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MECHTILD BORRMANN Brief an einen Sohn
ОглавлениеBielefeld am 22. August 2006
Christian,
schon die Anrede fällt mir schwer. Zwei Briefbögen habe ich bereits in den Papierkorb geworfen. Auf dem ersten hatte ich ganz selbstverständlich »Lieber Christian« geschrieben. Dann erschien mir dieses »Lieber« unangemessen. Auf dem zweiten Bogen stand »Geliebter Sohn«. Das fühlte sich besser an, denn es sagte nichts über dich aus, sondern nur über meine Liebe zu dir. Aber auch dieses Blatt habe ich zerrissen. Nicht, dass ich dich nicht mehr liebe, aber kaum dass ich es niedergeschrieben hatte, spürte ich deine Zurückweisung.
Du bist mir fremd geworden. Ich weiß, dass es dich schmerzt, wenn du diese Zeilen liest, aber mich trifft dieses Eingeständnis nicht weniger. Auch hier die Hürde der falsch gewählten Worte. Diese Vorsicht, mit der ich Begriffe austausche, an den Sätzen feile, um Missverständnisse zu umgehen. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob es dich schmerzt. Aber kann ich schreiben: Ich hoffe, dass es dich schmerzt? Ich wünsche mir, dass es dich schmerzt.
Ich sehe dich zustimmend nicken. Das würde deine Sicht unserer gemeinsamen Geschichte untermauern. Du würdest darin nicht meinen Wunsch sehen, dass ich dir gerne etwas bedeuten würde. Du würdest herauslesen, dass ich dir Schmerz wünsche. Unsere Gespräche sind, seit du fünfzehn warst, an den Formulierungen gescheitert. Damals hatte ich den Eindruck, du suchtest danach. Du suchtest die Sätze nach ihren Schwachstellen ab, um sie zu zerbrechen.
Dein Vater und ich sind immer der Meinung gewesen, dass elterliche Liebe, Bildung und ein intaktes soziales Umfeld einem Kind optimale Entwicklung garantieren. Heute bezweifle ich das!
Oh, ich höre dich sagen, dass ich es mir mit dieser Überlegung leicht mache. Dass ich versuche, mich meiner Verantwortung zu entziehen. Aber das stimmt nicht. In dem Wort Verantwortung steckt das Wort Antwort. Ich suche eine Antwort auf die Frage: Habe ich einen Mörder geboren, oder habe ich einen Mörder erzogen? Aber egal, wie die Antwort ausfällt, ich fühle mich schuldig. Meine Schuld, Christian, nicht deine. Deine ist, und das sei in aller Deutlichkeit gesagt: Du bist mit 22 Jahren ein erwachsener Mann bei geistiger Gesundheit und für deine Tat verantwortlich.
Trotzdem möchte ich es gerne verstehen.
Lass uns unsere Erinnerungen nebeneinanderlegen, aufdecken und vergleichen, wie bei einem Memory-Spiel. Erinnerst du dich an unsere Memory-Abende? Stundenlang konntest du dieses Spiel spielen. Du hast fast immer gewonnen. Manchmal hast du deinen Geschwistern geholfen, auf deinen Sieg verzichtet. »Schenk ich dir«, hast du dann zu deinem Bruder oder deiner Schwester gesagt. Ich war gerührt. Später, als deine Geschwister ohne deine Hilfe gewinnen konnten, wolltest du nicht mehr spielen.
Vielleicht finden wir auch jetzt, in unseren Erinnerungen, identische Bilder. Diese Pärchen können wir dann beiseitelegen. Diesmal geht es nicht um den größten Kartenstapel. Lass uns die Karten genauer ansehen, die sich unterscheiden. Die wir rückblickend, jeder auf seine Weise, verändert haben, um sie erträglich zu machen.
Du warst der Erstgeborene. Ein kräftiges, freundliches Kind und von einer fast stoischen Ruhe. »Was für ein liebes Kind«, hörte ich von allen Seiten. »So genügsam.«
Wenn ich dich zum Spielen in den Laufstall setzte, konntest du dich stundenlang alleine beschäftigen. Wenn ich dich abends in dein Bettchen legte, musste ich nicht bleiben, bis du eingeschlafen warst. Dein Plüschmond, in dem eine Spieluhr »Guten Abend, gut’ Nacht« spielte, reichte dir. Nur wenn du dir wehgetan hattest, warst du nicht wiederzuerkennen. Ein Anstoßen oder Hinfallen, und du hast dich über Stunden nicht beruhigt. Dein erstes blutiges Knie war eine Katastrophe. Du hast geschrien und fast bis zur Ohnmacht hyperventiliert.
