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Kapitel 2

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Ein Schrei hallte über den blass-rosa gepflasterten Parkplatz, brachte beinahe den Restmüllcontainer zum Rollen, prallte gegen die Fenster der Jugendherberge. Das Kind sollte so etwas wirklich nicht sehen. Es wollte doch nur – ja, was eigentlich?

Da stand dieses riesige Wohnmobil vollkommen schief vor der Herbergstür, als ob es niemandem gehörte, und es hatte einfach nur mal geguckt, ob sich die Tür vielleicht öffnen ließe. Es hatte doch einfach nur geguckt.

Und dann hatte sich die Tür ganz einfach öffnen lassen.

Niemand hätte doch vorhersehen können, welch schrecklicher Anblick sich dahinter bot.

Quer über einen umgestürzten Hocker, der beinahe die Tür blockierte, lag eine reglose Gestalt, die Beine waren seltsam nach oben gedreht, ein Arm hing zur Seite, der andere war ausgestreckt, als hätte die Person, die dort lag, noch mit letzter Kraft versucht, aus dem Wagen herauszukommen.

Eine Frau, dachte das Kind, und sah die langen, zerzausten Haare, den hellblauen Pullover, der ganz eng am Hals saß. Eine tote Frau.

Dann würgte das Kind, denn der Geruch, der aus dem Inneren des Campers herauswaberte, war widerlich.

Was war das?

Das Kind, vielleicht war es zehn oder elf Jahre alt, konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Widerliches gerochen zu haben, eine Mischung aus Klo und Schweiß und Alkohol und irgendetwas Unbekanntem. Selbst mit dem Tuch der Jugendgruppen-Uniform, das es sich zum Schutz vor die Nase hielt, konnte es immer noch etwas riechen.

Als es spürte, wie sich Hände auf seine Schultern legten, schrie es gleich noch einmal auf. Da drang eine resolute Stimme an das Ohr des Kindes.

»Anna-Sophie«, mahnte jemand, »Anna-Sophie, du musst dich beruhigen.«

Also gut, wenn sie das musste. Sie räusperte sich, noch einmal, zog ihr Tuch von der Nase, schob es am Hals zurecht.

»Na, geht doch.«

Geht gar nicht, wollte das Mädchen sagen, aber es hatte keine Lust auf eine Rede von Frau Gnesebeke, ihrer Gruppenleiterin, in der sicher solche Wörter wie Verantwortung, Vorbildfunktion und Contenance vorkommen würden.

Diese Reden waren immer sehr lang. Frau Gnesebeke kam bei diesen Grundsatzreden immer sehr nah an einen heran. Dann roch man ihre Zigaretten, die sie heimlich rauchte. Glaubte sie wirklich, das fiel nicht auf?

Die Leiterin hatte also die Hände in Anna-Sophies Schultern gekrallt und nahm selbst erst jetzt wahr, was da vor ihr lag. Wie sollte sie mit dieser Situation umgehen? Gab es Anweisungen dafür? Sie war gerade mit ihrer Gruppe auf einer Wanderung.

Langsam, ohne die Hände von der Schulter des Mädchens zu nehmen, blickte Frau Gnesebeke sich um. Sie musste ihre Gruppe doch beisammen halten. Aber da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Hinter ihr hatte sich inzwischen die gesamte Jugendgruppe versammelt. Jemand hatte horrorfilmreif geschrien, da müsse man hin. Zum Glück hatte sie das Handy-Verbot durchgesetzt.

Mit weit aufgerissenen Augen und Mündern starrten alle ins Wohnmobil. Auf die reglose Frau. Auf die strähnigen, dunklen Haare, den Kopf, der von der Bank herabhing. Auf den verzweifelt ausgestreckten Arm, die seltsam verrenkten Beine, die Hose, die etwas herabgerutscht war.

»Iihh, guck mal, ich kann den Po von der Toten sehen.«

»Äh, du bist ja ein perverser Spanner …«

»Was denn? Ich kann doch nichts dafür, wenn ich das sehen kann.«

»Wieso ist die denn tot?«

»Ist doch gar nicht klar, ob die tot ist.«

»So, wie das hier stinkt, ist die schon seit Wochen hinüber.«

»Jetzt reißt euch gefälligst zusammen!«

Anna-Sophie stöhnte erleichtert auf, als Frau Gnesebeke die Hände von ihren Schultern nahm. Sicher würde sie dort blaue Flecken bekommen.

