Читать книгу Das Hortensien-Grab - Irene Dorfner - Страница 6

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Völlig aufgebracht beobachtete der vierund-siebzigjährige Josef Hiermaier den Einzug der Fremden ins Nachbarhaus, die dabei laut lachten und schwatzten. Also war das alte Gemäuer doch endlich verkauft worden! Wer von den vielen Menschen waren seine neuen Nachbarn? Er sah Kinder und ihm wurde schlecht. Zogen tatsächlich diese lästigen Bälger mit ein? Hiermaier hasste Kinder und wurde zum Glück davon verschont. Die waren laut, frech, machten alles dreckig und kaputt. Außerdem waren sie neugierig, und das konnte er nicht leiden. Darüber hinaus stellten sie Ansprüche, die er für unverschämt hielt. In seinen Augen waren Kinder die Pest, aber noch mehr verabscheute er deren unfähige Eltern, die mit der Erziehung heillos überfordert waren. Früher war alles anders, da herrschte noch Zucht und Ordnung! Hiermaier schnaubte. Noch stand nicht fest, wer ihm nebenan in Zukunft das Leben schwermachen würde. Erst im letzten Jahr zog im Thomas-Haus direkt gegenüber eine Frau mit einem Mädl ein. Auch damals hatte er sich große Sorgen gemacht, die nicht begründet waren. Beide Frauen waren ruhig und ordentlich, auch wenn sie ihm mit ihrer ständigen guten Laune und den Versuchen, mit ihm sprechen zu wollen, wahnsinnig auf die Nerven gingen. Trotzdem war das Zusammenleben angenehmer als gedacht.

Er beobachtete das Treiben nebenan jetzt auch mit dem Fernglas. Noch deutete bei dem, was lautstark ins Haus getragen wurde, nichts auf Kinder hin, aber das könnte sich jeden Moment ändern. Dann sah er einen bunten Stuhl, der nur einem Kind gehören konnte! Also doch! Warum blieb ihm das nicht erspart? Er sah sich die drei Kinder, die zwischen den Erwachsenen herumliefen, genauer an. Wie alt waren die Gören? Er hatte keine Ahnung.

Hiermaier war wütend und er konnte das Gelächter nicht mehr hören, deshalb verschloss er alle Fenster. Er liebte seine Ruhe, die er ab jetzt nicht mehr haben würde. Seit Jahren stand das Haus leer, warum konnte es nicht so bleiben? Als die damalige Besitzerin verstarb, war nicht klar, wer erben würde. Sicher fiel es in den Schoß des Staates, der das unerwartete Erbe nicht schnell genug in bare Münze verwandeln konnte. Raffgierig und korrupt waren sie alle - die Politiker und deren Handlanger. Der Teufel soll sie holen!

Hiermaier ging in die Küche und rührte in dem Eintopf, den er schon hunderte Male gekocht hatte. Dann nahm er zwei Teller und füllte sie. Einen stellte er auf ein Tablett, zusammen mit einem Becher Wasser und einem Plastiklöffel. Vorsichtig ging er damit in den Keller. Er schloss die Eisentür auf und stellte das Tablett auf den Tisch. Auf dem Stuhl daneben saß eine Frau, die vor sich hinstarrte. Sie war sicher nicht so alt, wie sie aussah, vielleicht fünfundsechzig. Sie sah den Mann nicht an, reagierte noch nicht einmal auf seine Berührung, als er ihren Arm streichelte.

„Eintopf. Er ist warm und macht satt. Wenn es nach mir ginge, würde ich dir gern ein Schnitzel oder einen Braten servieren, aber dir darf man kein Messer und auch keine Gabel geben. Erinnerst du dich, als du mich damit verletzt hast?“

Die Frau nickte leicht. Ja, sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern. Wie viele Jahre war das her? Sie hatte längst aufgehört, die Tage, Wochen, Monate und Jahre zu zählen. Warum sollte sie auch? Der Bastard würde sie niemals mehr aus diesem Loch rauslassen, das hatte sie verstanden. Ja, sie war damals damit einverstanden gewesen. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr so schwerfallen würde. Wie sollte sie? Vorher war sie noch nie eingesperrt gewesen. Das Kellerloch war jetzt ihr Schicksal. Sie musste ausharren und einfach nur darauf warten, bis sie starb – und deshalb hatte sie vor einer Woche einfach aufgehört zu essen. Sobald Josef weg war, goss sie das Essen in den Ausguss des kleinen Waschbeckens, das er ihr gnädiger Weise eingebaut hatte. Eine Toilette gab es nicht. Sie musste sich in einen Eimer erleichtern, den er täglich entsorgte.

„Iss, Liebes, du bist sehr dünn geworden“, sagte das Arschloch, als könnte er ihre Gedanken lesen. Wann ging er endlich? Anstatt zu verschwinden, blieb er einfach stehen. „Ich bleibe so lange, bis der Teller leer ist. Du bist sehr bockig, Hildchen. Trotz der vielen Jahre und vielen Gespräche bist du immer noch uneinsichtig. Das ist schade, denn damit verärgerst du mich. Willst du mich ärgern?“ Mit den Händen zog er eine imaginäre Spritze auf und sah seine Frau dabei an. Hilde Hiermaier schüttelte den Kopf. Josef hatte ihr das Medikament schon lange nicht mehr gespritzt und sie war nicht scharf darauf, denn dann verbrachte sie Tage im Delirium. Das allein wäre nicht schlimm, denn Zeit hatte sie genug. Aber sie vertrug das Medikament nicht und bekam davon rasende Kopfschmerzen, die ihr Angst machten. Auch wenn sie am liebsten sofort sterben würde, konnte sie auf diese Schmerzen gerne verzichten. Diesmal hatte der Drecksack gewonnen. Sie nahm den Plastiklöffel und aß den Eintopf, der wie immer nach nichts schmeckte.

„So ist es brav“, sagte Josef und trommelte mit den Fingern auf die verschränkten Arme.

Hilde wollte etwas übriglassen, aber ihr Mann, den sie 1986 geheiratet hatte, ließ das nicht zu. Sie würgte sich den letzten Löffel runter.

„Trink das Glas aus, los!“, drängelte Hiermaier und sah auf die Uhr. Gleich kam eine Dokumentation über Vögel, die er unbedingt sehen wollte. Vögel waren seine Leidenschaft.

Hilde trank - was blieb ihr anderes übrig?

„Warum sprichst du nicht mehr mit mir? Du weißt doch, dass ich dich hier zu deiner eigenen Sicherheit einsperren muss. Das macht mir keine Freude, das kannst du mir glauben. Ich würde auch sehr viel lieber ein normales Leben führen, aber das ist uns beiden leider nicht vergönnt.“ Er strich ihr übers weiße Haar und sie zuckte zusammen. Sie konnte seine Berührungen schon lange nicht mehr ertragen. Hiermaier spürte ihre Reaktion und ärgerte sich darüber. War es seine Schuld, dass er sie im Keller einsperren musste?

„Die ersten Knospen an der Hortensie sind sichtbar. Bald ist es so weit und wir können feiern.“

Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Seitdem sie hier eingesperrt war, gab es zwei Tage im Jahr, die gefeiert wurden und an denen sie nach oben gehen durfte. Dann gab es sogar Essen aus Porzellantellern und richtiges Besteck. Das war zum einen der Hochzeitstag, der ihr völlig gleichgültig war und auf den sie gerne verzichten konnte. Aber der andere Tag, der war ihr heilig. Das war im Juli, wenn die ersten Hortensienblüten im Garten erstrahlten. An diesem besonderen Tag durfte sie am Fenster stehen und den Hortensienstrauch bewundern, den Josef vor über dreißig Jahren gepflanzt hatte und der von Jahr zu Jahr größer wurde. Dann überkam sie die Sehnsucht nach Rosa, die sie nie mehr sehen würde.

