Читать книгу Wintermädchen. Der Fremde zwischen zwei Welten - Ipek Demirtas - Страница 8

I. Kapitel – Elaine. Zwei Jahre zuvor

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Drei Wochen São Paulo, dann, vor dem Rückflug nach Europa, Zwischenstopp in New York, dort zwei Tage Meeting in den Global Headquarters, anschließend eine Woche Mailand und, kurzfristig, acht Tage Prag, als Ersatz für einen plötzlich ausgefallenen Kollegen.

Belling hätte einen Kreislaufkollaps erlitten, hieß es. Burn-out, wurde sogar gemunkelt, nicht ohne Schadenfreude. Belling war so alt wie Harun. Arbeitete mindestens genauso viel. Harun hatte bislang kaum mit ihm zu tun gehabt. Aber er wusste, dass Belling ehrgeizig war, unbedingt und schnell nach vorne kommen wollte. Und dabei, was die Mittel anging, nicht zimperlich war. Seinen Job machte er wohl gut, er galt, wenn er auch sonst nicht sonderlich beliebt war, als hochkompetent. Ein Mann mit Zukunft.

Während Harun Bellings Projekt in Prag, wo man gerade in einer entscheidenden Phase steckte, weiterführte, bis dann ein neuer Teamleiter übernehmen würde, wurde bekannt, dass Belling für längere Zeit ausfiele. Etwas Ernstes also. Das Herz, hieß es. Zuviel gearbeitet. Zuviel geraucht. Zuviel Stress. Zuviel Druck aufgebaut. Sich zuviel zugemutet. Harun stellte sich vor, wie Belling sich fühlen mochte, dass ausgerechnet ihm das passiert war. Wahrscheinlich haderte er mit sich wegen der plötzlich offenbar gewordenen „Schwäche“. Ein Unfall, irgendeine äußere Einwirkung, ja, zwar ärgerlich, aber sozusagen überpersönlich. Krankheit oder am Ende bloß Überlastung dagegen ein persönliches Manko. Ein persönliches Defizit. Dem Tempo, den Belastungen des Jobs nicht gewachsen. Also aus dem Rennen. Selbstverschuldet. Solches Denken war verbreitet. Und Harun versuchte sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn ihm so etwas passierte: Ausfallen wegen Überlastung, Überforderung. Dem Stress, dem Druck nicht standgehalten, Schwäche gezeigt haben. Er hatte nie darüber nachgedacht.

Bis jetzt. Also: Zuviel arbeiten? Vielleicht. Zuviel rauchen? Sicher. Aber Stress? Druck? Auch wenn er viel arbeitete, wenn die Arbeit bis auf die oft auch noch eingeschränkte Zeit des Schlafens sein Leben ganz beherrschte, wenn Termine drängten, Probleme sich häuften, wenn er kurzfristig, wie jetzt in Prag, einsprang, obwohl er gerade vier fordernde Wochen im Ausland hinter sich hatte, trotz alledem empfand er sich nicht als gestresst oder unter Druck. Nicht wirklich. Von einem gewissen Punkt an körperlich müde, erschöpft, ja, aber es blieb etwas Unmittelbares, das auch wieder verging. Stress und Druck kamen, wenn die Arbeit mittelbar wurde. Oder wenn man fürchten musste, das etwas nicht gelang, dass man scheiterte. Vor allem, wenn mit dem Scheitern mehr verbunden war als das Nichtgelingen von etwas Unmittelbarem. Harun fürchtete kein Scheitern und sah den Erfolg nicht als Mittel zu etwas. Auch das Gelingen blieb ihm unmittelbar. Freude, manchmal Stolz, das geschafft zu haben, worum es gerade ging. Wieder etwas abgehakt.

Bei Menschen wie Belling kam der eigentliche Druck nicht aus der Arbeit selbst, sondern aus ihrem Ehrgeiz, aus dem eigenen Karrierefahrplan, dem sie sich und das, was sie taten, unterwarfen. Er kam aus ihrer Ungeduld, ob und wann sie welche Stufe erreichen würden und ihrer daraus resultierenden inneren Spannung. Der Druck kam daher, dass sie Ziele verfolgten, die über das Unmittelbare hinausgingen. Dass es nicht nur einen Karrierefahrplan, sondern einen Lebensplan gab. Dass sie neben ihrem Beruf vielleicht noch eine Familie hatten. Erweiterter Planungsraum. Erweiterte Ziele. Mögliche Zielkonkurrenzen, Zielkonflikte. Belling war verheiratet, hatte, soweit Harun wusste, zwei Kinder. Pflichten. Ansprüche. Pläne. Ziele. Ein Leben.

Als Harun in die heimische Niederlassung seiner Firma in Deutschland zurückkam, sagte ihm Schornröder, dass Belling einen Hörsturz erlitten hätte. Nicht absehbar, wann er wieder fit wäre.

„Schön, dass Sie uns Prag in Gang gehalten haben. Henzel hat sich schon lobend über die Übergabe geäußert“, schnaufte Schornröder und fuhr sich mit einem riesigen Stofftaschentuch über die Stirn. In seinem Büro standen die Fenster offen, er mochte Klimaanlagen nicht, selbst bei diesen hochsommerlichen Temperaturen, die ihn auch wegen seiner Körperfülle gehörig schwitzen ließen. Henzel war der neue Projektleiter für Prag.

„São Paulo, Mailand, alles klar?“ Schornröder wischte mit der Hand ein paar Krümel von seiner wieder einmal etwas zu bunt geratenen Krawatte.

„Alles klar“, sagte Harun. „Ich werde die paar Tage hier nutzen, um ein paar Sachen nachzubereiten und die Präsentation für das Board zu machen.“

„Ausgezeichnet. Tun Sie das. Tja, und dann …“ Schornröder grinste nach einem Blick auf irgendeines der Papiere, die seinen ausladenden Schreibtisch ohne erkennbare Ordnung übereinander, ineinander, nebeneinander geschichtet bedeckten. Irgendwo dazwischen, wie eine Insel, ein Teller mit zwei belegten Brötchen. Eier, Salat, Tomaten. Eins war angebissen.

„Was halten Sie denn von Kapstadt, hm?“ Er trank einen kräftigen Schluck aus einer kleinen Wasserflasche, von denen immer ein ganzer Kasten in seinem Büro stand.

„Kapstadt“, wiederholte Harun, überlegte kurz.

„Meeijsebosch & Van Hees?“, fragte er dann.

„Ja, Potzdonnerwetter, kann man Sie denn mit gar nichts überraschen?!“, schüttelte Schornröder den Kopf, hob dann einen Finger.

„Sie waren doch gerade in New York. Das haben Sie von Lonsdale, dieser verflixten Plaudertasche, oder?“

„Auch. Aber ich habe seit einiger Zeit schon die Meldungen verfolgt und eigentlich erwartet, dass …“

„Da kann man bloß hoffen, dass nicht alle so aufmerksam sind wie Sie, und dass Lonsdale es nicht auch noch ans Schwarze Brett hängt. Herrgott noch mal, es ist wirklich nicht zu fassen, was sich Leute in solchen Positionen leisten, Kindergarten“, schnaufte Schornröder, „wie im Kindergarten …!“

Es kam nicht allzu oft vor, dass Harun ein paar Tage in der Niederlassung verbrachte, morgens von seiner Wohnung aus zur Arbeit fuhr. Von Tür zu Tür brauchte er dann ungefähr 20 Minuten. Aufstehen, nicht am Buffet frühstücken, Kaffee auf dem Hocker neben der kleinen Küchenzeile, zur Arbeit fahren. Und abends zurück. Jeden Abend in der eigenen Wohnung. Beinahe ungewohnter als das Unterwegssein, das Schlafen im Hotel. Irritierend. Dafür hochsommerliches Wetter auch hier. Wie in den vergangenen fünf Wochen woanders. Und das Licht, die Wärme, die davon durchdrungene Atmosphäre schien die Orte einander anzunähern. Wie schon die immer gleich passierenden Sichträume unterwegs: Flughafen, Taxi, Hotel, Büros und Konferenzsäle. Lange Tage. Abendliches Leben. Gemeinsame Essen in Restaurants. Draußen überall gleißendes Wetter, nirgendwo Temperaturen unter 27 Grad, jetzt auch hier nicht. Nur das Blau des Himmels hatte unterschiedliche Tönungen. Und die Luft roch anders. Und dann waren da, vor allem abends und nachts, noch die Sirenen der Streifenwagen und Ambulanzen in den Straßen gewesen, anhand deren verschiedenen Rhythmen und Klangbildern sich wie immer unterscheiden ließ, wo man gerade oder zumindest, dass man nicht zu Hause war. Zu Hause …

Jetzt wieder hier, in der eigenen Stadt. Zwischenaufenthalt. Nächste Woche vermutlich schon Kapstadt. Wahrscheinlich für länger. Wieder eine Stadt am Meer. Harun freute sich darauf. Auf den Geruch des Wassers, den man je nach Wind in der Nase hatte, das Rauschen der Brandung abends, nachts, wenn das Hotel nicht zu weit von der Küste entfernt lag oder der Wind es weiter landeinwärts trug. Außerdem ging es in Kapstadt nie ganz so hektisch zu. Er würde die neue Camus-Biografie mitnehmen. Und dazu dessen Reisetagebücher. Kapstadt. Er war bereits dreimal dort gewesen, das letzte Mal vor zwei Jahren. Ob es dieses kleine Restaurant an der Mole noch gab? Geheimtipp damals. Mal sehen.

In der heimischen Firmenniederlassung gab es freie Büros, die von den Mitarbeitern genutzt wurden, die gerade im Haus, ansonsten aber meist unterwegs waren. Die Büros sahen alle gleich aus und waren gleich ausgestattet. Praktisch, unpersönlich. Aber die Fenster gingen in Richtung eines nahen Parks. Schöner Ausblick. Sommerlich sattes Grün. Das Gebäude war alt oder besser historisch, natürlich restauriert, kernsaniert, innen bis auf dekorative Elemente modern. Die bodentiefen Flügelfenster ließen sich öffnen, davor hüfthohe, filigrane Gitter. Praktisch, um sich hinauszulehnen und zu rauchen. Denn natürlich war in den Räumen das Rauchen untersagt.

Wie immer musste Harun sich hier besonders konzentrieren. Er war diesen Tagestakt nicht gewohnt. Und das Ungestörte, Unbedrängte. Als wäre er ein ganz gewöhnlicher Angestellter, der jeden Morgen zu seiner nahe gelegenen Arbeitsstelle fuhr und abends zurück in seine Wohnung kam. Dazwischen ein immer gleicher, beinahe behäbig dahin fließender Tageslauf. So kam es ihm jedenfalls vor. Nach den gerade vergangenen fünf Wochen unterwegs warf die vergleichsweise Stille hier das Echo der gerade vergangenen Bewegung in ihm zurück. Die sich in schnellem Tempo reihenden Bilder der wie immer vorübergehend gewesenen Kulissen. Obwohl ihm seine Stadt eigentlich nicht weniger vorübergehend vorkam als die anderen Städte, vor allem die, in denen er öfter war, die ihm genauso vertraut schienen, denn die meiste Zeit verbrachte er unter dem Strich doch unterwegs. Eigentlich blieb er auch hier unterwegs. Immer auf Abruf wieder irgendwo anders hin. Und er war gern unterwegs. Zu Hause zu sein hatte immer auch etwas Forderndes. Vor allem die Forderung, sich zu Hause zu fühlen, die ihn, gerade wenn er es ganz bewusst versuchte, überforderte.

Harun konnte sich auch nicht aufraffen, Ines anzurufen, ihr zu sagen, dass er wieder da wäre und ein paar Tage hätte. Vielleicht am Wochenende. Wenn das Wetter so blieb. Vielleicht könnte man an die See fahren. Vielleicht. Harun drückte die Zigarette am Geländer aus, tat die Kippe in eine leere Zigarettenschachtel und ließ das Fenster halbgeöffnet. Das hier oben nur noch leise, aber vernehmbar heran dringende Klanggewoge der Stadt half ihm sich zu konzentrieren.

Schade, dass Wolfgang nicht da war. Von einer seiner Vortragsreisen, die er regelmäßig unternahm, hatte er Karten geschrieben, kurze Billets, wie immer. Dieses Mal aus Wien, aus Rom. Auch er unterwegs. Aber sein Unterwegssein war anders, natürlich. Wolfgang erinnerte ihn immer an jenen Typus des reisenden Europäers aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Obwohl er nicht von Gestern war. Und wenn, dann im guten Sinne. Mit fast siebzig dazustehen wie Wolfgang war beneidenswert. Erstrebenswert. Aber ließ sich so etwas überhaupt anstreben? Wieder kam ihm Belling in den Sinn. Lebensplan. Ziele. Welchen Plan hatte er selbst, welche Ziele?

Am dritten Tag kam Doktor Endress, der Regionalleiter West- und Zentraleuropa, in das Büro, das Harun jetzt benutzte und eröffnete ihm, dass am Wochenende eine exquisit besetzte Managertagung in London stattfände, auf der er ihn, Harun, gerne sähe. Zumal durch Bellings Ausfall ein Platz freigeworden wäre. Belling. Klar, dass der sich dafür empfohlen hatte. Networking. Karriere ohne Networking funktionierte nicht. Oft genug, zu oft funktionierte sie vor allem durch Networking.

„Machen Sie sich bei solchen Anlässen nicht immer so rar, Herr Kara. Ich weiß ja, man hat zumal am Wochenende nicht immer Lust darauf“, mahnte Endress ihn wohlwollend, als Harun spontan und offenbar unverkennbar wenig Begeisterung dafür zeigte.

„Es ist nicht nur für Ihren weiteren Weg von Vorteil, sondern manchmal sagt man sich dann hinterher auch: Eigentlich war’s doch ganz nett … Also, Harun, ich lasse Sie auf unsere Equipe setzen. Einer unserer Besten sollte da doch nicht fehlen!“ Endress hatte ihm aufmunternd zugenickt.

Doktor Endress gehörte wie Wolfgang zu den Menschen, die Harun bewunderte. Nicht bloß, weil ersterer eine international angesehene Koryphäe war, sondern weil er Stil hatte und ihn ganz unmittelbar verkörperte. In seiner Erscheinung, schlank, groß, immer perfekt, aber dezent gekleidet, in seiner Haltung, immer beherrscht, konziliant, aber fest und klar. Ein Vorbild für ihn. Nicht bloß als Manager, sondern auch als Person. Endress, über sechzig, allerdings gute zehn Jahre jünger wirkend, war kultiviert, gebildet, sein Horizont reichte weit über das Berufliche hinaus.

Obwohl er immer eine gewisse, nie demonstrative oder gar brüskierende Distanz hielt, hatte sich im Lauf der Zeit doch das ein oder andere Gespräch zwischen ihnen ergeben. Darüber, vielleicht mehr noch als über Haruns anerkannte Leistungen, hatte sich ein unausgesprochenes Vertrauensverhältnis entwickelt, dem Harun nicht zuletzt auch seine privilegierte Position im Unternehmen verdankte. Abgesehen davon, dass er auch in Schornröder, dem Operationschef, einen gewichtigen Fürsprecher besaß.

Wobei das Paradox seiner Privilegierung darin lag, dass sie gerade nicht im Dienste einer solchen beschleunigten Karriere, sondern eher deren Gegenteil stand. So würde es jedenfalls Belling sehen. Harun dagegen war froh, dass es ihm bislang gelungen war, seinen weitgehend unabhängigen, sozusagen querhierarchischen Status zu halten.

„Unser hochmobiles Ein-Mann-Sonderkommando“, wie ihn Schornröder gerne nannte, oder auch „Der Passepartout“.

So wäre Harun von sich aus auch nie auf diese Tagung gefahren. Das blieb überhaupt das Einzige, was er sich von seinen Vorgesetzten dann doch gelegentlich an Kritik anhören musste. Neben der mittlerweile mehr oder weniger akzeptierten Tatsache, dass er keine Ambitionen zeigte, in der sozusagen politischen Hierarchie des Unternehmens nach oben zu steigen. Dass er sich dementsprechend auch bei allen Aktivitäten, die sich vorrangig um die berühmte Netzwerkpflege, um Kontakte oder mehr und weniger repräsentative Anlässe drehten, soweit irgend möglich zurückhielt. Die Gegenwart lauter Menschen, die ganz offenbar Pläne hatten, Ziele, die an ihrer und für ihre Zukunft arbeiteten, strengte ihn an. Zumal es gerade bei solchen Anlässen eben um so etwas wie den Austausch von Zukunft ging.

