftaucht, nahm bekanntlich das gesamte Unternehmen des Anderen Geschlechts seinen Ausgang. Auch damals muss es schon ein Echo auf diese Publikation gegeben haben, denn Beauvoir schrieb Anfang August 1948 an Nelson Algren, ihren amerikanischen Geliebten – die Briefe sind im Sommer 1999 in deutscher Übersetzung erschienen –: »Ich höre mit Freuden, dass der schon veröffentlichte Teil einige Männer zur Weißglut gebracht hat. […] Offenbar sind sie an ihrem empfindlichen Punkt getroffen worden«.46

Aber die eigentliche Lawine wurde erst im Mai 1949 losgetreten, als in derselben Zeitschrift, und zwar ab Seite 1, ein Kapitel aus dem 2. Band erschien. Titel: »Die sexuelle Initiation der Frau«. Nachdem Beauvoir im 1. Band Fakten und Mythen gegenübergestellt hat, zeichnet sie im 2. Band die für ihre Zeit typische geschlechtsspezifische Lebenschronologie nach, um zu demonstrieren, wie von der Wiege an der nach existenzialistischer Auffassung durch nichts vorherbestimmte Mensch zu dem abgerichtet wird, was die Gesellschaft unter der »Frau« versteht. Dabei spielt die Einführung in die Sexualität eine wichtige Rolle. Beauvoir beschreibt in diesem Kapitel unter anderem mit kaum zu übertreffender Genauigkeit den Koitus: schon auf der 2. Seite ist die Rede von der »Sensibilität der Vagina«, von »Zuckungen der Klitoris« und dem »männlichen Orgasmus«.

Das ist zu viel! »Wir haben literarisch die Grenzen des Widerlichen, die Grenzen zum Brechreiz erreicht«, schrieb der bekannte katholische Romancier und Intellektuelle François Mauriac am 30. Mai 1949 in der konservativen Tageszeitung Le Figaro, die vom gesamten französischen Bürgertum gelesen wurde, also von denjenigen, die man damals als »die Rechte« bezeichnete. Und er stellte folgende Frage: »Ist das von Mme Simone de Beauvoir behandelte Thema im Inhaltsverzeichnis einer seriösen philosophischen und literarischen Zeitschrift am Platze?«

Für Mauriac, der als Leitartikler das zum Ausdruck brachte, was viele dachten, hat der Text Beauvoirs, publiziert in einer Zeitschrift, die eine Vordenkerposition beanspruchte, Symptomcharakter. Er treibt nämlich das auf die Spitze, was er als Tendenz innerhalb der französischen Nachkriegsliteratur beobachtete, eine Tendenz, die er in Saint-Germain-des-Prés verortete und für die vor allem Namen wie Sartre, Henry Miller, Jean Genet, die Psychoanalyse oder der Surrealismus standen, allesamt Kürzel für entfesselte Sexualität. Beauvoirs Text gibt den Ausschlag dafür, dass er zu einer Meinungsumfrage aufruft. Er bittet die Leser und Leserinnen der jüngeren Generation, zu folgender Frage Stellung zu nehmen:

Glauben Sie, dass der systematische Rückgriff in der Literatur auf die Kräfte des Instinkts und den Schwachsinn ebenso wie die Ausbeutung der Erotik, die dieser Rückgriff begünstigt hat, eine Gefahr für das Individuum, für die Nation und für die Literatur selbst darstellen und dass bestimmte Personen und bestimmte Doktrinen dafür die Verantwortung tragen?