Als Sebastian zur Welt kam – du warst drei Jahre alt –, ging deine Genügsamkeit verloren. Weinerlich hingst du ständig an meinem Rockzipfel. Ein halbes Jahr später kamst du in den Kindergarten, und die ersten Tage waren dramatisch. Du hast geschrien, geweint, geschlagen und dich zweimal fast ohnmächtig geatmet. Dann war es vorbei. Es ebbte nicht ab, wurde nicht nach und nach weniger, nein, es war eines Morgens einfach vorbei. Aus deiner Kindergartenzeit kann ich mich nur an einen Vorfall – kurz bevor du in die Schule kamst – erinnern. Du hattest ein dreijähriges Mädchen so verprügelt, dass es im Krankenhaus genäht werden musste, aber du zeigtest nicht das geringste Unrechtsbewusstsein. »Die hat mich geschubst«, hast du gesagt.
Du solltest dich bei dem Mädchen entschuldigen. Kein Wort kam über deine Lippen. Drei Tage musstest du am Frühstückstisch sitzen, während die anderen spielten. Dann gaben die Erzieherinnen auf. Aber du nahmst weiterhin am Frühstückstisch Platz. Als sie dich drängten, zu den anderen Kindern zu gehen, sagtest du: »Erst müsst ihr euch bei mir entschuldigen.« Diese Episode wurde noch Wochen später mit der Bemerkung »Kindermund« lachend erzählt.
Aber dir war es ernst, nicht wahr? Bitterer Ernst.
Wie sieht deine Karte zu diesem Ereignis aus? Sie zeigt dich, nicht wahr. Dich an diesem Frühstückstisch. Dein großes Leid.
War es damals schon so? Warst du damals schon ohne jede Empathie? Gab es damals schon diese Mitleidlosigkeit, die mir später unerträglich wurde?
Was hast du empfunden, als du ihr die Schlinge um den Hals gelegt hast? Hast du etwas empfunden?
Nein, nein! Ich will es gar nicht wissen.
Ich höre deinen Vorwurf, und du hast recht. Ich greife vor. Lass uns die nächste Karte aufnehmen. Vier Jahre später, in der dritten Klasse der Grundschule.
Du warst ein guter Schüler und durchaus beliebt. Aber lass uns von Jens sprechen. Erinnerst du dich an Jens? Wie sieht deine Erinnerungskarte zu Jens aus? Auf meiner Karte ist er ein Junge, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Es war ein Freitag. Selbst das weiß ich noch. Ihr hattet Schulschwimmen. Ihr seid um das Becken gerannt und zusammengestoßen.
Du hast ihn fast ersäuft, Christian, erinnerst du dich? Mit dem Notarzt musste er abtransportiert werden. Und wieder kein Wort von dir. Ein Schulterzucken und ein Blick, der zu fragen schien: Wieso regt ihr euch so auf?
Als man dich zur Strafe vom Schwimmunterricht ausschloss, hast du bittere Tränen vergossen.
Hier beginnt mein Wegsehen. Ich redete mir ein, es seien Tränen der Reue. Aber ich wusste es besser. Du weintest um dich. Du weintest, weil man dir unrecht getan hatte.
Dein Vater fand Erklärungen für den Vorfall. Er sprach von »über die Stränge geschlagen«. Dass du die Gefahr falsch eingeschätzt habest. Dass du noch lernen müsstest, mit deinem Zorn und deiner Kraft umzugehen. Ich glaubte ihm. Nichts wollte ich lieber als ihm glauben.
Zeig mir deine Karte zu diesem Ereignis. Sie zeigt wieder dich, nicht wahr? Einen weinenden neunjährigen Christian.
