Читать книгу Familie und andere Katastrophen - Irene Dorfner - Страница 3
Ich bin stinksauer
ОглавлениеIch liege die ganze Nacht wach, weil ich mich so sehr über meine bescheuerte Familie ärgere. Die vielen guten Ratschläge, Vorwürfe und Sticheleien muss ich gedanklich stundenlang sortieren und komme einfach nicht zur Ruhe. Warum habe ich mir das nur wieder angetan? Wegen Opas 90. Geburtstag, das war ein sehr triftiger Grund. Trotzdem war diese Familienfeier wieder der absolute Horror, bei dem ich mich auch noch bis auf die Knochen blamiert habe.
Seit Stunden drehe ich mich von eine auf die andere Seite und mein Freund Roland schnarcht gleichmäßig vor sich hin. Der hat die Ruhe weg! Klar, denn er wurde von Attacken verschont, ihn behandelt man wie ein rohes Ei. Warum sind mir entsprechende Antworten oder freche Kommentare nicht sofort eingefallen? Jetzt, Stunden später, bringt das nichts mehr. Wie die Aasgeier sind sie auf mich eingefallen und haben auf mir herumgehackt.
Kann es sein, dass ich die chaotischste und peinlichste Familie auf der ganzen Welt habe? Warum musste gerade ich die abbekommen? Hätte ich nicht eine der normalen, harmonischen Familien verdient, wie es sie anscheinend überall gibt?
So oft ich Familienfeste vermeiden kann, halte ich mich davon fern. Ich habe sogar schon eine Ausredenliste erstellt, damit ich mich darin nicht wiederhole. Mein Freund Roland hält mich für hysterisch. Ich bin schon seit Jahren mit ihm zusammen und er hat in der Zeit meine ganze Familie kennenlernen dürfen. Er findet, dass ich maßlos übertreibe. Er sagte sogar, dass er einige ganz nett findet und dass der Tag alles in allem doch ganz spaßig war. Spinnt der? Manchmal zweifle ich echt an seinem gesunden Menschenverstand! Mein Fauxpas mit meinem blanken Hintern fand er so richtig lustig. Seit wir das Haus meiner Tante Heidi verlassen haben, macht er ständig seine Späße darüber und kann sich kaum beruhigen. Als wir ins Bett gingen, kam ein letzter Kommentar darüber, den ich hier nicht wiederholen möchte. Ich bin beleidigt und jetzt, wo er schläft, ist endlich Ruhe. Mir ist absolut bewusst, dass ich mir das jetzt immer wieder anhören darf.
Der ganze Tag war für mich ein Desaster. Roland kann meine Ausführungen nicht mal ansatzweise nachvollziehen. Er sagte sogar, dass ich das alles viel zu ernst nehme. Typisch! Muss er als mein Freund nicht hinter mir stehen? Oder hat ihn meine Familie gekauft und umgedreht? Ja, das musste es sein. Sie haben ihn so lange bearbeitet, dass er in ihrer Anwesenheit nicht mehr klar denken kann. Verräter!
Ich kenne meine Familie seit 42 Jahren, denn damals wurde ich in mitten hineingeboren. Ich bin heute noch davon überzeugt, dass ich im Krankenhaus vertauscht wurde, denn ich passe doch überhaupt nicht dazu. Meine Familie ist anderer Meinung. Sie vergleichen mich ständig mit längst verstorbenen Mitgliedern und legen Fotobeweise vor. Gut, eine gewisse Ähnlichkeit kann ich nicht abstreiten, aber optische Überschneidungen gibt es ja fast bei jedem. Nur mit lebenden Objekten konnten sie mich bisher nicht überzeugen. Sobald sie einen Verglich zwischen mir, meiner Schwester Dagmar, Tante Barbara, Onkel Ernst oder gar meiner Mutter anstreben, wehre ich mich vehement. Opa Bruno halte ich raus, der ist nett und kann keiner Fliege was zuleide tun. Und meine Tante Heidi ist nur angeheiratet, die gehört nicht richtig dazu (wie Tante Elsbeth, die Frau von Onkel Ernst, die kommt zum Glück nur selten zu Familienfesten. Und wenn, dann sitzt sie still auf ihrem Platz, bewegt sich nicht und sagt nur etwas, wenn es sich nicht vermeiden lässt). Mit keinem der Genannten möchte ich auch nur im Entferntesten verglichen werden, das setze ich einer persönlichen Beleidigung gleich.