Die Zuschriften, die Mauriac erhielt, haben ihn nicht unbedingt glücklich machen können. In den 38 Briefen, die von Ende Juni bis Ende Juli 1949 in mehreren Folgen des Figaro littéraire abgedruckt wurden, ist im Übrigen häufiger von Sartre die Rede, dem seit der Veröffentlichung einer Novellensammlung 1939 ein solider Ruf als Pornograf vorausging: Nach vorherrschender Meinung hatte er die Schriftsteller André Gide und Marcel Proust als literarischer Sittenstrolch und Jugendverführer abgelöst. Aber selbst im Hinblick auf ihn ist der Erfolg der Umfrage eher mager. Auch das, was Mauriac für »verbale Ausschweifungen« Beauvoirs hält, reißt sehr wenige vom Hocker. In einem einzigen Brief ist von ihrer »pseudogelehrten Obszönität« die Rede. Es wird deutlich, dass die französischen Intellektuellen sich in einem Generationen-Umbruch befinden. Ein damals noch junger Autor, der später im literarischen Leben Frankreichs eine gewisse Rolle spielen sollte, bezeichnete Mauriacs Frage schlichtweg als prüde. Mauriac habe keine Ahnung von der jungen Generation, die sich mit Begeisterung ihr Leben aufbaue, ein Leben, in das Sigmund Freud oder Simone de Beauvoir hin und wieder Klarheit gebracht hätten, ohne dass es ihnen gelungen wäre, es zu beschmutzen. Eine der wenigen Frauen, die sich überhaupt zu der Meinungsumfrage äußerten – die öffentliche Debatte ist noch weitgehend Männersache –, war die Romanautorin Françoise d’Eaubonne, die im französischen Feminismus vor den siebziger Jahren aktiv werden sollte. Sie erkennt haarscharf, dass die Ursache des Skandals das christliche Sündenbewusstsein ist, das seit dem 4. Jahrhundert zunehmend mit der »Sünde des Fleisches« identifiziert wurde, und erteilt dem theologischen Terror eine Absage.

Der genannte Umbruch bedeutet für viele junge Intellektuelle in der Tat eine Loslösung aus der Vormundschaft der Kirche, die als normative Instanz vor fünfzig Jahren in Frankreich wie in Deutschland eine wesentlich größere Rolle im Leben der Einzelnen spielte als heute. Wer sich von der Amtskirche löste, konnte aber durchaus Christ bleiben wie Jean-Marie Domenach, der spätere Direktor der einflussreichen linkskatholischen Zeitschrift Esprit, dessen Stellungnahme zu der Meinungsumfrage damals großes Aufsehen erregte. Er fordert nämlich, nach den Entdeckungen der Psychoanalyse und den Ergebnissen des Kinsey-Reports (der gerade in französischer Übersetzung erschienen war) die Kategorien des Normalen und des Anormalen auf dem Gebiet der Sexualität einer Revision zu unterziehen. Und er verteidigt Beauvoir, die inzwischen dem skandalträchtigen Kapitel über die Sexualität noch eins draufgesetzt hatte, indem sie in der Juni-Nummer der Temps modernes das Kapitel über die »Lesbierin« und den Anfang des Kapitels über die Mutterschaft veröffentlichte, in dem es ausschließlich um die Abtreibung geht. Jean-Marie Domenach schreibt:

Ich glaube, dass die Christen, die Simone de Beauvoir unter dem Vorwand der Erotik und der Obszönität angreifen, sich völlig irren. Weder Gelächter noch Missbilligung sind als Reaktion angemessen; vielmehr müssen wir aufmerksam zuhören und dürfen uns nicht drücken, denn letztlich hängt es stark von uns und unserer Kirche ab, dass diese Unruhe und diese Suche, soweit sie authentisch sind, aufrichtig angegangen und nicht pervertiert werden.47

Der Verfasser dieses Zitats muss nicht nur von Mauriac selbst Schelte einstecken, sondern auch von dem jungen Rechtsintellektuellen Pierre de Boisdeffre, der in Mauriacs Augen die Inkarnation einer noch sittlich unverdorbenen Jugend war. Er schreibt:

Der Erfolg des Anderen Geschlechts bei Tunten und sexuell Erregten jeder Couleur bringt Jean-Marie Domenach um den Schlaf, behauptet er doch allen Ernstes, in der unbezahlbaren Pseudo-Gelehrtheit dieses Fräuleins eine »Lehrveranstaltung über normale Sexualität« zu sehen.48

Der Verfasser trauert bodenständigen alten Traditionen nach, einem Gleichgewicht in den lateinischen Ländern, in denen die Liebe, wie er schreibt, der natürlichste aller Akte war.