Ich finde im Verlauf von fünf Jahren ein Mädchen mit einem ausgeschlagenen Zahn, einen Jungen mit einer Platzwunde und einer Gehirnerschütterung, einen mit einem gebrochenen Schlüsselbein und das zerkratzte Auto eines Lehrers. Das hört sich so an, als würde ich mich nur an die schwierigen Augenblicke mit dir erinnern. Aber das stimmt nicht. Ich schreibe sehr bewusst »im Verlauf von fünf Jahren«, denn zwischen diesen unkontrollierten Wutausbrüchen lagen Monate mit dir, die ich niemals missen möchte.
Erst jetzt fällt mir auf, wie zurückgezogen du damals warst. Stundenlang hast du auf dem Sofa gelegen und gelesen, während ich den Haushalt erledigte. Weder mit Sebastian noch mit Svenja habe ich derart nahe und zugleich stille Stunden erlebt.
Und dann waren da die Mittwochnachmittage. Svenja hatte Klavierstunden und Sebastian Fußballtraining. Ich stellte mein Bügelbrett im Wohnzimmer auf, und wir sahen uns gemeinsam Videofilme an. Heute sind mir diese Nachmittage ein Gräuel. In den letzten Tagen habe ich häufig darüber nachgedacht, warum deine Anwesenheit damals so beruhigend für mich war. Ich komme nicht umhin zu vermuten: weil ich dich in dieser Zeit unter Kontrolle hatte.
Tage und Wochen gingen friedlich dahin. Ich schloss die Augen und baute darauf, dass mit zunehmendem Alter und wachsender Vernunft deine blinden Wutausbrüche verschwinden würden.
Lass uns zur nächsten Karte kommen. Die Karte, die dein Anwalt, indem er nur das Ende der Geschichte erzählte – und das auch noch geschönt –, zu deiner Verteidigung anführte.
Meine Karte heißt Sebastian.
Deine, da bin ich mir sicher, wird einen anderen Titel tragen.
Es war Oktober. Dein Vater und ich waren zusammen mit Svenja auf Omas Geburtstag. Du und dein Bruder, ihr wart vierzehn und elf, wolltet nicht mit. Als wir abends nach Hause kamen, hast du auf dem Sofa gesessen und ferngesehen. Du hattest eine Beule. Ich fragte nach deinem Bruder. Du hast mit den Schultern gezuckt und irgendetwas von »Ich bin doch nicht sein Babysitter« gesagt. Wir suchten ihn. Nach drei Stunden war ich außer mir vor Sorge und telefonierte seine Freunde ab. Inzwischen suchtest du mit. Wir schalteten die Polizei ein. Sie fanden ihn in den frühen Morgenstunden an einen Baum gebunden, Klebeband auf Augen und Mund, völlig unterkühlt und ohne Bewusstsein.
Ihr hattet herumgebalgt. Dabei bist du mit dem Kopf auf die Tischkante gefallen. Erst eine Stunde später hast du ihm die Geschichte von dem Versteck im Wald erzählt und gefragt, ob er es mal sehen wolle. Diese eine Stunde dazwischen war es, die alles veränderte. Diese Stunde und deine unschuldige Beteiligung an der Suche. Diese Stunde und dein Satz »Der hat meinen Kopf auf die Tischkante geknallt«.
Oh, ich weiß, was auf deiner Karte zu sehen ist. Ich!
Ja, ich habe dich geschlagen und angeschrien. Ich habe dich geschüttelt und gesagt, dass ich dich nie mehr sehen will. In jenen Tagen ist mir klar geworden, dass ich dich, trotz unserer wunderbaren Nachmittage, nicht kannte. Das war kein spontaner Jähzorn gewesen, Christian. Du hast dir eine Stunde Zeit gelassen. Hast einen Rucksack mit Stricken und Paketband gepackt. Was du getan hast, hatte eine neue Dimension. Es war durchdacht und grausam!
Ja, ich habe in jenen Tagen mit dir gebrochen.
Ich war dir nicht gewachsen, Christian. Du hast behauptet, wir hätten dich ein halbes Jahr später in ein Internat »abgeschoben«. Warum hast du das gesagt? Du bist von der Schule verwiesen worden, weil du einen Mitschüler mit einem Messer verletzt hattest. Du warst intelligent, und wir wollten doch nur, dass du deinen Schulabschluss bekommst. Vielleicht hatten wir auch die Hoffnung, dass eine andere Umgebung etwas ändern würde.