Endlich war Josef weg. Sie steckte sich den Finger in den Hals und übergab sich im Waschbecken. Dann ließ sie Wasser nachlaufen, denn nichts durfte darauf hindeuten, dass sie sich ihm widersetzte. Erschöpft legte sie sich auf das Bett. Sie starrte zu dem kleinen Kellerfenster, das verschlossen war und nur morgens für die Zeit des Frühstücks geöffnet wurde, während Josef bei ihr blieb. Das Fenster war mit einem Schloss versehen, dessen Schlüssel ihr Mann ständig bei sich trug. Vor Jahren hatte sie versucht, die Scheibe mit dem Stuhl einzuschlagen. Das war ihr nicht gut bekommen, denn Josef war völlig ausgeflippt. Sie hatte eine ordentliche Dosis des Mittels gespritzt bekommen, die Kopfschmerzen waren kaum zu ertragen. Ihr Mann hatte nicht nur das Fenster repariert und dann auch noch vergittert, sondern den Holzstuhl durch einen billigen Plastikstuhl ausgetauscht. Das Bett befestigte er am Boden, der Lattenrost war fest verschraubt. Die wenigen Kleidungsstücke waren von Josef sorgfältig ausgewählt worden und lagen fein säuberlich zusammengelegt in zwei Plastikkörben, die keiner großen Belastung standhielten. Hilde hatte versucht, sich damit die Pulsadern aufzuschneiden, und war kläglich gescheitert. Die wenigen persönlichen Dinge wie Bürste, Shampoo und Seife waren Miniaturausgaben, die Josef regelmäßig ersetzte. Einen Fernseher gab es nicht, dafür brachte ihr Josef jeden Tag die Tageszeitung. Die war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt – und Josef, den sie inzwischen abgrundtief hasste. Warum hatte sie sich damals für ihn entschieden? Sie war hübsch und lebensfroh, sie hätte jeden Mann haben können. Josef hatte ihr den Himmel auf Erden versprochen und sie hatte ihm jedes einzelne Wort geglaubt. Über kleine Meckereien sah sie hinweg, aber die hätten ihr die Augen öffnen müssen. Als sie ihren Kinderwunsch äußerte, stieß sie auf Granit. Er machte ihr unmissverständlich klar, dass er keine Kinder haben wollte. Noch gab sie nicht auf und war sich sicher, dass sie ihn irgendwie umstimmen konnte. Wenn er erst einmal sein eigenes Kind in den Armen hielt, würde er seine Vorbehalte über Bord werfen. Sie wurde schwanger und verlor das Kind, noch bevor man ihr die Schwangerschaft ansehen konnte. Für sie war das eine Katastrophe, aber für Josef ein Segen. Sie gab ihm die Schuld. Es gab kaum einen Tag, an dem es keinen Streit gab. Dass es ihr gesundheitlich immer schlechter ging, hatte sie nicht gemerkt. Josef machte sich große Sorgen und hoffte, dass sie sich wieder erholte, aber das geschah nicht - die Krankheit zog sie immer weiter nach unten. Er erfüllte ihr jeden Wunsch. Sie gingen spazieren, ins Theater, es gab sogar kleine Ausflüge. Täglich umschmeichelte Josef seine Frau mit kleinen Aufmerksamkeiten, die sie ignorierte oder sich darüber aufregte. Nichts war ihr recht. Unter Menschen war sie charmant und fröhlich, aber sobald die Tür des kleinen Einfamilienhauses im beschaulichen oberbayerischen Tüßling im Landkreis Altötting schloss, entbrannte regelmäßig ein heftiger Streit. Irgendwann fingen sie an, aufeinander loszugehen. Dann geschah das Unglück, an das sie sich nicht mehr erinnern wollte und das sie völlig aus ihrem Gedächtnis strich. Seitdem saß sie in dem Kellerloch, das seitdem ihr Zuhause war – und das waren jetzt einunddreißig Jahre. In den ersten Monaten hoffte sie noch, dass Josef sie doch noch irgendwann freilassen würde. Aber der blieb hart. Sie unternahm mehrere Fluchtversuche, die aber alle misslangen. Vermisste sie denn niemand? Warum suchte keiner nach ihr? Was war mit ihrer Mutter und den Freunden? Josef antwortete nicht auf ihre Fragen. Sie war allein, ganz auf sich allein gestellt. Sie hatte ihren Mann angefleht, sie hatte gebettelt und ihm alles versprochen, aber er gab nicht nach: Sie war seine Gefangene!

Josef Hiermaier fand einfach keine Ruhe. Die Doku war spannend, aber das Gelächter der neuen Nachbarn nervte ohne Ende. Immer wieder ging er zum Fenster, um zu sehen, was nebenan ablief. Fassungslos musste er mit ansehen, als eine dieser dämlichen Hüpfburgen im Garten aufgebaut wurde.

„Der Alte von drüben spannt schon wieder!“ Dagmar Steinke stand schon lange am Fenster. Dass die neuen Nachbarn einzogen, freute sie zwar, aber das interessierte sie weniger. „Hiermaier ist echt ein Ekel.“ Dann lachte sie. „Der Kinderhasser wird seine Freude mit den Nachbarn haben.“

„Du bist echt schlimm, Dagmar!“, mahnte Sabine Thomas. Die Rektorin der Berufsschule Mühldorf konnte sich nach den vielen Monaten des Lockdowns endlich wieder auf einen Regelbetrieb vorbereiten, was sie echt freute. Dieses Nichtstun hatte sie fast in den Wahnsinn getrieben. Sabine Thomas lebte seit fast einem Jahr in ihrem Elternhaus in Tüßling, das sehr lange leer stand. Eigentlich sollte das Haus verkauft werden, aber sie entschied sich dagegen, nachdem sie Dagmar bei sich aufgenommen hatte, denn schließlich brauchten sie eine Bleibe. Die beiden führten ein angenehmes Leben, das keiner missen wollte. Nur noch wenige Monate und Dagmar beendete ihre Ausbildung, wobei Sabine sie tatkräftig unterstützte. Dagmar war eine fröhliche junge Frau geworden, an der sich Sabine kaum sattsehen konnte. Die schrecklichen Umstände, unter denen sich die beiden gefunden hatten, waren längst verblasst.

Dagmar dachte nicht daran, ihren Beobachtungsposten aufzugeben.

„Hey super, ein Trampolin! Das bringt den Hiermaier auf die Palme! Mal sehen, wie lange es dauert, bis er die Kinder zurechtweist.“ Dagmar holte sich einen Stuhl, denn jetzt wurde es erst so richtig interessant! „Ich glaube, es sind drei Kinder. Jetzt haben sie einen Ball. Oh, oh, das geht nicht gut aus.“ Unwillkürlich zog sie den Kopf ein. „Es ist passiert, der Ball ist in Hiermaiers Garten gelandet.“

„Geh doch vom Fenster weg! Du bist echt genauso schlimm wie der Alte!“ Sabine saß am Küchentisch und hatte den Laptop vor sich. Sie musste sich konzentrieren, aber Dagmar blieb unerbittlich. Sie hatte heute frei und somit alle Zeit der Welt. „Warum gehst du nicht in dein Zimmer und lässt mich hier in Ruhe arbeiten?“

„Das geht nicht, Sabine, von hier habe ich eine viel bessere Sicht.“

Sabine Thomas verdrehte die Augen. So sehr sie Dagmar auch liebte, so sehr ging sie ihr aber auch manchmal auf die Nerven. War das normal? Sie hatte nie eigene Kinder gehabt und wunderte sich oft über die Reaktionen von Eltern, wenn es Probleme mit den Kindern gab – jetzt konnte sie einiges besser verstehen! Dagmar war ab morgen für fünf Tage am Chiemsee, um dort ein Praktikum zu absolvieren. Ab morgen konnte sie endlich in Ruhe arbeiten. Während sich Sabine Thomas auf den morgigen Tag freute und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, kommentierte Dagmar das Geschehen auf den Nachbargrundstücken.

„Der alte Hiermaier rastet aus. Er hat den Ball an sich genommen und die Kinder angeschrien. Das musst du sehen, Sabine! Der kleine Kerl verspottet den Alten!“ Dagmar lachte laut, was Sabine zum Schmunzeln brachte. Es war schön, das einst verängstigte Mädchen so glücklich zu sehen.