»Contenance!«

Ein Raunen waberte durch die Gruppe. Da passierte endlich mal was wirklich Aufregendes, und sie sollten sich zusammenreißen?

»Wir haben eine gewisse Verantwortung, auch aufgrund unserer Vorbildfunktion. Wir werden jetzt also in Ruhe darüber nachdenken, wie wir mit dieser Situation umgehen.«

Alle sahen weiterhin in das Wohnmobil hinein, unverändert lag dort der seltsam verdrehte Körper, doch durch die Rede ihrer Gruppenleiterin, die so vertraut, so üblich und öde klang, hatte der Anblick ein wenig seinen schaurig-schönen Reiz verloren. Nun dachte man ernsthaft darüber nach, was zu tun war und in welcher Reihenfolge.

»Polizei rufen?«

»In der Herberge Bescheid geben?«

»Rettungswagen?«

»Oder Mund-zu-Mund-Beatmung?«

»Hä? Dafür ist es ja nun wirklich zu spät. Die ist doch so was von hin!«

Alle nickten. Da war nichts mehr zu machen. Und diese Erkenntnis beruhigte seltsamerweise. Das war wirklich gruselig und aufregend und man würde sehr lange eine sehr gute Geschichte erzählen können, aber ganz sicher konnte einem hier nichts Schlimmes passieren. Niemand war in Gefahr.

Da hob die tote Frau ihren Kopf, riss ihre Augen auf und gab einen seltsam gurgelnden Laut von sich. Frau Gnesebeke und ihre Pseudo-Pfadfinder stoben vor Schreck auseinander, liefen so schnell über den Parkplatz, in Richtung Feld, Wald und Wiese, dass jeder von ihnen nachträglich eine Ehrenurkunde dafür erhielt.

Niemand bekam mehr mit, wie Marge in hohem Bogen auf den Parkplatz kotzte und dann die Tür zuknallte.

Jetzt wurde sie richtig verrückt, oder?

Wenn man einen Haufen kleiner uniformierter Leute vor sich sah, waren das sicher die berüchtigten weißen Mäuse. Sie blieb reglos liegen, ihr Magen rumorte, hoffentlich musste sie sich nicht noch einmal übergeben. Sobald sie das Gefühl hatte, einigermaßen unfallfrei aufstehen zu können, würde sie Kopfschmerztabletten suchen. Tabletten einwerfen. Einen Zentner. Mindestens.

Das hatte sie echt super hinbekommen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Okay, blöde Frage. Und jetzt halluzinierte sie also Pfadfinder herbei. Wobei die vielleicht sogar echt sein könnten. Gestern war sie doch auf dem Parkplatz einer Jugendherberge gestrandet. In solchen Gegenden trieben sich Jugendgruppen für gewöhnlich herum.

Verdammt. Ihr Schädel würde gleich platzen. Den großen Auftritt mit Jugendgruppe hatte sie sich noch bis gestern Mittag irgendwie anders vorgestellt. Auch erfreulicher. Bis dahin waren die Vorbereitungen für den Auftritt ihrer Jugendschreibgruppe großartig gelaufen. Eine Gruppe, die sie anleitete, weil Clemens, der Arsch, ihr das an Herz gelegt hatte. Er habe da ein so schönes Projekt für sie entdeckt, einfach goldrichtig für sie. Eine Patientin habe davon erzählt, und sofort, sofort!, habe er an sie, Marge, seine wunderbare, begabte, künstlerische Ehefrau gedacht. Wie gut diese Arbeit zu ihr passen würde!

In Wahrheit hatte er da bloß an Arielle, diese Schlampe, gedacht, und wie gut es ihm passen würde, wenn seine dämliche, vollblinde Ehefrau anderweitig beschäftigt wäre.

Die Schreibgruppe war für Kinder aus sogenannten schwierigen Verhältnissen geplant. Sie hasste diese Kategorisierungen, diesen Gutmensch-Rassismus, hatte also gesagt, sie leite entweder ein Schreib-Projekt für alle Kinder, die Lust dazu hätten, oder keines.

Das wäre dann aber kompliziert mit den Fördergeldern. Ach …? Man wolle ja denen helfen, die sich das nicht leisten können. Dann bezahlten die anderen in der Gruppe eben Geld dafür, wo sei bitte das Problem, hatte sie erwidert. Dann bekäme man nichts mehr aus dem Fördertopf, den man dafür im Auge habe.

Es war noch eine Weile so unverständlich hin- und hergegangen, bis sie ihrem Mann gesagt hatte, er werde jetzt ein Schreibprojekt für Kinder unterstützen, und er hatte gesagt: Fein. Und wenn sie jetzt darüber nachdachte, dass sie das für eine nette Geste gehalten hatte, kam ihr wirklich nochmal alles hoch.

Einundzwanzig, atmen, zweiundzwanzig, atmen.

Er hatte einen ganzen Schreibkurs finanziert, um ungestört pimpern zu können. Wenn das mal keine gute Geschichte war.

Die Arbeit selbst hatte ihr wirklich gefallen. Die Kinder waren großartig, hatten Spaß am Schreiben und waren irrwitzig kreativ. Wenn man auch keine Lieblingsschüler haben soll, gab es da trotzdem einen Jungen, der irrsinnig gute Geschichten schrieb. Lasse hatte ein besonderes Talent. Ihn förderte sie vielleicht immer ein bisschen mehr. Und durch ihre Arbeit hatte sie Menschen kennengelernt, die sie sonst nicht unbedingt getroffen hätte.

Verdammt. Es kam ihr doch wieder hoch, sie merkte, dass da noch einiges war, was rausmusste.

Sie atmete durch, sah sich vorsichtig um.

Hatte sie dieses Chaos wirklich allein angerichtet?

Sie würde ja erneut kotzen wollen. Aber dafür war hier einfach kein Platz.

Ächzend schob sie sich in die Ecke der Sitzbank, stellte ein Kissen neben sich auf. Hielt das Kissen gut fest. Hielt es sehr gut fest. Zog die Knie an. Dumme Idee. Mit zusammengebissenen Zähnen streckte sie die Beine auf der Bank ganz langsam aus.

Nachdem sie gestern hier gelandet war, hatte sie die Schränke zunächst nach etwas Essbarem abgesucht. Also schön, ganz zuerst nach etwas Trinkbarem, aber wer hätte ihr das verdenken wollen? Wenn ihr Mann dieses Gefährt als Liebesnest eingerichtet hatte, musste es auch irgendwo Sekt geben. Das gehörte schließlich zum klassischen Verführungsrepertoire dazu, das war ein Gesetz, und bestimmt kein ungeschriebenes, ganz sicher stand das in Dating-Ratgebern oder Frauenzeitschriften. Gut. Nach dem Sekt musste sie dann auch nicht lange suchen. Er stand, wo er hingehörte: im Kühlschrank. Eine geöffnete Flasche, zur Hälfte geleert, verschlossen mit dem Sektverschluss, den sie vor Jahren beim Räumungsverkauf eines Haushaltswarengeschäfts gekauft und seitdem nie wiedergefunden hatte.

So lange lief die Geschichte schon zwischen den beiden? Zornig hatte sie eine andere Flasche aufploppen lassen. Sie würde doch nicht die Reste des Pärchens ablecken. Marge trank direkt aus der Flasche, hielt sie in der Hand, während sie alle Türchen öffnete, alle Fächer durchsuchte. Sie fand rasch, was man in so einer Situation brauchte: Kartoffelchips, Salzkräcker und Rosinen in Schokolade. Dummerweise neben den Dingen, die sie überhaupt ganz und gar nicht hatte finden wollen: ein rotes Spitzenhöschen, an der Seite eingerissen, als habe man es im heißen Liebesspiel ungeduldig vom Körper gerupft. Prost! Ein Massageöl mit Vanille-Sandel-Duft, für sinnliche Stunden. Darauf trink ich! Eine Augenmaske mit dem winzigen Schriftzug: Oh! Cheers!

Als Marge dann auf die Großpackung super-gefühlsechte Kondome gestoßen war, in der nur noch eins drin war, hatte sie die leere Sektflasche in irgendeine Ecke geworfen und den Verschluss von der anderen genommen. Das war das Ding, wie ihr nun auffiel, was ihr gerade gegen den Fußknöchel drückte. Sie kickte es von der Bank. Und stöhnte.

Da hatten Clemens, der Arsch, und Arielle, diese Schlampe, hier jahrelang Bettgymnastik betrieben, und sie konnte sich schon nach einer wilden Nacht in diesem Ding nicht mehr rühren. Pffhhh…

Genau dieser Armseligkeit war sie sich gestern bewusst geworden, als sie versucht hatte, auf das obere Bett zu steigen. Weil sie nämlich wieder heruntergefallen war. Und um sich einzureden, dass sie sowieso nur deshalb auf dem Fußboden saß, weil sie unbedingt den unteren Schrank noch einmal durchsuchen wollte, hatte sie genau das getan, und da hatte sie die Flasche Korn entdeckt. Das hatte sie kurz verwirrt, denn das entsprach so gar nicht dem Geschmack ihres Mannes. Gut, sie hatte auch angenommen, Arielle, diese Schlampe mit den künstlichen Brüsten und den künstlichen Wimpern und diesem künstlich aufgepumpten Erdbeermund wäre nicht sein Geschmack. Was sie alles nicht wusste. Nach 27 Jahren Ehe. Und was sie alles vermisst hatte.

Beim Öffnen hatte der Verschluss der Kornflasche geknackt. Nach dem ersten Schluck hatte sie sich geschüttelt, denn das Zeug war wirklich sehr ekelhaft, und mit tränenden Augen hatte sie die Flasche angeschaut und den Aufkleber des Wohnmobil-Händlers darauf entdeckt. Und mehr Erinnerungen hatte sie eigentlich nicht an den Abend.

Herrje, war ihr flau. Sie sah zur Toilette. Sah schnell wieder weg. Sie musste dringend aus diesem Chaos raus. Und eine echte Dusche wäre jetzt großartig.

Zumindest fand sie schnell die lebensnotwendigen Kopfschmerztabletten. In dieser Hinsicht war auf ihren Mann wenigstens Verlass: Sobald er sich auf einen Aufenthalt einrichtete, der länger als sieben Minuten dauerte, platzierte er in Griff- und Sichtweite eine voll ausgestattete Heim-Apotheke.

Sie nahm einen Blister Schmerztabletten heraus. Die würde sie irgendwo da draußen einnehmen müssen, denn sie hatte kein Wasser. Also kein Wasser, von dem sie wusste, ob sie es trinken konnte oder nicht. Sie hatte wirklich nicht die geringste Ahnung, was es mit dem Prinzip Wohnmobil auf sich hatte. Seit dem Drama im Teutoburger Wald hatte sie es nicht mehr betreten. War wohl auch nicht nötig gewesen.

Sie brauchte einen Moment, um den Gedanken zu verdrängen, dass ihr Mann jemanden gefunden hatte, der sich in diesem Ding beim Vögeln nicht die Hüfte verrenkte. Ja, es gab Gedanken, die das Selbstbewusstsein stärkten – und eben solche.

Schnaubend öffnete sie die Tür und ging auf den Parkplatz. Oje, wo war sie hier bloß gelandet. Außer ihr schien sich niemand in diese Gegend verirrt zu haben, wenn man einmal von den Pfadfindern absah. Wenn die denn echt gewesen waren.

Sie ging auf das Gebäude zu, das ihr gestern Abend schon wie eine Rezeption vorgekommen war, daran erinnerte sie sich, und diesmal saß tatsächlich jemand hinter dem Tresen.

»Wollen Sie etwa da stehen bleiben?«

Der Tonfall war nicht unfreundlich, aber besonders einladend wirkte so ein Satz auch nicht gerade. Außerdem verstand Marge nicht genau, worauf der Mann hinter dem Tresen hinauswollte. Aber er sah verdammt gut aus. Sinnloserweise strich sich Marge ihre strähnigen Haare hinter die Ohren.

»Meinen Sie hier?« Sie zeigte auf den Platz zu ihren Füßen.

»Da.« Mit einem Nicken wies er nach draußen, und aus dieser ausführlichen Erklärung schloss Marge messerscharf, dass er das Wohnmobil meinte.

»Oh, ich dachte, hier wäre ein Campingplatz.«

»Hinten.«

Da ihm eine Kopfdrehung offenbar zu anstrengend war, unterstütze der Mann diese detaillierte Beschreibung mit einem knappen Fingerzeig über seine Schulter.

Es gab also einen Campingplatz. Hinter dem Gebäude. Und wenn der voll war? Natürlich könnte sie jetzt rumgehen und sich den Platz anschauen. Oder sie könnte sagen: Tut mir leid, ich wusste wirklich nicht, dass ich auf dem Parkplatz übernachtet habe. Dann könnte sie ein paar Euro in die Kaffeekasse schmeißen und schnell davonfahren, aber all diese Möglichkeiten klangen so anstrengend, so schrecklich anstrengend. Außerdem dürfte sie wohl auch noch nicht wieder fahren, sogar wenn sie es wollte. Wie viel Restalkohol mochte sie noch im Blut haben? Und wo sollte sie hin? Was würde sie erwarten? Wer? Niemand.

Sie ballte die Fäuste. Der Nerv über ihrem rechten Auge zuckte. Vielleicht war sie gerade emotional nicht komplett auf der Höhe. Ein paar Tage Ruhe kämen doch gerade recht. Der Platz wäre sicher ähnlich ruhig, wie der Parkplatz. Hier war ja nichts. Und wenn sie sich richtig entsann, war auch noch keine Hauptsaison. Es war erst Anfang Juni.

»Gut, ich bleibe.«

»Lange?«

»Ähm … zwei Nächte?«

»Mit der letzten?«

»Aber …« Aber da habe ich doch nur auf einem scheiß Parkplatz gestanden, dachte sie. Da könnte doch jeder stehen, warum sollte sie dafür bezahlen? Aber dann dachte sie, dass Clemens, der Arsch, sie immer damit aufgezogen hatte, dass bei ihr schon manchmal die Jura-Studentin durchbrach, und sie war auf so vieles gleichzeitig sauer, dass sie nur noch sagte: »Mit der letzten Nacht drei.«

Er nickte, und sie wartete, während er die Mappe, in der er gerade etwas durchgesehen hatte, zuklappte, zur Seite schob, ein Büchlein aus einer Schublade nahm und etwas hineinkritzelte. Dann den Stift weglegte, das Büchlein in die Schublade packte und wieder die Mappe zur Hand nahm.

Sie sah ihn wartend an, doch er wirkte, als sei alles geregelt. Verwirrt blickte sie sich um. Vielleicht gab es noch Hinweisschilder? Denn aus ihm schien sie alles herausbekommen zu haben, was drin war.

»Würden Sie mir kurz meinen Stellplatz zeigen? Das wäre wirklich sehr freundlich.«

Jetzt war es an ihm, verwirrt zu wirken. Vermutlich hatte er angenommen, alles wäre geklärt. Und er wollte auch bereits wieder einfach nur mit einem Finger hinter das Haus weisen, stand dann aber schließlich doch auf und führte sie um das Gebäude herum. »Einfach einen aussuchen.«

Na, toll. Der Platz war ganz nett, zwar eher nüchtern und, sagen wir mal, mittel gepflegt, aber zumindest war er fast leer, bis auf zwei Wohnwagen, die am hintersten Ende des Platzes dicht beieinanderstanden und aussahen, als würden sie einfach immer da stehen.

Trotzdem sah sie eine Schwierigkeit, die direkt mit ihren mangelnden Fahrkünsten zusammenhing. Sie konnte nicht so ganz super rangieren, und auf dem ansonsten recht kargen Platz waren Parzellen für die Wohnwagen vorgesehen. Schmale Parzellen, wie Marge fand, und die wurden begrenzt durch dackelhohe Buchsbaumhecken.

»Die bretter ich doch glatt um.« Schnell hielt sie sich die Hand vor den Mund. So eine Aussage wirkte ja nicht besonders vertrauenerweckend. »Ich meine, die Feinheiten übernimmt sonst immer mein Mann.« Sie lächelte künstlich, sah sich um, aber der Mann von der Rezeption stand schon gar nicht mehr neben ihr.

Bevor ihr erneut Tränen in die Augen schießen konnten, hörte sie Schlüssel klappern. Mit einem bizarr federnden Gang kam jemand aus dem Gebäude, direkt auf sie zu. Ein kleiner älterer Herr mit einem schmalen Körper und einem runden Gesicht.

»Oh, guten Tag, vielleicht können Sie mir behilflich sein?«

Sie hielt ihm die Hand zum Gruß hin, dachte, dass sie vielleicht zu schnell mit der Tür ins Haus gefallen war, und hoffte, er würde ihr das nachsehen.