Bei dieser Tagung in London sollten Vorträge renommierter Manager im Mittelpunkt stehen, die darüber referieren würden, wie sie in den vergangenen fünf Jahren jeweilige Unternehmen saniert, umstrukturiert und auf Erfolgskurs gebracht hatten. Meist spielte da die mehr oder weniger eitle Selbstinszenierung sich darin gefallender Herren eine nicht unwesentliche Rolle, und Harun schien der so vorgeführte „Erfolg“ nicht selten auch etwas schal. Denn je ungerührter und überheblicher sich der harte Sanierer gegenüber den Folgen seiner Entscheidungen für viele Menschen gab, desto mattstählern glänzender der Nimbus im Kreise der anderen. Und seltsamerweise oder auch nicht seltsamerweise schien sich dieser Geist dann auch auf viele der Zuhörer zu übertragen, die sich bei den Gesprächen in den Pausen oder während der gemeinsamen Essen in entsprechendes Licht zu setzen suchten.

Jeder war natürlich erfolgreich und auf dem Weg, noch erfolgreicher zu werden. Und jeder wusste natürlich, wie er bekanntgewordene Probleme im eigenen oder einem anderen Unternehmen zweifellos erfolgreich lösen würde, wenn man ihn nur fragte. Jedenfalls erfolgreicher als die, die gerade damit befasst waren. Und natürlich rücksichtsloser. Nur keine falschen Sentimentalitäten. Das Leben war ein Kampf. Das Arbeitsleben erst recht. Und sie alle waren Kämpfer. Umso schlimmer, wenn man schwach wurde. Wie Belling jetzt offenbar.

Harun litt nicht an Komplexen, wusste um seine Fähigkeiten, seine Kompetenz, auch um seinen entsprechenden Ruf in der Branche. Er hatte keine Scheu, seine Meinung zu vertreten, aber diese Art aufdringlich ritualisierter und dabei nicht immer unbedingt gerechtfertigter Selbstpräsentation lag ihm nicht, hatte ihm nie gelegen. Auch nicht, wenn es um das eigene Fortkommen ging. Gerade dann nicht. Eigentlich wunderte er sich manchmal selbst, dass er es dennoch so weit gebracht hatte. Was dabei den Teil anbetraf, der nicht von der eigenen Leistung abhing, hatte er einfach Glück gehabt. Das Glück, Vorgesetzte zu finden, die eben in der Lage und auch bereit waren, reine Leistung zu honorieren, sich nicht blenden zu lassen oder irgendeiner Art von „Networking“ den Vorzug vor der besseren Qualifikation zu geben. Das war nicht selbstverständlich.

Vielleicht hatte seine Karriere umgekehrt sogar damit zu tun, dass ihm an „Karriere an sich“ nie gelegen war. Harun ging es wirklich nur um die jeweilige Sache, darum, diese Sache gut, sie bestmöglich zu machen und sich in dieser Gewissheit genau dort aufgehoben und eingebunden zu fühlen, wo er gerade war. Ohne den Blick ständig voraus, auf die nächste Stufe oder höhere Position gerichtet zu halten. Er hatte eigentlich immer nur in seiner jeweiligen Gegenwart gelebt. Eigentlich schon seit der Uni. Es war ihm unbedacht selbstverständlich gewesen, dass er mit seinen erstklassigen Leistungen, seinem immer höflichen, aber sicheren und festen Auftreten seinen Platz finden würde. Einen Platz dort, wo es Menschen wie Doktor Endress gab. Wo alles ganz anders war und weit, weit jenseits … Keine Vergangenheit. Und keine Zukunft. Nur Gegenwart, eine Abfolge von Gegenwarten. Keinen Lebensplan. Kein … Leben …

Dem Wochenende in London war nicht mehr auszuweichen gewesen. Harun hatte sich zur Freude seines Chefs anmelden lassen und war hingeflogen. London, ein Katzensprung. Wie viele Städte schon oft gesehen. Was man von Städten sah, in die einen berufliche Aufgaben führten, die termingedrängt um Schreib- und Konferenztische kreisten. Diesmal konnte man sich dort allerdings einfach im Strom treiben lassen. Es gab keine Termine außer dem Veranstaltungsplan, keine Probleme, keine Hektik, nur beobachten, zuhören. Und schließlich blieb auch das seine Welt oder zumindest der Teil davon, der sein Leben ohnehin weitestgehend bestimmte. Und weil ihn manchmal auch die arbeitsfreien Wochenenden deprimierten, die ungewohnte Stille in seiner Wohnung, von blassem oder düsterem Gedankenwucher umlauert, hatte er die Aussicht auf die beiden Tage London schließlich gar nicht mehr als so unangenehm empfunden.

Und so schön es vielleicht gewesen wäre, mit Ines an die See zu fahren, vorausgesetzt, sie hätte überhaupt Zeit gehabt, den Stunden mit ihr haftete auch immer etwas unausgesprochen Forderndes an. Am meisten scheute Harun die Enden ihrer Verabredungen, wenn sie sich dann trennten an der Schwelle zur Nacht und das Alleinsein hinterher desto schwerer wog. Wenn es auch unausweichlich blieb. Für ihn.

Das Hotel in London war wie zu erwarten erstklassig, die Besetzung der Tagung hochkarätig, die Eitelkeiten auf entsprechend hoher Frequenz. Harun trieb ohne jede Anstrengung durch die Stunden, begrüßte diejenigen, die er kannte, wurde von anderen begrüßt. Seine Welt. Man gehörte dazu. Die üblichen Konversationen flossen dahin, es gab sogar das ein und andere Interessante zu erfahren.

Und Samstagnachmittag klopfte ihm dann auf einmal jemand auf die Schulter. Harun sah sich verdutzt um und einem Mann seines Alters ins leicht verschmitzt lächelnde Gesicht. Für die ersten Sekunden wusste er ihn nicht unterzubringen, obwohl ihm sofort klar war, dass er den Mann kannte, aber schließlich begegneten ihm im Zuge seiner Arbeit ständig wechselnd so viele Menschen.

„Bin ich so alt geworden, dass du mich nicht mehr erkennst? Ich bin’s, Frank, Frank Keller … Arndt-Gymnasium, Sie erinnern sich hoffentlich noch, mein lieber Herr Kara …?“ Er hob mahnend den Zeigefinger.

Harun war es spürbar peinlich, ihn nicht sofort erkannt zu haben. Es war einfach zu überraschend gekommen.

„Nein … Ach was … Du siehst … Mensch, Frank … Ich bin nur völlig …!“

„Brauchst nicht taktvoll zu sein, sag’ ruhig, dass ich dein Vater sein könnte …“

Aber Frank Keller hatte sich im Gegenteil überhaupt nicht verändert. Und vielleicht mochte es gerade daran gelegen haben. Dasselbe offene Jungengesicht, die immer noch vollen, jetzt sorgfältig gestutzten blonden Haare und blitzenden blauen Augen. Harun berührte Franks Schultern. So viele Jahre …

„Quatsch, du siehst aus, als kämst du eben von unserer Abiturfeier. Das gibt es ja nicht. Wie lange haben wir uns jetzt nicht gesehen?“

„Ein paar Jährchen sind’s schon, mein Lieber“, lachte Frank. „Komm, lass uns was trinken und den nächsten Vortrag schwänzen, ich nehme wie üblich alle Schuld auf mich. Läuft mir doch der Herr Kara nach all den Jahren so einfach über den Weg … Das muss angemessen gefeiert werden!“

In der Oberstufe hatten sie beide Leistungskurse zusammen gehabt und auch sonst recht viel gemeinsam gemacht. Eine Viererbande, Frank Keller, Uwe Brink, Peter Löschwald und Harun. Eigentlich eine schöne Zeit. Damals war sein Vater, wenigstens zu einem Teil, noch stolz darauf gewesen, dass er zum Gymnasium ging. Gleichzeitig hatte er sich aber auch zunehmend daran gestört, dass Harun fast nur mit Deutschen Umgang hielt und sich dadurch immer mehr von der eigenen Kultur, ihren Traditionen und Werten entfernte. Zumindest von dem, was sein Vater dafür hielt.

Nach dem Abi waren zwei von ihnen zur Bundeswehr gegangen, Peter Löschwald sogar als Berufssoldat. Peter … Bei ihm war Harun damals die ersten Tage untergekommen, nachdem … Er schüttelte die sich eben wiederbeleben wollende Erinnerung ab. Frank ging damals für ein Jahr in die USA, sein Vater verfügte über gute Verbindungen. Irgendwie hatte sich das Leben nach dem Abi dann einfach verzweigt. Komisch eigentlich, nachdem man so eng nebeneinander, ja, erwachsen geworden war und sich währenddessen gar nicht vorstellen konnte, dass die gemeinsame Zeit einmal enden würde. Mit dem Ende der Schulzeit machte man zum ersten Mal die Erfahrung, dass das Leben aus vielen scheinbaren Ewigkeiten bestand. Ewigkeiten, die einfach vergingen, wenn ihre Zeit gekommen war, ganz undramatisch und ohne, dass man es recht merkte. Das dann jeweils Neue nahm einen viel zu sehr in Anspruch, und der Blick ging doch immer eher voraus, nicht zurück. Das kam später. Irgendwann … Nichts ging wirklich verloren. Und nun war da plötzlich Frank.

Haruns alter Schulkamerad lebte seit vier Jahren in Barcelona. Auch er hatte Karriere gemacht, war jetzt stellvertretender Leiter der Niederlassung einer internationalen Beratungsfirma. Natürlich bestand er auf einem Besuch, schwärmte leidenschaftlich von seiner Stadt am Meer, in der Harun auch bereits öfter gewesen war. Berufliche Aufenthalte. Das Übliche. Ohne eine Ahnung zu haben, dass Frank Keller dort lebte. Und sogar im gleichen Gewerbe tätig war. Sie hätten sich durchaus begegnen können. Nicht nur in Barcelona. Wie seltsam. Davon abgesehen gehörte Barcelona zu den Städten, deren Atmosphäre ihn immer besonders vereinnahmt hatte. Wenn er abends dann manchmal durch die Straßen, über die Plätze geschlendert war. Also musste Frank Keller ihn nicht allzu sehr drängen.

„Dann wirst du endlich auch Elaine kennenlernen. Sie wird dich dann bestimmt nach dem Frank von Damals fragen – also liefere bloß ein angemessen strahlendes Bild von mir. Ich verlasse mich auf dich!“

„Ehrensache, Frank!“

Trotz Haruns anfänglich schwelender Befürchtungen, damit könnte sich der Weg zu Erinnerungen auftun, die er tief in sich eingelagert hatte, wurde die überraschende Begegnung in London zu einem beschwingten Erlebnis. Schön, den alten Schulkameraden wiederzusehen. Und in Franks Gegenwart war es immer schwer bis unmöglich gewesen, in Trübsinn oder auch nur Tiefsinn zu verfallen. Eine Schulfreundin hatte einmal gesagt, allein wenn Frank lächelte, hellte sich jede Gewitterwolke auf. Daran hatte sich nichts geändert. Unter Verzicht auf das offizielle Programm verbrachten die beiden einen lebendigen, teils in gemeinsamer Erinnerung schwelgenden, teils die ihnen je unbekannten Wegstrecken des anderen austauschenden Abend. Frank erzählte viel, mit Leichtigkeit und Witz, wie früher, und Harun gelang es, wie immer bei geselligen Anlässen, unauffällig zurückhaltend zu bleiben. Die parallele berufliche Erfahrung lieferte zudem genügend Stoff und einen gemeinsamen Raum. Natürlich war Frank auch neugierig auf Haruns Privatleben, natürlich fragte er, aber er blieb jemand, der nicht hartnäckig insistierte.

„Und, die Liebe, Harun? Was machen die Frauen? Du kannst dich doch sicher vor Angeboten nicht retten.“ Er grinste, prostete ihm zu. „Oder bist du auch in festen Händen?“

„Frei wie ein Vogel!“, sagte Harun. „Ist entspannender bei einem Vielflieger wie mir … “

„Dachte ich auch lange … bis ich dann eben Elaine begegnet bin.“

Elaine. Franks Lebensgefährtin seit sechs Jahren. Verheiratet waren sie nicht. Aber das sagte heute ja nichts. Und immerhin waren sie offenbar gemeinsam nach Barcelona gegangen. Das hieß, sie mit ihm. Elaine. Ein Name. Nicht mehr. Ein Foto führte Frank nicht mit sich.

„Ich hab’s nicht so mit Heiligenbildern“, lächelte er. „Außerdem ist das Original unvergleichlich …“

Harun war neugierig, wer und wie die Frau an Franks Seite wohl sein mochte. Die Frau, die es geschafft hatte, Frank an die Kette zu legen.

„Wenn du sie erst siehst und erlebst, wirst du mich schon verstehen“, sagte er.

„Ich bin gespannt …“

Doktor Endress behielt also Recht. Im Nachhinein war Harun froh, nach London geflogen zu sein. Die überraschende Wiederbegegnung mit dem alten Freund hatte ihm gut getan, und er freute sich wirklich auf den Besuch in Barcelona, den sie baldmöglichst realisieren wollten. Es schien, als wäre genügend Zeit vergangen, um sich wenigstens diesem Teil der Vergangenheit wieder nähern zu können, ohne dass Wunden aufgerissen würden. Wunden, die nichts mit den Freunden von damals zu tun hatten, sondern … Es gelang Harun, jene Gedanken nicht herankommen zu lassen. Darin hatte er schließlich auch eine jahrelange Übung.

Das von Schornröder avisierte Projekt in Kapstadt verzögerte sich etwas, und zufällig bekam Harun einen Auftrag in Madrid. Es schien, als wollten die Umstände ein schnelles Wiedersehen der beiden alten Schulfreunde begünstigen.

Harun flog an einem Freitagmittag von Madrid nach Barcelona, hatte sich in einem kleinen, aber sehr guten Hotel am Stadtrand, unweit des Hauses, in dem Frank und Elaine lebten, ein Zimmer reserviert. Obwohl Frank ihm natürlich ein Quartier angeboten hatte.

„Wozu ein Hotel, unser Haus ist wirklich groß genug!“

Aber Harun war es lieber so. Vielleicht weil er nicht mehr gewöhnt war, mit anderen ein Dach zu teilen, sich nicht ganz zurückziehen zu können. Solche Art von Nähe irritierte ihn. Flüchtig kam ihm dabei der Gedanke, dass so etwas in der Türkei unmöglich gewesen wäre. Die Gastgeber empfänden es als persönliche Beleidigung, wenn der Gast nicht in deren vier Wänden übernachtete und zwar ganz gleich, wie eng und wenig komfortabel die auch sein mochten. Nähe … Alles war immer Nähe dort, selbst die größte Distanz.

Harun würde das Wochenende über bleiben und Montag dann gleich von Barcelona aus nach Paris fliegen, wo er oft zu tun hatte. Elaine war auch Französin, wie Frank gesagt hatte, sie stammte sogar aus Paris. Dann hätten sie zumindest ein erstes gemeinsames Konversationsthema. Sie spräche im Übrigen auch sehr gut Deutsch.

„Du hast doch immer gern und viel gelesen, damals jedenfalls und im Unterschied zu mir altem Banausen.“

„Tue ich noch.“

„Na, dann wirst du dich mit ihr ausgiebig über Literatur unterhalten können. Ich bin da ja leider ein bisschen schwach auf der Brust, immer noch“, hatte Frank gelacht, als sie telefonierten, um das Wochenende perfekt zu machen. Elaine war Übersetzerin für Romane, Kurzgeschichten, hin und wieder arbeitete sie auch für die Zeitung.