Dagmar hatte sich am nächsten Tag verabschiedet, aber aus der Ruhe wurde nichts, denn die neuen Nachbarn hatten sich fest vorgenommen, das alte Haus zu renovieren. Ein riesiger Bagger fuhr auf das Grundstück, riss kurzerhand den Zaun ein und bahnte sich den Weg durch den Garten. Stundenlang wurde gearbeitet, was einen Höllenlärm in der sonst so ruhigen Rosenstraße verursachte. Sabine versuchte, irgendwo im Haus ein ruhiges Plätzchen zu finden, aber es war überall viel zu laut. Nicht nur der Lärm drang bis in alle Zimmer, sondern auch die Vibrationen, die der Bagger verursachte. Manchmal hatte sie sogar Sorge, dass Risse in ihrem alten Elternhaus entstehen könnten.

Diese Sorge teilte auch Josef Hiermaier. Mit offenem Mund beobachtete er das Treiben auf dem Nachbargrundstück. Was hatten die Leute vor? Wofür brauchten sie diesen riesigen Bagger? Noch hoffte er, dass diese Arbeiten, die er nicht verhindern konnte, bis zum Nachmittag erledigt wären. Aber das war nicht so, denn nach und nach rückten mehrere Arbeiter mitsamt großer Maschinen an. Dazu wurde Material geliefert, das Hiermaier nicht zuordnen konnte. Irgendwann verstand er: Die Nachbarn bauten einen Pool, der die Hälfte des Gartens einnahm. Als wären die Arbeiten nicht genug, tollten viele Kinder durchs Grundstück, wobei sie vor allem das Trampolin in Beschlag nahmen. Das Geschrei war für Hiermaier fast schlimmer als der Maschinenlärm. Irgendwann hatte er genug. Er ging an den Zaun und schrie: Ruhe, verdammt nochmal!

Die Kinder hatten den Nachbarn gesehen und gehört, aber sie lachten nur. Hiermaier wurde wütend. Was waren das nur für verzogene Bälger? Er zog die Tür hinter sich zu und ging schnurstracks zu den Nachbarn. Dort hielt er Ausschau nach der Frau, die jetzt offenbar hier wohnte. Ob einer dieser vielen Männer zu ihr gehörte, hatte er noch nicht herausgefunden.

„Geht das alles nicht etwas leiser? Vor allem die Kinder machen einen Lärm, der kaum auszuhalten ist!“, schnauzte Hiermaier die Frau an, die gerade im Gespräch mit einem Mann war, den Hiermaier nicht beachtete.

„Grüß Gott, so viel Zeit muss sein. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Hiermaier, ich wohne nebenan. Der Lärm ist…“

„Nadine Olschewski, das ist mein Mann Tobias.“

Hiermaier ignorierte die ihm gereichte Hand. Er war hier, um sich zu beschweren, und nicht, um Freundschaften zu schließen.

„Wenn Sie dafür sorgen würden, dass der Lärm reduziert wird, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Sie wohnen ja schließlich nicht allein hier. Ich möchte meine Ruhe haben. Da Sie sicher Wert auf eine angenehme Nachbarschaft legen, werden Sie meiner Bitte nachkommen.“

„Das tut mir leid, aber leiser geht das nicht“, sagte Nadine Olschewski. „Die Maschinen sind so laut, wie sie eben sind. Wir sehen zu, dass wir morgen mit dem Gröbsten fertig sind, dann wird es ruhiger werden. Allerdings muss ich Sie vorwarnen: Ganz werden wir den Lärm in nächster Zeit nicht einstellen können.“

„Aber die Kinder könnten ruhiger sein!“ Hiermaier schnaubte vor Wut, denn die Frau grinste dämlich und schien sich über ihn zu amüsieren. War sie nicht an einer angenehmen Nachbarschaft interessiert? „Sind das alles Ihre Kinder?“

„Nein. Mein Sohn hat Freunde eingeladen, was er vor den Nachbarn nicht rechtfertigen muss. Jetzt regen Sie sich doch nicht so auf, Herr Hiermaier. Ich finde nicht, dass die Kinder übermäßig laut sind. Sie lachen und toben, was völlig normal ist.“

