Читать книгу Das Haus des dreifachen Friedens - Irene Euler - Страница 5
III
ОглавлениеVier Wochen später erwachte Tishanea mitten in der Nacht, weil sie trotz ihrer Decke fröstelte. Offenbar wurde es Zeit, die geknüpfte Hängematte mit den Seehundfellen auszukleiden. Auch in den Morgenstunden wollte die empfindlich kühle Luft über Seestadt sich nicht erwärmen. Noch kühler blies der Wind auf See. Vergeblich versuchte Tishanea, Goschubs Stirnrunzeln zu ignorieren, während sie bibbernd über das Deck stapfte. Am Nachmittag, nach dem Einlaufen im Hafen, konnte sie ihrem Vater nicht länger ausweichen. Er hielt sie an der Schulter fest.
„Du solltest morgen wärmere Kleidung anziehen, nachdem du die Temperaturen auf See um diese Jahreszeit nicht mehr gewöhnt bist. Dass wir unsere Westen und Umhänge noch nicht ausgepackt haben, soll dich nicht davon abhalten, dich vor dem Erfrieren zu retten.“
Tishanea biss sich auf die Lippen. „Ich weiß nicht, ob ich genug Geld für Winterkleidung habe.“
In Wahrheit wusste sie genau, dass sie zu wenig Geld für Winterkleidung aus Seehundfell hatte. Bevor sie nach Seestadt aufgebrochen war, hatte Schurac ihr gerade genug Silberstücke für zwei Wochen in einem Hafengasthof gegeben. Was davon übrig geblieben war, würde niemals für eine Weste, einen Umhang und ein Paar Fischlederstiefel reichen. Stattdessen erinnerten die Münzen sie ständig daran, dass sie bereits einen Rapport im Haus in der Krakengasse versäumt hatte. Und dass heute der zweite fällig war.
Goschub sah sie mit hochgezogener Braue an. „Dass du nicht genug Geld für Winterkleidung hast, überrascht mich nicht. Dass du keine Winterkleidung aus Zweimündung mitgebracht hast, wundert mich viel mehr.“
Hilflos hob Tishanea die Schultern. Wann würde es ihr endlich erspart bleiben, Lügen über Zweimündung zu erfinden? „Ich wusste ja nicht, wie die Dinge hier in Seestadt laufen würden... Und seetauglich wäre meine Zweimündner Winterkleidung ohnehin nicht gewesen.“
Goschub lachte heiser. „Das kann ich mir vorstellen – die Gelehrten hocken im Winter so nahe am Feuer wie möglich. Dann wird wohl dein Vater etwas tun müssen, um dich vor Frostbeulen zu bewahren. Ich nehme dich morgen Abend mit zu einem Freund von mir. Er verkauft die beste Seehundfellkleidung in ganz Seestadt.“
Tishanea lächelte Goschub dankbar an, bevor sie sich eilig abwandte. Ihr Vater mochte keine Gefühlsausbrüche. Das Strahlen, das sich nun auf ihrem Gesicht ausbreitete, hätte er für völlig übertrieben gehalten. In seinen nüchternen Augen gehörte Winterkleidung aus Seehundfell zum Leben wie der tägliche Fisch. Doch für Tishanea bedeutete diese Winterkleidung, dass sie wieder voll und ganz in ihre Familie aufgenommen war. Natürlich wäre es Rabess und Goschub nie eingefallen, ihre Tochter erfrieren zu lassen. Aber sogar für eine Fischerfamilie ohne Geldsorgen war Winterkleidung aus Seehundfell teuer. In einer Weste und einem Umhang steckten mindestens vierzig Fischzüge – gute Fischzüge. Statt Seehundfell für sie zu kaufen, hätten ihre Eltern sie genauso gut zu Hause lassen können. Sie wurde auf der „Seelöwin“ nicht unbedingt gebraucht, und für die Straßen von Seestadt hätte ein billigerer Wollumhang gereicht.
„Gut, dass ich jetzt weiß, dass du keine Winterkleidung aus Zweimündung mitgebracht hast.“ Grinsend trat Schirron zu Tishanea an die Reling. „Ich habe mir schon Gedanken über deinen Geisteszustand gemacht, weil du lieber die perfekte Nachahmung eines Zitterrochens geliefert hast statt eine Weste anzuziehen.“
Tishanea war immer noch damit beschäftigt, ihr Strahlen unter Kontrolle zu bekommen. Ohne ihren Bruder anzusehen, gab sie im selben Ton zurück: „Ich befolge nur Vaters Ratschläge. Er sagt doch immer, dass wir beim Fischen wie die Fische denken sollen. Ich wollte eben wissen, wie es ist, ein Zitterrochen zu sein.“
Schirrons Antwort ging im plötzlichen Rauschen in Tishaneas Ohren unter. Ihr geistesabwesender Blick hatte verfolgt, wie sich draußen auf dem Kai ständig eine Gasse im nachmittäglichen Gedränge bildete, als würde Wasser um einen Felsen herumfließen – bis ihr schlagartig klar geworden war, dass die Seestädter einem grimmig dreinsehenden Wasserhaften auswichen, der selbst die größten unter ihnen weit überragte. Panisch schwang Tishanea sich über die Reling und ließ sich zwischen den ankernden Schiffen ins Wasser fallen. Noch schien Schurac sie nicht gesehen zu haben. Er war weder auf den Pier zugegangen, an dem die „Seelöwin“ lag, noch hatte er in ihre Richtung geblickt. Aber zweifellos hielt er nach seinem verschwundenen Zögling Ausschau, nachdem er in der Krakengasse vergeblich auf sie gewartet hatte.
Schirron sah von Bord auf seine Schwester herunter und schüttelte den Kopf. „Ich nehme zurück, was ich über deinen Geisteszustand gesagt habe. Anscheinend bist du doch nicht ganz richtig im Kopf. Was soll das jetzt? Noch ein Ausflug in die Lebenswelt der Fische? Versuchst du herauszufinden, wie sich die Äschen im dreckigen Hafenwasser fühlen?“
„Ähhh – nein. Ich will einfach noch einmal eine lange Strecke im Meer schwimmen, bevor es endgültig zu kalt dafür sein wird. Wir sehen uns zu Hause!“
Tishanea holte tief Atem und tauchte in einem Zug unter den nächsten zehn Schiffsleibern durch. Nun würde Schirron sie erst recht für verrückt halten. Manche Seestädter gingen schon bei diesen Temperaturen nur dann ins Wasser, wenn sie mussten. Und niemand schwamm freiwillig im Hafenbecken. Doch nichts hätte Tishanea dazu bewegen können, auf die „Seelöwin“ oder gar auf den Pier zurückzukehren. Sie wäre noch viel weiter in viel schmutzigerem und viel kälterem Wasser geschwommen, wenn sie dadurch Schurac entkommen konnte.
***
„Hoi!“ rief Riesche vom Ausguck herab. „Verlorener hart backbord, ungefähr dreihundert Fischlängen!“
Die Taue knarrten, als Goschub den Kurs der „Seelöwin“ änderte. „Schirron, hol die Haken! Rabess, übernimm das Steuer!“
Ohne zu wissen, wonach sie Ausschau hielt, spähte Tishanea über die Backbordreling auf das Wasser hinaus.
„Verlorener?“ fragte sie ihren Bruder, sobald er neben ihr auftauchte.
„Ein toter Wasserhafter.“ Schirron blickte ungewohnt ernst drein. Seine Finger krampften sich um zwei lange Stangen, an deren Enden große Haken befestigt waren.
„Aber doch nicht einer, der dem Meer übergeben wurde? Oder kommt es vor, dass die Toten sich nach der Beisetzung von den Steingewichten lösen und aufsteigen?“
„Nein. Wenn die Befestigungen der Steingewichte endlich mürbe werden, ist schon lange nichts mehr da, was aufsteigen könnte. Verlorene sind verunglückte Seeleute. Es ist Sitte, sie zu bergen und mit an Land zu nehmen – damit ihre Familien wissen, was mit ihnen geschehen ist, und sie in allen Ehren dem Meer übergeben können.“ Etwas leiser fuhr Schirron fort: „Wir mussten schon einmal eine Verlorene bergen – vor vier Jahren. Danach hatte ich wochenlang Albträume. Sie muss schon sehr lange im Wasser getrieben sein, so wie sie ausgesehen hat...“ Er schauderte.