„Wahrscheinlich werdet ihr beide mich dann irgendwann ganz vergessen. Was aber den Vorteil hätte, dass ich vielleicht für ein, zwei Stunden ins Büro könnte. Du kennst das ja. Nimm’s mir dann nicht übel, wird auch bestimmt nicht lange dauern.“

Während Franks Stimme aus dem Telefonhörer erklungen war, hatte sich Harun sein verschmitzt lächelndes Gesicht vorgestellt. Er hatte sich wirklich kaum verändert.

Freitagnachmittag, zur Kaffeezeit, lief Harun von seinem Hotel aus zur angegebenen Adresse. Der Weg war nicht schwer zu finden, denn sie lag im gleichen Viertel. Sehr vornehme Gegend, ruhige Straßen, viele alte Villen mit großen Gärten. Üppiges Grün ragte über Mauern, bunte Farben blühten. Hier also hatten Frank und Elaine ihr originelles Häuschen gemietet, das sich der wohl aus der Art geschlagene Spross einer reichen Familie vor Jahrzehnten hatte errichten lassen. Harun stand eine Weile davor. Wirklich ein Schmuckstück. Nicht protzig oder repräsentativ wie die übrigen, mehr verspielt. Das täuschte auf den ersten Blick über die Größe hinweg. Bestimmt fühlte Frank sich hier wohl mit seiner Elaine. Eine Frau, ein Haus. Ein Leben. Harun spürte eine vage Aufregung und wunderte sich. Vielleicht lag es daran, dass er diese Art von Geselligkeit nicht gewöhnt war.

Und dann stand er Elaine gegenüber, die im die Tür geöffnet hatte.

„Harun, nicht wahr?“

„Ja“, sagte er. Die ersten Worte sprachen beide Französisch.

Wenn man jemandem zum ersten Mal gegenüberstand, jemandem, von dem man schon das ein und andere gehört, jemandem, der eine enge Verbindung zu einem Freund hatte und jemandem, von dem man wusste, dass man ihn die nächsten zwei Tage aus der Nähe erleben würde, dann war die eigene Aufmerksamkeit natürlich schon im Voraus besonders gerichtet. Und als Elaine dann Harun begrüßte, nach einem kurzen, eigentümlich intensiven Blick aus ihren leicht geschrägten goldbraunen Augen, mit einem warmen Lächeln und, ganz selbstverständlich, auf französische oder auch hiesige Art mit leichten Küssen auf beide Wangen, fühlte er sich sofort von ihr angezogen. Ein ovales Gesicht mit hohen Wangen, das dunkelbraune, leicht gelockte Haar, das sie hochgesteckt trug, ihre schlanke Figur …

Elaine war eine sehr attraktive Frau. Bei Frank auch kaum anders zu erwarten. Ein undefinierbarer Duft ging von ihr aus, eine Mischung aus Vanille, Tabak und Lavendel … Sie hielt eine brennende Zigarette in der Linken. Harun hatte die unsinnige Empfindung, als wäre dies nicht sein erster Besuch, ihre erste Begegnung. Immer noch sahen beide sich an. Elaines Attraktivität war von der Art, die sofort nach innen zieht. Sie blieb nicht an der Oberfläche, erschöpfte sich nicht in jener Art spontan erotischem Reflex. Harun lächelte verlegen, räusperte sich …

„Na, dass der Herr Kara mich, das heißt uns, nun doch endlich mal beehrt …“ Sein alter Schulfreund war neben Elaine getreten und begrüßte Harun mit seinem freudigen Jungenlachen. „Komm rein und spare nicht mit Bewunderung …“

Gemeinsam zeigten sie ihm das in mediterranem Stil, sehr geschmackvoll eingerichtete Haus und den von geschickter Hand gestalteten, dabei aber genügend verwildert belassenen Garten, worauf besonders Elaine Wert gelegt hatte.

„Wenn du ihr Arbeitszimmer siehst, wirst du verstehen …“, neckte Frank. Elaine zog ihre Brauen hoch. Harun kam es vor, als müsste er sich von einem jetzt rasch um ihn wachsenden Gespinst befreien, das aus wirren Eindrücken und Gedanken bestand, die unzweifelhaft um Elaine kreisten. Er konnte sich nicht erinnern, dass eine Frau je so auf ihn gewirkt hatte. Unheimlich. Deshalb konzentrierte er sich umso mehr auf das, was er sah, was Frank oder Elaine sagten, und folgte der Aufforderung, nicht mit Bewunderung zu sparen. Was wenig schwer fiel, weil das Haus auch von innen wirklich ein Schmuckstück war. Offene Räume, viel Licht, Wände und Böden in Safran- und Ockertönen, dunkles Holz, die Möbel erinnerten an Fotos aus den Zwanziger Jahren. Sie schienen besonders ausgesucht und ließen viel freien Platz.

„Wir haben wirklich Glück gehabt“, sagte Frank. „Das ganze Ding hier war wie ein einziges, perfekt konserviertes Museum …“ Elaine nickte.

„Seit der Besitzer verstorben ist, hat man es, wie soll ich sagen, ja, gepflegt leer stehen lassen.“ Jetzt sprachen sie alle Deutsch. Elaine mit unverkennbar französischem Akzent, der ihrer eigentümlichen, beinahe etwas schleppenden Sprechweise zusätzlichen Reiz verlieh.

„Die Möbel waren schon drin …?“

„Nicht alle, aber viele klassische Stücke“, erklärte Elaine. „Spanisches Bauhaus sozusagen, ja … Wir haben dann so komplettiert …“

„Und warum hat man gerade euch das Haus vermietet?“

„Oh, das war Frank mit seinem großen Jungencharme, nicht?“ Elaine lächelte. „Er hat der alten Dame, der das Haus gehört, ganz ungehörig schöne Augen gemacht, und wir mussten aufpassen, dass sie ihn nicht noch adoptiert …“

„Was etwas für sich hätte“, sagte Frank. „Ganz alte und vor allem immer noch sehr reiche Familie … So, komm, jetzt geht’s nach oben und, wie gesagt, wenn du Elaines Arbeitszimmer siehst, wirst du ihre Vorliebe für wilde Gärten verstehen …“

„Du bist ein Lästermund … Harun, lass dich nicht von ihm beeinflussen“, sagte Elaine.

„Ich werde streng neutral sein.“ Die merkwürdige Aufregung, die Harun vorhin, als er vor dem Haus stand, in sich gespürt hatte, ließ nicht nach. Im Gegenteil. Es war, als vibriere irgendetwas in ihm. Eigentlich kein unangenehmes Gefühl. Nur irritierend. Vor allem, weil es offenbar mit Elaine zu tun hatte, deren Erscheinung und Bewegung ihn mehr und mehr gefangen nahm. Aber vorhin, vor dem Haus, hatte er Elaine doch noch gar nicht gesehen …

Von ihrem Arbeitsraum, den sie sich im ersten Stock eingerichtet hatte, ein quadratischer Raum mit großem Fenster und einem kleinen Balkon samt eiserner Wendeltreppe, die direkt in den Garten führte, ging sofort ein besonderer Zauber für Harun aus. Klar, worauf Frank angespielt hatte.

Wandhohe Kirschholzregale, von Büchern, Ordnern, Manuskriptstapeln überquellend, ein ebensolcher, bis auf den letzten Fleck von Büchern, bauchigen Mappen, Zeitungsteilen und bunten Zetteln belegter Schreibtisch, eine grüne Couch, davor ein flacher, gleichfalls voll belegter Tisch, es gab spanische, französische und deutsche Zeitungen mit deutlichen Lesespuren, über der Couch an der Wand dicht gehängte Schwarzweißfotografien, Landschaften, Stadtszenen, Portraits. Der ganze Raum lebte und mit ihm alle Dinge darin.

Und Haruns Blick tastete, seltsam berührt, über die Fülle von Kleinigkeiten: Die beiden randgefüllten Aschenbecher, den schwarzen Füllfederhalter auf dem Papierstapel neben dem aufgeklappten Notebook, die über eine Lehne der Couch geworfene, verblichen gemusterte Stola oder eine sichtlich bejahrte braunrote Ledertasche, die am Schreibtisch lehnte. In der Luft lag eine Mischung aus Zigarettenrauch, Parfümduft und dem Sommergeruch des Gartens. Es roch nach Gedanken, nach Tun, nach Atmen, Ruhe und Bewegung; nach gelebten Momenten, die hier ihren Ort gefunden haben. Dichte Spuren von Leben, das hier zu Hause war, sich ausgebreitet hatte, alles durchdrang. Unwillkürlich sah Harun seine eigene Wohnung vor sich –nicht mehr als eine beliebige Kulisse. Die Möbel und Dinge standen, lagen dort und hätten ebenso gut woanders stehen, liegen können. Ohne Beziehung zum Raum. Und sie hatten kein Zentrum.

„Was sagst du?“, fragte Elaine ihn, trat ans Fenster und zündete sich eine Zigarette an.

Langsam ließ sie den Rauch entweichen.

„Ja, das hier ist mein wildes Reich, le génie chez soi, nicht wahr …?“ Und sie lächelte. „Frank ist es ein Rätsel, wie ich in diesem Chaos arbeiten kann.“

„Künstler“, rief Frank in gespielter Verzweiflung aus, „Künstler …“

Später saßen sie dann im Garten, im Schatten alter Bäume, tranken Kaffee und aßen von den Petits Fours, die Elaine selbst gemacht hatte. Frank und Harun tauchten in ihre gemeinsamen Erinnerungen, unterhielten Elaine mit zahlreichen Geschichten und Anekdoten. Elaine hörte aufmerksam zu, und mehr als einmal sah Harun sich dabei ihrem intensiven, beinahe forschenden Blick ausgesetzt. Sie lachten viel, vor allem Franks Lachen wirkte wie früher ansteckend, und Harun konnte sich kaum erinnern, wann er das letzte Mal so leichte und unbeschwerte Stunden verbracht hatte.

Dass er seinen Blick immer wieder von Elaines Gesicht weg zwingen musste, dessen Züge und Mimik ihn genauso immer wieder in den Bann zogen wie auch ihre Gesten, die Bewegung ihrer Arme, ihres Oberkörpers, blieb eine merkwürdige Irritation. Es war dabei auch nicht oder nicht nur ihre irgendwo zwischen Frau und Mädchen hin und her schwingende Attraktivität, diese Mischung aus Grazilität und Reife, sicher noch betont von ihrem unweigerlich reizenden französischen Akzent, es war eben jene besondere Tiefe, die Harun in ihr ahnte, und in die er sich gezogen fühlte. Eine Tiefe, die von ungewisser Melancholie bestimmt war. Für den Abend wurde Harun dann in die gemeinsame Vorbereitung eines spanischen Essens eingespannt. Elaine forderte ihn auf, sie auf eine kleine Einkaufsfahrt in die Stadt zu begleiten, um verschiedene frische Zutaten zu besorgen.

„Die Zeit kann Frank dann ganz unschuldig nutzen, um sich mit seinem Laptop zu beschäftigen. Er leidet sonst nämlich an Entzugserscheinungen …“

„Alte Petze“, knurrte Frank augenzwinkernd und drehte Elaine eine Nase.

„Und dafür wird er nachher alle Schälarbeiten übernehmen …“

„Harun, bitte leg ein gutes Wort für mich ein …“

Und so fuhren Elaine und Harun dann in ihrem kleinen Renault in die Stadt. Harun war froh, um nicht zu sagen glücklich, mit Elaine allein zu sein. Zugleich etwas beschämt. Was waren das für unsinnige Empfindungen? Das war die Frau oder Lebenspartnerin seines alten Freundes. Die er heute das erste Mal sah. Harun versuchte daher, den lockeren Ton zu halten, der die ganze Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte.

„Ich werde Frank nachher beim Schälen unterstützen, zu viel mehr reichen meine Küchenkünste leider auch nicht.“

„Oh, lass dich da nicht täuschen, Harun, wenn Frank dazu aufgelegt ist und sich die Zeit nimmt, dann lohnt es sich, am Tisch zu sitzen. Und ich nehme an, dir zu Ehren lässt er heute Abend etwas von seiner Kunst sehen.“

Harun war überrascht und spürte sogar einen kleinen Stich.

„Das hätte ich ihm gar nicht …“

„Naja, seine Talente beschränken sich bisher auf die spanische Küche, die hat’s ihm nämlich angetan.“ Elaine fuhr schnell und sicher. Auch beim Autofahren hatten all ihre Bewegungen etwas ebenso Nachlässiges wie Konzentriertes. Harun musste sich Mühe geben, ihren Nacken, ihr Profil, ihre schlanken, festen Arme, die das schlichte grüne Sommerkleid freiließ, nicht zu auffällig zu beobachten. Unwillkürlich sinnierte er über Elaines Hautfarbe, die weder auffällig gebräunt noch eigentlich hell ist. Ein dunkles Weiß, ein von Innen her gedunkeltes Weiß. Wie ein geheimer Schatten der Melancholie, den er in ihr ahnt … Was waren das für absurde Gedanken?!

Sie mussten nicht allzu weit fahren. Elaine rangierte den Wagen geschickt in eine kleine Parklücke vor einer alten Markthalle mit verblichen blau gestrichenen Fenstern in der Höhe, wo sich, wie in südeuropäischen Ländern üblich, die Stände mit Frischware reihten: Alle Sorten Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst, Früchte. Blecherne Lampen, die an langen Befestigungen von der Decke hingen. Gefliester Boden, der regelmäßig abgespritzt wurde. Dazwischen ineinander übergehende Gerüche und das laute Hallen von Stimmen und Geräuschen. Elaine kannte sich hier aus, ging zielsicher von einem Stand zum nächsten, sah, prüfte, parlierte mit den Verkäufern, und in Haruns beiden Händen sammelten sich die Tüten. Elaine lächelte ihm zwischendurch zu, erklärte etwas, berührte manchmal leicht seinen Arm. Und Harun wünschte sich, jetzt unbegrenzte Stunden vor sich zu haben. Allein mit ihr. Und wenn es nur wäre, dass sie weiter und ohne Ende durch diese Markthalle gingen … Was war das? Was sollte das?

An einer Art Kaffeebar lud Elaine ihn ein. „Das haben wir uns jetzt verdient. Besonders natürlich mein fleißiger Träger!“

Beide rauchten, Harun gab ihr Feuer.

„Das ist auch, was wir an Spanien so lieben“, erklärte sie. „An Spanien und am Süden, weißt du, diese, wie soll ich es sagen, diese Sinnlichkeit schon im Alltäglichen, ganz ohne jede Inszenierung, es liegt einfach in der Luft, im Licht und … und in den Menschen.“

„Ich verstehe schon, was du meinst … Ich bin ja selber … Also eigentlich … In meiner … Kultur …“ Harun war verwirrt, seine Gedanken, mehr seine Gefühle eilten ihm voraus, die Worte kamen nicht hinterher …

„Ja, Frank hat gesagt, dass du ursprünglich aus der Türkei kommst. Wobei das bei deinem Namen auch kein Geheimnis ist, nicht?“ Sie lächelte ihn wieder an.

„Ich war zwar noch nie dort, aber ich könnte mir denken, dass dieses Mediterrane, dieses Südliche im Lebenstakt da auch überall gegenwärtig ist. Vielleicht mit etwas anderem Akzent, aber alles, was mit dem Licht, der Luft, dem Essen, der Geselligkeit und vielleicht auch mit dem Herzen zusammenhängt, wird bestimmt eine Ähnlichkeit haben, oder?“

„Ja.“ Harun nickte. Und widerstand dem jetzt unpassenden, unsinnigen Impuls, ihr zu erzählen, dass er bis auf seine frühe Kindheit nie mehr in dem Land gewesen, dass seine Verbindung zur … zur türkischen Welt lange schon ganz abgerissen war. Seit jenem erbitterten Streit mit seinem Vater vor so vielen Jahren …

„Ich … ich mag diese Lebensart auch sehr, es ist wie eine Art Geborgenheit, ein Aufgehobensein, ein … wie ein Grundton in allem, der mit jedem Augenblick verbindet.“

Wieder sah Elaine ihn mit einem ihrer intensiven Blicke an. Sie nickte langsam, ließ eine Rauchwolke entweichen.