Das Erscheinen des 1. Bandes, der weniger Anstoß erregte als die vorveröffentlichten Kapitel des 2. Bandes, beruhigt vorübergehend die Gemüter. In einem Interview mit Alice Schwarzer hat Beauvoir übrigens später die Vorveröffentlichung als Ungeschicklichkeit bezeichnet. Man kann also annehmen, dass es kein bewusster Werbetrick war. Die Illustrierte Paris-Match druckt Auszüge aus dem 1. Band in zwei Augustnummern ab. »Eine Frau ruft die Frauen zur Freiheit auf«, lautet die Schlagzeile, und in der Einleitung ist zu lesen:

Simone de Beauvoir, Leutnant Jean-Paul Sartres und Existenzialismus-Expertin, ist zweifellos der erste weibliche Philosoph, der in der Geschichte der Männer erscheint. Es kam ihr zu, aus dem großen Abenteuer der Menschheit eine Philosophie ihres Geschlechts zu extrahieren.

Man erfährt im Übrigen, dass der Band eine Banderole mit der Aufschrift »Die Frau, das unbekannte Wesen« trug, und man sieht Beauvoir und Sartre auf einem Photo im Cafe de Flore sitzen.49

Ob der Skandal nun gewollt war oder nicht: Er führt dazu, dass allein in der ersten Woche 22.000 Exemplare von Band 1 verkauft werden. Dass das Buch viel gelesen wird, heißt aber längst nicht, dass man es auch verstünde. Ein Anglistik-Professor der Sorbonne, der sich in den Pariser Medien ein Zubrot verdient, sitzt ziemlich ratlos vor Beauvoirs Prosa, die ihm zu objektiv-kalt erscheint: Wie bloß soll das Lesepublikum »erschüttert« werden, wenn eine Frau, die über die Frau schreibt, dies nicht »als Frau« tut?50 Einem Literaturwissenschaftler zufolge, der sich ebenfalls ein Zubrot verdient, schreibt Beauvoir gerade, um sich von der Erniedrigung, Frau zu sein, zu befreien. Aber er hält das Unternehmen für aussichtslos, denn, so meint er: »Letzten Endes ist Simone de Beauvoir doch als Frau geboren, und ich sehe nicht recht, was sie daran ändern könnte. […] Das Schicksal lässt sich doch nicht verleugnen.«51 Beide Kritiker sind nicht nur Absolventen der Universität, sondern der französischen Elitehochschule École normale supérieure. Ihre Reaktion zeigt eindeutig, dass 1949 der Unterschied von Natur und Kultur nicht einmal Gelehrten ihres Ranges geläufig ist. Darauf jedenfalls hat später die Sozialistin und Feministin Colette Audry, die in den dreißiger Jahren zusammen mit Beauvoir in Rouen unterrichtete, einen Teil der Missverständnisse zurückgeführt, von denen die Aufnahme des Buches bei der Kritik geprägt war.52

Die Veröffentlichung des 2. Bandes im November erregt erneut die Gemüter. Der Literaturkritiker des Figaro littéraire geniert sich für die »Bacchantin«, die ihre Grenzen überschritt, als sie es wagte, über die sexuelle Initiation zu schreiben. Er sucht im Übrigen verzweifelt um sich herum die »Herden von Sklavinnen, deren Existenz unter männlichem Imperialismus je zur Hälfte der Verrichtung niedriger Arbeiten und der Lustbarkeit der Männer gewidmet« sei: Sind die Frauen, so fragt er, denn in Wirklichkeit nicht befreit? Der »Penthesilea von Saint-Germain-des-Prés« bringt er die unendlichen Bereicherungen in Erinnerung, die die Selbsthingabe nach sich zieht, besonders für die Frau, wie er unterstreicht, denn diese sei durch ihre Natur stärker für die Hingabe prädestiniert als der Mann. Beauvoir will, wie er glaubt, die Liebe ruinieren, um an ihre Stelle den Plaisir, also schieren Sex zu setzen.53 Er war nicht der Einzige, der dies annahm, und Beauvoir hat sich in ihrer Autobiografie gegen diese Unterstellung gewehrt.54