Sogar Goschub trug eine starre Miene zur Schau, während er darauf wartete, dass Rabess die „Seelöwin“ nach Riesches Anweisungen zu dem Verlorenen steuerte. Irgendwann erblickte Tishanea ein dunkles Bündel auf der Wasseroberfläche. Unwillkürlich wich sie einige Schritte zurück. Goschub und Schirron brachten die Haken zum Einsatz, um den Verlorenen an Bord zu hieven.
„Vorsicht, pack hier an!“
Hastig beugte Schirron sich über die Reling, und dann polterte der Körper auch schon auf Deck. Vater und Sohn blieben reglos stehen.
„Das gibt’s doch nicht...“ murmelte Schirron fassungslos.
Tishanea überwand ihre Scheu und rückte näher. Sofort begriff sie, was Goschub und Schirron so irritierte. Der Tote war zu stämmig für einen Wasserhaften. In seinem triefend nassen Haar zeichneten sich Locken ab. Sobald es trocknete, würde es in einem warmen Erdton glänzen. Für einen kurzen und unvermutet schrecklichen Moment glaubte Tishanea, Rogosol vor sich liegen zu sehen. Doch als Goschub den Körper mit seinem Fuß anstieß, um ihn auf den Rücken zu drehen, erkannte Tishanea das Gesicht einer jungen Frau. Die Erdhafte konnte noch nicht lange im Wasser getrieben sein. Ihre Züge waren kaum aufgequollen. Nur auf ihrer Stirn zeichneten sich seltsam verfärbte Wülste ab. Zaghaft strich Schirron das nasse Haar zur Seite. Zum Vorschein kam ein Brandmal – ein Brandzeichen, wie die Erdhaften es zur Kennzeichnung ihrer Erdrinder verwendeten.
„Lanthan,“ las Schirron. „Was soll das denn heißen?“
Ohne nachzudenken antwortete Tishanea: „Lanthan ist eine Gestalt aus einer Sage der Erdhaften – ein Verräter. Er soll sich mit Wasserhaften und Felshaften gegen Erdstadt verbündet haben.“
„Wie gut, dass wir eine Sagenexpertin an Bord haben,“ knurrte Goschub zynisch. Sein scharfer Blick fuhr durch Tishanea wie eine Harpune. „Ich hätte tagelang nicht einschlafen können, wenn ich nicht erfahren hätte, was sich die Dreckwühler über einen gewissen Lanthan erzählen. Los, Schirron, heb an!“ Er packte die Fußgelenke der Toten, doch Schirron rührte sich nicht.
„Du willst sie zurück ins Wasser werfen?“ fragte er entsetzt.
„Was sonst? Der Seekodex gilt nicht für Erdhafte. Wir brauchen uns nicht um sie zu kümmern.“
„Aber dieses Brandmal! Vater, sie ist nicht einfach ertrunken, sie ist ermordet worden!“
Goschub hob die Schultern „Auch das braucht uns nicht zu kümmern. Sollen die Dreckwühler sich doch alle gegenseitig umbringen – dann hätten wir Wasserhafte viel weniger Scherereien.“ Als Schirron immer noch keine Anstalten machte, ihm zu helfen, ließ Goschub von der Toten ab und stemmte die Hände in die Hüften. „Sohn, wir haben mit dieser Person nichts zu tun. Warum sollen wir uns mit ihr belasten? Was willst du überhaupt mit ihr anfangen?“
Ratlos blickte Schirron auf die Tote hinunter. Tishanea grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Goschubs Verachtung für die tote Erdhafte irritierte sie mehr als sie für möglich gehalten hatte. Aber sie wollte nicht noch mehr Ärger auf sich ziehen.
„Na also.“ Erneut bückte Goschub sich, um die Fußgelenke der Erdhaften zu packen.
Schließlich griff auch Schirron nach den Armen der Toten, aber sein gequälter Gesichtsausdruck war zu viel für Tishanea:
„Wir müssen die Tote der Mittelwache übergeben. Die Mittelwächter können sie an die Erdwächter weitergeben, und die Erdwächter an ihre Familie.“
Ruckartig richtete Goschub sich auf. „Der Mittelwache?“ brüllte er los. „Natürlich! Warum bin ich nicht gleich auf den Gedanken gekommen? Ich sehne mich unglaublich danach, eine tote Dreckwühlerin mit einem Brandmal auf der Stirn auf den Mittleren Grund zu bringen! Ich wollte mir schon immer einmal eine Mordanklage aufhalsen! Bist du des Wahnsinns, Tochter? Wenn ein Erdhafter Opfer eines Verbrechens wurde, sind immer alle schuld außer den Erdhaften! Wahrscheinlich würden die Mittelwächter uns direkt ins Haus der dreifachen Gerechtigkeit bringen! Was ist los mit euch beiden? Habt ihr euch mit diesem Gerechtigkeitsfanatismus angesteckt, der auf dem Mittleren Grund grassiert? Vielleicht habt ihr noch ein paar gute Ideen! Warum gehen wir nicht gleich direkt nach Erdstadt und stellen die Tote dort gegen Eintrittsgeld auf dem Marktplatz aus?“
Am Beginn dieser Tirade hatte Tishanea erschrocken die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf gesenkt. Zuletzt kämpfte sie mit den Tränen. In Goschubs Stimme lag zu viel Hass. Wer so viel Hass auf die Erdhaften und auf den Mittleren Grund in sich trug, musste auch einen Zögling aus dem Haus des dreifachen Friedens hassen. Und in dieser Stunde war sie bereits zweimal nahe daran gewesen, sich zu verraten. Selbst wenn Tishanea gewusst hätte, was sie sagen sollte, wäre kein Wort mehr über ihre Lippen gelangt. Dafür hatte Schirron sich in der Zwischenzeit aus seiner Ratlosigkeit befreit:
„Lass sie uns zumindest auf dem Friedhof der Namenlosen begraben, Vater! Sie war eine Erdhafte. Was immer mit ihr geschehen ist – sie verdient es, der Erde zurückgegeben zu werden!“
Tishanea schloss die Augen und wartete darauf, dass eine neue Welle der Wut über sie hinwegrasen würde.