»Der Begriff Meile kommt vom lateinischen milia passuum. Das bedeutet:

a) 10 Meter b) Durchgang verboten

c) 1000 Doppelschritte d) 100 Schritte?«

»Was?«

Sie schaute das Männlein an, musterte sein Outfit mit den vielen Taschen, die Khaki-Weste, die über seinem schmalen Oberkörper schlackerte. Er sah sie nicht direkt an, hatte seinen Blick zu ihr gerichtet, aber der wirkte, als sehe er durch sie hindurch oder, nein, als wäre sie nicht echt.

Nachdem sie noch ein ungläubiges Was? von sich gegeben hatte, wiederholte er seine Frage und die vier Antwortmöglichkeiten, und Marge schüttelte den Kopf, ließ sich aber auf das Spiel ein.

»Antwort C?«, vermutete sie schließlich, nachdem sie ihr Hirn nach dem letzten Rest Schul-Latein durchwühlt hatte.

»Das ist richtig«, sagte der Mann in einem Ton, der einem Trommelwirbel zur Ehre gereicht hätte, sah sie plötzlich an, wie man eben jemanden ansieht, und reichte ihr die Hand.

»Ich bin Adrian Faber. Guten Tag.«

Erleichtert erwiderte sie den Gruß. »Marge Siebenthal. Hallo.« Und dann fragte sie noch einmal, ob er ihr behilflich sein könnte. Sie wäre nicht so oft mit dem Ding unterwegs. »Ich bin wirklich nicht die geborene Autofahrerin. Mit dem Schiff könnte ich gerade mal auf einem Fußballfeld parken, ohne die Tribüne zu rammen.« Marge kicherte.

Adrian lachte nicht. Na, das war wohl nicht sein Humor. Oder Humor war nicht so seins. Aber er bot ihr seine Hilfe an, und das war ja auch wichtiger.

Gemeinsam gingen sie durch das Gebäude zurück zum Parkplatz. Als sie an der Rezeption vorbeikamen, sagte Adrian: »Ich helfe Marge beim Check-in.« Darauf folgte keinerlei Reaktion.

Vor dem Mobil reichte Marge den Schlüssel an Adrian, sagte, sie müsse kurz noch ein paar Sachen herausholen, wühlte sich durch ein paar Kleidungsstücke ihres Mannes und fand schließlich einen grausigen Jogginganzug, aber immerhin war er frisch gewaschen, und als sie sich umdrehte, stand Adrian plötzlich hinter ihr. Mitten im Chaos.

»Äh, entschuldigen Sie das Durcheinander, es gab eine kleine … Feier.«

Wer wollte ihr das denn abnehmen? Zum Glück schien Adrian sich daran nicht zu stören. Nicht einmal am Geruch. Dabei fiel Marge ein, dass sie ja noch etwas regeln musste. »Sagen Sie, könnten Sie mir wohl auch erklären … ich meine … ich glaube die Toilette … da …«

»Ihr Kanister ist voll.«

»Ja.« Na, da wusste er doch schon mal mehr als sie. »Ich würde gern erst einmal unter die Dusche. Und vielleicht einen Kaffee trinken? Wenn das hier möglich ist. Aber danach … könnten Sie mir danach wohl zeigen, wie ich den Kanister ausleeren kann?«

»Machen Sie sich mal keine Sorgen.«

»Vielen Dank. Und wenn Sie mir jetzt noch sagen könnten, wo die Duschräume sind?«

Sie stiegen aus dem Wagen und Adrian wies ihr den Weg. Seufzend trottete Marge also unter die Dusche, und mit heißem Wasser bekam sie zumindest einen winzigen Teil des gestrigen Abends wieder ab, und als sie in ihrem zu weiten, kackbraunen Jogginganzug, den sie am Hosenbund festhalten musste, in Richtung Rezeption schlurfte, roch es dort tatsächlich nach frischem Kaffee, und sie bekam eine Tasse, und es gab eine gemütliche Ecke, in der sie ihn trinken konnte. Es gab auch ein Glas Wasser für ihre Kopfschmerztabletten und zur Krönung stellte ihr der Mann von der Rezeption auch noch einen Teller mit einem frischen Croissant vor die Nase. Und es war doch gleichgültig, ob er dazu etwas sagte oder eben nicht. Gerade, als sie dachte, jetzt sei sie gestärkt genug, um sich von Adrian in die Geheimnisse des Fäkaltanks einweisen zu lassen, stand der neben ihr und reichte ihr den Wohnmobilschlüssel. »Sie stehen auf 7B.«

»Das ist …«

»Gleich rechts, in der zweiten Reihe. Schauen Sie.«

»Nett. Das ist sehr nett«, sagte sie und stand auf, folgte Adrian, der sie nach draußen zum Stellplatz bugsierte.

Da stand es also, das Glücksmobil. So hieß das Ding tatsächlich offiziell. Komm schon, Marge, nicht dran denken. Beschäftige dich mit praktischen Dingen. »Schön. Ja. Ganz vielen Dank. Und Sie erklären mir jetzt wirklich, wie ich das Klo-Dings-Zeugs …«

»Nein.«

Na, wäre auch zu schön gewesen. Gesagt hatte er es aber. Etwas maulig griff sie zum Türknauf.

»Ich hab das alles schon geregelt.«

»Was?«

Adrian fing sie gerade noch auf, als ihr der Ausfallschritt nach hinten zu lang und ins Leere geriet.

»Ich hab das für Sie erledigt, Toilette ist wieder tippi-toppi, Wassertank ist auch voll, müsste alles ‘ne Weile gutgehen.«

»Ja, das ist ja großartig.« Sie war wirklich erstaunt. Und begeistert. Und etwas verlegen. »Ich würde Sie gern auf ein Getränk einladen, aber hier drinnen …« Sie hatte sich wieder gefangen, war zur Tür zurück und öffnete sie. »Hier drinnen sieht es aus …« Sie schaute in den Innenraum. »Als ob jemand sauber gemacht hätte?« Fassungslos starrte sie auf die ordentliche Inneneinrichtung. Der Gestank war auch fast verschwunden. »Waren Sie das?« Sie spürte, wie sie rot anlief, während sie sich zu Adrian umdrehte. Das Chaos war ihr schon beim Betrachten peinlich gewesen, aber jetzt hatte der wildfremde Mensch auch noch darin herumgewühlt. Wenn es auch sehr praktisch war, unangenehm war es ihr schon.

»Hab ich gern gemacht.«

Was war mit dem los? War er pervers? Aber möglicherweise hatten sie einfach nur einen ausgesprochen supertollen Service hier auf dem Platz. Zimmerservice am Wohnmobil. Hatte sie zwar noch nie von gehört, aber es gefiel ihr. Trotzdem fühlte sie sich verpflichtet, irgendwie das Chaos zu erklären.

»Wissen Sie, das sieht nicht immer so aus.«

Er winkte ab. Da habe er schon Schlimmeres gesehen. Der typische Satz, mit dem man nichts besser machte, und der bei Marge das Bedürfnis verstärkte, alles zu erklären: Das Chaos, die Situation, und … sie zog den Hosenbund hoch … und ihr komisches Outfit. »Wollen Sie nicht einen Moment mit reinkommen? Ich fürchte, ich hab nur ein paar Kräcker da und Doppelkorn, aber …«

»Gern.«

»Was?«

»Ich komme gern einen Moment mit rein.«

Und ehe sich Marge versah, war Adrian ins Wohnmobil geschlüpft und hatte sich auf die Sitzbank gedrückt. Seufzend setzte sie sich ihm gegenüber.

»Ach …« Erst da fiel ihr auf, was auf dem Tisch stand. »Sie haben sogar Blümchen gepflückt.«

Er lächelte. Und Marge fragte sich, ob der arme Kerl dafür wirklich ihr Gejammer verdient hatte. Aber sie begann zu erzählen, erst langsam, doch schließlich brach alles aus ihr heraus. Wie sie zu den Schreibkursen gekommen war. Zuerst der Unterricht mit den Kindern. Dadurch war sie zu einem anderen Schreibkreis gekommen, der im selben Gebäude beheimatet war, und sie hatte ein paar ihrer alten Texte genommen und den Rest ihres Mutes und sich dort vorgestellt, und im Laufe der Zeit hatte sie wieder mehr geschrieben, und je besser ihr Jugendkurs lief, umso mehr Spaß machten ihr auch die anderen Sachen, und sie bekam positive Rückmeldung, und dann hatte sie sich, als sich alle zu Vorbereitungen für einen großen Leseabend der Kinder getroffen hatten, noch auf dem Flur mit einem der Teilnehmer unterhalten, einem älteren Herrn, der ihr schon die ganze Zeit immer wieder den Rücken gestärkt hatte, und der auch schon einmal ein Buch herausgebracht hatte, und der gelegentlich Buchbesprechungen in der Tageszeitung veröffentlichte, und sie hatten so lange geplaudert, bis alle anderen weg waren, da war er etwas zu nah an sie herangerückt, und sie war ein Stück weggerückt, und er war noch etwas näher gekommen und hatte amüsiert gesagt: »Komm schon, du tust doch auch nur, als ob du schreiben würdest, damit du mal einen interessanten Mann aufreißen kannst. Du weißt selbst, wie schlecht deine Texte sind …« Dann hatte er sich noch näher an sie herangedrückt. »… und wie fantastisch deine Titten.«

Adrian sagte nichts, aber natürlich war er erschüttert von dieser Unverschämtheit und verstand, wie sehr sie das verletzt hatte. »Nicht wahr? Jeder wäre darüber entsetzt gewesen. So etwas kann man doch nicht machen.«

Wutschnaubend war sie nach Hause gerauscht, hatte, kaum dass sie wieder zu Atem gekommen war, ihre beste Freundin angerufen, um sich erneut aufzuregen.

»Arielle, diese Schlampe.« Sie schüttelte den Kopf. »Die heißt wirklich wie die singende Meerjungfrau, können Sie sich das vorstellen?«

Aber die war nicht zu erreichen gewesen. »Und ich dachte: Das wird schon wieder, und hab ein Glas Wein getrunken und bin durch die Wohnung gelaufen.« Aber es war nicht besser geworden. Sie war so verletzt gewesen, so mit den Nerven runter, und hatte sich, so etwas spürte sie, kurz vor einer Panikattacke gefühlt. Sie hatte sofort mit jemandem reden müssen, hatte sogar versucht, ihre Kinder anzurufen, obwohl sie wusste, dass sie ihnen damit vielleicht etwas viel zumuten würde. Leander ist der Ältere, Marlene die jüngere Tochter. »Ich meine, welches Kind hat schon Freude daran, etwas über die großartigen Titten der Mutter zu hören? Sie verstehen bestimmt, was ich meine.« Aber sie hatte weder den Sohn noch die Tochter erreicht. »Wenn man sie einmal braucht, wissen Sie …?«

Adrian sagte nichts. Marge war sicher, dass er sie verstand. »Da blieb dann ja nur noch mein Mann, hab ich recht?« Und wenn er es auch gar nicht mochte, wenn sie ihn in seiner Praxis besuchte, machte sie sich auf den Weg, es war schließlich ein Notfall, also mindestens eine Ausnahme, und langsam ging auch dieses Zucken über dem rechten Auge los, und dann konnte er ihr doch gleich etwas hübsch Entspannendes mitgeben. Aber in seiner Praxis war er gar nicht. Nur Lisa-Marie saß vorn am Empfang. »Und starrte mich mit ihren Kuhaugen an.«

Als Marge fragte, wo denn der Herr Doktor sei, stutzte die Praxishilfe mit dem Eulengesicht – und rückte schließlich damit heraus. Der Doktor Siebenthal sei doch zum Campen gefahren.

In dem Moment war Marge eine böse Ahnung gekommen. Ob denn Arielle heute ihren regulären freien Tag habe? Aber Marge hatte gar keine Lust mehr gehabt, auf die Antwort zu warten. Sie war losgerannt, energisch und entschlossen, zur Bahn und zum Bus, und dann wurde sie langsamer und ihre Energie wurde weniger, während sie irgendwo in der Pampa auf den Anschlussbus wartete, aber ihre Wut hatte Zeit, zu reifen, und dann war sie endlich am Platz und fand irgendwann das Wohnmobil. Und dann hatte sie also die Tür aufgerissen und die beiden erwischt.

»Oh je, oh je«, sagte Adrian, und Marge rieb sich die Augen. Es tat gut, das alles erzählt zu haben. Aber dieser Typ, hatte er ihr nicht eben noch gegenüber gesessen? Wann hatte er sich neben sie gesetzt? Und wann, um alles in der Welt, hatte er seinen Arm um ihre Schulter gelegt?

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