Über meinen Vater und seine Familie wird nur wenig gesprochen. Seit mein Vater uns verlassen hat, ist er ein Geächteter. Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist und was er heute macht. Immer wieder nehme ich mir vor, ihn zu suchen und stelle mir die Begegnung mit ihm traumhaft schön vor. Ein strahlend schöner Mann kommt auf einem weißen Schimmel auf mich zu. Ich setze mich hinter ihn, halte mich ganz fest und wir reiten davon. Wie oft ich den Schmarrn schon geträumt habe, kann ich nicht mehr zählen. Einmal habe ich von einer goldenen Kutsche geträumt, aber das war kurz nach der Hochzeit des englischen Königssprosses mit seiner bürgerlichen Frau, das klammere ich wegen Sentimentalität einfach aus. Sonst sind es immer die weißen Pferde. Einmal war es sogar ein Einhorn, aber das war nach einem Animationsfilm, der mir nicht gefallen hat.
Als mein Vater ging war ich dreizehn Jahre alt, mir wurde jeder Kontakt von meiner Mutter zu ihm verboten. Über die Trennungsgründe gibt es die wildesten Geschichten, die sich immer sehr variabel anhören. Nur eines ist immer gleich: Meine Mutter ist die arme, verlassene Frau, die alle bedauern müssen. Warum hat mich mein Vater nie gesucht? Das werfe ich ihm gedanklich immer wieder vor und wünsche ihm dabei die Pest an den Hals (wie dem Rest meiner Familie übrigens auch, trotzdem ist noch nie einer daran erkrankt. Warum eigentlich?). Wahrscheinlich bin ich meinem Vater völlig egal. Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst!
Jetzt bin ich wütend auf meinen Vater. Ein Blick auf die Uhr macht mich noch wütender. Kurz vor halb drei! Warum kann ich nicht endlich einschlafen? War der Kaffee doch nicht koffeinfrei? Ganz sicher wurde mir wieder ein Billigkaffee untergejubelt. Wer hat den mitgebracht? Bestimmt Onkel Ernst, der alte Geizkragen. An ihm ist ein Schotte verloren gegangen. Bestimmt gab es wieder irgendwo ein Sonderangebot, das er jetzt als hochwertiges Produkt überall anpreist und unter die Leute bringt. Anständige Leute bringen zu einem Familienfest Blumen oder ein Geschenk mit, aber nicht Onkel Ernst. Er denkt immer praktisch und ist mit seinen blöden Mitbringseln stets der Mittelpunkt. Außerdem spricht er jedes Mal ausführlich von seinen Autoverkäufen. Er ist natürlich der beste Autoverkäufer auf Gottes Erdboden und keiner kann es mit ihm aufnehmen. Ich habe meinen Wagen nicht bei ihm gekauft, aus Protest. Das nimmt er mir immer noch übel und schmiert mir das auch regelmäßig aufs Butterbrot. Ich kann Onkel Ernst nicht leiden. Ich bin mir sicher, dass er an meinen Schlafproblemen die Hauptschuld trägt und ich hasse ihn dafür. Diese Kaffeeplörre treibt wie verrückt, ich muss schon wieder pinkeln gehen. Das wievielte Mal ist das heute Nacht? Ich habe längst aufgehört zu zählen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muss zur Toilette gehen. Dabei schlage ich mir den Zeh am Türrahmen an. Verdammt! Ich schreie vor Schmerzen auf, mein Roland reagiert nicht. Er schläft tief und fest, während ich Höllenschmerzen habe. Der Zeh ist gebrochen, ganz sicher. Humpelnd gehe ich auf die Toilette und fliege dabei über den Teppich. Ich kann mich gerade noch am Waschbecken festhalten. Mir ist schlecht. Es hätte nicht viel gefehlt und Onkel Ernst wäre für meinen Tod verantwortlich gewesen. Ob das je irgendjemand herausgefunden hätte?
Ich lege mich ins Bett und die Schmerzen im Zeh werden langsam erträglicher. Vielleicht ist er doch nicht gebrochen, Onkel Ernst hat echt Glück gehabt! Die Bilder meiner Familie sind in meinem Kopf wieder präsent. Jedes einzelne Gesicht grinst mich dämlich an, alle hacken auf mich ein. Dann landet ein Ufo und alle starren erschrocken auf die außerirdischen, hellgrünen Wesen, die aus dem Ufo aussteigen. Sie kommen auf uns zu und alle sind starr vor Schreck. Dann schreit Tante Barbara wie am Spieß. Meine Schwester Dagmar zieht sich die Lippen nach und kontrolliert ihr Aussehen im Spiegel, natürlich möchte sie auch für Außerirdische perfekt aussehen. Meine Mutter macht abfällige Bemerkungen über deren Klamotten, Tante Heidi bietet Kaffee und Kuchen an, Opa sagt wie immer nichts. Ich rufe laut, sie sollen den Billigkaffee nicht trinken, weil man sonst nicht schlafen kann! Onkel Ernst schimpft mit mir, dann möchte er den Außerirdischen ein Auto verkaufen. Seine Frau sitzt stumm neben ihm und sagt nichts. Alle anderen reden so laut und so viel, dass es die Außerirdischen mit der Angst zu tun kriegen und schnell wieder in ihr Raumschiff einsteigen und verschwinden.