Aber nach einer kurzen Pause brüllte Goschub nur noch: „Ach, macht doch, was ihr wollt!“
***
Weil Goschub sich weigerte, mit einer toten Erdhaften an Bord im Hafen anzulegen, blieb Tishanea und Schirron nichts anderes übrig, als das letzte Stück zu schwimmen. Mit der Toten im Schlepptau kraulten sie durch das brackige Wasser der Flussmündung bis zum Friedhof der Namenlosen am Rand von Seestadt. Zu Tishaneas Unbehagen war die Erdhafte zu schwer für sie und ihren Bruder. Statt sie tragen zu können, mussten sie die Tote zwischen den verwitternden Holzstelen hindurchzerren. Auf keiner der Stelen stand ein Name. Nur ein Datum und eine Kornähre oder ein Bergziegenhorn waren auf jeder von ihnen eingeschnitzt. Auf diesem Friedhof lagen jene Erdhaften und Felshaften, die während der fünfjährigen Fehden im Stadtgebiet von Seestadt gefallen waren. Schirron ging, um in der Nachbarschaft zwei Spaten auszuborgen. Während sie wartete, tat Tishanea alles, was sie konnte, um die Erdhafte standesgemäß der Erde zurückzugeben. Es war kläglich wenig. Sie legte die Hände der Toten über deren Magen übereinander und zog die Kleider gerade. Unter großer Überwindung murmelte Tishanea ein erdhaftes Totengebet. Das wächserne Gesicht mit dem grausamen Brandmal ließ ihre Gedanken ständig abschweifen. Der Fluss musste die Erdhafte aufs Meer hinausgeschwemmt haben. Allerdings reichte Erdstadt nicht bis ans Meer – nicht einmal bis zum Fluss. War sie ertrunken? Hatte jemand sie ermordet und dann ins Wasser geworfen? Wer brutal genug war, um jemanden mit einem Brandzeichen zu versehen, würde wohl auch vor einem Mord nicht zurückschrecken. Aber vielleicht hatte die Erdhafte sich selbst getötet, nachdem sie als Verräterin gebrandmarkt worden war. Wen mochte sie verraten haben? Egal. Nichts rechtfertigte eine solche Misshandlung. Die Tote zur Mittelwache zu bringen, damit die Mittelwächter sie der Erdwache übergeben könnten, wäre das einzig Richtige gewesen. Aber wie hätten Schirron und sie die Erdhafte zur Mittelwache bringen sollen? Selbst wenn sie einen Weg gefunden hätten, die Tote zu transportieren, wären sie wohl nicht weit gekommen. Spätestens am Tor hätte es Probleme gegeben. Die Seewächter durften jede Fuhre kontrollieren, die Seestadt verließ, und eine Fuhre mit den Umrissen eines Körpers hätten sie auf jeden Fall kontrolliert. Eine lange, womöglich laute Debatte wäre unvermeidlich gewesen – dabei wollte Tishanea nicht einmal still und leise in die Nähe des Mittleren Grundes kommen. Es lag nicht in ihrer und Schirrons Macht, mehr für diese Erdhafte zu tun als sie der Erde zurückzugeben. Vielleicht wäre alles andere ohnehin vergebliche Mühe. Wer sagte, dass die Erdwächter sich wirklich um den Fall gekümmert hätten? Schließlich war die Tote als Verräterin an ihrer Haftigkeit gebrandmarkt worden. Nur hätte ihre Familie zumindest erfahren, was mit ihr geschehen war... Mit einem Kloß im Hals versuchte Tishanea, das Haar der Erdhaften zu ordnen. Plötzlich blieben ihre Finger im Nacken der Toten an etwas Hartem hängen. Hatte sich Treibholz in ihrem Haar verfangen? Das Holzstück saß so fest, dass Tishanea die Tote zuletzt auf die Seite rollte, um etwas sehen zu können. Sie stieß auf eine kleine Holzplakette, die kunstvoll im Nackenhaar der Erdhaften eingeflochten war. Im Dämmerlicht gelang es Tishanea gerade noch, den eingeschnitzten Schriftzug zu entziffern: Tonnoe. Verwirrt betrachtete sie ihre Entdeckung. Tonnoe war die Heldin derselben Erdstädter Sage, die von Lanthans Verrat erzählte. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Tonnoe Lanthan nach seinem Verrat im Zweikampf getötet. Lanthan auf der Stirn und Tonnoe im Nacken. War die Erdhafte nun eine Heldin oder eine Verräterin? Oder besser gefragt: Wer hatte sie zu welcher Zeit für das eine oder für das andere gehalten? Tishanea vernahm Schritte und das Geklapper zweier Spaten. Hastig strich sie das Haar der Erdhaften glatt und richtete ihren Körper wieder gerade. Sie wollte keine Fragen über irgendwelche Erdstädter Sagen beantworten. Am liebsten wollte sie gar nicht reden. Schirron schien es ähnlich zu gehen. Schweigend begannen die Geschwister zu graben. Es dauerte lange, bis die Grube tief genug war, und die Anstrengung verschloss ihnen die Münder umso fester. Erst nachdem sie die Tote so sanft wie möglich auf den Grund des Grabes gebettet hatten, fand Schirron seine Stimme wieder:
„Ich fasse es nicht, dass Vater diese Frau einfach wieder ins Meer zurückgeworfen hätte! Mir war vorher schon klar, dass er nicht viel von den Erdhaften und von den Felshaften hält – aber dass er so weit gehen würde... Dass es ihn nicht einmal kümmern würde, wenn eine Erdhafte offenbar misshandelt und wahrscheinlich ermordet wurde – das hätte ich mir nie gedacht!“
Statt zu antworten, stieß Tishanea den Spaten in den Erdhaufen, um das Grab rasch zuzuschaufeln. Jeder Gedanke an Goschub tat ihr weh. Mehr als seine Worte über die Erdhafte schmerzte Tishanea jedoch, was er über sie selbst gesagt hatte. Mit dem Gerechtigkeitsfanatismus vom Mittleren Grund angesteckt – wie konnte Goschub ihr so etwas vorwerfen? Sie hatte am allermeisten unter diesem Gleichheitsfanatismus leiden müssen! Sie hätte sogar am meisten darunter gelitten, wenn ihre Geschichte vom Exil in Zweimündung wahr gewesen wäre! So oder so wäre der Gleichheitsfanatismus daran schuld gewesen, dass sie zwölf Jahre lang in der Fremde leben musste!
Schirron machte weiter seiner Fassungslosigkeit Luft: „Und die Spitze von allem ist, dass Vater auch noch so tut, als müsse er Angst vor der Mittelwache und vor den Erdhaften haben! Als würden sie ihn sofort einsperren, nur weil er eine tote Erdhafte aus dem Meer gezogen hat!“
„Damit hat er nicht ganz unrecht.“ Tishanea hielt für einen Augenblick inne. „Es gibt Erdhafte, die sich immer für die Opfer der Wasserhaften und der Felshaften halten. Für einen Wasserhaften, der mit einer toten Erdhaften auf den Mittleren Grund kommt, könnte es wirklich gefährlich werden, wenn er an die falschen Erdhaften gerät.“
Schirron zog skeptisch die Brauen hoch. „Und solche Erdhafte gibt es sogar in der Mittelwache?“
Mit Rogosols Bild vor ihrem inneren Auge setzte Tishanea an: „Warum nicht, es gibt sie ja sogar im Haus des dr– Was weiß denn ich!“ fauchte sie im nächsten Moment. „Bin ich vielleicht auf dem Mittleren Grund aufgewachsen?“
Völlig entnervt kehrte Tishanea Schirron den Rücken zu und attackierte erneut den Haufen loser Erde. Wenn sie doch niemals auf diese Erdhafte gestoßen wären! Sie war nicht nach Seestadt gekommen, um sich den Kopf über Erdhafte oder über Felshafte zu zerbrechen! Sie war nach Seestadt gekommen, um endlich das Leben einer Wasserhaften zu führen! Und genau das würde sie tun, sobald dieses verdammte Grab endlich zugeschaufelt wäre! So schnell sie konnte schippte Tishanea die Grube zu. Schirron schien völlig in Gedanken versunken zu sein und bewegte sich nur langsam. Am Ende stützte er sich auf seinen Spaten und starrte ins Leere.
„Es ist egal, ob es Erdhafte gibt, die jedes Verbrechen sofort einem Wasserhaften oder einem Felshaften in die Schuhe schieben würden – oder wie viele solche Erdhafte es gibt. Vater dürfte sich nicht einmal dann auf seine Angst ausreden, wenn alle Erdhaften so wären. Er verhält sich nämlich genau wie sie. Für ihn sind die Erdhaften und die Felshaften an allem Schlechten in Dreistadt schuld. Dabei sind alle schuld, die nicht zugeben wollen, dass wir es besser haben, wenn wir zusammenhalten – Wasserhafte genauso wie Erdhafte und Felshafte. Ich will dieses Spiel nicht länger mitspielen. Ich habe mich viel zu lange zurückhalten lassen.“
***
Der scharfe Wind, gegen den Tishanea und Schirron sich auf dem Heimweg stemmen mussten, wuchs sich über Nacht zu einem Sturm aus. Sogar die Floßhäuser der sonst so ruhigen Bucht rollten auf sanften Wellen.
„Sturmfrei,“ verkündete Goschub. „War auch Zeit, dass die Fischer einen Tag Pause bekommen. Die Zunft hat einiges zu besprechen, und an den Feiertagen, an denen wir nicht hinausfahren, will sich nie jemand mit diesen Angelegenheiten beschäftigen. Sturmtage sind viel besser für ernste Entscheidungen. Wer kommt mit ins Zunfthaus?“
„Ich natürlich.“ Rabess nahm ihren Umhang vom Haken. „Obwohl ich nicht weiß, warum du immer behauptest, dass an Sturmtagen mehr Zunftangelegenheiten besprochen werden als an Feiertagen. Irgendwer hat immer Schilfwurzelrum mit, auch an Sturmtagen.“
Während Rabess sprach, stolzierte Riesche an ihren Eltern vorbei und verschwand grußlos durch die Tür.
