Читать книгу Todesursache: Mord - Irene Dorfner - Страница 7
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ОглавлениеUm 6.30 Uhr rief Tante Gerda. Sie freute sich über den unerwarteten Besuch und hatte für alle Frühstück gemacht, was freudig angenommen wurde. Christine war ein Morgenmuffel und heute ganz besonders mies gelaunt, da sie nach eigenen Aussagen überhaupt nicht geschlafen hatte. Eine glatte Lüge, denn Leo hatte sie selbst schnarchen gehört, und das mehrfach.
Hans sah schlecht aus, er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Trotz des Rotweins hatte er nur sehr wenig geschlafen. Die Gedanken an Doris und das schlechte Gewissen wegen Leo und Christine, die wegen ihm viel riskierten, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Sobald er die Augen schloss, tauchten Bilder und Szenen von seiner Doris auf, die so lebendig und real waren, dass er sie beinahe greifen konnte. Er hatte sich dazu durchgerungen, Tante Gerda einzuweihen und ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Warum sollte er sie nicht einweihen?
Tante Gerda war sehr betroffen und bot selbstverständlich ihre Hilfe an.
„Bitte sag mir sofort, wenn du meine Hilfe brauchst, egal, was es ist. Du tust mir so unendlich leid. Ich hätte deine Freundin gerne kennengelernt, sie war bestimmt ein ganz besonderer Mensch.“
Obwohl sich Tante Gerda alle erdenkliche Mühe gab, es Christine Recht zu machen, war diese wortkarg und mürrisch. Beim Trinken des Kaffees verzog sie angewidert ihr Gesicht und nachdem sie den Brotkorb lange inspiziert hatte, entschied sie, nichts zu essen. Was war los mit ihr? Auch bei den Unterhaltungen beteiligte sie sich nicht, ganz egal, welches Thema sie auch anschlugen. Sie starrte nur vor sich hin, obwohl jeder bemüht war, sie ins Gespräch zu integrieren. Leo war gar nicht wohl; er musste mit ihr ein ernstes Wort sprechen, denn in wenigen Minuten mussten er und Hans zur Arbeit fahren. So konnte er die beiden Damen unmöglich sich selbst überlassen. Er hatte Angst um Tante Gerda, denn dieser warmherzige, liebevolle Charakter war Christine hilflos ausgeliefert. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Er überlegte, ob es wirklich eine so eine gute Idee war, dass er sie um Hilfe bat und sie nun hier war.
„Christine, ich möchte mich mit dir unterhalten – unter vier Augen.“ Leo war aufgestanden und ging zur Tür.
Diese sah ihn nur an und machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Die Stimmung war sehr angespannt.
„Würdest du bitte mitkommen?“ wiederholte Leo.
Wieder sah sie ihn nur an und lehnte sich zurück.
„Du hast dich verändert Leo. Du bist weich geworden und nicht mehr so gerade heraus, wie ich es immer an dir geschätzt habe. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann sag es, und zwar hier vor deinen Freunden. Ich werde mit Sicherheit nicht in die Kälte rausgehen. Also, raus mit der Sprache.“
Diese Frau reizte ihn bis aufs Blut und er entschied, ihrem Wunsch zu entsprechen.
„Wie du willst. Ich finde, du benimmst dich Tante Gerda und Hans gegenüber sehr unhöflich und ich verstehe nicht, warum du das machst. Ich kenne dich ganz anders. Ich habe Angst, euch beide hier alleine zu lassen, denn Tante Gerda ist dir nicht gewachsen. Was ist nur los mit dir?“
Ihm pochte das Herz bis zum Hals. Er konnte nicht einschätzen, wie sich Christine nun verhalten würde. Auf der einen Seite freute er sich sehr, sie wiederzusehen und sie brauchten ihre Hilfe. Aber auf der anderen Seite schämte er sich auch für ihr Verhalten; so mochte er sie überhaupt nicht.