»Die Rechte musste notwendigerweise mein Buch hassen«, schrieb Beauvoir im Rückblick. »Ich hoffte auf eine positive Aufnahme bei der extremen Linken«55 – d. h. bei den Kommunisten. Dies erwies sich als großer Irrtum. Die Rezensentin der führenden kommunistischen Wochenzeitung stellt sich vor, wie die Konsumenten von Pornoliteratur sich auf die Zeitungskioske stürzen, um frustriert über das unverständliche Kauderwelsch der Philosophin den Rückzug anzutreten. Sie malt ihren Leserinnen und Lesern auch den unbeabsichtigten Lacherfolg aus, den Beauvoir bei den Arbeiterinnen der Renaultwerke erringe, wenn sie ihnen ihr philosophisch hochgestochenes Befreiungsprogramm vortrage.56 In einer anderen kommunistischen Wochenzeitung wird die Besprechung des Buches mit einem Photo illustriert, auf dem ein als Frau verkleideter Mann einen Gorilla küsst.57 Die quasi offizielle Exekution Beauvoirs findet später in einer kommunistischen Kulturzeitschrift statt, dem Organ des militanten Marxismus, unter Rückgriff auf Leninzitate. Auch hier rezensiert eine Frau. Der Feind, so steht es zu lesen, ist nicht der Mann, sondern der Kapitalismus. Eine Rivalität zwischen Männern und Frauen heraufzubeschwören bedeute, den tatsächlichen Problemen auszuweichen, nämlich dem Elend der Arbeiterklasse und dem drohenden Krieg. (Hier muss man sich in Erinnerung rufen, dass sich der Konflikt zwischen den Blöcken seit 1947 verschärft hatte. Das andere Geschlecht erscheint mitten im sogenannten »Kalten Krieg«.) Wer die Reaktionen des Kleinbürgertums – so die Rezensentin weiter – durch den entstellenden Spiegel einer Philosophie des Ekels hindurch analysiere, verachte in Wirklichkeit das andere Geschlecht. Die Freiheit, die Beauvoir fordert, ist für die Stalinistin wie für die konservativen Katholiken identisch mit Willkür, die Liebe wird auf den Instinkt und die Animalität reduziert. Aber schlimmer noch: Die Ablehnung der Mutterschaft als selbstverständliches Schicksal dient der Kommunistin zufolge nicht nur der Kriegspropaganda – wo keine Kinder sind, sind keine Soldaten –; sie zeigt auch, wie sehr die Existenzialistin, in einem monströsen Individualismus verbarrikadiert, unfähig dazu ist, das natürlichste Gefühl aller Frauen zu kennen. Die wirkliche Befreiung der Frau, man ahnt es, ist nur im Sozialismus möglich.58

Für die französischen Kommunistinnen im Kalten Krieg stellt die Situation der Frauen keinerlei Problem dar. In der Partei liest fast niemand das Buch, wie sich eine bekannte kommunistische Intellektuelle erinnert, die früh die Zeichen der Zeit erkannte und zum Liberalismus überwechselte. »Das hat mich überhaupt nicht interessiert«, sagte sie einer Autorin, die ein Buch über die Frauen in der französischen KP schrieb. »Für unsere Generation [sie war 1926 geboren] waren diese Emanzipationsprobleme völlig überholt: Wir waren nicht das andere Geschlecht«.59 Auch Beauvoir fühlte sich selbst ja keineswegs unterdrückt. Die demokratischen Instrumente des französischen Republikanismus hatten ihr einen Rang gesichert, den auch ihre männlichen Freunde achteten – in Deutschland wäre das nicht so leicht möglich gewesen.60 Beauvoir hatte ihre Studie auf rein theoretischer Ebene intendiert, aber als sie begann, Material zu sammeln, merkte sie bald, dass ihr etwas entgangen war in ihrer bisherigen Wirklichkeitswahrnehmung, das regelrecht in die Augen sprang, nämlich der systematische Verweis der Frauen ins zweite Glied.61 Genauso wie die Kommunisten setzte sie 1949 auf den Sozialismus, aber was sollte aus den Frauen werden, solange es die klassenlose Gesellschaft noch nicht gab?

Bei der Rechten und der extremen Linken aneckend, war Beauvoir, wie ich denke, klar ihrer Zeit voraus. Heute kann man sich fragen, welches Verdienst wohl größer gewesen ist: erkannt und geschrieben zu haben, dass »die Frau« immer nur das ist, wozu die jeweilige Gesellschaft sie konditioniert – oder eine Sprache gefunden zu haben, um Tabu-Themen öffentlich verhandelbar zu machen. Neben jenen, die vor der Krudität ihrer Begriffe zurückschrecken oder sich über ihren philosophischen Jargon lustig machen, unterstreichen andere, die sie verteidigen, den völlig neuen Ton, den sie anschlägt. Besonderes Interesse für diesen Ton zeigt die einzige Frau im Lektürekomitee des Pariser Verlags Gallimard, die wenige Jahre danach unter einem Pseudonym die Histoire d’O publizieren sollte, einen Roman, der als Pornografie verboten wurde. Dominique Aury analysiert näher die Ursachen des Skandals, den Beauvoirs Buch hervorrief:

Wenn eine Frau ausführlich und in sogenannten wissenschaftlichen Begriffen über die konkreten Vorgänge des Liebesaktes diskutiert, bricht sie das größte aller Tabus und verstößt gleichzeitig gegen die Regeln des Anstands und der guten Erziehung. Sie macht sich in gewisser Weise zum Ausstellungsstück, sie kompromittiert sich und damit zugleich die anderen Frauen, die nicht zu den Letzten gehören, die wütend auf sie sind. Von daher das Gelächter, denn die Umwege der philosophischen Sprache haben manchmal komische Wirkung; Gelächter aber vor allem, weil diese Sprache im Allgemeinen ohne Umschweife ist und weil es eine Frau ist, die sie benutzt. Die Klarheit ist jenen vorbehalten, die das Berufsgeheimnis zum Schweigen zwingt: den Ärzten und den Beichtvätern. Von einer Frau kommend und über dieses Thema, ist eine klare Sprache eine Anmaßung, ein Skandal. Darum ist das Buch Simone de Beauvoirs epochemachend, weniger durch seinen Inhalt als durch seine natürliche Ausdrucksweise. Aggressiv geschrieben, hätte es weniger Skandal erregt. Aber es ist so geschrieben, als wäre es ganz selbstverständlich, es zu schreiben. Von Scham oder Peinlichkeit, christlicher oder nichtchristlicher Art, nicht die geringste Spur bei Simone de Beauvoir.62

Um festzustellen, wie groß der Abstand zwischen der Sprache des Anderen Geschlechts und den Konventionen ist, dem also, was üblich und zulässig war, braucht man nur die Rezensionen zu lesen, die voller Euphemismen stecken. Schon das Wort »Sexualität« ist für die Mehrzahl unaussprechbar; stattdessen ist von »Erotik« die Rede. Um den Begriff »Lesbianismus« zu vermeiden, benutzt ein Kritiker die Umschreibung »weibliche Verirrung der Leidenschaften der Liebe«. Prüde in der Öffentlichkeit, schreckte man im privaten Gespräch freilich vor deutlichen Worten keineswegs zurück. Beauvoir hat selbst darauf hingewiesen, als sie in ihrer Autobiografie den seither immer wieder zitierten Satz Mauriacs festhielt, den dieser an einen Mitarbeiter der Zeitschrift Les Temps modernes geschrieben habe: »Nun weiß ich alles über die Vagina Ihrer Chefin.«63 Als Mauriac dieses »furchtbare Wort« – wie er schrieb – in Beauvoirs Memoiren entdeckte, meinte er, es sehe ihm überhaupt nicht ähnlich.64 Aber es gibt andere Texte, die belegen, dass er mit Worten nicht besonders zimperlich war. Eines seiner Bücher war von einer der brillantesten Intellektuellen ihrer Zeit, die Beauvoir in nichts nachstand, von der wir aber heute kaum etwas wissen, weil ihre Geschichte nicht geschrieben wurde, verrissen worden. In einem Brief beklagt er sich über sie bei einem Freund. Dieser Brief wurde nicht lange nach Erscheinen des Anderen Geschlechts geschrieben:

Ihre Seiten trösten mich über die Niedertracht des Weibs Magny hinweg. Diese gebildeten Idiotinnen, die ihre Louis XV-Absätze in alle Wege bohren, die uns hoch und heilig sind, diese pseudogelehrten und kreischenden Arschlöcher, man sollte sie in einen Kindergarten stecken, wo sie die Hintern abwischen und die Töpfe ausleeren müssten bis zu ihrem Tode.65

Hätte Mauriac einen schöneren Beleg dafür liefern können, wie dringend Beauvoirs Buch war?

Heute kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die ganze Debatte um Lichtjahre zurückliegt. Dass Menschen – auch Frauen – zu dem werden, was die Sozialisation aus ihnen macht, ist ein alter Hut, der keinen Feuilletonredakteur mehr interessiert. Wer – zumindest bei uns – nach dem Markt schielt wie kürzlich Katharina Rutschky,66 greift gewollt oder ungewollt auf die Überzeugungen der Frauen und Männer zurück, die 1949 verständnislos den Thesen Beauvoirs gegenüberstanden, und verweist die Frauen an den angestammten Platz der Hüterin des Feuers und der Gebärerin. Der Antifeminismus ist »in«. Ich denke allerdings, dass wir nicht alle Kritik am – wie Katharina Rutschky absichtsvoll sagt – »real existierenden Feminismus« reflexartig und unbesehen zurückweisen sollten. Ein Vergleich etwa mit Frankreich zeigt, dass bei uns der Feminismus wesentlich stärker institutionalisiert ist,67 aber ist er darum auch wirkungsvoller? Die Feministinnen sind in Frankreich eine echte politische Kraft, mit der der Staat rechnen muss, ohne qua Amt dazu verpflichtet zu sein.68 Ich habe manchmal den Eindruck, dass es bei uns eher umgekehrt ist. Wir haben Frauenbeauftragte und Frauenforschungsprofessuren en masse, aber die politischen Impulse, die in Frankreich von den Frauen ausgehen, spüre ich in Deutschland sehr wenig. Wir müssen uns wohl wirklich davor hüten, dass feministische Veranstaltungen unserer narzisstischen Selbstinszenierung dienen und dass der Feminismus völlig zum reinen Stellenbeschaffungsprogramm und zur akademischen Profilierungsnische degeneriert, die er de facto vielfach ist. Bei manchen Feministinnen klaffen öffentlich proklamierter Anspruch da, wo es nichts kostet und vielmehr Anerkennung und womöglich Geld einbringt, und konkretes Engagement vor Ort da, wo es persönliche Unannehmlichkeiten mit Kollegen nach sich ziehen könnte, stark auseinander.69 Überhaupt scheint die Engagement-These Beauvoirs und Sartres – nicht zu reagieren, ist auch eine Reak- tion, denn man stützt durch Passivität immer diejenigen, die die Macht haben – aus der Mode gekommen zu sein. »Gottseidank«, schrieb mir vor einiger Zeit eine Feministin, als ich ihr von bestimmten Machenschaften berichtete, von Betrug und Vetternwirtschaft, »Gottseidank bin ich nicht zum Mit- oder Gegenpokern gezwungen«. Das heißt: Die Zuschauerposition ist legitim. Wenn es dem »real existierenden Feminismus« nicht so gehen soll wie dem real existierenden Sozialismus, der in Bürokratie erstarrte, dann müssen die Feministinnen eine Phase der Selbstkritik einlegen, um sich von innen zu erneuern.70 Denn solange Männerbünde existieren, die verhindern, dass »gebildete Idiotinnen« ihre Louis XV-Absätze in Terrain bohren, das sie nach wie vor als ihr Jagdgebiet betrachten, ist die Forderung nach Gleichberechtigung weit davon entfernt, überflüssig zu werden.

Bibliografie

Audry, Colette. 1949. »Presseschau«. In: Combat, 22. Dezember.

Beauvoir, Simone de, 1949. Le Deuxième Sexe, I: Les faits et les mythes. II: L’expérience vécue. Paris, Gallimard (dt. Das andere Geschlecht. 1951, Neuübersetzung 1992. Reinbek, Rowohlt).

Beauvoir, Simone de. 1963. La Force des choses. Paris, Gallimard, Bd. I, »Folio«.

Beauvoir, Simone de. 1998. A Transatlantic Love Affair. Letters to Nelson Algren. Compiled and annotated by Sylvie Le Bon de Beauvoir. New York, The New Press.

Gerhard, Ute. 1999. Atempause. Feminismus als demokratisches Projekt. Frankfurt/​M., Fischer taschenbuch.

Mauriac, François. 1989. Nouvelles lettres d’une vie. 1906 – 1970. Paris, Grasset.

Mauriac, François. 1993. Bloc-Notes. Bd. 3: 1961 – 1964. Paris, Le Seuil.

Rousseau, Renée. 1983. Les femmes rouges. Chronique des années Vermeersch. Paris, Albin Michel.

Rutschky, Katharina. 1999. Emma und ihre Schwestern. Ausflüge in den real existierenden Feminismus. München, Hanser.

Erschienen in Das Argument Nr. 235 (2000)

Simone de Beauvoir und der Feminismus

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