„Weißt du, Harun, ich denke manchmal, es gibt Menschen, die genau eine solche Lebenswelt um sich herum brauchen, wie als Kontrapunkt zu ihrem … ja, zu ihrem eigentlich melancholischen Wesen. Und es ist komisch, aber gerade im Süden, der so in allem doch das Gegenteil ist, gibt es, glaube ich, viele Melancholiker. Aber sie werden im Gleichgewicht gehalten.“

Harun war beinahe ergriffen von diesen Worten, aber noch bevor er Gelegenheit hatte, darauf zu antworten, drückte Elaine ihre Zigarette aus.

„Komm, lass uns gehen, sonst verplaudern wir den Abend noch hier.“

Und wie gern hätte Harun den Abend hier verplaudert … Unsinn. Wahnsinn. Wohin sollte das führen?

Sie fuhren zurück. Elaine nahm einen kleinen Umweg und zeigte ihm eine Stelle am Rande der sich hier die Hügel heraufwindenden Straße, von der aus man bis aufs Meer sehen konnte. Der Teil der Stadt, in dem das Haus stand, lag deutlich höher.

„Hier bin ich oft und lasse meine Gedanken frei. Und sie können nirgendwo freier sein als zum Meer hin, nicht …“

„Vielleicht, weil sie nicht zurückkommen. Der Horizont nimmt sie uns ab …“

„Ja, vielleicht …“ Wieder registrierte er ihren aufmerksamen, beinahe forschenden Blick und hatte Mühe, ihm standzuhalten. Aus Furcht, sie könnte merken, dass es ihn Anstrengung kostete, ihrem Blick standzuhalten. Was war da, in diesem Blick? Was zog ihn so hinein? Es war unheimlich.

Sie setzten ihre Fahrt fort.

Frank saß noch an einem kleinen Schreibtisch, der in einer Nische des Wohnraums stand, klappte schwungvoll sein Notebook zu, als die beiden hereinkamen, nahm Harun lachend einige Tüten ab.

„Ja, mein Lieber, sonst bin ich hier der Lastesel.“ Elaine drückte Frank einen Kuss auf die Wange.

„Du Armer …“

Frank öffnete in der geräumigen, offenen Küche einen Rotwein. Dann arbeiteten die drei dort gemeinsam an einer besonderen Paella, die Frank aus verschiedenen Rezepten kombinierte. Harun glitt in einem seltsamen Gefühlsgemisch durch diese Stunden. Er fühlte sich wohl, so wohl wie selten, zusammen mit den beiden, aber seine innere Aufmerksamkeit für Elaine wuchs immer mehr, zugleich mit ihr ein noch vager Schmerz und ein dafür umso deutlicheres schlechtes Gewissen Frank gegenüber. Harun konnte noch nicht ausmachen, was es war, das ihn auf eine so unheimliche, weil ebenso starke wie nicht erklärliche Weise zu ihr zog. Irgendetwas ging von ihr aus. Und irgendetwas entstand zwischen ihnen, es war nicht zu leugnen, etwas noch nicht Fassbares, weder zu Denkendes noch gar Auszusprechendes. So kam es ihm vor.

Er verscheuchte diese Empfindungen und Gedanken. Sie irritierten, verwirrten, lähmten ihn. Desto mehr versuchte er, sich Franks wie immer leichter und scherzender Art anzupassen, unbeschwert und schlagfertig zu sein. Zwischendurch immer wieder Elaines Blick, den er Bruchteile von Sekunden auffing. Was sagte, was fragte dieser Blick? Oder bildete er sich das alles nur ein? Und wenn ja, was eigentlich bildete er sich ein? Seine bemüht versteckte Unsicherheit ließ ihn mehr Wein trinken als üblich. Aber es half.

So gingen das Vorbereiten, Zubereiten, Warten, Auftragen und schließlich Essen unter Gesprächen und Musik aus einer diskret verborgenen Anlage, deren Lautsprecher im großen Wohn- und Essraum sowie auf der Terrasse verteilt waren, fließend ineinander über, während das Tageslicht allmählich in eine sanfte südliche Sommerdämmerung und schließlich ein weiches Dunkel fiel. Sie saßen lange draußen. Windlichter brannten auf dem hölzernen Tisch, auf dem sich dann die leeren Schüsseln, Teller, Flaschen und Karaffen sowie zwei volle Aschenbecher sammelten. Nach dem Essen rauchte auch Frank.

„Schön, dass du hier bist, Harun, hat ja lange genug gedauert. Ich hoffe, wir haben dich überzeugt, dich nicht allzu lange wieder rar zu machen, was, Ela …?“

Ela, so nannte er sie, und hob sein Glas.

„Je l’espère aussi!“, sagte Elaine mit ihrer dunklen Stimme und prostete Harun ebenfalls zu.

„Totalement convaincu“, antwortete Harun.

Es wurde spät, gemeinsam räumten sie noch den Tisch ab und die Sachen in die Küche.

„Soll ich dich zum Hotel fahren?“, fragte ihn Frank, aber Harun möchte die kleine Strecke gerne laufen. Er spürte den Wein, das reichliche Essen, war müde, aber auch unruhig. Sie verabredeten sich für ein spätes Frühstück am folgenden Tag.

„Gute Nacht, Harun“, verabschiedete sich Elaine, wieder mit leichter Umarmung und Küssen auf seine Wangen. Und Harun roch ihren Duft. Vanille, Tabak und Lavendel. Süß und herb …

Die Nacht war warm, der Himmel voller Sterne, aus den Gärten der Häuser zirpten die Grillen.

Während Harun durch das schmeichelnde Dunkel zurück zu seinem Hotel lief, sah er immer noch Elaines Gestalt vor sich, hörte ihre Stimme. Zwecklos, sich etwas vorzumachen: Ja, sie hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert. Etwas in ihr. Etwas an ihr. Ihre Augen, ihr Blick, ihre Bewegung, ihre Art zu sprechen, zu schweigen. Sinnlichkeit, Lebenslust, Tiefe, Geheimnis, und alles schon in jeder kleinsten Geste gegenwärtig, unangestrengt, ohne jede Eitelkeit. Belesen war sie, klug, interessiert und vielseitig, wusste über Kultur zu sprechen wie über Politik und Ökonomie, gelassen, mit Maß und Witz, immer mit Charme und immer ohne jede Effekthascherei. Aber das gehörte schon zu dem, das dazukam …

Dazu … Wozu kam es? Es ging eine Festigkeit von ihr aus, eine Kraft und Natürlichkeit, aber gleichzeitig war da irgendwo eine große Stille, etwas zutiefst Melancholisches, das dem feinfühligen Beobachter aufschien wie durch eine manchmal und für kurze Weilen von leichtem Wind zur Seite bewegte Gardine, die dann die Sicht auf ungefähre Schemen freigab, die sich im Halbdunkel dahinter abzeichneten. Und diese Stille, diese Melancholie war es auch, die ihrer Stimme, die all ihren Bewegungen, die selbst ihrem fröhlichen Lachen oder ihrer temperamentvollen Geste trotzdem diese kleine Verzögerung, diese fast unmerklich nachhallende Langsamkeit gab. Noch nie hatte Harun eine größere erotische Wirkung empfunden. Aber es war nicht bloß die erotische Wirkung, sie war das Außen eines noch verborgenen Inneren.

Wie schön es wäre, jetzt mit Elaine an dieser Stelle zu stehen oder auf einem der Felsbrocken zu sitzen, dort, wo sie vorhin kurz angehalten hatten … Jetzt die Lichter der Stadt zu ihren Füßen und dahinter das schwarzsilberne Schimmern des Meeres. Wie schön es wäre, Elaine im Arm zu spüren und ihr alles zu sagen. Alles … Zum ersten Mal verspürte Harun das Bedürfnis, sich einem anderen gegenüber zu offenbaren. Seine Zweifel, seine Zerrissenheit, seine Einsamkeit hinter der Fassade. Spürte Elaine das, ahnten es ihre Blicke …?

Er war glücklich, glücklich in den Augenblicken dieser Vorstellung, aber die Augenblicke verwehten, lösten sich auf, und zurück blieben Ratlosigkeit, Bestürzung, auch Scham und eine vom Wein noch unterstützte Schwere, die ihn in seinem kleinen Hotel schließlich in den Schlaf sinken ließ. Einen bleiernen Schlaf voller Träume, an die keine Erinnerung blieb, außer einem unbestimmt schalen Nachgefühl am nächsten Vormittag und im hellpastellenen Sonnenlicht, das durch die cremefarbene Seidengardine vor dem bodentiefen Fenster weich ins Zimmer drang.

Ein wunderschöner Sommermorgen, ein leichter Wind ging. Harun stand auf, duschte lange, rasierte sich. Während er unter der Dusche stand, hatte er den, nicht weniger als all das andere, irritierenden Gedanken, nicht zum Frühstück zu den beiden zu gehen. Stattdessen anzurufen und irgendeine Ausrede zu gebrauchen, dass er leider sofort irgendwohin müsste. Für Sekunden hatte diese Vorstellung etwas Befreiendes. Dann schüttelte er sie ab. Unmöglich. Blödsinnig. Er machte sich auf den kurzen Weg. Das frische Vormittagslicht, die Wärme und jene leichte Brise hier oben in den Hügeln taten gut. Man konnte das Meer bis hier herauf riechen. Elaine und Frank hatten draußen gedeckt, wieder saßen sie und redeten, lachten, aßen. Ließen sich Zeit. Und es war wirklich, als ob sie sich schon lange kannten. Als ob Frank und er sich nicht so lange aus den Augen verloren gehabt hätten und … Elaine immer schon …

Später fuhren sie dann alle zusammen hinunter in die Stadt und an die Marina, gingen dort am Strand und die Promenade entlang spazieren. Wie unbeschwert, wie schön hätte alles sein können. Wenn Harun nicht mehr und mehr realisiert hätte, dass Elaine ihm unausweichlich mehr zu bedeuten begann, als sie ihm hätte bedeuten dürfen.

Während sie gingen, sprachen oder die Aussicht genossen auf das Stadtpanorama hier unten, die Front der alten Viertel, die modernen Bauten der Marina, das blaugleißende Meer oder, in der anderen Richtung, die nach Westen hin hoch ansteigenden Hügel, versuchte Harun zu ergründen, was ihn an ihr so anzog. Natürlich, sie war attraktiv, sie war ein Typ Frau, der ihm gefiel, aber das war es nicht oder zumindest nicht ursprünglich und nicht allein. Als ob Elaine etwas in ihm berührt hätte, Elaine als die, die sie war, also ohne irgendetwas zu tun, genauso wenig wie Harun irgendetwas getan hatte. Außer ihr einfach nur zu begegnen.

Dann verabschiedete sich Frank wie angekündigt für eine Weile ins Büro. Er hatte es auch Elaine schon vorher gesagt.

„Tja, meine Lieben, genießt eure Freizeit, einer muss ja schaffen“, zwinkerte er Harun zu. „Es dauert nicht lange. Und du bist ja in guten Händen, Ela, mein alter Schulkollege ist nämlich auch ein Bücherwurm.“

Und so bummelten Elaine und Harun erst über diese berühmte Marktstraße, die Ramblas, dann durch die alten Gassen in dem Viertel unten am Wasser, das den Namen Barrio Chino, also Chinesenviertel, trägt. Obwohl es dort nicht auffällig viele Chinesen gab.

Elaine trug einen schlichten, knielangen Rock in Cremefarbe, dazu ein gleichfarbiges, ärmelloses Shirt, was ihre schlanke, sportliche und doch weibliche Figur besonders zur Geltung brachte. Das Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, eine Strähne fiel lose in die Stirn. Während sie gemeinsam zwischen den Menschen auf den Ramblas, an den Ständen entlang schlenderten, sich gegenseitig auf dieses und jenes aufmerksam machten, besonders Elaine manches neugierig beäugte, manchmal fast kindlich begeistert, versuchte Harun seine Fantasie im Zaum zu halten. Seine geheime Fantasie, dass er hier mit seiner Freundin, Partnerin, Frau … Elaine wie so oft schon unterwegs war und noch sein würde. Und in den engen Gassen des Chinesenviertels, das an die längst vergangene und ansonsten spurlos vergangene Zeit des alten Hafens erinnert, kam es Harun vor, als wäre er wirklich hier zu Hause, immer zu Hause gewesen … Mit ihr zu Hause …

Sie aßen ein paar Tapas, tranken Kaffee in einem kleinen Restaurant, das in einem schattigen Hof beinahe verborgen lag, aber gut besucht war. In der Mitte des Hofes plätscherte ein Brunnen. Und dann sprachen sie, wie Frank es vorhergesehen hatte, angeregt über Bücher. Bücher, die sie beide gelesen, oder solche, die einen von ihnen beeindruckt hatten, sprachen, immer zeitvergessener, über Literatur überhaupt, und Harun fragte Elaine vieles, nach dem Leben in dieser besonderen Stadt am Meer, nach ihrer Herkunft, ihrer Arbeit. Fast fürchtete er, dass sich das Gespräch einmal auf ihn richten könnte, so, als könnten dann Dämme brechen, von denen er sich insgeheim doch wünschte, dass sie brachen.

Elaine hatte also Literatur studiert, Sprachen, auch Deutsch, dann in Paris bei einem großen Verlag als Lektorin gearbeitet und irgendwann begonnen, Kritiken zu veröffentlichen, unter einem Pseudonym. Ihre Beiträge fanden Anklang, und schließlich machte sie sich als Lektorin, Übersetzerin und Literaturjournalistin selbstständig. Frank und sie waren sich auf dem Flughafen Orly begegnet, beide auf dem Weg in die Stadt, in der sie heute zusammen lebten. Und in Harun stach die Frage, warum nicht er Elaine auf dem Flughafen von Orly begegnet war, schließlich war er oft dort, und die Wahrscheinlichkeit ihrer Begegnung wäre um keinen Deut geringer gewesen.

„Natürlich träume auch ich den Traum, irgendwann selbst zu schreiben“, sagte sie, „also eigene Geschichten, weißt du, und klar, den großen Roman …“ Sie lächelte, klopfte eine neue Zigarette aus der leicht zerdrückten Packung, Harun gab ihr Feuer, ihre Hand berührte kurz die seine.

„Aber es ist nicht so einfach, die Seiten zu wechseln, wenn man mal auf dem anderen Weg ist. Und im Moment habe ich soviel zu tun, dass ich sowieso nicht dazu käme …“ Sie trank ihren Kaffee aus, den sie schwarz nahm, wie Harun.

„Aber vielleicht ist das auch ein Zeichen …“

„Ein Zeichen wofür? Ich kann mir dich jedenfalls gut als Schriftstellerin vorstellen.“ Auch Harun entzündete sich eine neue Zigarette.

„Merci, merci … Aber manchmal denke ich, wenn meine Leidenschaft für das Schreiben, also zum Beispiel des großen Romans …“, wieder lächelte sie und blinzelte ihm zu, „wenn also diese Leidenschaft groß genug wäre, dann würde ich es auch tun, und solange das nicht so ist … Ich denke, es braucht einfach noch Zeit. Aber ich spüre, dass es in mir, also ganz tief in mir arbeitet. Aber wieso kannst du dir mich denn gut als Schriftstellerin vorstellen?“ Elaine schaute ihn wie so oft mit dieser besonderen, beinahe forschenden Aufmerksamkeit an.

„Nun, weil …“ Und wie jedes Mal musste Harun sich bemühen, diesem Blick unbefangen zu begegnen, nicht in ihm zu versinken, den Faden nicht zu verlieren. Er ließ den Rauch seiner Zigarette ausströmen, als ob er sich für einen Moment dahinter verbergen wollte.

„Weil … Mir scheint, du bist eine sehr genaue Beobachterin und … und alles, was du beobachtest, gerade auch Kleinigkeiten, hinterlässt einen Eindruck bei dir, löst Gedanken aus, die sich damit verbinden, und das speicherst du dann ab, oder es speichert sich in dir ab … Etwa wie ein sich ständig erweiterndes Mosaik.“

Elaines Blick war unverwandt auf ihn gerichtet geblieben.

„Das mit dem genauen Beobachten kann ich dann ja gleich zurückgeben. Wollen wir los?“

Sie brachen auf, schlendern die Gassen entlang wieder hinunter zum Wasser. Die Palmen an der Promenade wiegten sich in leisem Wind, tief und gleichmäßig rauschte eine sanfte Brandung.