„Sie wird sich doch nicht um diese Tageszeit mit Fjurosch treffen?“ grummelte Goschub. „Arbeitet dieser Kerl denn nie?“
Rabess wandte ratlos die Handflächen nach oben.
Goschub wandte sich Schirron zu. „Kommst du mit ins Zunfthaus?“
Schirron blickte kaum von dem Stiefel auf, in den er soeben einen neuen Schnürsenkel einfädelte. „Nein. Ich habe etwas anderes vor.“
„Ach ja, das Jungvolk bleibt an sturmfreien Tagen gerne unter sich.“ Goschub lachte. „Dann wirst du wohl auch nicht mit ins Zunfthaus kommen, Tisha.“
Tishanea bemerkte, wie Schirron alarmiert den Kopf hob. Offenbar hatte er nicht vor, sie irgendwohin mitzunehmen. Trotz ihrer Enttäuschung wollte sie seine Pläne nicht durchkreuzen. Gleichzeitig schreckte sie vor einem Besuch im Zunfthaus zurück. Selbst nach Wochen fühlte sie sich in Seestadt noch nicht heimisch genug, um sich den kritischen Blicken der versammelten Zunft auszusetzen. Vereinzelte Begegnungen mit Zunftkollegen ihrer Eltern hatten Tishanea ihre Entfremdung deutlich genug spüren lassen.
„Ähhh,“ Tishanea fuhr sich durch ihre Zöpfe. „Ich glaube, ich bleibe heute lieber zu Hause...“
Goschub zog erst eine Braue hoch und dann seine Schultern. „Wie du meinst – wollen wir, Rabess?“
Dicht gefolgt von Schirron verließen Goschub und Rabess das Haus. Tishanea blieb unschlüssig in der Wohnküche sitzen, bis ihr die alten Bücher in ihrem Zimmer einfielen. Voller Vorfreude lief sie hinauf und nahm einen Band vom Regal, aus dem ihre Großmutter ihr oft vorgelesen hatte. Doch obwohl es keine Kindergeschichten waren, vermochten die Sagen sie nicht mehr so zu fesseln wie früher. Besonders die erdhaften und felshaften Bösewichter schienen ihr allzu platt gezeichnet. Es brauchte keinen besonders schlauen Wasserhaften, um sie zu besiegen. Tishanea begann zu gähnen und nickte zuletzt im düsteren Zwielicht des Sturmtages ein. Viel später fuhr sie aus einem wirren Traum auf. Die tote Erdhafte war vor ihr gestanden und hatte ständig „Lanthan!“ und „Tonnoe!“ gerufen. Bei jedem Namen hatte die Traumgestalt Tishanea einen Stoß versetzt und sie immer näher an das Grab herangetrieben, das sich hinter ihr im Boden öffnete. Benommen und mit leichter Übelkeit wankte Tishanea die Stiegen hinunter.
Unten in der Wohnküche wurde sie zu ihrer Überraschung von Goschub begrüßt: „Wenn du deine Seetüchtigkeit nicht schon längst unter Beweis gestellt hättest, würde ich jetzt behaupten, du seist im Haus seekrank geworden.“
Tishanea rang sich ein schiefes Lächeln ab und rettete sich in eine der Sagen, die sie vormittags gelesen hatte: „Das kommt davon, wenn man auf die Gefahren des Sirenengesangs vergisst.“
„Ja, ja,“ brummte Goschub. „Bewahre dich vor dem Schlaf bei Licht. Wenn du tagsüber schläfst, Wasserhafter, wirst du den süßen Sirenengesang hören. Schläfst du zu oft und zu tief statt dein Tagwerk zu tun, so werden die Sirenen dich in ihr Reich ziehen, um dich nie mehr loszulassen.“
Tishanea setzte sich zu ihrem Vater an den Tisch und rieb ihre Augen. Sirenengesang wäre zweifellos besser gewesen als ihr Traum.
„Arbeit ist also das beste Gegenmittel. Du kannst die Schilfwurzeln vorbereiten, während ich den Tang wasche und schneide.“ Goschub schob Tishanea eine Schüssel und ein kleines Messer zu.
Wenig später fegte der Sturm Schirron ins Haus. Tishanea fand, dass auch ihr Bruder so aussah, als wäre ihm ein wenig übel. Aber er durchquerte die Wohnküche mit besonders festem Schritt und pflanzte sich vor seinem Vater auf.
„Ich werde morgen nicht mit euch auf Fischzug gehen!“
Goschub bedachte Schirron mit einem kritischen Stirnrunzeln. „Natürlich nicht. Der Sturm wird noch mindestens bis zum Abend dauern. Niemand wird morgen schon auf Fischzug gehen können, wegen der rauen See.“
Schirron biss sich auf die Lippen und blieb wie verankert stehen.
Goschub legte sein Messer beiseite. Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer. „Das war offensichtlich noch nicht alles. Los, raus damit!“
Nach einigen tiefen Atemzügen straffte Schirron seine Schultern. „Ich werde morgen eine Lehre beginnen. In Figass’ Werft.“
Einen Lidschlag lang saß Goschub wie vom Zitterrochen gestreift, dann donnerte seine Faust auf die Tischplatte. „Was habe ich dir über den Schiffsbau gesagt, Sohn? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das vergessen hast – ebenso wenig kann ich mir vorstellen, dass irgendetwas vorgefallen sein soll, das all meine Einwände fortschwemmt! Sag mir also, Schirron – leidest du an Gedächtnisschwund, oder an dem plötzlichen Wahn, die Welt besser zu kennen als dein Vater?“
Schirron schluckte, doch er hielt Goschubs Blick stand. „Ich leide weder an Gedächtnisschwund noch an irgendeinem Wahn. Aber ich will die Welt selbst besser kennenlernen – vielleicht sogar noch besser als du!“
Der Stuhl kippte polternd um, als Goschub aufsprang. „Du willst die Welt selbst besser kennenlernen?“ brüllte er seinem Sohn ins Gesicht. „Hältst du es wirklich für sinnvoll, dass jede Generation wieder und wieder die gleiche Lektion lernt? Wenn du die Welt besser kennenlernen willst als ich, dann bau auf dem auf, was ich schon weiß, statt alle meine Erfahrungen zu wiederholen!“
„Ich will Schiffe bauen,“ beharrte Schirron ruhig. „Und du hast keine Erfahrungen im Schiffsbau. Also muss ich meine eigenen Erfahrungen machen.“
„Deine eigenen Erfahrungen!“ höhnte Goschub. „Glaubst du wirklich, ich lasse es zu, dass du an deinem eigenen Leib erfahren musst, wie es ist, wenn man bei seiner Arbeit vollkommen von den Dreckwühlern und den Bergziegen abhängig ist? Es ist schon als Fischer schlimm genug in dieser Stadt, obwohl wir keineswegs von den Dreckwühlern und Bergziegen abhängig sind!“
„Auch die Fischer sind nicht von den Erdhaften und von den Felshaften unabhängig – genauso wenig, wie sie von uns Wasserhaften unabhängig sind! Und wie willst du verhindern, dass ich meine eigenen Erfahrungen mache? Wie willst du verhindern, dass ich die Lehre in der Werft anfange? Willst du mich tagsüber an den Mast der ,Seelöwin’ binden und mich nachts im Haus einsperren?“ Schirrons Stimme zitterte leicht, aber seine Haltung blieb entschlossen.
Goschub schien vor Zorn anzuschwellen. „Ich könnte dich sofort aus dem Haus werfen und dafür sorgen, dass du es nie wieder betrittst!“
„Das wäre nur ein Grund mehr für mich, in der Werft zu arbeiten,“ flüsterte Schirron, obwohl er noch blasser war als zuvor.