„Jetzt bist du wieder so, wie ich dich kenne Leo: Ehrlich und gerade heraus. Ich mag es nicht, wenn man mir Honig ums Maul schmiert und herumschleimt, sondern die Dinge beim Namen nennt. Wir bewegen uns hier alle, und damit ist Tante Gerda eingeschlossen, auf sehr, sehr dünnem Eis und wir müssen uns alles sagen können und dürfen. Es hat mich sehr bestürzt, dass Hans seine Tante erst jetzt von der Geschichte unterrichtet hat und dass wir uns hier beim Frühstück über absolut banale und unwichtige Dinge unterhalten, wenn weit Wichtigeres ansteht. Gerda, ich lass die Tante weg und werde Sie einfach duzen,“ wandte sie sich nun an die 72-jährige Frau, die hier in Rüschenbluse und Latzjeans am Tisch saß, „du kannst mich nicht täuschen. Du bist nicht die Bilderbuch-Oma, die es liebt, Menschen zu bedienen und sich zu unterwerfen. Du bist eine Frau, die mitten im Leben steht und die es verdammt nochmal verdient hat, dass man normal mit ihr umgeht.“
„Danke Christine; ich darf doch Christine sagen?“
„Klar.“
„Es stimmt. Ich habe gerne Menschen um mich, aber man muss mich nicht vor allem Bösen beschützen. Ich würde gerne miteinbezogen werden und bin für alle Schandtaten bereit.“ Sie grinste und bekam rote Bäckchen.
„Sehr gut. Das ist sehr wichtig, denn das, was auf uns zukommt, wird kein Zuckerschlecken. Wir können jede Hand brauchen und Gerda gehört dazu.“
„Du meinst, wir sollen sie aktiv in alles einbeziehen?“ rief Hans erschrocken. „Das geht doch nicht, das kann ich Tante Gerda nicht zumuten.“
„Deine Tante Gerda ist doch kein verschrecktes Blümchen. Sieh sie dir doch genau an! Sie hat viel erlebt und kann mehr verkraften, als du ihr zutraust.“ Jetzt wandte sich Christine direkt an Tante Gerda. „Ich bin mir sicher, dass du es früher doll getrieben hast und auch heute nichts anbrennen lässt. Liege ich damit richtig?“
Hans war geschockt, aber Tante Gerda strahlte übers ganze Gesicht. Sie fühlte sich keineswegs ertappt, sondern war sofort begeistert von dieser Frau, die sehr ehrlich war und die Menschen richtig einschätzte.
„Ja, damit liegst du absolut richtig. Früher waren herrliche Zeiten. Aber auch ich werde älter und ruhiger, was nicht bedeutet, dass ich mich aufs Altenteil zurückgezogen habe. Ich liebe meinen alten Hof und lebe gerne hier. Wenn wir gerade dabei sind, ehrlich miteinander zu sein: Ich habe seit ein paar Monaten einen Freund, mit dem ich enger zusammen bin und von dem niemand etwas weiß. Warum ich so ein Geheimnis um ihn mache, weiß ich auch nicht.“ Sie war rot geworden und sah Hans an. „Sei nicht enttäuscht von mir Hans, ich bin auch nur ein Mensch. Ich würde es sehr gerne sehen, wenn ich aktiv in euer Team gehöre.“
„Tante Gerda,“ rief Hans beinahe empört, „was redest du denn da?“
„Hör doch auf, du Heuchler!“ schrie ihn Christine an. „Warum sollte deine Tante nicht auch ein bisschen Spaß im Leben haben? Sie ist zwar über 70, aber noch lange nicht tot. Sieh dir deine Tante doch an. Sie strotzt vor Vitalität und hat außer ihrem biederen Aussehen nun so gar nichts von einer alten Oma, bei der sich alles nur um Krankheiten dreht. Sieh dich mal in einer Arztpraxis oder einfach nur auf der Straße um. Zu diesen Menschen, die mit ihrem Leben abgeschlossen haben und hauptsächlich nur noch an sich selbst und ihre Krankheiten denken, passt deine Tante Gerda absolut nicht dazu. Siehst du das denn nicht? Was hast du gegen ein bisschen Spaß im Leben? Du treibst es doch bestimmt auch ziemlich bunt, das sehe ich dir doch an der Nasenspitze an. Oder liege ich falsch?“
„Nein, ich bin bestimmt kein Heiliger. Aber ich kann mir das bei meiner Tante einfach nicht vorstellen, und ich will es auch nicht.“ Hans schien beinahe angewidert.
„Und warum spielen Sie Ihrem Neffen so ein Theater vor?“
„Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich, weil die Menschen von mir erwarten, dass ich immer lieb und nett bin und dazu ein ruhiges, harmloses Leben führe.“
Tante Gerda war nachdenklich geworden. Sie verstand langsam, was Christine mit ihrer Standpauke bezwecken wollte.