„Ich glaube, ich könnte nie woanders leben als im Süden und am Meer“, sagte Elaine. „Ich brauche dieses Licht, die Helligkeit, die Wärme …“ Sie breitete kurz ihre Arme aus, hielt das Gesicht der Sonne und dem Meer entgegen.

„Es spiegelt sich in allem, in den Mauern, den Gerüchen, den Klängen, den Menschen … Und all das antwortet dem Süden, den manche in sich tragen.“ Unwillkürlich dachte Harun: Was würde geschehen, wenn Frank versetzt wird, irgendwo nach Norden, in eine Stadt ohne Meer. Wenn sich ihm dort die nächste Karrierechance eröffnete …?

„Und, trägst du ihn auch in dir, den Süden?“, fragte Elaine, wieder mit ihrem Harun irritierenden Blick.

Er sah hinaus über das in Ufernähe von kleinen Schaumwellen überkrönte Wasser.

„Ich glaube ja … Aber ich … ich bin noch nicht dort angekommen …“ Elaine trat neben ihn.

„Manche von uns bleiben immer Reisende, gleich wo sie sind …“

Sie blieben eine Weile nebeneinander stehen und gingen dann schweigend weiter, erreichten den Parkplatz, wo Elaines kleiner Renault stand, mit dem sie hergefahren waren.

„Wenn du auch noch etwas arbeiten willst, Elaine … Du musst dich nicht die ganze Zeit … Ich meine, ich habe etwas zu lesen mit und kann …“

„Wollen wir uns nicht in unseren Garten setzen und ein bisschen Siesta halten, wie’s sich hier gehört?“ Elaine lächelte ihn an. „Sonst sind wir heute Abend nicht in Form.“

„Gern“, sagte Harun. Für den Abend waren sie mit Freunden von ihr und Frank auf der Marina verabredet, in einer Art Clubrestaurant mit Jazz-Musik.

„Das wird dir gefallen“, hatte Frank gesagt, „fantastischer Panoramablick aufs Meer, gute Musik, und unsere Freunde sind wirklich nett. Kann ja auch nicht anders sein.“

„Können wir noch mal an diesem Aussichtspunkt halten, wo wir gestern kurz gewesen sind?“, fragte Harun während der Fahrt zurück zum Haus.

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Hatte ich sowieso vor … Da haben wir beide das Gleiche gedacht.“ Und Harun verspürte ein aufflammendes Glücksgefühl.

Und wieder standen sie dann auf dem kleinen Stück sandigen, mit Geröll bedeckten Bodens neben der Straße, vor sich einige kniehohe Felsbrocken und dahinter der offene, weite Blick, der Himmel und Meer in unbestimmter Ferne blassblau verschmelzen ließ. Sie rauchten beide.

„Immer, wenn ich hier stehe, fühle ich mich angekommen und weiß doch, dass die Reise weitergeht.“

„Wohin?“, fragte Harun spontan und bereute die Frage im gleichen Augenblick.

„Ich weiß nicht …“

„Vielleicht ist es das Meer …“

„Ja, vielleicht …“

Wieder zurück, setzten Elaine und Harun sich nebeneinander in zwei bequeme Liegestühle im Schatten eines der alten, mächtigen Bäume, die das Grundstück zur rückwärtigen Seite hin beschirmten. Elaine brachte eine Karaffe eisgekühlten Orangensafts und stellte sie auf ein niedriges Tischchen zwischen ihnen.

Und dann dösten sie in der warmen Luft, lasen, er in seiner Camus-Biografie, sie in einer der Mappen, die sie aus ihrem Arbeitszimmer geholt hatte, und immer wieder unterbrach ein kurzer oder längerer Dialog das vertraute Schweigen. Vertraut, so kam es Harun vor. Unerklärlich vertraut wie ihr ganzes Zusammensein. Als läge dem ein tiefes, unausgesprochenes Wissen des einen um den anderen zugrunde. Wenn da nur diese in ihm gärende Spannung nicht wäre. Er versuchte, sie zu ignorieren, zurückzudrängen. Die Spannung kam aus dem Bewusstsein der Nähe zu Elaine, der räumlichen und der anderen. Aus dem Bewusstsein dieses vertrauten Empfindens und aus dem Wissen um die Haltlosigkeit, Begrenztheit, Unsinnigkeit all seiner Empfindungen.

Aber waren sie wirklich unsinnig? Oder empfand Elaine vielleicht sogar ähnlich? Auch sie musste es doch spüren, das Leichte, Schwingende, Tragende ihres Miteinanderseins, dieses Ineinandergreifen von Gesagtem und Unausgesprochenem und vielleicht auch jene Spannung, nicht nur in Harun, sondern auch in sich, jene Spannung, die aus dem unwillkürlichen Erkennen kam, auf einen Menschen getroffen zu sein, der …

Als Frank dann am späten Nachmittag mit einem Taxi zurückkam, wusste Harun ohne Zweifel, dass er sich in Elaine verliebt hatte. Frank, der den Schleier dieses wunderbar zeitentrückten Zusammenseins zerriss. Und Harun war es nur unter dem Aufbieten aller Kraft gelungen, Anschluss an die wieder herrschende Realität zu finden. Unwillkürlich hatte er Elaine beobachtet, ob sich irgendwelche Anzeichen erkennen ließen, dass es ihr ähnlich ginge. Jede Geste, jeder Blick, jeder Schritt, jedes Wort … Der Wahnsinn des Verliebten. Vor dem gemeinsamen Ausgang am Abend hatte sich Harun dann in sein Hotel zurückgezogen, hoffend, dass es nicht als die Flucht erscheint, die es gewesen war. Unmöglich, mit Frank und ihr jene plaudernde, scherzende Illusion aufrechtzuerhalten, die bloß die Wahrheit verdeckte. Seine Wahrheit. Denn ihre Wahrheit war eine andere.

Die Wahrheit war, dass Elaine und Frank ein Paar waren, dass bei allen Unterschieden ihrer Persönlichkeiten doch eine besondere Zweisamkeit bestand. Das hatte Harun von Anfang an gespürt. Und wenn er ehrlich war: Auch die ihn so berührende Ausstrahlung Elaines ging doch ein in eine Art Geist, in die ganze Atmosphäre dieses Hauses, das die beiden zusammen belebten. Zusammen. Ein gemeinsamer Geist, der das Haus erfüllte. Natürlich, es war vor allem Elaine gewesen, die es gestaltet hatte, es war Elaine, die, wenn nicht selbst auf Reisen, dort ihre Tage verbrachte, weil sie von zu Hause arbeitete.

Aber Frank wirkte dort keineswegs wie ein Fremdkörper. Auch wenn Harun zu seiner eigenen, insgeheimen Beschämung, nach Anzeichen, Indizien, Hinweisen dafür suchte. Dafür, dass die beiden eigentlich nicht wirklich zusammenpassten. Dass die Unterschiede zwischen ihnen größer sind als die scheinbaren Gemeinsamkeiten, die auch durch dieses Haus Gestalt fanden. Aber war ist nicht so. Frank gehörte genauso zu diesem Haus. Und Elaine gehörte zu ihm. Er, Harun, war der Gast, der vorübergehende. Der Fremde. Der heimliche Verräter …

Der Abend, den er dann gemeinsam mit den Freunden von Frank und Elaine in dem Club an der Marina verbrachte, wurde zu einem anstrengenden Wechselbad der Stimmungen und Zustände. Zumal Harun sich nichts von allem anmerken lassen durfte und wollte. Unter keinen Umständen. Die Freunde, ein weiteres Paar und eine Frau, allesamt Spanier und im gleichen Alter, waren Gott sei Dank sehr umgänglich und sympathisch. Der überaus aparten Frau, sie hieß Sol, war dabei wohl die diskrete Aufgabe zugedacht worden, an Haruns Seite und zusammen mit ihm an diesem Abend sozusagen das dritte Paar zu bilden. Und sie wurde ihrer Rolle auf angenehme Art, mit Charme und Takt gerecht. Es fiel ihr nicht schwer, und Harun merkte, dass er ihr ebenso sympathisch war. Die Unterhaltung wurde auf Englisch und Französisch geführt, später tanzten sie ausgiebig.

Die wunderbarsten und schlimmsten Momente waren für Harun die, während er mit Elaine einen langsamen Tanz tanzte, zu dem sie ihn aufgefordert hatte. Es war alle Kraft nötig gewesen, sich nicht auf ihren Duft, ihre Wärme, die Berührung ihres Körpers zu konzentrieren, um nicht alle Kontrolle über die eigenen Bewegungen zu verlieren. Dabei ständig in der Furcht, Elaine oder sogar die anderen, vor allem Frank, könnten ihm anmerken, was mit ihm los war. Insgeheim hatte Harun seiner spanischen Begleitung viel zu danken. Sol wurde, natürlich ohne es zu wissen, eine Art Rettungsanker an diesem Abend. Mit ihrer souveränen Art, ihrem Esprit – einigen Andeutungen nach kam sie wohl aus bestem Hause – war sie nicht bloß eine begabte, sondern auch erfahrene Gesellschafterin und verstand es unaufdringlich, Harun eine perfekte Partnerin für diesen Abend zu sein. Als wären es tatsächlich drei Paare, die miteinander ausgingen. Es wurde spät, und als man sich endlich trennte, raunte ihm Frank noch zu: „Ich glaube, du hast eine Eroberung gemacht, mein Lieber. Bis morgen also, wieder zum Frühstück!“

Doch am nächsten Morgen brachte es Harun wirklich nicht mehr fertig, den kurzen Weg zu Franks und Elaines Haus zu nehmen, mit ihnen gemeinsam zu frühstücken, Elaine gegenüber zu sitzen und Frank, dabei so zu tun als ob … nichts wäre … Als er an diesem Morgen aufwachte, lag die Gewissheit, die Gewissheit, Elaine zu lieben, wie ein Abgrund vor ihm. Kein größerer, kein drängenderer Wunsch als sie zu sehen, mit ihr zu sprechen, mit ihr zu dieser Stelle zu gehen, von der aus man das Meer sehen konnte, ihr dort alles zu sagen. Wissend, dass das alles unmöglich war …

Er ging im Zimmer auf und ab wie ein gefangenes Raubtier, rauchte eine Zigarette nach der anderen und fühlte sich dabei, als stünde seine Hinrichtung unmittelbar bevor. Ausweglos. Und dann packte er wirklich seine Sachen, bezahlte das Hotel, ließ sich ein Taxi kommen und zum Flughafen fahren. Kein eigentlicher Entschluss, kein Sich-Aufraffen, es passierte einfach, als hätte irgendeine Kraft seine Steuerung übernommen. Weil er nicht mehr dazu imstande war. Eine Art Notprogramm. Erst vom Flughafen aus rief Harun dann Frank an. Das erste Mal war sie dran, Elaine … Wie ein Schock. Er legte wieder auf, brauchte eine Weile für den nächsten Anlauf. Beim zweiten Mal hatte er Frank in der Leitung und erzählte ihm irgendetwas, dringende Nachricht von der Firma, es brenne, er müsse sofort los, leider, Grüße an Elaine und so fort … Auch die Worte kamen von allein, ohne Nachdenken, ohne Plan.

„Mensch, Junge, schade … Das ist halt der Fluch unseres Jobs … Ela wird ganz schön enttäuscht sein …“

Würde sie wirklich? Und bedeutete das etwas? Was …? – Unsinn, alles Unsinn …

„Aber du hast natürlich die Pflicht zur Wiederkehr, zur baldigsten Wiederkehr, keine Ausflüchte, Herr Kara …“

Das war der Vorteil, wenn man im gleichen Gewerbe war. Zumal in diesem, da kam so etwas schon vor, dass man Hals über Kopf los musste. Vom Flughafen aus ließ Harun einen großen Blumenstrauß an die beiden schicken. Mit einer Dankeskarte und einem Sorry für den überstürzten Aufbruch. Er ließ sich auf die nächste Maschine nach Paris setzen. Vier Stunden Wartezeit. In der Senator-Lounge saß er, stierte vor sich hin. Blätterte fahrig in den ausliegenden Magazinen und Zeitungen. Keine Konzentration. In seinem Kopf eine dumpfe Leere. Oder lähmende Fülle. Nicht daran rühren, nichts in Bewegung bringen. Einfach nur sitzen, wie halb betäubt …

Vor einem Vierteljahr war er Elaine das erste Mal begegnet, und seitdem hatte sie von ihm Besitz ergriffen. Man konnte es anders kaum nennen. Besitz von seinen Gedanken, seinen Gefühlen, seiner Fantasie. Elaine, die Lebenspartnerin seines alten Schulkameraden Frank. Elaine, die von nichts wusste, wie Frank von nichts wusste. Was hätte es auch zu wissen geben können? Nur dass es so war. Ohne Erklärung, schon gar nicht Rechtfertigung. Aber immerhin gab es auch nichts zu rechtfertigen. Denn was sich in ihm abspielte, blieb allein ihm überlassen, solange es keine Folgen für andere hatte.

Gut, die Folge für Frank bestand darin, dass Harun sich nach seinem überstürzten Aufbruch aus Barcelona zurückhielt. Ein paar Mal hatten sie telefoniert. Genauer gesagt, Frank mit ihm. Seinen Initiativen zu einem erneuten Besuch Haruns oder einem Treffen nur von ihnen beiden, irgendeine beruflich bedingte Zufälligkeit nutzend, war Harun mehr oder weniger geschickt ausgewichen. Es wäre ihm unmöglich gewesen, Frank zu begegnen und so zu tun, als gäbe es da nichts. Wenn auch nur in ihm, mit ihm. Und weil er es nicht ausgehalten hätte, sich vorzustellen, dass Frank dann zu ihr zurückkehren würde. Mit ihr zusammen sein würde. Mit ihr … Noch unmöglicher eine Begegnung mit Elaine. Harun war sicher, dass Elaine es dann merken würde, merken musste. Oder hatte sie es schon in Barcelona gemerkt?

Was sollte werden? Irgendwann würde auch Frank darauf kommen, dass mit Harun irgendetwas nicht stimmte. Vorerst sorgte noch ihrer beider vom Beruf weitgehend bestimmtes und davon reichlich gesättigtes Leben dafür, dass selbst Wochen und sogar Monate so vergehen konnten, ohne dass es zu einem allzu verdächtigen Fragezeichen auswuchs. Termine, Projekte, Reisen. Vielleicht kam auch Franks unverändert, von keinerlei Schwere oder sogar Misstrauen behelligtes, leichtes Gemüt dazu.

Haruns äußeres Leben verlief wie immer. Mehr noch als sonst, falls das überhaupt möglich war, stürzte er sich in seine Arbeit. Ein Auftrag folgte dem nächsten. Und tatsächlich ergab sich zwei Wochen nach Barcelona dann der angekündigte Einsatz in Kapstadt. Harun war froh, dass dieses Projekt sich dann über sechs Wochen erstreckte. Ablenkung, ganz woanders. Aber gleich, wo er sich aufhielt, Elaine begleitete ihn. Und die Erinnerung an ihre Begegnung. Gerade einmal anderthalb Tage. Besonders jener Nachmittag damals im Garten hatte sich in seiner Erinnerung zur zeitlosen Ewigkeit gedehnt.

Die Wärme, das Licht, das sanfte Rauschen der vom Meer her kommenden Brise in den Bäumen. Und Elaine nur eine Armlänge von ihm entfernt, dazwischen das gemeinsame Schweigen, die verbindenden Blicke, ihre gelassen getauschten Worte, alles so, als wäre Harun nicht erstmalig zu Gast im Haus des Freundes und seiner Frau gewesen, sondern selbst der Mann, der hier zu Hause war, zusammen mit ihr, die zu ihm gehörte wie er zu ihr.