„Ach ja? Dann geh doch!“ brüllte Goschub. „Hol deine Sachen und geh!“
„Vater! Du kannst Schirron doch nicht einfach aus dem Haus werfen, nur weil er einen Beruf lernen will, der dir nicht gefällt!“
Bis jetzt war Tishanea wie erstarrt gesessen. Doch ihr Entsetzen darüber, dass Schirron aus seiner Familie fortgejagt werden sollte, hatte die Starre schlagartig gelöst.
Sofort richtete Goschubs ganze Wut sich auf sie: „Wer hat dich denn gefragt? Und wieso auf allen Wellen glaubst du, dass du mir sagen kannst, was ich tun kann und was ich nicht tun kann? Wofür hältst du dich? Glaubst du, dass mein Wort für dich nicht mehr gilt, nur weil du zwölf Jahre lang nicht unter meinem Dach gelebt hast? Im Gegenteil – gerade deshalb solltest du deinen Mund halten und dankbar dafür sein, dass du in meinem Haus wohnen darfst! Denn es ist mein Haus, und ich allein entscheide darüber, wer bleibt und wer geht!“
Tishanea fuhr hoch. Obwohl ihre Stimme nur noch gepresst hervorkam, schrie sie beinahe so laut wie ihr Vater: „Diese zwölf Jahre geben mir jedes Recht auf mein eigenes Wort! Wegen dieser zwölf Jahre weiß ich nämlich besser als jeder andere, wie grausam es ist, von seiner Familie getrennt zu werden – wie unerträglich es ist, nicht zu wissen, ob man seine Eltern jemals wiedersehen wird, und wie sie reagieren werden, falls man ihnen doch eines Tages wiederbegegnet! Wie ist es mit dir? Kannst du dir vorstellen, wie weh das alles tut? Wie–“
Goschubs abfälliger Gesichtsausdruck ließ Tishanea abbrechen. Natürlich wusste er, wie sehr es schmerzte, von seiner Familie verstoßen zu werden. Genau aus diesem Grund hatte er Schirron damit gedroht.
Kühler als zuvor, aber umso schärfer ergriff Goschub wieder das Wort: „Sei jetzt lieber still, Tochter. Sonst mache ich mir noch Gedanken darüber, ob du etwas mit Schirrons fischköpfigen Ideen zu tun haben könntest. Er hatte sie zwar schon früher, aber sie sind erst wieder aufgetaucht, nachdem ihr beide dauernd zusammengesteckt seid. Vielleicht fand Schirron sein Leben als Fischer nicht mehr gut genug, nachdem er von deinem abenteuerlichen Leben in Zweimündung erfahren hat. Ich kann keinen Unruhestifter unter meinem Dach brauchen – denk daran, bevor du deinen Mund aufmachst.“
Wie geschlagen ließ Tishanea sich auf ihren Stuhl fallen und heftete ihren tränenverschleierten Blick auf die Tischplatte. Schirrons Stimme schien aus weiter Entfernung zu kommen:
„Tisha hat überhaupt nichts mit der ganzen Sache zu tun – und ihr Leben in Zweimündung noch weniger! Es war allein meine Entscheidung! Ich will dich weder ärgern noch mit meiner Familie brechen. Ich habe nur einen Wunsch, der größer ist als mit euch allen in diesem Haus zu leben: Schiffe zu bauen. Wenn ich mein Elternhaus verlassen muss, um mir diesen Wunsch zu erfüllen, dann werde ich es tun. Aber es täte mir Leid, wenn ich es tun müsste. Deshalb bitte ich dich, es dir noch einmal zu überlegen.“
Undurchdringliches Schweigen breitete sich aus. Mit angehaltenem Atem hob Tishanea den Kopf. Ihr Bruder und ihr Vater starrten einander an ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Auf Schirrons Miene stand fester Entschluss, während auf Goschubs Zügen gegensätzliche Impulse miteinander kämpften. Am Ende riss Goschub sich los, stampfte zur Stiege und brüllte:
„Ach, mach doch, was du willst!“
Nachdem ihr Vater im oberen Stock die Schlafzimmertür zugeschlagen hatte, ließ Tishanea ihren Kopf auf den Tisch sinken und verbarg das Gesicht in ihrer Armbeuge. Ihr Vater hielt sie für eine Unruhestifterin! Obwohl sie alles getan hatte, um die letzten zwölf Jahre vergessen zu machen! Wenn er so viel Unwasserhaftes in ihr sah, durfte sie nie darauf hoffen, dass er ihr die Wahrheit über das Haus des dreifachen Friedens verzeihen würde! Warum war sie nicht stärker gewesen? Wie hatte sie den Friedenslehrern erlauben können, ihr so viel von ihrer Haftigkeit zu nehmen?
Schirron legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Seine Finger zitterten leicht. „Warum hast du Vaters Zorn auf dich gezogen? Lass ihn das nächste Mal einfach toben. Er sagt viel, wenn er wütend ist. Aber er macht nur selten ernst damit. Wenn man ihn nicht noch mehr reizt, wird er bald wieder ruhig – zumindest ruhig genug, um wieder zu Verstand zu kommen.“
***
Die Stimmung im Haus blieb wochenlang gereizt. Goschub ließ keine Gelegenheit aus, Schirron mit sarkastischen Bemerkungen über den Schiffsbau zu bombardieren. Schirron nahm die Launen seines Vaters mit erstaunlicher Fassung hin und presste nur manchmal die Lippen aufeinander. Viel schwerer schien es ihm zu fallen, Rabess’ bekümmerte Miene zu ertragen. Ihren Versuch, ihn zur Aufgabe seiner Lehre zu überreden, wehrte er dennoch scharf ab:
„Was fändest du schlimmer?“ fragte er seine Mutter. „Dass Vater einige Wochen lang schlechte Laune hat, oder dass ich für den Rest meines Lebens unzufrieden bin?“
Danach sprach Rabess fünf volle Tage kein Wort mit Schirron. Nicht einmal die sonst so gleichgültige Riesche blieb von den Spannungen in der Familie unberührt. Sie stolzierte nicht mit ungerührter, sondern mit eisiger Miene umher. Rabess verriet Tishanea, dass Fjurosch knapp davor gestanden war, eine Einladung zum Abendessen anzunehmen. Doch nach den jüngsten Ereignissen hatte er wieder einen Rückzieher gemacht. Tishanea war hin- und hergerissen. Sie bewunderte den Mut ihres Bruders und freute sich über die Begeisterung, mit der er ihr abends von seiner Arbeit in der Werft erzählte. Gleichzeitig vermisste sie Schirron auf See. Ihn allein hatte sie alles fragen können, ohne sofort das Gefühl zu bekommen, eine Schande für ihre Fischerfamilie zu sein. Außerdem litt Tishanea an Bord unter Goschubs ständigen Seitenhieben auf verblendete Schiffsbauer und ihre treuen Schwestern. Ganz nach Schirrons Beispiel versuchte sie, die Zähne zusammenzubeißen. Trotzdem geriet sie immer wieder in heftige Wortgefechte mit ihrem Vater. Nicht einmal die Erfahrung, dass er stets das letzte Wort behielt, und sie verletzt zurückblieb, vermochte ihr den Mund zu verschließen.
Beim ersten Abendessen, das nach langer Zeit in entspannter Wortlosigkeit verlief, atmete Tishanea auf. Keine einzige Stichelei wurde laut, und dem Schweigen fehlte die Eiseskälte, die sonst zwischen den Sticheleien geherrscht hatte. Offenbar gab es doch einen Funken Hoffnung auf ein normales Leben mit einem Schiffsbaulehrling in der Familie. Beinahe fröhlich half Tishanea dabei, den Tisch abzuräumen, als plötzlich die Haustür aufgerissen wurde. Ohne zu klopfen und ohne Gruß trat ein Wasserhafter mit energischem Schritt über die Schwelle. Er musste sich unter den Türstock ducken, und wenn seine Schultern noch eine Spur breiter gewesen wären, hätte er sich außerdem zur Seite wenden müssen. Er platzte mit der Wucht eines Vulkans herein, und die Lava loderte in seinen Augen. Schurac.
Nicht nur Tishanea stand wie gebannt vor Schock. Auch ihre Eltern und Geschwister starrten entgeistert zur Tür, während Schuracs flackernder Blick über sie hinweg glitt. Obwohl er Tishanea nur kurz fixierte, traf es sie wie ein Peitschenhieb. Nie hatte sie geglaubt, Schurac hier in diesem Haus sehen zu müssen. Wie hatte er sie nur gefunden? Goschub erholte sich am schnellsten. Mit größter Sorgfalt stellte er die Schüssel, die er in seiner Hand hielt, auf den Tisch zurück. Dann wandte er sich Schurac zu, ohne ihm näher zu kommen. Selbst aus einigen Fischlängen Entfernung musste er steil zu dem ungebetenen Gast aufsehen.
„Wen haben wir denn da,“ tönte Goschub spöttisch. „Wenn das nicht der großartigste Kämpfer ist, den Seestadt jemals großgezogen hat! Oder ist es doch der größte Abtrünnige in Seestadts langer Geschichte? Lass mich überlegen –“ Er strich sich in aufgesetzter Nachdenklichkeit über den Stoppelbart. „Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir bei unserem letzten Zusammentreffen verboten, dieses Haus jemals wieder zu betreten.“
Schurac betrachtete Goschub grimmig. „Ich habe das Verbot nicht vergessen.“ Sein Ton machte kein Hehl daraus, wie lächerlich er die Vorstellung fand, dass Goschub ein Hausverbot gegen ihn durchsetzen wollte. „Aber wenn du dich noch so gut an unser letztes Zusammentreffen erinnern kannst, weißt du sicher auch, warum ich dieses Verbot heute brechen muss.“
Er deutete mit dem Kopf auf Tishanea, die immer noch reglos stand. Der Schock wollte nicht von ihr weichen, und darunter lauerte bereits die altvertraute, würgende Angst. Dabei stand Schurac noch gute sieben Fischlängen entfernt.
„Es ist zu spät, Schurac!“ triumphierte Goschub. „Zwölf Jahre zu spät! Sie sollte euch gehören, aber sie ist euch entwischt – nach Zweimündung. Jetzt könnt ihr sie nicht mehr zu einem Zögling im Haus des dreifachen Friedens machen!“
Flüchtiges Befremden malte sich auf Schuracs Miene, gefolgt von Begreifen, tiefster Erbitterung und maßlosem Zorn. Unwillkürlich duckte Tishanea sich unter dem vernichtenden Blick, den der riesige Wasserhafte auf sie richtete. Ihre Familie brauchte keine weitere Erklärung, um zu verstehen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis das Beobachtete sich zu Gewissheit verdichtete. Rabess wandte sich abrupt zur Stiege und verließ die Wohnküche. Schirron schüttelte ungläubig den Kopf. Riesche zog fassungslos die Brauen hoch. Goschub wurde grau im Gesicht.
„Verlasst mein Haus. Alle beide. Auf der Stelle. Für immer.“
Er brüllte nicht. Er flüsterte beinahe. Sein eisiger Ton schnitt tiefer als alle seine Wutausbrüche zusammen – so tief, dass er sogar Tishaneas Schockstarre löste. Plötzlich fand Tishanea sich fähig, auf ihren Vater zuzulaufen. Sie wollte ihn anflehen, ihr die Lügen zu verzeihen, und sie vor Schurac zu beschützen. Doch gleichzeitig löste Schurac sich von seinem Posten an der Tür. Sofort nahm die würgende Angst zu und drohte Tishanea erneut zu bannen. Verzweifelt versuchte die Wasserhafte, sich dagegen zu wehren, und einen Haken zu schlagen – zwecklos. Zwei von Schuracs fließenden, raumgreifenden Schritten reichten, um ihr den Weg abzuschneiden. Im nächsten Augenblick stand er nur noch eine Grätenlänge entfernt. Ohne die leiseste Berührung schien er alle Kraft aus Tishanea herauszusaugen und sie stattdessen mit lähmendem Grauen auszufüllen. Sie schrie innerlich vor Hilflosigkeit und Demütigung. Wieso hatte er solche Macht über sie? Woher kam diese grenzenlose Angst? Viele Dreistädter waren stärker als sie, und sie fürchtete keinen von ihnen. Es konnte also nicht allein Schuracs immense Kraft sein, die sie zu einem zitternden Bündel Elend machte.
„Versuch erst gar nicht, mir zu entwischen,“ grollte Schurac auf sie herunter. „Es wird dir nicht gelingen. Gehen wir.“ Er gab die Bahn zur Tür auf eine Weise frei, die jeden anderen Weg blockierte.
In einem letzten Versuch, ihre unerklärliche Angst zu bezwingen, schloss Tishanea die Augen.
„Los, beweg dich!“ Schuracs Ton verriet, dass er knapp vor dem Ende aller Geduld stand. Nach einer kurzen Pause fuhr er noch schärfer fort: „Ich habe dich schon einmal aus diesem Haus geschleppt, und ich schwöre dir – wenn es notwendig ist, werde ich es wieder tun!“
Unter Tishaneas blinder Angst kämpfte sich eine bittere Einsicht an die Oberfläche. Schurac hatte sie vor zwölf Jahren aus ihrem Elternhaus geholt und auf den Mittleren Grund gebracht! Damals musste Goschub ihm verboten haben, sein Haus jemals wieder zu betreten! Deshalb hatte Schurac gewusst, wo er sie wahrscheinlich finden würde! Und deshalb schlug die Angst sie jedes Mal in Fesseln, wenn sie seine Nähe spürte! Schurac verkörperte allen Zwang in ihrem Leben. Er war der Grund dafür, dass sie im Haus des dreifachen Friedens aufgewachsen war statt bei ihrer Familie. Bevor diese Erkenntnis sich fest verankern konnte, wurde Tishanea von einer kräftigen Hand im Nacken gepackt. Neuer Zwang brach über sie herein – der Zwang, sich vorwärts zu bewegen. Für die Dauer eines Lidschlags versuchte Tishanea noch, ihre Fersen in den Holzboden zu stemmen. Dann schwand der letzte Funke ihres Widerstandsgeists. Sie hatte dem riesigen Wasserhaften heute kaum mehr entgegenzusetzen als vor zwölf Jahren. Er würde sie wirklich wie einen Sack voller Seetang aus dem Haus schleppen, wenn sie nicht selbst ging. Allein konnte sie nichts gegen Schurac ausrichten, und von ihren Eltern durfte sie offenbar keine Hilfe erwarten. Sie akzeptierten einen Zögling aus dem Haus des dreifachen Friedens nicht mehr als Tochter – vielleicht nicht einmal als Wasserhafte. Wie in Trance ließ Tishanea sich von Schurac abführen. Er hielt nur noch kurz an der Tür inne, um einen der Fellumhänge vom Haken zu reißen. Danach hatte Tishanea alle Mühe, mit Schurac Schritt zu halten und nicht von ihm über die Floßpfade geschleift zu werden.
***
Tishaneas Überzeugung, dass Schurac sie ins Haus des dreifachen Friedens bringen würde, fand ein jähes Ende. Völlig unvermittelt blieb er neben einem Seestädter Steinhaus stehen und begann, in seiner Gürteltasche zu kramen. Im fahlen Licht, das aus einem Fenster auf der anderen Straßenseite fiel, konnte Tishanea ein Wandrelief erkennen. Es zeigte zwei Seelöwen, die sich auf einem Felsen sonnten. Dies musste also das Haus in der Krakengasse sein. Hier hätte sie in jeder zweiten Woche Bericht über ihre Nachforschungen in Seestadt erstatten sollen. Wie viele dieser Termine waren verstrichen? Sie hatte irgendwann aufgehört, zu zählen. Mit nur einer Hand fiel es Schurac schwer, die alte, verzogene Tür aufzusperren und zu öffnen. Trotzdem ließ er Tishaneas Nacken nicht los, bis er sie in den oberen Stock geführt hatte. Dort schubste er Tishanea unsanft in den Raum, warf die Tür zu, riss sich seinen Umhang von den Schultern und schleuderte ihn gemeinsam mit dem anderen, den er aus Goschubs Haus fortgetragen hatte, auf einen Sessel. Hastig nützte Tishanea die Gelegenheit, mehr Raum zwischen sich und den riesigen Wasserhaften zu bringen. Sie kam nicht weit. Das Licht der Tranlampe, das Schurac aufflammen ließ, enthüllte ein außerordentlich kleines Zimmer. Unter normalen Umständen hätte dieser Raum niemals ausgereicht, um den beklemmenden Eindruck von Schuracs Gegenwart zu mildern. Aber jetzt war es Erleichterung genug, Schuracs Griff entkommen zu sein. Selbst an die größte Angst konnte man sich gewöhnen, wenn sie lange genug anhielt. Tishanea spürte, wie neben der Angst wieder Platz für neue Gefühle entstand, und wie er sofort von Hass ausgefüllt würde. Nie war ihr Hass auf Schurac größer gewesen als in diesem Augenblick. Er hatte sie aus ihrer Familie gerissen! Heute – und vor zwölf Jahren! Feindselig verfolgte Tishanea, wie Schurac sich langsam zu ihr umwandte. Ohne es zu wissen, nahm sie die Grundhaltung der wasserhaften Kampftechnik ein. Erst jetzt brach Schuracs ganzer Zorn über ihren Ungehorsam und über ihre Lügen auf seiner Miene hervor. Tishanea begriff, dass es sogar für ihn ein Risiko gewesen sein musste, sie aus einem Haus voller Wasserhafter zu holen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Gebot der Wachsamkeit seine Wut gezügelt. Nun brodelte sie dicht unter der Oberfläche. Es war deutlich zu sehen, dass Schurac mit aller Kraft um Beherrschung rang. Plötzlich empfand Tishanea den glühenden Wunsch, diese dünne Oberfläche zu durchstoßen. Sie wollte diese machtvolle Wut entfesseln und sie über sich hereinbrechen lassen. Egal, wozu Schurac sich dann hinreißen ließe – es würde sie nicht mehr verletzen als alles, was er ihr bisher angetan hatte. Sollte er sie doch totschlagen! Dann wäre sie allen Schmerz los, und er würde in einer Zelle im Haus der dreifachen Gerechtigkeit verrotten! Tishanea spannte ihren Körper und schnellte wie ein Raubfisch auf Schurac los. Eine Stichflamme loderte in seinen Augen auf und hieß die Herausforderung zum Kampf rückhaltlos willkommen. Doch noch im Sprung sah Tishanea, wie ein Ruck durch Schuracs Körper ging. Sie wusste sofort, dass der Moment vorüber war. Was immer sie jetzt täte, Schurac würde es von sich abprallen lassen. Ihr Angriff hatte ihn nicht um seine Beherrschung gebracht, sondern sie ihm wiedergegeben. Seine Wut war zweifellos ungebrochen, aber von jener Strenge in Zaum geschlagen, die Tishanea allzu gut kannte. Schurac würde sie auch diesmal nicht aus seinen Klauen lassen – nicht einmal auf dem schmerzhaftesten Weg, den sie sich vorstellen konnte. Nur aus Verzweiflung brach Tishanea ihren Angriff nicht ab. Ihre linke Ferse und ihre rechte Faust rammten nacheinander Schuracs Magengegend. Der Wasserhafte ließ die Attacke ohne Gegenwehr über sich ergehen. Im nächsten Augenblick war er aus Tishaneas Gesichtsfeld verschwunden. Von der Seite her schloss eine seiner riesigen Hände sich um ihre beiden Handgelenke, während sein Fuß ihre Füße auf dem Boden fixierte. Als Schurac Tishanea auch noch einen leichten Stoß versetzte, hing sie hilflos in seinem Griff. Ihre Hiebe schien er überhaupt nicht gefühlt zu haben. Die schweren Atemzüge konnten genauso gut von seinem Zorn kommen. Schurac beugte sich tief zu Tishanea hinunter. Sein Gesicht war nur mehr wenige Grätenlängen von ihrem entfernt. Seine Augen flackerten so heftig, dass sie in mehreren Farben zu schillern schienen.
„Die letzten Wochen – ach was, Monate! – haben dich kein bisschen verändert! Du verhältst dich, als würde dir das größte Unrecht angetan. Dabei warst du es, die alle Anweisungen missachtet und gebrochen hat!“
Tishanea biss die Zähne zusammen. Ihre Schultern und Arme begannen zu schmerzen, weil sie krampfhaft versuchte, sich zumindest halbwegs aufrecht zu halten. Endlich gab Schurac ihre Füße frei, zog Tishanea auf die Beine und richtete sich selbst wieder auf. Nur ihre Handgelenke saßen immer noch im Schraubstock seiner Faust fest.
„Sag mir, welchen Teil meiner Anweisungen du nicht verstanden hast!“ herrschte Schurac sie an. „Habe ich dir nicht verboten, mit deiner Familie Kontakt aufzunehmen? Hättest du nicht Nachforschungen darüber anstellen sollen, ob Seestädter hinter dem Sprengstoffanschlag auf dem Mittleren Grund stecken? Und hättest du mir nicht regelmäßig hier in diesem Haus darüber berichten sollen, was du herausfinden konntest?“
Tishanea legte nicht einmal den Kopf in den Nacken, um Schurac in die Augen zu sehen. Er wusste, dass sie seine Anweisungen verstanden hatte. Und wenn er wirklich nicht kapierte, warum sie trotzdem keinem einzigen seiner Befehle gefolgt war, würde sie es ihm niemals begreiflich machen können. Auf keinen Fall würde sie sich für ihren Versuch rechtfertigen, das zurückzuholen, was er ihr vor zwölf Jahren genommen hatte.
„Glaubst du, dein Auftrag ist ein Spiel?“ fuhr Schurac eindringlich fort. „Es geht nicht allein darum, diejenigen zu bestrafen, die diesen Anschlag verübten! Es geht außerdem darum, zu verhindern, dass sie nochmals zuschlagen! Es geht hier um Lebensgefahr! Wenn du deinen Auftrag ignorierst, verurteilst du vielleicht viele Dreistädter zum Tod! Was im Namen der dreifachen Gerechtigkeit kann wichtiger sein, als Leben zu retten?“
Gegen ihren Willen riss eine Woge der Empörung Tishaneas Kopf in die Höhe und öffnete ihr den Mund: „Was kümmern mich die Leben anderer Dreistädter, wenn ich mein eigenes verloren habe!“
Neue Erbitterung flammte in Schuracs Augen auf. Er ließ Tishanea los und stemmte die Hände in die Hüften. Nun wirkte seine riesige Gestalt noch massiver. Unwillkürlich taumelte Tishanea einige Schritte zurück.
„Du glaubst, du hast dein Leben verloren?“ donnerte Schurac. „Erst das Haus des dreifachen Friedens hat dir ein Leben gegeben – ein wahrhaftiges, gutes Leben! Das Haus des dreifachen Friedens bietet dir mehr Einsicht und Wissen, als ein Wasserhafter in Seestadt jemals erlangen könnte! Es gibt dir eine Lebensaufgabe – die Möglichkeit, ein nützliches Leben zu führen, zum Wohl aller Dreistädter! Wenn du endlich deine Augen aufmachen würdest, würdest du sehen, was dieses Haus bedeutet – was es für dich und für alle Dreistädter bedeuten könnte! Aber du läufst lieber mit geschlossenen Augen durchs Leben und lehnst alles ab, wofür dieses Haus steht!“
Wutentbrannt warf Tishanea ihre Zöpfe aus dem Gesicht. „Ich spucke auf alles, was das Haus des dreifachen Friedens bedeutet, solange es mir nicht die Wahl über mein eigenes Leben lässt!“
„Du willst eine Wahl haben? Um wirklich eine Wahl zu haben, musst du erst sehen, welche Wahlmöglichkeiten es gibt! Ein Leben in Seestadt allein lässt dir nicht die geringste Wahl! Schau dir doch an, was du in Seestadt getan hast, während du sicher warst, dass du deine eigene Wahl triffst – du hast dich versteckt, und du hast Lügen erzählt! Ist das wirklich die Wahl, die du treffen willst?“
„Nein!“ brüllte Tishanea so laut sie konnte. „Das ist die Wahl, zu der du mich gezwungen hast, indem du mich vor zwölf Jahren aus meiner Familie gerissen hast!“
Schurac rollte seine flackernden Augen, hob die Fäuste und wirbelte herum. Ein Hieb voller Wut und Frustration fuhr in die Wand. Risse zogen sich durch den spröden Verputz, Sandkörner rieselten. Der Ausbruch ließ Tishanea zusammenzucken. Trotzdem schöpfte sie keine neue Hoffnung darauf, dass sie Schurac um seine Beherrschung bringen könnte. So wie die Dinge standen, würde er in seinem Zorn vielleicht das Haus niederreißen, aber keine Hand gegen sie erheben. Sein Pech. Dann musste er eben damit leben, dass er sie nicht beherrschen konnte.
Schurac nahm einige tiefe Atemzüge, bevor er sich wieder Tishanea zuwandte. Seine zusammengezogenen Brauen verschatteten seine Augen fast vollständig. „Deine Familie ist also das Paradies, ja? Die Familie, die du anlügen musstest und die dich aus dem Haus warf, als sie von deinen Lügen erfuhr? Die Familie, die dich nicht unter ihrem Dach duldet, weil du ein Zögling aus dem Haus des dreifachen Friedens bist?“
Tishanea wollte auffahren – dass ihre Familie sie so behandelte war allein seine Schuld! – doch Schurac ließ sie nicht zu Wort kommen:
„Du hast dich also in deiner Familie zu Hause gefühlt? Du hast allem, was dort gesagt wurde, aus vollem Herzen zustimmen können? Du hast nie – kein einziges Mal – das Gefühl gehabt, dass im Haus des dreifachen Friedens ein besserer Weg für Seestadt und für Dreistadt gelehrt wird? Du hegst nicht den geringsten Zweifel daran, dass du zu dieser Familie gehörst?“
Jede seiner Fragen traf Tishanea tief. Sie trafen mitten in jenen Teil ihres Lebens, den sie vor Schurac sicher geglaubt hatte. Er konnte nicht wissen, wie sie sich gefühlt hatte, als ihr Vater einer toten Erdhaften ohne Mitleid und ohne Verantwortungsgefühl begegnet war. Er konnte nicht wissen, wie unsinnig sie Goschubs und Rabess’ Einwände gegen Schirrons Traum fand. Er konnte nicht wissen, dass sie nie an dem Denkmal für die Schlacht an der Felsengrenze vorbeizugehen vermochte, ohne sich zu fragen, wer in Dreistadt die Wahrheit sagte und wer log. Er konnte nicht wissen, wie engstirnig ihr die Seestädter manchmal erschienen. Dennoch legte Schurac den Finger in ihre größte Wunde. Seine Fragen stießen Tishanea auf alles, was sie von ihrer Familie trennte und was sie von Seestadt trennte. Sie wünschte, dass sie sich in ihrer Familie voll und ganz zu Hause gefühlt hätte. Sie wünschte immer noch, dass sich eines Tages voll und ganz in ihrer Familie zu Hause fühlen könnte. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie dieses Gefühl nie haben würde. Sie würde nie wirklich ein Teil ihrer Familie sein.
Schurac schien die Betroffenheit von ihrem Gesicht abzulesen. Das Flackern in seinen Augen verlor an Heftigkeit, während seine Wut sich zu grimmiger Entschlossenheit wandelte. Offenbar witterte er die Chance, Oberhand zu bekommen. Sofort schäumte neuer Hass in Tishanea auf. Natürlich wusste Schurac, wie ihr in Seestadt zumute sein musste! Er und die anderen Friedenslehrer hatten doch alles getan, um sie ihrer Heimat zu entfremden! Schurac setzte nur das Spiel fort, das vor zwölf Jahren im Haus des dreifachen Friedens begonnen worden war. Doch jetzt, nachdem sie die Regeln durchschaut hatte, konnte sie die Regeln brechen!
„Ja, ich habe mich in meiner Familie zu Hause gefühlt! Ich teile alle ihre Meinungen! Ich gehöre zu ihnen – und nur zu ihnen!“
Tishanea legte den letzten Funken ihrer Wut und ihrer Kraft in diese Lügen. Nur ihr Hass auf Schurac und auf das Haus des dreifachen Friedens verliehen ihrem Ton die Überzeugung, die sie nicht fühlte. Danach war sie zu ausgelaugt, um auch nur ihren Blick von Schurac abzuwenden. Seine Augen loderten nun so bedrohlich wie nie zuvor, obwohl sich auf seinen Zügen kein Zorn mehr zeigte. Nichts stand auf seiner Miene außer erbarmungsloser Strenge. Mit langsamen, schweren Schritten bewegte Schurac sich auf Tishanea zu. Vergeblich versuchte sie, sich nochmals gegen die lähmende Angst zu wappnen. Völlig ungebremst brach das Grauen über sie herein. Tishanea zog den Kopf zwischen die Schultern und wich zurück, bis sie einmal mehr gegen eine Wand stieß. Schurac stützte seine Fäuste links und rechts von ihr gegen die Mauer, dicht neben ihren Schultern.
„Es ist egal, wie du zu deiner Familie stehst,“ hörte Tishanea Schuracs gefährlich leise Stimme von oben. „Du kannst jetzt nicht mehr zu ihr zurück. Und du hast immer noch eine Aufgabe zu erfüllen. Ich gebe dir fünf Wochen. In fünf Wochen, am Tag der dreifachen Einigkeit, kehrst du ins Haus des dreifachen Friedens zurück und erstattest Bericht über deine Nachforschungen zu dem Sprengstoffanschlag!“
Rascher als erwartet und ohne eine Antwort zu verlangen, wandte Schurac sich ab. Er riss seinen Umhang an sich und verließ den Raum. Das Geräusch des Schlüssels im Schloss der Zimmertür passte wieder ins Bild. Schurac war also doch noch nicht fertig mit ihr. Spätestens am Morgen standen ihr neue Maßregelungen bevor. Erschöpft lehnte Tishanea ihren Kopf gegen die Wand und sprang im nächsten Moment hastig beiseite. Auf dem Verputz leuchtete ein Blutfleck! Langsam dämmerte es Tishanea, dass Schurac sich bei seinem Hieb gegen die Wand die Faust blutig geschlagen haben musste. Die Genugtuung blieb aus. Tishanea fand sich zu betäubt, zu leer, um irgendetwas zu fühlen. Nach einem kurzen Versuch, die Taubheit abzuschütteln, flüchtete Tishanea regelrecht zu ihr zurück. Die Leere war leichter zu ertragen als jede Erinnerung an den heutigen Tag. Tishanea ließ sich auf den Boden sinken. Irgendwann kroch die Kälte unter ihre Fellweste und unter ihre Fischledertunika. Als sie zu zittern begann, rappelte Tishanea sich auf. Hatte Schurac nicht einen Umhang aus ihrem Elternhaus mitgenommen? Über dem Sessel lag tatsächlich Seehundfell. Unter plötzlichem Widerstreben hielt Tishanea inne. Wollte sie wirklich den Umhang ihres Vaters, ihrer Mutter oder eines ihrer Geschwister tragen – und gleichzeitig Schurac dafür dankbar sein müssen, dass sie nicht fror? Der nächste Kälteschauer besiegte ihren Widerwillen. Tishanea stapfte zu dem Sessel hinüber. Erst war sie überrascht, dass dort ihr eigener Umhang lag, dann hob sie gleichgültig die Schultern. Schurac hatte eben zufällig den richtigen erwischt. Die Gleichgültigkeit hielt nur, bis Tishanea sich in den Umhang wickelte und ihr der vertraute Geruch des Seehundfells in die Nase stieg. Mit brennender Kehle wankte Tishanea zu der Hängematte am anderen Ende des Raumes und rollte sich darin zusammen.