„Das ist genau das, was ich meine. Ihr sprecht zwar miteinander, aber ihr kennt euch eigentlich nicht, weil ihr nicht ehrlich zueinander seid. Normalerweise geht mich das alles nichts an, ihr könnt euch gegenseitig etwas vormachen und vorspielen, solange und sooft ihr wollt. Aber wenn wir das hier gemeinsam durchziehen, gehen wir ab sofort offen und ehrlich miteinander um. Wir sagen uns alles, auch wenn es noch so peinlich und unangenehm ist, oder den anderen verletzten würde. Können wir uns darauf einigen?“
Sie bekam reihum Zustimmung und Leo nahm sie in den Arm. Genau so kannte und liebte er sie. Natürlich hatte sie Recht, er hatte sich verändert. Seit er hier in Mühldorf angekommen war, war er sehr vorsichtig gewesen und wollte sich mit niemandem anlegen oder unangenehm auffallen. Warum war ihm das selbst nicht aufgefallen?
„Dann wäre das geklärt. Wie wollen wir nun weiter vorgehen? Ich brauche die Leiche, ohne die wird eine Obduktion schwierig.“
„Sobald wir im Präsidium sind, werden wir umgehend in Erfahrung bringen, wo sich die Leiche befindet. Dann brauchen wir einen Plan, wie wir die Leiche in die Finger bekommen.“
„Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie und wo die Obduktion vonstattengehen soll?“ fragte Tante Gerda mit glühend roten Bäckchen. „Wir brauchen einen geeigneten Ort und du brauchst bestimmt Handwerkszeug, oder wie man das nennt. Das dürfte das größte Problem werden.“
„Mein Handwerkszeug, wie du es nennst, habe ich natürlich mitgebracht. Und wir werden hier im Haus bestimmt einen geeigneten Raum für die Obduktion finden, nicht wahr Gerda?“
Die war sofort begeistert.
„Natürlich, ich hätte da sogar schon eine Idee. Ich habe noch eine Frage: Dürfte ich eventuell bei der Obduktion zusehen oder sogar dabei helfen? Ich finde das alles sehr aufregend. Endlich ist hier mal etwas los.“
„Sicher kannst du mir behilflich sein. Aber nur, wenn dir nicht schlecht wird und du dich davor nicht ekelst. Leo konnte ich nie für die Pathologie begeistern, aber ich freue mich, wenn du dabei bist. Hans, du lässt die Polizeiakte hier? Ich möchte mir nochmals alles in Ruhe ansehen. Vor allem den Bericht des Arztes.“
Hans holte sofort die Unterlagen aus seiner Jacke und gab sie Christine, wobei er ihr das eine oder andere erklärte und mir ihr durchsprach.
Durch Christines Ansprache war die Luft sauber und die Stimmung hervorragend. Alle zogen jetzt an einem Strang. Das war genau das, was Christine Künstle erreichen wollte. Sie nannte die Dinge nun mal gerne beim Namen und wollte mit den Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld ungezwungen und frei umgehen. Und natürlich setzte sie absolute Ehrlichkeit voraus. Wenn sie bemerkte, dass sie belogen wurde, konnte sie sehr, sehr unangenehm werden. Leo beobachtete die momentane Szene um ihn herum und war sehr stolz auf Christine. Sie wusste, wie man ein Team zusammenhält und motiviert, trotz ihrer ruppigen und gewöhnungsbedürftigen Art.
Aber zuerst mussten sie irgendwie die Leiche in die Finger bekommen, was sehr schwierig werden würde. Leo war nicht wohl bei dem Gedanken. Wie sollten sie das anstellen? Auch Hans hatte bereits darüber nachgedacht.
Auf dem Weg in die Polizeiinspektion Mühldorf klangen Christines Worte in Leos Kopf wider. Sie hatte Recht, er hatte sich tatsächlich verändert, denn er war hier lange noch nicht richtig angekommen und verhielt sich noch nicht frei und ungezwungen, wie es seine Freundin von ihm in Ulm gewohnt war. Er nahm sich fest vor, daran zu arbeiten bzw. dahinterzukommen, warum das so war.
„Christine ist eine tolle Frau. Man kann ihr wirklich bedingungslos vertrauen, denn selten habe ich eine so ehrliche, direkte Person kennengelernt. Obwohl ich nicht gerade scharf darauf war, diese Seite von Tante Gerda zu erfahren,“ sagte Hans.
„Ja, sie ist wirklich eine tolle Frau. Und was Tante Gerda betrifft, bist du wirklich nicht fair. Auch sie hat ein Privatleben und vielleicht solltest du dir Gedanken darüber machen, ob du dir nicht selbst ein Bild erschaffen hast und sie einfach so sehen willst.“
„Sicher, da hast du nicht ganz Unrecht. Aber Tante Gerda hat auch ihren Teil dazu beigetragen. Ich habe vorhin mit ihr gesprochen und wir wollen in Zukunft anders miteinander umgehen. Christine hat den Nagel auf den Kopf getroffen.“