Seit dem Vorfall mit Sebastian hatte sich dieses schleichende Gift ängstlicher Vorsicht in unserem Haus ausgebreitet. Gespräche mit dir waren unendlich anstrengend, endeten immer im Streit. Ich konnte nichts sagen oder tun, was dir genügt hätte.
Erinnerst du dich an den Abend, an dem ich dir sagte: »Aber ich liebe dich doch.« Du hast geantwortet: »Jaja. Nicht mal das kannst du ohne ein Aber sagen.«
Obwohl du jedes Wochenende zu Hause warst, vertiefte sich der Graben zwischen uns. Jedes Bemühen meinerseits, dir wieder näherzukommen, quittiertest du mit Schweigen und einem Blick, der zu sagen schien: Das reicht nicht!
Ich überwarf mich mit Sebastian, der sich – in meinem Bemühen um dich – verraten fühlte.
Ich höre, wie ich damals argumentierte: Aber er weiß, dass er zu weit gegangen ist. Er hat daraus gelernt. Er bereut es doch.
Dabei wusste ich es besser. Wenn ich jene Zeit an mir vorüberziehen lasse, spüre ich meine Zweifel in jedem meiner Sätze. Aber ich wollte es glauben. Du warst doch mein Sohn. Ich hatte dich doch, genau wie deinen Geschwistern, Mitgefühl gelehrt. Diese überlegte Boshaftigkeit konnte nicht Teil deiner Persönlichkeit sein.
Im Internat kamst du offensichtlich gut zurecht, und deine Besuche zu Hause wurden seltener.
Ich schäme mich, das zu schreiben, aber ich war froh. Dein Schweigen zermürbte mich. Unter deinen abfälligen Blicken wurde ich ungeschickt. Ich legte meine Sätze Wort für Wort zurecht, klopfte sie auf Missverständliches ab, bevor ich sie aussprach. Wenn du sonntags ins Internat zurückkehrtest, war ich erschöpft.
Nach deinem achtzehnten Geburtstag hatten wir nur noch Kontakt, wenn du Unterschriften oder Papiere für deine BAföG-Anträge brauchtest.
Erst im Gerichtssaal habe ich erfahren, wie sehr man dich im Internat gefürchtet hat. Auch dass du während deines Studiums zweimal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurdest, erfuhr ich erst dort.
Oh, ich weiß, was du jetzt sagen wirst. Wenn ich mich für dich interessiert hätte, hätte ich davon gewusst. Ich gebe dir recht. Ich habe keine Fragen mehr gestellt. Ich wollte die Antworten nicht!
Lass uns unsere letzte Karte vergleichen.
Tanja.
Ich habe sie nie kennengelernt. Zwei Jahre wart ihr ein Paar. Deine Kommilitonen beschrieben dich als extrem eifersüchtig. Die Aussage einer Flurnachbarin hat mir den Atem verschlagen. Du hast Videofilme ausgeliehen – Kinderfilme! Und dann hast du von Tanja verlangt, sie solle bügeln und mit dir die Filme ansehen.
Du hast zu mir, während die junge Frau sprach, hinübergesehen. Ganz ruhig. Ganz freundlich. So als wären die Worte der Frau ein Geschenk an mich.
Mir war übel, Christian.
Du hast Tanja, sechs Monate nachdem sie dich verlassen hatte, mit einer Angelschnur erdrosselt. Kein Affekt, Christian. Nicht der plötzlich aufwallende Zorn deiner Kindertage. Du hast sie offensichtlich tagelang, die Angelschnur in der Manteltasche bereit, verfolgt. Dann, an einem Abend, an dem sie sich alleine von der Disco auf den Heimweg machte, erkanntest du deine Gelegenheit.
Nichts hatte sich verändert. Wie nach deinem Angriff auf Sebastian hast du auch im Gerichtssaal geschwiegen. Wie damals schien dein Blick zu sagen: Sie hat mir wehgetan. Es war ihre Schuld!
Ich weine, Christian. Du wirst die nächsten acht Jahre im Gefängnis sitzen, und ich weine vor Erleichterung.
Die Welt wird in dieser Zeit sicher sein vor dir.
Du bist mein Sohn, und ich liebe dich. Ohne Aber.
Ich wünsche mir, sie würden dich bis an dein Lebensende einsperren. Und auch das ohne Aber.