„Nein, das ist nicht normal, die Kinder stören mich!“

„Daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Ich habe nicht vor, meinen Kindern vorzuschreiben, wie und mit wem sie spielen dürfen.“

„Kinder? Sie sagten eben, dass nur ein Bub zu Ihnen gehört.“

„Wir haben noch einen siebzehnjährigen, aber der ist in der Schule.“

„Einen Halbwüchsigen haben Sie auch noch?“ Hiermaier stöhnte, das konnte ja lustig werden. Laute Musik, Partys und jede Menge Motorenlärm – mit der Ruhe war es dahin. Aber so leicht wollte er sich noch nicht geschlagen geben, er durfte diese vorlaute Frau nicht bei der ersten Auseinandersetzung gewinnen lassen.

„Sie sind die Mutter und müssen dafür sorgen, dass…“

„Jetzt hören Sie mir mal zu, Herr Hiermaier. Kinder machen nun mal Lärm und der ist in Deutschland zu vernünftigen Zeiten nicht verboten, auch in Tüßling nicht. Kinder toben und lachen, was in dem Alter völlig normal ist. Sie waren doch auch mal jung.“

Wieder dieses überhebliche Grinsen, das Hiermaier auf den Tod nicht ausstehen konnte.

„Jetzt sagen Sie doch auch mal was!“, wandte er sich an den Mann der ätzenden Frau.

„Ich kann meiner Exfrau nur beipflichten“, sagte er und legte demonstrativ seinen Arm um Nadine.

„Exfrau? Das hätte ich mir ja denken können. Geschieden mit zwei Kindern!“

„Unsere Familienverhältnisse gehen Sie überhaupt nichts an“, maulte Tobias.

„Wenn mein Haus durch diese brachialen Gerätschaften Schaden nimmt, werden Sie mich von einer anderen Seite kennenlernen! Ich muss sagen, dass ich mit Ihnen als direkter Nachbar nicht einverstanden bin.“

„Dito, Herr Hiermaier, dito!“

„Ich werde mich über Sie beschweren!“

„Das dürfen Sie gerne machen, viel Spaß dabei! Sollte an Ihrem Haus ein Schaden entstanden sein, melden Sie sich gerne schriftlich, auf einen weiteren Besuch Ihrerseits kann ich gerne verzichten“, sagte Nadine. „Und jetzt möchte ich Sie bitten, das Grundstück zu verlassen, schließlich hat Sie niemand eingeladen. Wenn ich es recht betrachte, ist das Hausfriedensbruch. Was meinst du, Tobias?“

„Ja, das sehe ich auch so. Gehen Sie, und zwar schnell. Wenn meine Frau sauer wird, kann ich für nichts garantieren!“ Tobias lachte.

Hiermaier kochte innerlich. Diese vorlaute, freche Nachbarin war die Pest, aber der Exmann war auch nicht besser. Wenn nicht so viele Menschen hier wären, würde er ganz anders mit den beiden umgehen. Aber sie waren nicht allein.

Dann gab es einen lauten Schrei, der direkt aus der Grube kam. Einer der Arbeiter war auf das Skelett einer Leiche gestoßen!

Hilde Hiermaier hatte kein Wort der Auseinandersetzung verstanden, auch wenn Wortfetzen nicht zu überhören waren. Josef hatte sich sicher beschwert, der Arsch konnte Lärm nicht leiden. Sie lächelte und freute sich darüber. Sie selbst war nicht unglücklich über die Motorengeräusche und das Kinderlachen, das bis zu ihr durchdrang. Endlich etwas, das sie ablenkte. Sie stieg auf den wackligen Stuhl und versuchte, etwas sehen zu können, aber das gelang ihr nicht, dafür hatte Josef gesorgt. Es musste bald Mittagessen geben und dann konnte sie ihren Mann fragen. Es war lange her, dass sie miteinander gesprochen hatten.

Dann gab es einen Schrei und alles war still. Was war da los?

Das Hortensien-Grab

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