Alles, was sie gesagt, die Art, wie sie es gesagt hatte, mit dieser unerklärten und keiner Erklärung bedürfenden Aufmerksamkeit und Vertrautheit, dieser unaufdringlichen Tiefe und immer wieder auch ihrer ganz eigenen, aus dieser Tiefe hinauf scheinenden Melancholie, hatte Harun sich in ihrer Gegenwart aufgehoben und verstanden fühlen lassen wie niemals zuvor und je mit irgendwem. Außer vielleicht … Aber das war etwas anderes gewesen, ließ sich damit nicht vergleichen. Oder doch? Selbst wenn, lag es unendlich, unwirklich weit zurück. Im solange versunkenen Traumland der Kindheit … Jetzt war er erwachsen, ein Mann. Und Elaine eine Frau. Und trotzdem: Auch wenn sie sich an jenem Wochenende das erste Mal begegnet waren, für Harun hatte es mehr etwas von einem wie schicksalhaft geführten Wiedererkennen gehabt. Und deshalb war er sich auch gewiss gewesen, dass Elaine all die verborgenen Widersprüche und Abgründe seiner Existenz verstanden hätte, sie vielleicht sogar geahnt hatte. Ihre immer wieder mit jener besonderen Intensität auf ihm ruhenden Blicke schienen es zu verraten. Vielleicht war es ihr gegangen wie ihm. Vielleicht hatten ihre Blicke auch ihn erkannt. Und genau das hatte ihn, fast paradox, davon abgehalten, sich ihr zu offenbaren. Zu ungeheuerlich wäre doch die ganze Situation gewesen. Und was, wenn alles nur Einbildung gewesen war? So oder so hätte es dann kein Zurück mehr gegeben.

Heute wusste er, dass es ohnehin kein Zurück mehr gegeben hatte. Aber so war alles nur in ihm geblieben. Kein Zurück mehr. Damals, an jenem Wochenende, als es begonnen hatte, war es ein im Angesicht der Realitäten irritierendes, verwirrendes, auch beängstigendes, aber doch und trotz allem erfüllendes, in immer wieder aufblitzenden Momenten sogar schönes Gefühl gewesen, die überwältigende Idee einer Möglichkeit. Plötzlich war da etwas, das sonst immer gefehlt hatte. Er hatte nicht einmal gewusst, was genau es war, nur dass Elaine etwas in ihm ansprach, was noch keine Frau vor ihr in ihm angesprochen hatte … Keine Frau …

Dabei hatte Harun sich mit seiner ganz persönlichen, von außen und der Oberfläche her kaum wahrnehmbaren Einsamkeit doch schon abgefunden. Mochte es den Menschen, dem er sich wirklich mitteilen, mit dem er sich und das, was er im Innersten war, wirklich teilen konnte, eben nicht geben. Mochte auch daraus seine Überzeugung gewachsen sein, dass es ohnehin absurd blieb, sich mit einem anderen eins fühlen zu wollen. Denn musste nicht gerade die eigene Freiheit Basis für alles bleiben, und entstand nicht von vornherein ein ungesundes, labiles Gefälle, wenn sie es nicht war? Das Individuum sollte im Idealfall eine Einheit bilden, was schwer genug fiel, aber zwei Menschen konnten niemals eine Einheit werden, und wenn, doch immer nur scheinbar, nämlich auf Kosten des einen.

So hatte sich Harun den Versuchen der Frauen, die ihm auf diese Weise nahe kommen wollten, entzogen, umso entschiedener, je ausdrücklicher und unausweichlicher ihr Drängen wurde. Geblieben waren, ganz von früher her, einige, letztlich halbherzige und meist bereute Affären oder später und bis heute irgendwann am entscheidenden Punkt mehr oder weniger friedlich auseinandergegangene Bekanntschaften. So wie es ihm vielleicht bald auch mit Ines bevorstünde.

Und dann Elaine. Vom ersten Anblick an. Was hatte sie getan? Nichts. War sie die schönste Frau, der er jemals begegnet war? Nein. Entsprach sie einem Typ Frau, der immer schon in dieser besonderen Weise auf ihn gewirkt hatte? Nicht, dass er es hätte sagen können. Dennoch war jenes unheimliche, ungeheuerliche Gefühl vom ersten Augenblick an in ihm gewachsen und während der zwei oder drei Stunden im kunstvoll verwilderten Garten ihres Hauses zur ebenso unerklärlichen wie unausweichlichen Gewissheit geworden: Elaine war ein Teil von ihm und er ein Teil von ihr. Zusammen waren sie eins. Und ohne einander würden sie immer unvollständig bleiben.

An jenem Nachmittag dort war Harun sich sicher gewesen, dass er sie kannte, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab, geben musste, dass ihre Seelen die beiden Teile eines Ganzen waren. Oft hatte er sich später gefragt, sein Gedächtnis durchforscht, ob er je Gleiches oder Ähnliches empfunden hatte. Er fand nichts. Außer eben jenen verwehten Widerklang einer lang, unendlich lang zurückliegenden Kinderempfindung, die hinter dichten Nebelschwaden ebenso wirklich wie unwirklich schien …

Elaine. Sie hatte von ihm Besitz ergriffen und jetzt wäre er ihr beinahe wieder begegnet. Beinahe. Ein grausames Wort. Und ausgerechnet Frank hatte ihn angerufen. Wie ironisch das Schicksal sein konnte.

Frank teilte ihm plötzlich mit, dass Elaine in Kürze nach Deutschland käme, unter anderem, um an einem Übersetzer-Symposion teilzunehmen, das in einer nicht weit entfernt liegenden Stadt stattfinden würde. Und ob sie, also Elaine und Harun, die Gelegenheit nicht nutzen, sich nicht dort treffen mochten. Elaine würde es gewiss freuen. Sie wäre doch so beeindruckt gewesen von ihm, Franks altem Schulfreund … – Es würde sie freuen. Beeindruckt wäre sie gewesen … Harun hatte es wie eine Stichflamme in sich aufschießen gespürt. Eine Flamme aus Freude und Furcht. Er hatte sich Frank antworten gehört, noch bevor seine heranwallenden Gedanken jeden Satz ersticken konnten.

„Welch ein Zufall … Ja … Natürlich … Gern.“

Wie harmlos sich der Verrat geben konnte. Kein Zögern, keine Skrupel. Wie weit würde er gehen, wenn sich die Gelegenheit ergäbe? Und welche Gelegenheit würde sich ergeben …?

Sie hatten ausgemacht, dass Harun Elaine am besagten Tag dann dort vom Flughafen abholen würde. Ohne dass Frank Elaine etwas davon sagen wollte. Eine Überraschung sollte es werden. Frank hatte sich an seiner Idee erfreut.

„Sie wird ganz schön Augen machen, du wirst sehen.“

Oh ja, das würde er sehen. Ihre Augen, ihren Blick … Und noch ohne, dass Harun in dem Moment in der Lage gewesen wäre, die eigenen Termine zu überschauen, sicher zu sein, dass er überhaupt im Lande wäre, hatte er zugesagt. Aber es wäre auch nichts oder kaum etwas denkbar gewesen, was ihn davon hätte abhalten können, an dem betreffenden Samstag zur Stelle zu sein, um Elaine zu sehen. Elaine hier, nur eine knappe Stunde entfernt, je nach Verkehr!

Und freuen würde sie sich, hatte Frank gesagt. Und beeindruckt wäre sie gewesen. Verbarg sich dahinter etwas? Und was hatte es zu bedeuten, dass nicht sie selbst auf die Idee gekommen war, ihn zu fragen, sondern Frank? Frank, der Ahnungslose. War auch Elaine ahnungslos, oder war das ein Zeichen? War sie selbst vielleicht gar nicht imstande gewesen, mit ihm, Harun zu sprechen, weil auch sie … War es ein Spiel mit dem Schicksal, wie es gerade Frauen undurchschaubar spielten, um ihrerseits ein Zeichen herauszufordern, das ihnen den Weg wies aus ihrem Dilemma? Steckte Elaine in diesem Dilemma? Stand sie, Elaine, schon zwischen Frank und ihm, Harun?

In Haruns Kopf hatte nach dem Telefonat ein Karussell bunter Gedankenfetzen zu rasen begonnen. Frauen waren feinfühlig. Und Elaine hätte doch nicht einmal mit übernatürlicher Sensibilität ausgestattet zu sein brauchen, um schon vor einem Vierteljahr, an jenem Wochenende in Barcelona, zu registrieren, wie es um Harun stand. Obwohl Harun natürlich alles vermieden, zumindest zu vermeiden versucht hatte, was darauf hindeutete. Aber Elaine musste es registriert haben. Seine Blicke, seine Stimme und wenn nicht das, dann die immer unerträglicher gewordene Spannung, die in ihm gewesen, von ihm ausgegangen war, die schwerer erträglich gewesen war, je länger er in ihrer Gegenwart verweilte. Spannungsveränderungen in Millimetern. Jede Frau spürte so etwas. Erst recht eine Frau wie sie.

Und jetzt würde Elaine also kommen. Suchte sie endlich die Begegnung mit ihm? War dieses Symposion vielleicht nur die willkommene, sogar gesuchte Gelegenheit? Oder eben das Zeichen des Schicksals, wie es Elaine vielleicht ihrerseits erschien? Auch für sie war nun ein knappes Vierteljahr vergangen seit ihrer Begegnung. Ob sie in dieser Zeit genauso empfunden hatte wie er? Und war ihr in dieser Zeit vielleicht ebenfalls klargeworden, dass sie ihm, Harun, nicht entkommen konnte, nicht ihrer gemeinsamen Bestimmung, allen Widrigkeiten zum Trotz? Und war das sogar der eigentliche Grund, warum sie nun kam? Kam sie eigentlich – zu ihm?!

Nach dem Gespräch mit Frank hatte sich die Welt um Harun mit einem vibrierenden Leuchten aufgeladen. Ihm war es vorgekommen, als hätte sich die Schwerkraft für ihn reduziert, er meinte in bestimmten Momenten wirklich darauf achten zu müssen, nicht plötzlich über dem Boden zu schweben, wie es die Männer einst auf dem Mond getan hatten oder heute in der die Erde umkreisenden Raumstation. Peinlich fast. Wie ein erstmals verliebter Teenager. Und war er nicht tatsächlich zum ersten Mal wirklich verliebt? Zum ersten Mal seit … Nein, das jetzt nicht. Noch nicht. Vielleicht wenn Elaine und er … Denn da war jener ganz ferne Widerklang tief in ihm, als ob ihn das alles an irgendetwas erinnerte, was weit, so weit zurücklag. In der Zeit und im Raum … Doch er war dieser ungefähren Erinnerung, diesem Vorschatten einer tief in ihm schlummernden Erinnerung, nicht nachgegangen. Auch dieses Mal nicht. Etwas hatte ihn abgehalten. Etwas schützte ihn. Und jenes Schweben war ein so wunderbarer Zustand gewesen. So wunderbar, so unberechenbar.

Aber solch ein Schweben kannte, fast wie beim Segelfliegen, immer auch den plötzlichen thermischen Abschwung. Dann ging es von der eben noch schwindelnden Höhe ebenso schwindelnd abwärts. Fragen, Zweifel bildeten dann das Luftloch, in das man plötzlich stürzte. Es brauchte nichts und niemanden dazu, es kam genauso plötzlich, wie man vorher angefangen hatte zu schweben …

Einbildung! Alles nur Einbildung. Elaine, die Ahnungslose, würde vor ihm stehen. Sympathisch, freundlich und ohne den kleinsten Funken von dem Gefühl, das Harun schon kurz unter seiner Haut verzehrte. Sie würde ihm mit ihrer ahnungslosen Verbindlichkeit unendlich viel ferner sein, als sie es in ihrer wirklichen Abwesenheit war.

Schön, dich zu sehen, Harun. Das ist ja schön, Harun, dass wir uns mal wiedersehen … Nett, dass du mich abholst, Harun … Und sie würde ihn – wie man es in Spanien macht unter Freunden oder auch in Frankreich, woher sie kam – wieder auf beide Wangen küssen, und dann neben ihm hergehen, als wäre weiter nichts. Und für sie wäre ja auch weiter nichts. Nur Harun würde, Zentimeter, Millimeter neben ihr, in stummen Schreien verglühen, verbrennen, verlodern.

Wie sollte das gehen? Wie sollte er dann jeden einzelnen Augenblick überstehen, wie verhindern, dass sie doch bemerkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte? Dass seine absurde Sehnsucht offenbar wurde, die sie befremden musste. Und dann war er doch noch versucht, alles abzusagen. Es wäre kein Problem. Irgendeine berufliche Verpflichtung. Ohnehin Glück … oder eben das Gegenteil, dass er an diesem Samstag verfügbar war. Aber vielleicht wäre alles auch noch ganz anders. Vielleicht würde das eben noch tosende, glosende Feuer in ihm von einer Sekunde zur anderen in sich zusammenstürzen, verlöschen, verdampfen. Dann, wenn er sie wiedersehen und der Zauber, der Bann, der Wahn sich plötzlich verflüchtigen würde. Weil die Elaine, der er dort zum zweiten Mal begegnete, nicht die Elaine wäre, die seit ihrer ersten Begegnung in ihm lebte. Mit der er lebte. Die er liebte. Vielleicht liebte er eine Illusion, und die Wirklichkeit würde ihn im Augenblick kurieren … – Unsinn!

So war Harun dieser zweiten Begegnung entgegengeflogen –geschwebt und immer wieder – gestürzt. Er war ihr nicht ausgewichen. Hatte Frank nicht angerufen, um Elaine abzusagen.

Die Maschine aus Barcelona sollte um kurz nach 16 Uhr ankommen. Harun war schon am Vormittag losgefahren, er hatte nicht mehr gewusst, wie er die immer zäher fließende, allmählich zu gerinnen scheinende Zeit in seiner Wohnung aushalten sollte.

Ob es das gab, dass die Zeit bis zum Stillstand gerinnt, bevor noch der Punkt erreicht wäre, auf den sie sich zu bewegte? Vielleicht gab es das. Aber es beträfe nur die eigene Zeit, die Zeit in einem. Die andere, die allgemeine, die Zeit des Lebens, der Welt flösse immer weiter, wie unberührt davon. Und diese Zeit erreichte immer den Punkt.

Das Fahren, die Bewegung der Fahrt hatte Harun dann wenigstens eine oberflächliche Erleichterung verschafft. Es war ein klarer, sonniger Herbsttag. Die prächtigen Farben der Baumkronen leuchteten in reiner Luft. Harun mochte diese Bilder. So etwas gab es nicht in der Türkei. Viel zu früh in der Stadt angekommen, hatte er seine Bewegung zu Fuß fortgesetzt, kreuz und quer durch die Straßen, ohne dass er hinterher etwas über seinen Weg oder das, was er gesehen hatte, hätte sagen können. Die Zeit erreichte immer ihren Punkt. Und irgendwann war es dann soweit, Harun stand wirklich in der Ankunftshalle des Flughafens, der Doppeltür aus blindem Glas gegenüber, durch die die Passagiere aus Barcelona kommen würden. Er überlegte, Blumen zu kaufen, ließ es dann aber. Was sollten die Blumen ihr sagen? Worüber sollten die Blumen sie täuschen? Sie würde Augen machen, hatte Frank gesagt. Ja, es würden ihre Blicke sein, die ihnen alles sagten …

Seine Blicke gingen zwischen der Armbanduhr und dem Ausgang der Ankunftszone hin und her. Und dann öffneten sich die beiden Flügel der blinden Glastür, Menschen traten heraus, einzeln, zu mehreren, in Gruppen, die Türen schlossen sich wieder, öffneten sich erneut, um weitere Menschen passieren zu lassen. Manche wurden erwartet, andere gingen zielstrebig allein, einige mit ihren Handys beschäftigt. Harun sah seinesgleichen, gedeckte Anzüge, Kurzhaarfrisuren, teure, kompakte Trolleys, schlanke Ledermappen für das Notebook. Und die Türen öffneten sich und schlossen sich wieder.

Seitdem der Flug aus Barcelona als „gelandet“ angezeigt worden war, stand Harun wie angewurzelt auf einem Fleck, waren die Klänge und Geräusche um ihn verwischt. Jeden Moment musste nun Elaine durch die offene Flügeltür treten, ein kurzer Blick, dann würde sie ihn entdecken, lächeln, vielleicht kurz winken und auf ihn zukommen. Jeden Moment käme sie auf ihn zu … Elaine … Und die Türflügel glitten zur Seite, schreitende Gestalten, erwartungsvoll spähende oder in sich gekehrte Gesichter, und die Türflügel schlossen sich wieder.

Und der erste Moment ihrer Wiederbegegnung, die bevorstehende Sekunde dehnte sich von der Gegenwart in die Zukunft, dehnte sich immer weiter, während Harun reglos stand, seine Augen unbewegt auf die blinde Glastür gerichtet, die sich irgendwann zum letzten Mal schloss und bis zum nächsten Flug nicht mehr öffnen würde. Ebenso hatte sich der Raum um ihn herum geleert, war jetzt wieder befreit von den Hindernissen der einzeln oder in Gruppen Wartenden, wieder frei durchzogen von fließender Bewegung quer zur Ausgangsfront. Solange, bis die Ankunft der nächsten Passagiere alles wieder von vorn beginnen ließ. Aber Elaine war nicht gekommen …

Harun brauchte lange Zeit, sich von dem Punkt zu lösen, an dem er immer noch unverändert stand. Lange Zeit, bis er sich wieder vor der Ankunftshalle fand, schließlich wieder auf dem Parkplatz, bei seinem Wagen. Und lange Zeit, bis er einsteigen konnte und einfach nur saß, saß und rauchte, bis er beim Ausdrücken einer Zigarette bemerkte, dass der verchromte Aschenbecher voll war. Was er die ganze Zeit über gedacht hatte, wusste er hinterher nicht. Alles war wie taub. Sein Kopf, seine Glieder. Und jede Bewegung hatte ihm die Gefahr verheißen, dass ein ungeheurer Schmerz ihn überwältigen würde. Nicht bloß überwältigen, sondern zerreißen. Vernichten.

Elaine war nicht gekommen! Es war ihre Antwort im geheimen Dialog, der zwischen ihnen stattfand, ohne dass irgendwer davon wusste. Nicht einmal sie beide. Elaine war nicht gekommen. Was immer es zu bedeuten hatte. Hatte es etwas zu bedeuten? Aber was?

Erst als es zu dämmern begonnen, ein orangerotes Flammen vom Horizont her den Himmel entzündet hatte, fuhr Harun vom Parkplatz des Flughafens. Wie benommen, erschöpft vom Aufruhr seiner Gefühle und Gedanken. Und mit einer ersten, noch ganz ungefähren Erleichterung. Es war nicht das Ende! Trotz allem! Auch an die Fahrt zurück hatte er später keine Erinnerung. Irgendwann am späten Abend landete er mit seinem Citroën dann wieder in der Garage unweit seiner Wohnung, stand draußen, über sich ein, obwohl dunkelnd, immer noch leuchtender Himmel. Für einen Herbstabend war die Luft erstaunlich mild. Dazu der eigentümlich würzige Duft dieser Jahreszeit. So wie sie hier riecht. Zu Hause … Harun lief noch lange durch die Straßen, abendliches Leben um sich, fürchtete die Leere seiner Wohnung.

Was konnte passiert sein? Es musste trotz allem irgendeinen Sinn geben.

Und es gab diesen Sinn! Später erfuhr Harun, das Nichtzustandekommen der Begegnung am Flughafen hatte, wie oft in gerade solchen Fällen, seine Ursache in einer jener „banalen Finessen des Schicksals“ gehabt. So nannte es Wolfgang. Als ob irgendwer einen Genuss an solchen Inszenierungen, mehr noch, ihren Auswirkungen auf die unwissend Beteiligten empfände. Und es war auch hier eine Banalität gewesen, die ihre Begegnung verhindert hatte. Es wäre manchmal wirklich erschreckend, wie die Dinge dabei mit einer fatalen Präzision ineinandergriffen, sagte Wolfgang, als Harun ihm schließlich davon erzählte.

So als ob irgendetwas uns seine Macht demonstrieren wollte, die ebenso einfach wie hocheffektiv in der bloßen Verfügung über Banalitäten bestand, deren Arrangement dann wie ein nur auf uns gemünztes Zeichen wirkte. Als ob das Schicksal von allen anderen unbemerkt zu uns spräche. Man müsste dann nur seine Sprache richtig verstehen.

So hatte Elaine einfach nur einen anderen Flug genommen und vor allem: Sie selbst hatte ja gar nicht gewusst, dass Harun sie abholen würde. Dementsprechend hatte es auch keinen Grund gegeben, Harun oder Frank über ihren auf den folgenden Morgen verschobenen Flug zu informieren. Frank war zu dem Zeitpunkt beruflich auf Reisen gewesen und hatte, wie von ihm dann auch Elaine, erst später von dem völlig unbemerkten Malheur erfahren.

„Mensch, Harun, tut mit wirklich leid, das ist ja blöd gelaufen. Hoffentlich ziehst du jetzt keine falschen Schlüsse aus meinen Managerqualitäten“, hatte Frank ihm später am Telefon gesagt. „Und du, Elaine war richtig traurig, als sie erfahren hat, was ihr entgangen ist.“

Sie hatte also wirklich nichts gewusst! Wirklich nicht die geringste Ahnung gehabt, dass Harun auf sie gewartet hatte. Und traurig wäre sie darüber gewesen, „richtig traurig“, wie Frank gesagt hatte. Vielleicht sogar wie erschlagen, überwältigt von der entgangenen Möglichkeit. Und ob es ihr dann, als sie es erfahren hatte, insgeheim vielleicht so gegangen war wie ihm, Harun, an dem Tag am Flughafen? Frank hatte ihn nicht gefragt, warum er Elaine nicht einfach auf ihrem Handy angerufen hatte, als sie nicht gekommen war, die Nummer hatte er Harun ja gegeben.

Aber was hätte Harun darauf antworten sollen? – Nicht erreicht, die Nummer nicht greifbar gehabt, keine Verbindung …?

In Wirklichkeit war er nicht einmal in die Nähe des Gedankens gekommen, Elaine anzurufen. Ihre Nummer stand immer noch auf dem Zettel, den er in seiner Brieftasche aufbewahrte. Es wäre ihm völlig unmöglich gewesen, mit ihr zu sprechen. Schon die Vorstellung, ihre leicht heisere, immer ein wenig schleppend klingende Stimme zu hören, löste gleichermaßen Erregung wie Furcht in ihm aus. Und so hatte er irgendwann sogar Erleichterung darüber empfunden, dass die Begegnung mit ihr nicht zustande gekommen war.

Damit konnte alles bleiben wie zuvor. Die lustvolle Qual des ungewiss Offenen, weil nicht Entschiedenen, und also nur der eigenen Fantasie Überlassenen. Wenn auch mit allen Schwankungen und Stürzen. Vielleicht war die Zeit noch nicht gekommen, sich wieder zu begegnen. Vielleicht war er noch nicht soweit. Und sie. Und vielleicht war es ganz im Gegenteil sogar eine Gunst des Schicksals gewesen, ihnen eine zu frühe Wiederbegegnung zu ersparen, die nur zerstört hätte, was noch reifen musste. Unabhängig voneinander. In ihm und in ihr … Darin lag der Sinn, dass sie sich an jenem Tag verpasst hatten. Die Sprache des Schicksals, wenn man sie nur richtig verstand. Die Bilder verflüchtigten sich, die Gedanken …

Der Besuch in Barcelona war nun über ein halbes Jahr her. Die Beinahe-Begegnung mit Elaine in Deutschland lag mehr als zwei Monate zurück. Seit über einem halben Jahr hatte Harun sie also weder gesehen noch gesprochen und mit Frank nur ein paar Mal telefoniert. Ein unsinniger Zustand. Nicht bloß, was das anbetraf.

Seit jenem Besuch war kein einziger Tag vergangen, ohne dass Harun an Elaine gedacht hatte. Auf die eine oder andere Weise. In verschiedenen Stadien. Am Anfang waren seine Gedanken noch vergleichsweise harmlos gewesen. Er hatte sie einfach wiedersehen, mit ihr sprechen, mehr von ihr wissen, mehr von sich erzählen, dieses überwältigende Gefühl von Übereinstimmung und Nähe noch einmal erleben wollen. Aber diese Harmlosigkeit trog. Denn es war ihm unmöglich geblieben, etwa Elaine anzurufen, um sich noch einmal selbst für das Wochenende zu bedanken. Und nachdem eine vertretbare Frist für einen solchen Anruf ohnehin verstrichen war, hätte er es erst recht nicht fertiggebracht, sie ohne bestimmten Grund anzurufen, einfach um an ihre unbestreitbar wechselweise Sympathie anzuknüpfen, ihre Gespräche und getauschten Gedanken. Und selbst, als Frank ihrer beider Begegnung in Deutschland als kleine und so ahnungslose Überraschung für Elaine zu organisieren versuchte, diese Begegnung dann aber durch einen jener banalen Zufälle nicht zustande gekommen war, selbst da war Harun unfähig geblieben, Elaine anzurufen. Obwohl er sich nach nichts mehr sehnte als ihre Stimme zu hören, ihre Augen zu sehen, ihre Gegenwart zu spüren.

Elaine war ein Teil seines Lebens geworden. Ohne dass sie davon wusste. In seiner Fantasie verbrachte er Stunden mit ihr, und sie herrschte über seine Nächte. Mehr als nur in der Fantasie. Längst hatte Harun die Kontrolle darüber verloren. Dabei war diese sexuelle Obsession, der er sich wie ein Süchtiger hingab, ohne die er keine Nacht durchstehen konnte, weder das Entscheidende noch das Wichtigste. Sie war vor allem der Schrei nach ihr, der in Wirklichkeit Abwesenden. Und gerade in den Nächten wurde sich Harun ihrer Abwesenheit am Schmerzlichsten bewusst.

Nicht, weil er vor allem darunter litt, in Wirklichkeit nicht mit ihr schlafen zu können, sondern weil ihm in den Nächten jede Ablenkung fehlte, sich über seine Einsamkeit und ihre Abwesenheit hinwegzutäuschen. Und weil seine Sehnsucht nun ein Gesicht hatte, eine Gestalt, eine Stimme, verdichtete sich dieses Bild in der Stille seiner Nächte. Ihr Bild. Solange das Bild gegenwärtig war, wurde Elaine das Zuhause, das er nicht hatte. Mit ihr teilte er seine Gedanken, seine Stimmungen, seine Erlebnisse, seine Hoffnungen. Und ihr Bild erfüllte all seine Wünsche, verstand all seine Worte, die gesagten und ungesagten, schwieg mit ihm, lachte mit ihm, war mit ihm nachdenklich, traurig. War ihm nah, wie sie ihm an jenem Nachmittag im Garten nah gewesen war, aber jetzt in beiderseitigem Wissen nah. Von niemandem gestört. Vereint.

An einem nasskalten Abend mitten im Winter, erzählte Harun seinem Freund Wolfgang dann endlich von Elaine. Von der Frau, die neben der Arbeit mittlerweile sein Leben beherrschte. Ohne dass sie anwesend war. Ohne dass sie überhaupt davon wusste. Harun erzählte von seiner zufälligen Teilnahme an jener Managertagung in London vor einem halben Jahr, wie er seinen alten Schulkameraden Frank dort getroffen und dieser ihn spontan nach Barcelona eingeladen hatte.

„Und so hat sich dann der Weg zu Elaine aufgetan“, sagte er mit einem fast resignierten Seufzen, „noch ohne dass ich etwas davon ahnen konnte. Und wenn ich etwas geahnt hätte … Ich weiß nicht, vielleicht wäre ich dann Franks Einladung gar nicht gefolgt.“ Wolfgang schüttelte den Kopf.

„Das Schicksal ist einfallsreich und immer gut für Winkelzüge in ungeahnte Richtungen. Aber stell dir bloß mal vor, wir wüssten tatsächlich immer alles und müssten für jeden kleinsten Schritt eine bewusste Entscheidung treffen, im Angesicht aller Folgen und Folgefolgen.“ Er bestellte nach kurz fragendem Blick noch eine Flasche Wein und Nachschub an spanischem Schinken, Käse und Oliven. Sie saßen in einem avantgardistisch eingerichteten Lokal mit großen Panoramascheiben, die den Blick auf den nächtlichen Fluss, dahinter die Hafenanlagen freigaben. Unzählige Lichtpunkte im unwirtlichen Dunkel draußen. „Und jede Entscheidung, egal wofür oder wogegen, hätte immer Folgen und Folgefolgen usw. … Es ist irrig, anzunehmen, dass es eine Alternative gäbe, wo alle Folgen durchweg angenehmer und positiver Natur wären.“

Harun zündete sich eine neue Zigarette an. „Wahrscheinlich hast du Recht …“

„Wie war das eigentlich, als du Elaine das erste Mal gesehen hast?“, fragte Wolfgang. „War’s wirklich der berühmte Blitz, die magische Sekunde …?“

Harun zog an seiner Zigarette, ließ sich mit der Antwort Zeit.

„Ein Blitz war es nicht … ‚magische Sekunde‘, hm, vielleicht schon eher … Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, ich habe es vorher so noch nie erlebt. Es war … wie war es eigentlich?“ Harun atmete ein paar Mal tief.

„Ich habe sie ja nur ein Wochenende lang erlebt. Aber was heißt schon ‚nur‘? Um sich zu verlieben. Immer dieses Wort: verliebt … Es erscheint mir so unzureichend, so beliebig, weil … Es war mehr, viel mehr … Ich war mir …, nein, in mir war etwas sich sicher, dass ich den Menschen gefunden hatte, der …“ Er sah Wolfgang an. „Du hast mir doch mal von diesem Gleichnis erzählt, von Platon …“

„Die andere Hälfte …“, sagte Wolfgang und zog leise lächelnd an seiner Zigarre. „Ich verstehe schon, du willst sagen, etwas in dir hatte die andere Hälfte erkannt, und dieses Erkennen war dir gleichermaßen gewiss wie unfassbar.“

„Ja … es hatte mich erschlagen. Auch weil es das erste Mal war, dass ich so etwas empfand.“ Harun schwieg einen Moment, sein Blick verlor sich in den dunkel spiegelnden Scheiben. Fast irreal wirkte es, wenn eines der großen Fracht- oder Containerschiffe in machtvoller Lautlosigkeit draußen vorüberglitt. Ein leichter Schneeregen hatte eingesetzt, die Tropfen und Flocken schimmerten flüchtig, wenn sie vor einer Lichtquelle niedergingen. Wie fern jener Sommernachmittag in Barcelona zu liegen schien. Und wie nah zugleich. Er hielt sein Weinglas gegen das Licht, betrachtete gedankenversunken die blutrote Flüssigkeit darin.

„Heute bin ich mir sicher, es hätte schon genügt, wenn ich sie nur einmal gesehen hätte, ihr Gesicht, ihre Augen, wie sie sich bewegt. Und wahrscheinlich liegt das alles gar nicht nur an ihr, sondern daran, dass sie, warum und wodurch auch immer, irgendetwas in mir anspricht, sich mit irgendetwas in mir verbindet, das … das den Kern meines eigenen Wesens berührt. Und wenn das so passiert, dann ist alles … alles Erotische eigentlich bloß so etwas wie die Außenseite davon. Das heißt, es wäre nicht erotisch, nicht so, nicht auf diese intensive, wie rauschhafte, besinnungslose Art, wenn die erotische Anziehung nicht ihren Grund in dieser unheimlichen Tiefe hätte, der man sich vielleicht zuerst gar nicht richtig bewusst wird. Eben weil es einen so überwältigt. Und dann … dann ist es zu spät.“

„Ja“, sagte Wolfgang und lehnte sich zurück, „Die Liebe, die eigentliche, unbedingte, wie ein Vulkan ausbrechende und eben alles überflutende Liebe ist wirklich wie eine Krankheit. Sie bricht aus, man wird wie von einem Virus befallen und ist machtlos, etwas dagegen zu tun. Und wahrscheinlich hast du Recht: Dieser Virus kommt nicht oder wenigstens nicht nur von außen, sondern man trägt ihn schon in sich, und plötzlich, wenn dann der passende Impuls von außen kommt, wird er in einem aktiviert.“ Wolfgang zog an seiner Zigarre.

„Bei den Griechen war’s dann Amors Pfeil, der den Glücklichen oder Unglücklichen nach der Götter Laune traf. Nicht umsonst stellen ja in ihrer Mythologie auch Eros und Thanatos das mächtigste Flügelpaar unseres Daseins dar. Und daran, dass ausgerechnet Thanatos, der Todesgott, dem Eros gegenübersteht und umgekehrt, dem Eros, der die Liebe und das Leben symbolisiert, daran schon lassen sich die unbedingten Kräfte ahnen, die hier im Spiel sind. Die mit uns spielen, ganz nach der Götter manchmal grausamer Eingebung.“ Wolfgangs Blick hatte plötzlich einen melancholischen Ausdruck. „Und wir sind bei allem doch nicht aus unserer Verantwortung entlassen, jedenfalls die nicht, die ein Gewissen haben. Was wir tun, fällt auf uns zurück. Manchmal kommt es mir vor, als wären wir niemals einsamer als im Angesicht des Absoluten, und zwar ganz gleich, ob es der Tod oder die Liebe ist.“ Wolfgang trank einen Schluck Wein. „Und im äußersten Fall bedeutet der Tod dann eine dünne Schicht Erleichterung über dem Abgrund von Verzweiflung.“

„Schöner Satz …“, bemerkte Harun.

„Traurige Sätze sind meistens schön …“

Sie schwiegen eine Weile.

„Es ist doch eine vollkommen absurde Situation.“ Harun dämpfte seine unwillkürlich lauter gewordene Stimme, neigte sich näher zu Wolfgang.

„Da komme ich auf Einladung meines alten Schulfreundes nach Barcelona, sehe seine Frau … also, im Grunde ist Elaine ja seine Frau … Ich sehe also seine Frau, und vom ersten Moment an passiert da etwas, gegen das ich nichts machen kann. Und die beiden nehmen mich so … so herzlich auf, und ich fühle mich auch sofort wohl bei ihnen, aber … aber mit jeder Minute merke ich, wie es mich mehr zu ihr hinzieht und habe sogar noch das Gefühl, dass auch sie irgendetwas spürt. Es war … es war doch auch wie … wie ein Verrat an Frank.“

„Ja“, sagte Wolfgang leise, „Liebe und Verrat gehen oft eine grausame Allianz ein. Grausam für den Verratenen, aber nicht weniger, wenn auch anders, grausam für den oder die Verräter. Vorausgesetzt, sie sind mit Gewissen geschlagen. Und du hast ihr nie irgendein Zeichen gegeben. Bis heute nicht“, stellte Wolfgang ohne besondere Betonung fest.

„Nein … Nein, das habe ich nicht. Das ist es ja auch. Die ganze Zeit seither, ich habe überhaupt kein … kein reales Zeitgefühl dafür … Es kommt mir nicht vor wie ein halbes Jahr, es kommt mir vor wie eine Ewigkeit und so, als gäbe es nichts davor. Am Anfang war ich selbst viel zu überwältigt, bis mir richtig klar wurde, was diese Begegnung damals für mich bedeutete. Dann erschien es mir völlig absurd. Und schließlich war … ist sie die Lebenspartnerin eines Freundes. Irgendwann hat sich mein Gefühl dann, hat sich Elaines Bild in mir verselbstständigt. Auch das ist verrückt, es ist fast so, als könnte die wirkliche Elaine wie eine Gefahr für das Gefühl und für das Bild werden, das ich von ihr habe. Vielleicht ist ja alles nur ein Irrtum, also alles, was ich mit Elaine verbinde, von ihr erwarte. Obwohl …“

„Obwohl …?“, hakte Wolfgang nach.

„Bisher hat keine Frau eine solche Wirkung auf mich gehabt, irgendetwas muss da also sein, sonst könnte Elaine diese Wirkung auf mich ja gar nicht haben …“

Wolfgang hatte Harun ruhig, mit einem kaum merklichen Lächeln zugehört.

„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Letztlich geht es dabei um den Unterschied zwischen dem bloß erregenden Attrakt des Augenblicks, mag er kürzer oder länger dauern, also dem Attrakt, dem wir Männer uns qua Natur kaum entziehen können, zumindest wenn wir ehrlich sind, und eben jener Anziehung, die dann nicht nur die Frau, sondern den ganzen Menschen meint. Und dann, mein lieber Harun“, er legte kurz seine Hand auf die des Freundes, „dann hat es uns wirklich erwischt.“

Harun nickte: „Erwischt, ja … Ich habe es mit jedem Moment mehr gespürt, am Anfang gar nicht ausdrücklich, aber da war etwas, das mich immer mehr anzog, und auch wenn es jetzt reichlich pathetisch oder verklärend klingt, diese … diese sexuelle Obsession, die kam erst später, da war es aber schon passiert.“ Er zündete sich eine neue Zigarette an, nahm einen tiefen Zug.

„Vielleicht bin ich wirklich krank … Krank vor Liebe oder dem, das ich dafür halte. Kannst du dir vorstellen, Wolfgang, dass ich jede Nacht mit ihr schlafe, in der Vorstellung von ihr mir einen runterhole, und es ist dann wirklich so, als säße sie dabei auf mir, als spürte ich mich in ihr und könnte sie sehen, sie fühlen, sie riechen, ihren besonderen Duft, während sie mich reitet, mich ansieht, und ich sie berühre und fast wahnsinnig dabei werde. Und dann, wenn … wenn es vorbei ist, liege ich da in meinem eigenen Saft und rieche nur den Geruch meines Samens und da ist dann diese … diese alles lähmende Leere, die mich in sich zieht und der ich zu entkommen versuche, indem ich noch mal anfange, wenn ich denn kann. Alles in mir schreit nach ihr, nach ihrer Nähe und am lautesten schreit es danach, nach dem Höhepunkt, wenn die ganze Fantasie kollabiert, der Rausch sich verzieht und nur ich übrig bleibe, allein da in meinem Bett … Das ist doch krank, oder?“ Wolfgang schüttelte bedächtig den Kopf.

„Was heiß ‚krank‘ … Klar, es ist eine Art Krankheit, Liebe, leidenschaftliche Liebe, Sehnsucht, Begehren. Und es ist Glück, wenn zwei diese Krankheit dann miteinander teilen können. Aber wenn alles unerfüllt bleibt, ist derjenige, den das betrifft, auch nicht kränker als der Glückliche. Er spürt seine Krankheit nur anders. Und in deinem Fall, immerhin ist Elaine die Partnerin deines alten Schulfreundes und bist du ein … ein besonderer Charakter …“

„Besonderer Charakter, ja“, Harun lachte gequält auf, „durch die ganze Sache mit Elaine merke ich, wie … wie desolat in Wahrheit alles in mir ist, hinter der Fassade. Jede Nacht erlebe ich durch sie, durch diese Fantasien solche intensiven Gefühle, berauschende und schmerzvolle, die mir sogar fehlen würden in meinem Leben. Manchmal frage ich mich auch, ob ich dieses … dieses eingebildete Glück vielleicht nur so ertragen kann, also in der Fantasie. Vielleicht bin ich gar nicht wirklich fähig, einer Frau nah zu sein, wirklich nah, ihre Nähe jeden Tag wirklich zu ertragen. Ich weiß es nicht, weil ich keine Erfahrung damit habe. Und vielleicht würde von all dem, was in meiner Fantasie lebt, in der Wirklichkeit nichts übrig bleiben. Vielleicht würde ich Elaine verlieren, mein Bild von ihr, von uns, wenn ich ihr räumlich nah wäre, ganz unabhängig davon, dass sie mit Frank lebt … zu Frank gehört.“

Wieder ein gewaltiges Containerschiff, das hinter den Fenstern vorbeizuschweben schien. Kleine Lichtpunkte in der dunkelmassigen Stahlfassade. Bald würde der Riese die offene See erreichen, Kurs nehmen in irgendeine Ferne … Harun versank für ein paar Augenblicke in seinen Gedanken.

Eine Zeit lang hatte er Elaine sogar gehasst. Dafür, dass sie ihm so nahe gekommen war. Unerreichbar nah. Dafür, dass sie all das in ihm ausgelöst und, ja, jenen „Virus“ zum Ausbruch gebracht, aber ihm doch nie irgendein Zeichen gegeben hatte, ein eindeutiges, unmissverständliches Zeichen. Ein „Ja“ oder auch ein „Nein“. Harun hatte sie dafür gehasst, dass sie von alldem, das in ihm, mit ihm vorging, nichts wusste, ihr Leben einfach weiterlebte. Mit Frank … Es war alles so … so unsinnig.

Die beiden beschlossen, aufzubrechen und trotz der ungemütlichen Witterung noch ein paar Schritte zu gehen.

„Nach solchen Gesprächen muss man sich erleichtern“, lächelte Wolfgang. „Das ist wie mit der Verdauung. Wenn man schwer gegessen hat, tun ein paar Schritte gut.“

„Weißt du, was das Verrückteste an allem ist?“, sagte Harun, während er mit dem Freund an der jetzt fast verlassen liegenden Hafenpromenade entlang durch die kalte Winternacht ging.

„Das Verrückteste an allem ist, dass es mir vorkommt, als könnte es gar nicht anders sein. Ich … ich empfinde es als … ja, als normal, als mir genau entsprechend … So wie es ist, verstehst du?“ Er blieb kurz stehen, entzündete sich eine neue Zigarette. Der Schneeregen hatte aufgehört, eine zerrissene Wolkendecke ließ ferne Sterne blinken.

„Nicht, dass mir nicht klar wäre, wie verrückt es natürlich doch ist. Aber dieses Verrückte kommt mir so vertraut vor, und … ich wüsste nicht mehr, wie ich ohne das alles … ja, leben sollte …“

„Liebe“, sagte Wolfgang leise, „Liebe ist verrückt, ist gefährlich, vor allem dann, wenn ihr die Leitplanken der, sagen wir mal, der halbwegs geordneten Erfüllung, der lebendigen Wirklichkeit oder eben der kleinen und größeren Kompromisse fehlen. Dann bleibt nur das radikale, auf sich selbst zurückgeworfene Gefühl.“ Er sah Harun an. „Natürlich verrät ein solches Gefühl mehr über den Liebenden als die Geliebte. Wie auch in deinem Fall. Es ist das Virus, das du in dir trägst, dein ganz eigenes Virus.“

„Ich weiß …“, Harun schwieg eine Weile. Ihrer beider Atem bildete vergängliche Nebelwölkchen im kalten Dunkel.

„Alles, was ich erreicht habe, und ich habe viel erreicht, ich weiß, mehr als viele andere, alles was ich mir aus eigener Kraft erkämpft habe, was im Grunde mein ganzes Leben ausmacht, und was es bestimmt hat seit … seit so vielen Jahren … Das alles wäre ohne diese Begegnung, ohne sie bloß ein Irrtum, verstehst du?“

„Ich verstehe dich gut, mein Freund. Das ist ja das Unheimliche, das Wahnsinnige an der Liebe, dass sie alle Maßstäbe, Ordnungen, alle Werte, Verankerungen, Sicherheiten mit einem Mal null und nichtig werden lässt, nur um ihrer selbst oder um des Menschen willen, den man liebt. Wobei diese Art von Liebe eben auch viel, wenn nicht entscheidend und ursächlich mit dem zu tun hat, was in dem Liebenden selbst geschlummert hat bis zum Augenblick.“

„Das Virus …“, warf Harun ein.

„Genau, das Virus. Dein Virus, Harun …“ Wolfgangs Gesicht verschwand kurz hinter einer dichten Wolke Rauchs aus seiner Zigarre.

Harun wusste, dass Wolfgang damit Recht hatte. Es ging bei allem nicht nur um Elaine. Eigentlich ging es um ihn selbst. Elaine war so etwas wie die Verkörperung, im wahrsten Sinne des Wortes die Verkörperung des fehlenden Stücks in seinem Leben. Wobei das „fehlende Stück“ nicht so etwas war wie das letzte Detail in einem ansonsten bereits gelungenen Dasein, sondern ganz im Gegenteil schien es erst die Voraussetzung, damit sein Dasein überhaupt gelingen konnte, damit er zu sich selbst kam, bei sich ankam, sich mit sich und der Welt versöhnt fühlte.

Denn das war er nicht und war es nie gewesen. All die Jahre, obwohl ausgefüllt mit Tun, mit Zielen und Wollen, mit Geschehen, mit Erfolg auf seinem Weg, mit Bestätigung, Gelingen, ja, und trotzdem … All die Jahre war er in einem Zustand geblieben, als würde er neben und hinter allem auf etwas, auf das Eigentliche, warten, als hätte er sich mit allem anderen nur abgelenkt, um dieses eigentliche Warten auszuhalten. Bis er Elaine begegnet war. So viele, ungezählte Tage hatte es gegeben, an denen er abends, auf Geschäftsreise in irgendeiner Stadt von seinem Hotelzimmer oder sonst von seiner immer seltsam unbehaust bleibenden Wohnung aus, noch einmal hinausgegangen war, eigentlich zu müde, aber zugleich unruhig und voll plötzlich unbestimmt aufgärender Erwartung von irgendetwas. So als hätte dieses Etwas genau an dem Abend da draußen auf ihn warten können.

Und so war er dann durch fremde, nicht ganz fremde oder vertraute Straßen gestreift, rauchend, in Gedanken und solange, bis seine Müdigkeit jene merkwürdige Aufregung in ihm doch besiegt hatte. Für dieses Mal. Ja, er hatte immer gewartet, all die Jahre, nicht wissend auf was. Hatte er also auf Elaine gewartet oder auf das, was Elaine für ihn verkörperte, bedeutete? Ihr konnte er sagen, der seither in seiner Fantasie Anwesenden – ihr könnte er sagen, der unerreicht wirklich fern von ihm Lebenden, was das für ein Gefühl war, das er manchmal, für Sekunden, irgendwann zwischendurch eingefangen hat. Nein, nicht eingefangen, nur berührt, gestreift, bevor es wieder verging.

In einer von irgendwoher herangewehten Melodie etwa, die in ihm widerhallte, einer plötzlich intensiven Lichtstimmung und ihrem Widerschein, die ihn ergriff, beim Anblick von Kindern, die er bei ihrem alles um sie herum vergessenden Spiel beobachtete oder einer Gruppe Menschen, die an einem Tisch zusammensaßen, aßen, redeten, lachten, unter denen er sich dann für einen Moment selbst fand, so, als gehörte er ganz selbstverständlich und wirklich dazu, nicht bloß für den Augenblick, sondern immer schon und für alle Zukunft.

„Ich habe keine Erklärung dafür“, sagte Harun, „aber in ihr, in Elaine ist das, was ich gesucht habe. Sie ist der Mensch, der … der mir … ein Anker sein kann. Es ist, als ob ich zu etwas zurückkehre … oder nicht zurückkehre … als ob ich etwas wiedergefunden habe, das vor sehr, sehr langer Zeit …“ Er verstummte. Wolfgang sah ihn unverwandt an.

„Ich habe mich ihr vom ersten Augenblick an nah und verbunden gefühlt, noch bevor es mir richtig bewusst wurde, geschweige denn, dass ich eine verständliche Erklärung dafür geben könnte … Ich kann sie ja noch nicht einmal jetzt geben, weil ich nicht weiß, was es ist, was uns verbindet. Oder besser, was mich ihr so verbunden fühlen lässt. Obwohl ich mir manchmal ganz sicher bin, dass auch sie irgendetwas Besonderes empfunden haben muss, wenigstens in ein paar der Momente, die wir in Barcelona zusammen waren.“

„Auf was wartest du noch, Harun?“, fragte Wolfgang. „Meinst du nicht, es ist nun Zeit, den Schritt zu tun und Elaine, die wirkliche Elaine zu fragen, ob auch sie etwas und was sie empfunden hat?“

Harun überlegte eine Weile. „Ja, vielleicht hast du Recht … Oder bestimmt hast du Recht!“

„Aber?!“

Wieder verging einige Zeit, bevor Harun antwortete.

„Es ist nicht wegen Frank. Obwohl mich das natürlich sehr belastet und ich eigentlich nicht weiß, wie …“

„Sondern?“ Wolfgang blieb hartnäckig.

„Ich … Es klingt sicher blöd oder nach einer Ausrede. Aber ich habe das Gefühl, dass es jetzt noch nicht an der Zeit ist …“

Wintermädchen. Der Fremde zwischen zwei Welten

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