„Tanja – Tanja – Aufstehen!“ Ganz langsam begreife ich, dass die Außerirdischen nur in meinem Traum waren. Schade. Vielleicht hätte ich die hellgrünen Wesen davon überzeugen können, meine Familie mitzunehmen.
Unter der Dusche werde ich langsam wach. Mein Zeh ist etwas angeschwollen. Sieht so ein gebrochener Zeh aus? Das muss ich nachher unbedingt im Internet überprüfen und mache mit meinem Handy ein Beweisfoto. Während dem Zähneputzen dringt der Duft von frischem Kaffee durchs Haus – herrlich! Seit Roland bei mir wohnt, hat sich viel verändert. Einiges geht mir auf die Nerven, aber die Vorteile überwiegen. Auch Roland hat sich an mich und meine kleinen Eigenheiten gewöhnt, von denen auch ich einige habe. Ich kann nicht kochen, das ist schon mal Punkt eins. Außerdem halte ich es für Zeitverschwendung, ständig aufzuräumen und zu putzen. Ich finde alles, was ich brauche, dafür muss nicht alles zwingend an seinem Platz sein. Meine Schwäche sind Sonderangebote, an denen ich nicht vorbeigehen kann. Das betrifft hauptsächlich Schuhe und Klamotten, bei denen ich schwach werde. Sobald ich anfange, den gesparten Preis zu errechnen, gehört das Teil mir. Manchmal muss ich zuhause feststellen, dass mir die Schuhe und Klamotten nicht wirklich gefallen, aber ich behalte sie trotzdem. Aber das kommt nicht all zu oft vor. Manchmal kaufe ich auch etwas für Roland, der meine Sonderangebote nicht wirklich zu schätzen weiß. Nach einer abfälligen Bemerkung vor einem Jahr bekommt er zur Strafe nur noch ab und zu ein Stück geschenkt, soll er sich doch seine Klamotten teuer kaufen. Wie gesagt, bezieht sich meine Schwäche nur auf Schuhe und Klamotten, bei allem anderen bin ich großzügig und kaufe das, was ich möchte und was mir gefällt. Allerdings leide ich auch unter dem Drogerie-Syndrom. Kennt ihr das? Ich gehe nur in die Drogerie, um ein Shampoo zu kaufen – und schwupps, ist der Einkaufswagen voll und ich bin ein Heidengeld los. Das geht nicht nur mir so, meiner besten Freundin Silke geht es ähnlich.
Beim Frühstück erzähle ich Roland von meinem Traum mit den Außerirdischen und er findet das nicht wirklich lustig. Morgens ist Roland nicht zu gebrauchen! Dann schildere ich ihm meinen Fauxpas von heute Nacht und zeige ihm meinen Zeh. Roland sagt, er sieht nichts und liest den Artikel in seiner Tageszeitung weiter, als wenn nichts wäre. Ich bin sauer, das Frühstück ist für mich vorbei. Wie kann man nur so unsensibel sein!
Roland ist gegangen, ich habe noch eine Stunde Zeit. Warum stehe ich so früh auf? Aus Liebe zu meinem Schatz, der das überhaupt nicht verdient hat. Ich bin völlig gerädert und überlege ernsthaft, ob ich nicht einfach wieder ins Bett gehen und mich krankmelden soll. Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich verurteile Krankmacher bei jeder Gelegenheit und möchte nicht dazugehören, obwohl ich mein Bett laut rufen höre. Nein, das kommt nicht in Frage. Ich trinke noch einen Kaffee und setze mich auf die Terrasse, frische Luft kann nicht schaden. Das Wochenende war echt beschissen. Heute Abend muss ich unbedingt meiner besten Freundin Silke ausführlich erzählen, was los war. Sie wird mich verstehen. Sie kennt alle und mag sie ebenso wenig wie ich.
Was ist eigentlich passiert? Wie konnte die Situation wieder einmal so eskalieren? Wenn ich schildere, was an dem Tag passiert ist, wird mich die ganze Welt verstehen. Der Tag hat schon sehr schräg angefangen: