Читать книгу Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp - Страница 4
zwei
ОглавлениеAm Morgen, an dem ihr erster Termin bei dem Physiotherapeuten Michael Levin anstand, spazierte Inga ahnungslos vom Parkplatz bei den Sülzwiesen in Richtung Innenstadt. Sie liebte es, zu Fuß unterwegs zu sein. Es war der erste milde Frühlingstag nach einem langen Winter. Inga genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, öffnete den Reissverschluss ihrer Jacke und lockerte den Schal: himmlisch. Später sollte sie sich an jedes Detail erinnern, an die genaue Form der Bilderbuchwolken am blauen Himmel, die Pflastersteine der Straße, daran, wie die Frühlingssonne auf die dunkelroten Klinker der Hausmauer fiel. Auch nach Jahren noch würde sie, wenn sie die Augen schloss, den andalusischen Blumenkübel neben der Tür sehen, in dem später Petunien und Brachyscome wuchern sollten. Vorerst jedoch ahnte sie nicht, dass ein einziger, Sekundenbruchteile dauernder Augenblick ihr Leben auf den Kopf stellen könnte, dass am Abend dieses Tages nichts mehr sein würde wie bisher.
Gut gelaunt bog Inga von der Unteren Ohlinger Straße in die Christel-Heinz-Straße ein. Sie schritt an der blutrot gestrichenen Fassade von Haus Nummer vier vorbei, Nummer sechs ... Nummer acht. Hier musste es sein. An der Mauer wies ein blauweißes Schild aus maurischen Fliesen den Weg:
Praxis für Physiotherapie
Michael Levin
Eingang im Hof
Daneben befand sich ein großes, hölzernes Tor, dessen rechter Flügel einladend offenstand. Inga trat in einen Innenhof mit berankten Wänden, mehreren Sträuchern und sogar einem kleinen runden Springbrunnen, der noch mit altem Laub bedeckt im Winterschlaf lag. Dem Tor gegenüber duckte sich ein kleines, windschiefes Fachwerkhaus aus rotem Backstein und krummen Holzbalken. Auch hier ein Schild. Links neben der Haustür stand ein großer, andalusischer Blumenkübel, in dem erste Stiefmütterchen blühten. Rechts eine rustikale Holzbank, davor ein Tisch aus einem alten Mühlrad. An der Hauswand leuchtete das gleiche gelbe X aus gekreuzten Brettern, Symbol des Widerstands gegen Atomkraft, das auch am Eingangstor hing. Spatzen hüpften über die Feldsteine, mit denen der Hof gepflastert war. In einem heruntergekommenen Nachbarhaus spielte jemand Geige. Außer den Melodien, die zart herüberwehten, und einigen Singvögeln war nichts zu hören. Die umliegenden Gebäude schirmten alle Geräusche der Stadt ab.
Wie schön musste es sein, im Sommer hier draußen auf seinen Termin zu warten. Inga konnte sich vorstellen, absichtlich eine ganze Stunde zu früh zu kommen, nur um auf der Bank zu sitzen und dem Plätschern des Springbrunnens zuzuhören. Hier hatte jemand mit viel Liebe für alte Dinge und südländische Lebensart ein Paradies geschaffen. Einen Ort mit einer sehr friedvollen, ja heilsamen Atmosphäre.
Inga fand keine Klingel, drückte probeweise die Klinke der Haustür, die sich knarrend öffnete. Drinnen herrschte wie erwartet schummriges Halbdunkel. doch mit seinen gekalkten Wänden und der sparsamen Einrichtung wirkte der kleine Flur trotzdem nicht beengt. Eine Wand war bis auf das Fachwerkgerüst entfernt worden, und in diesem Wartebereich stand eine Sammlung verschiedener antiker Stühle. Inga schmunzelte über die Beschriftung mehrerer Zimmertüren. Altes Messing oder abgeplatzte Emaille verkündeten: ‚Sanitätsbaracke’, ‚privat’, ‚Badkamer’ oder ‚Bei Verlassen des Zuges Handgepäck nicht vergessen’. Auf einem Küchentisch aus der Gründerzeit lagen neben Flyern der Anti-Atom-Bewegung verschiedene Zeitungen aus: Hamburger Abendblatt, Geo, die taz ... Eine angenehme Abwechslung zu den Klatschblättern oder zwei Jahre alten Ausgaben des Spiegel, die man sonst in Wartezimmern fand. Da unter den Anti-Atom-Broschüren keine war, die sie noch nicht kannte, machte Inga es sich mit der taz in einen Armlehnstuhl aus der Jahrhundertwende bequem.
Ein Mann trat aus der Tür mit der Aufschrift ‚Sanitätsbaracke’, verschwand mit einem „Bitte noch einen Moment“ in einem anderen Raum, kam zurück und bat sie hinein. Sie setzte sich auf den angebotenen Stuhl, er nahm ihr gegenüber Platz. Inga stellte ihre Tasche ab, richtete sich wieder auf. Und dann sah sie ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht.
Es traf sie ganz unvorbereitet und mit voller Wucht, gerade so, als würde sie von einer Naturgewalt gepackt und emporgehoben, gegen die Wand geschleudert. Sein Blick haute sie einfach um.
Michael Levin war ein braungebrannter Typ mit einem offenen, etwas jungenhaften Gesicht. In seinem dichten, graumelierten Haar fanden sich Spuren von mittelblond bis hellbraun, was eine Mischung von ungewöhnlichem Reiz ergab. Er trug ein weit aufgeknöpftes, gestreiftes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln in einer interessanten rotbraunen Farbkombination über uralten, ausgeblichenen Jeans. Seine entspannte Körperhaltung, seine Gestik drückte eine gelassene Ruhe aus. Und dann diese wahnsinns Augen, graublau und unglaublich intensiv. Sie schienen direkt bis in Ingas Seele zu sehen, sie zu berühren. Whoa! Inga konnte einfach nicht fassen, was gerade passierte. Sie fühlte ihr Blut im ganzen Körper pulsieren, in den Ohren rauschen ...
Benommen registrierte sie, dass er auf eine Antwort wartete, auf eine Frage, die sie nicht gehört hatte. Inga hing wie gebannt an seinen Lippen, stellte sich vor, wie es wäre, diesen hinreißenden Mund zu küssen. Darüber hinaus ergaben seine Lippenbewegungen keinerlei Sinn. Nur mühsam gelang es ihr, ihm wenigstens den Entlassungsbericht der Neuen Kliniken zu überreichen. Sprechen war ihr nicht möglich.
Auch er schien überrascht. Inga bemerkte ein Zusammenzucken in seinen Augen, von dem sie sich wochenlang fragen würde, ob sie es sich eingebildet hatte oder ob es wirklich war. Er beugte sich über das Papier, notierte Stichworte auf einer Karteikarte. Das silberne Amulett, welches er an einer kurzen Lederschnur um den Hals trug, schwang sacht hin und her.
Inga bewunderte die Linien seines Profils, den eleganten Schwung seiner Handschrift, seine Finger, die den Kugelschreiber hielten. Verwirrt bemühte sie sich, ihm wenigstens halbwegs sinnvolle Antworten zu geben: Welche Übungen hatte sie bisher mit dem Arm gemacht und seit wann? Wie im Traum erlebte sie die Behandlung, ließ ihn ihre Hand nehmen, den Arm bewegen, und konnte es immer noch nicht begreifen.
Zurück auf der Straße, neben dem Praxisschild an das Tor gelehnt, kam sie wieder zu sich. Die Umgebung hörte auf zu schwingen, der tranceähnliche Traumzustand ebbte langsam ab. Es war, als würde ein geschütteltes Kaleidoskop plötzlich stillgehalten und hunderte Mosaiksteinchen formierten sich neu. Für einen Herzschlag schien die Welt innezuhalten, alles an seinen Platz zu gleiten ... Mit einem Mal wusste sie Bescheid. Dies war sie also, dachte Inga in ehrfürchtigem Staunen. Die Grande Dame amouröser Leidenschaft - die Liebe auf den ersten Blick.
Widerstrebend wurde sie sich bewusst, dass man sie dringend in der Werbeagentur erwartete. Es kam sowieso einem Wunder gleich, dass man ihr nicht gekündigt, die in Aussicht gestellte Beteiligung an der Firma lediglich aufgeschoben hatte. Sie sollte sich wirklich beeilen. Inga warf einen letzten Blick durch das Tor in den Innenhof, auf die uralte Haustür, hinter der Michael Levin den nächsten Patienten behandelte. Beim Gedanken an seinen ruhigen Blick, seine sanften Hände, breitete sich wieder die Wärme in ihr aus, dieses Gefühl von Sicherheit und nach-Hause-kommen, das sie bei ihm empfand. Und da wusste sie, was sie zu tun hatte.
Statt quer durch die Innenstadt zu ihrem Arbeitsplatz zu eilen, ging sie zurück zum Auto und fuhr an die Elbe.
In ihrem schicken Kostüm und mit hochhackigen Schuhen stapfte Inga unbeholfen durch den Sand am Ufer bis zu ihrem Lieblingsplatz. Sie setzte sich in eine geschützte Mulde, schaltete ihr Handy aus und wickelte sich in die alte Decke, die stets im Kofferraum bereit lag. Mittlerweile würde das Meeting mit ihrem wichtigsten Kunden in vollem Gange sein. Und ihr Chef im roten Bereich drehen. Doch das ließ sie seltsam unberührt, gerade so, als ginge es sie nichts mehr an. Ihre unerwartete Begegnung mit der Liebe auf den ersten Blick ging so tief, war ein solches Wunder, dass Inga das Bedürfnis verspürt hatte, sie wie einen kostbaren Schatz an einen sicheren Ort zu schleppen und in Ruhe zu betrachten. Sie ließ den Blick über den Fluss schweifen, über die Felder ringsum und die Bäume am anderen Ufer. Kein Mensch weit und breit. Ja, es war richtig gewesen, hierher zu kommen. In Ruhe über diesen Mann nachzudenken, der in ihr unaufgeräumtes Leben platzte und es noch mehr durcheinanderwirbelte.
Da - konnte das sein? Ein großer Schatten, mächtige Schwingen ... Inga rührte sich nicht. Ein Fischadler flog über der Elbe dahin, dicht an ihrem Versteck am Ufer vorbei. Jetzt kam er ganz nahe. Sie konnte den kräftigen Schnabel erkennen, das dunkle Brustband auf der schneeweißen Unterseite des Tieres. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte Inga, machte ihr Herz weit und ruhig. Ihr war, als habe sie ein wertvolles Geschenk erhalten. Beim Anblick des Adlers fühlte sie sich eng mit der Natur verbunden, von einer höheren Macht behütet, als Teil eines großen Ganzen. Majestätisch flog der Raubvogel stromaufwärts, und während sie ihm nachblickte, schweiften ihre Gedanken zu der Frage, wo sie selber eigentlich hin wollte im Leben. An die große Liebe, an eine Ehe, daran, Hausfrau und Mutter zu werden, hatte sie schon lange nicht mehr geglaubt. Detlef war eine Notlösung gewesen, eine dürre Hoffnung wenigstens auf ein Kind, irgendwann nebenbei. Und mittlerweile, mit fast vierzig, schien dieser Zug ja wohl längst abgefahren. Stattdessen war sie auf einen anderen Zug aufgesprungen, einen schnelleren, moderneren.
Bedeutete aber die Agentur wirklich das Richtige für sie, die Erfüllung? Es hatte eine Zeit gegeben, als es sie reizte, dem Konkurrenzkampf standzuhalten, dem Termindruck. Sich immer wieder neu zu beweisen, sich durchzusetzten, zu merken, dass sie gut war. Als jüngste, noch dazu weibliche, Teilhaberin in die Firma einzusteigen. Dann war der Unfall dazwischen gekommen, und mit ihm die Schattenseiten ihres Berufs. Vieles in ihrem Leben war nicht mehr, wie es schien. Anderes, nie beachtetes, dagegen barg ungeahnte Werte. In den letzten Wochen hatte sie begonnen, Vergleiche zu ziehen zwischen den Leuten in ihrem Dorf und ihren Kollegen. Einem Leben in Achtsamkeit, im Einklang mit der Natur und den Menschen um sich herum gegenüber der Hektik und dem Stress einer kurzlebigen Werbewelt. Im Grunde habe ich es schon lange gewusst, dachte Inga, ich wollte es nur nicht wahrhaben.
Sie schaltete ihr Handy ein, ignorierte alle Nachrichten im Display und wählte die Nummer von Sabije Rahmanis Kanzlei. Nach wenigen Sätzen beendete sie das Gespräch mit einigen beschwichtigenden Worten, unterbrach die Verbindung und schaltete das Gerät wieder aus.
Lange saß Inga am Wasser und wartete darauf, dass die Sonne elbabwärts im Fluss versank, dort, wohin der Adler gezogen war.
Michael Levin klappte seine Lehrbücher zu und knipste die Schreibtischlampe aus. Er reckte sich gähnend und trat ans Fenster seines Arbeitszimmers. Der Mond stand hell über dem Waldrand und tauchte die Felder in ein märchenhaftes Licht. Michaels Blick ging automatisch ein wenig nach rechts, zu den dunklen Bäumen, in die Richtung, in der sich die kleine Waldlichtung befand - und Flo. Michael wartete auf das vertraute Ziehen in seiner Brust wie auf einen Fuchs, der stets zur Dämmerung an denselben Weiher kam um zu trinken. Und da war sie schon, die Trauer. Aber das machte nichts, sie gehörte nun einmal dazu. Ob auch die Hirsche auftauchen würden, oder eine Eule? Michael hätte es nicht gewundert, wenn sogar Fabelwesen über die Wiese gelaufen kämen wie in einem Gemälde von Kay Konrad.
Beim Gedanken an Kays Naturgeschöpfe musste er an die hellblonde Patientin denken, die heute zum ersten Mal in seine Praxis gekommen war. Sie hatte etwas eigenartig gewirkt, geistesabwesend. Diese Abwesenheit, ihre zarte Figur und ihr helles, fast weißblondes Haar hatten sie im Gegenlicht wie eine Fee aus der Artus-Sage wirken lassen. Wenn sie wirklich aus einer anderen Welt aufgetaucht wäre, könnte dies zumindest ihre Zerstreutheit und Atemlosigkeit erklären ...
Ach, ich bin ein hoffnungsloser Romantiker, dachte Michael. In Wirklichkeit gingen ihr wahrscheinlich einfach nur eine Menge Dinge im Kopf herum.
Mit einer Tüte frischer Biobrötchen unter dem Arm wartete Inga am nächsten Morgen vor der Kanzlei auf Sabije, um sich bei ihrem Schritt in die Arbeits- und Wohnungslosigkeit unterstützen zu lassen.
„Moin Sabe, schaffen wir das bis um zehn?“
„Mit Allahs Hilfe habe ich dich bis dahin zur Umkehr bewegt.“ Sabije war mit leerem Magen nicht zu genießen.
Inga beeilte sich, den kleinen Besuchertisch zu decken und Sabije die Brötchentüte hinzuhalten. Während ihre Rechtsanwältin kaute, versuchte Inga, die Notwendigkeit ihres Tuns zu erklären.
„Ich weiß, es klingt ein bisschen verrückt ... Es hat eigentlich nichts damit zu tun, dass ich verliebt bin, jedenfalls nicht direkt. Aber mir ist gestern so allerhand klar geworden. Im Grunde war der Armbruch doch ein Glück. Ohne den Unfall würde mein ganzes Geld jetzt schon in der Werbeagentur stecken, und ich müsste bis an mein Lebensende in dieser Tretmühle ackern. Ja, schon gut“, sie hob abwehrend beide Hände, „Bis vor kurzem war ich ganz wild drauf. Oder dachte es zumindest. Aber ich bin mir absolut sicher: Das kommt für mich nicht mehr in Frage ...“
„Ist dir bewusst, dass Herr Levin gebunden ist? Er lebt mit einer Frau und deren Kindern zusammen und hat mit seiner Exfrau zwei erwachsene Töchter.“
„Ja, ich weiß. Du hast so etwas erwähnt.“ Irgendwann in der Nacht hatte Inga sich an Sabijes beiläufige Bemerkung erinnert: ‚Seine Freundin ist bei Janne in der Tanzgruppe’. „Aber es ändert nichts. Ganz egal, wie es mit ihm weitergeht, ob es mit ihm weitergeht, ich werde gleich in die Agentur gehen und kündigen. Und ich ziehe nicht zurück in die Stadt. Du musst mir helfen, aus dem Mietvertrag wieder raus zu kommen.“
„Und was wirst du stattdessen tun? Entschuldige dass ich frage, aber hast du eine Idee, wovon du in Zukunft leben wirst? Und wo du wohnen willst, wenn du die Wohnung in Marunthien räumen musst?“
„Zunächst mal kann ich von dem Geld zehren, das ich sonst in die Agentur gesteckt hätte. Im Wendland brauche ich nicht viel. Und danach ...“, Inga zuckte die Schultern, „Keine Ahnung. Ich könnte bei Drossels jobben oder bei einem Bauern. Mich ein paar Wochen auf den Kartoffelroder stellen ...“
„Auf den Kartoffelroder! Für fünf Euro die Stunde.“
„Es wäre ja nicht für immer. Irgend etwas wird sich schon ergeben. Und wohnen ... Meine Güte, wenn die Wohnungsbesitzer wiederkommen, ist Sommer. Zur Not schlafe ich auf Petersens Heuboden.“
Sabije konnte nicht umhin, der Freundin zu ihrem Mut zu gratulieren. Vor ein paar Monaten hatte sie eine Heidenangst gehabt, Inga würde sich nie von der schrecklichen Trennung von Detlef erholen.
Als Inga damals die lieblose Beziehung, in der die von ihr so ersehnten Zukunftspläne niemals Gestalt annehmen würden, löste und ausziehen wollte, hatte er ihr die schrecklichsten Beschimpfungen an den Kopf geworfen. Und sie dann, als sie anfing Widerworte zu geben statt sich wie gewohnt seinem aufgeblasenen Ego unterzuordnen, ins Gesicht geschlagen. Wobei der körperliche Schmerz nicht so schlimm gewesen war wie die Erkenntnis, jahrelang Wasser an eine längst verdorrte Hoffnung verschwendet zu haben.
Glücklicherweise gab es so viele positive männliche Bezugspersonen in Ingas Leben, den sanften Vater, Bruder Ben und ihren Kumpel Jörg, dass sie keine pauschale Abneigung gegen das andere Geschlecht zurückbehalten hatte. So blieb ihr die männerfeindliche Verbitterung erspart, mit der nicht wenige von Sabijes Klientinnen jeden Vertreter dieses Geschlechts angifteten, egal ob Mistkerl oder Heiliger. Ingas grenzenlose Lebensfreude, ihre Fähigkeit, in jedem Schutthaufen noch das bunte Glassteinchen wahrzunehmen, tat ein Übriges. Sabije bewunderte Ingas tapferes Vertrauen in das Schicksal und ihre Bereitschaft, Risiken einzugehen. Sich trotz aller Nackenschläge immer wieder neu einzulassen, auf Menschen und andere Abenteuer.
Allmählich begann sie, sich für Ingas Pläne zu erwärmen. Tatsächlich konnte eine berufliche Veränderung von Vorteil sein, solange Detlef am selbem Arbeitsplatz ein und aus ging. Gewohnt, einen komplexen Sachverhalt Stück für Stück zu klären, nahm sie sich vor, Ingas unglückselige Verliebtheit zunächst außen vor zu lassen, das Problem des Mietvertrags am Nachmittag zu lösen und erst einmal alle Energie auf das Naheliegendste zu richten. Sie nahm ihr zweites Brötchen mit hinüber zum Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch.
„Dann wollen wir mal sehen, dass wir deine Kündigung hieb- und stichfest formulieren. Du räumst den Tisch ab, ich schreibe.“
Etwas mulmig war es Inga denn doch, als sie die Werbeagentur betrat. In der Tür zu ihrem Büro prallte sie mit Detlef zusammen, der einen Stapel Entwürfe unter dem Arm trug. Ihre Entwürfe. Arbeiten, die sie für eine große Körperpflegeserie angefertigt hatte.
„Lässt die gnädige Frau sich auch mal wieder sehen?“ Seine kalten Augen musterten sie hochmütig. Angriff war schon immer seine beste Verteidigung gewesen.
„Ich sehe ja, du vertrittst mich nur zu gern“, entgegnete Inga mit einem vielsagenden Blick auf die Unterlagen.
Mein Gott, wie hatte sie jemals etwas an ihm finden können. Nichts war geblieben von ihren Gefühlen, nicht einmal Hass. Ein gewisses Mitleid vielleicht. Detlef, der eitle Pfau, der immer um sich selbst kreiste, der nach oben buckelte und nach unten trat. Der anderen die Ideen klaute, weil ihm selbst nichts mehr einfiel, der nicht damit klar kam, dass er älter wurde und sein Haar schütter. Jetzt bepinkelte er sich fast vor Schadenfreude, weil Inga Ärger erwartete. Er würde ihr nie verzeihen, dass sie ihn verlassen hatte.
Auf dem Weg zum Chef kam Inga die grell Lackierte entgegen.
„Hallöchen meine Liebe, bist du wieder gesund?“ flötete sie und schmackte rechts und links neben Ingas Wangen Küsschen in die Luft.
Inga lächelte mit gefletschten Zähnen zurück. Was waren wir hier alle modern und aufgeschlossen. Vom Laufburschen bis zur Firmenleitung duzte jeder jeden, Bussibussi, eine große glückliche Familie. Bah. Nicht mehr lange, und sie würde dieses Affentheater für immer hinter sich lassen.
Ihr Chef winkte sie auf ihr Klopfen sofort in sein Allerheiligstes und schloss die Tür. An seiner verlegenen Art, sich die Nase zu reiben, erkannte sie, dass auch er eine Entscheidung getroffen hatte. Sie setzten sich an den Konferenztisch. Die Tür ging wieder auf, und zu Ingas Überraschung traten die beiden anderen Seniorpartner ein, gefolgt von den Grafikern und Textern. Detlef und die Orangerote nahmen dicht nebeneinander Platz. Es würde mich wirklich wundern, dachte Inga, wenn sie noch nicht miteinander schliefen. Sie holte tief Luft. Statt abzuwarten, bis man das Wort an sie richtete, nahm sie entschlossen die Gesprächsführung in die Hand.
„Schön, dass wir alle zusammen sind, so muss ich nichts zweimal sagen. In den letzten Wochen war es nicht einfach. Weder für mich, mit gebrochenem Arm meinen Job weiter auszufüllen - und ich habe ihn ausgefüllt, wir konnten den Auftrag an Land ziehen - noch für die Firma. Ich habe nun aus der Situation die Konsequenzen gezogen und kündige fristgerecht zum Ende des Quartals.“ Inga nahm das Schriftstück, welches Sabije am Morgen entworfen hatte, aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch. „Alles Wesentliche geht hieraus hervor. Mein Geld für die Beteiligung, das ich bereits an unseren Notar überwiesen hatte, wäre auf mein Konto zurück zu zahlen. Nach Abzug meines Resturlaubs, Überstunden und so weiter ist am neunundzwanzigsten mein letzter Arbeitstag.“
Einen Moment war es still. Dann entgegnete der erste Seniorchef säuerlich: „Du enttäuscht uns, Inga. Du enttäuscht uns tief. Wir haben dir hier eine tolle Chance gegeben, als du mit nichts ankamst. Viele würden sich die Finger nach deinem Platz lecken. Und du wirfst uns den Kram vor die Füße.“
„O nein, da irrst du dich“, erwiderte Inga. „Ich bin nicht mit nichts angefangen, und ich hab hier auch nichts geschenkt bekommen. Im Gegenteil. Ich habe einen Haufen verdammt guter Ideen und harte Arbeit in diesen Laden gesteckt und mir über die Jahre allerhand bieten lassen ...“ Sie dachte an die in letzter Minute abgesagten Verabredungen, an Länder, die sie nicht bereist, und Kinder, die sie nicht geboren hatte. All das interessierte hier niemanden. Keiner in der Agentur gab einen Deut darauf, welche Träume sie hatte, wer sie wirklich war ... Inga presste die Fingerspitzen an ihre Schläfen, um sich wieder auf die Besprechung zu konzentrieren. „Ihr habt gut verdient an mir“, fuhr sie fort. „Aber als ich ein bisschen Unterstützung gebraucht hätte, da ist mir hier ein eisiger Wind entgegen geweht.“ Sie sah in die Runde und begegnete fassungslosen Gesichtern. Derart klare Worte, einen solch scharfen Ton kannte man bei ihr nicht. Nun, dann wurde es ja höchste Zeit. Sie wendete sich an ihren Chef, den Förderer und, wie sie einmal geglaubt hatte, väterlichen Freund. „Bei dir hab ich eine Menge gelernt, das werde ich dir nie vergessen und will es nicht schlecht reden. Aber meine Zeit hier ist nun einmal vorbei.“ Inga schluckte, dann entschied sie sich, weiterzusprechen. Wenigstens einmal würde in diesem Lügengebäude die Wahrheit auf den Tisch kommen. „Gib es doch zu, Ihr wart eh drauf und dran, mich abzusägen.“
Er sagte kein Wort, doch er nickte leicht.
„Du bist bis auf Weiteres freigestellt“, ließ sich nun der andere Senior vernehmen, „Jemand wird dich in dein Büro begleiten, wo du deine persönlichen Dinge zusammenpacken kannst.“
Inga traute ihren Ohren nicht. Sie warfen sie hinaus wie eine Diebin.
Man gestattete Inga nicht, das Telefon zu benutzen, und sie versuchte über ihr Handy, Sabije anzurufen. Diese befand sich in einer Gerichtsverhandlung, hatte jedoch in weiser Voraussicht einen ihrer Leute instruiert. Auf seinen dringenden Rat hin ließ Inga sich das Mehrstück ihrer Kündigung unterschreiben, gab die Firmenschlüssel gegen Quittung zurück und bestand darauf, dass ihre Bürotür geöffnet blieb, während sie packte.
Detlef lümmelte sich grinsend an ihrem Schreibtisch, in ihrem Drehsessel, und ließ Gemeinheiten los. Wahrscheinlich holte er sich dabei unter dem Tisch einen runter. Von diesem Triumph würde er lange zehren. Eine Bestätigung mehr, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Inga achtete darauf, nicht in seine Reichweite zu gelangen. Sie hasste es, ihm diese Genugtuung zu verschaffen, doch sie behielt ihn argwöhnisch im Auge. Eine gestandene Karrierefrau, die sich jede Gefühlsregung verbot und im weiten Bogen um ihn herum huschte, um ihn nicht zu reizen: Wie erbärmlich ihre Angst doch war.
Im Türrahmen erschien der Anwalt, mit dem sie eben telefoniert hatte. Er war der mit Abstand bestaussehende von Sabijes Angestellten, fünf Jahre jünger als Inga (und fast zehn Jahre jünger als Detlef), einen Meter neunzig groß und muskulös, was er mit maßgeschneiderten Anzügen noch betonte. Sabije hatte den Mann, der ihren Rückzug decken und den Karton mit ihren Habseligkeiten schleppen sollte, mit Bedacht ausgewählt. Inga mochte ihn schon immer, aber nie hatte sie sich so gefreut, ihn zu sehen. Vor Erleichterung hätte sie fast die kleine rote Vase fallen lassen, die sie in ein Stück Zeitung wickeln wollte.
„He Sie, das ist privat! Raus hier, aber plötzlich“, pflaumte Detlef den Fremden in einem Anflug von Größenwahn an. Offensichtlich riss ihn die Aussicht auf Ingas Position und ihr Eckbüro zu Dummheiten hin.
Der Anwalt gewährte ihm sein berüchtigtes Raubtierlächeln, welches vor Gericht die Vertreter der Gegenseite regelmäßig tiefer in ihre Sitze sinken ließ. Verschreckt erhöhte Detlef Lautstärke und Intensität seiner Schimpfkanonade, was den Tiger unbeeindruckt ließ, jedoch mehrere Mitarbeiter und zwei Seniorpartner auf den Plan rief. Mit offenem Mund verfolgten sie die Szene.
„Für einen polizeibekannten Frauenschläger riskieren Sie ´ne verdammt dicke Lippe“, sagte der Anwalt freundlich und lächelte in die Runde.
„Das ist eine maßlose Übertreibung!“ schrie Detlef. „Die Ärztin hat ja kaum was festgestellt, und wenn dieses Luder mich nicht so gereizt hätte ...“
„Ah ja, die Masche ‚Täter wider Willen’. Nun enttäuschen Sie mich aber. Von einem Mitarbeiter dieser renommierten Werbeagentur hätte ich etwas Originelleres erwartet.“ Der Anwalt klemmte sich den schweren Karton unter den Arm, als handele es sich um eine Packung Windeln, und führte Inga mit der anderen Hand galant hinaus.
Sie hängte sich bei ihm ein und tat so, als würde sie die gaffenden Exkollegen nicht bemerken. Die grell Lackierte reckte den Hals. Im Hintergrund hörte sie ihren ehemaligen Chef sagen:
„Detlef, ich hätte dich gern für eine Minute in meinem Büro gesprochen.“
Ohne zurück zu schauen, kehrte Inga sechs Jahren ihres Lebens und dem Mann, mit dem sie einmal Tisch und Bett geteilt hatte, den Rücken.
Am selben Abend platzte Ingas Wohnung fast aus allen Nähten. Sie hatte spontan beschlossen, ihre neue Freiheit zu feiern, und so viele Freunde zusammengetrommelt wie möglich. In einer launigen Ansprache bedankte sie sich bei ihren treuen Heinzelmännchen vom Winter und bot sich für Gelegenheitsarbeiten aller Art an. Fast aller Art, korrigierte sie hastig, als Witze und Gelächter erklangen. Ralf versprach, ihr so viel Brennholz zu liefern, wie sie brauchte. Falls sie etwas Warmes in den Bauch bekommen wolle, sei sie jederzeit an ihrem Tisch willkommen, lächelte Hilke. Es hagelte Einladungen zum Essen und Tipps, wo sie kostenlos Obst pflücken konnte ,damit sie nicht verhungerte’.
Inga hob ihr Glas. „Darauf lasst uns trinken, solange ich den Wein noch bezahlen kann. Auf das Leben und die Liebe!“
Jemand fing an, auf seiner Gitarre zu klimpern, ein Akkordeon setzte ein. Bald sangen und tanzten alle Gäste, wo immer sie Platz dazu fanden, sogar auf dem Klo.
Gleichmäßig schnurrte der mitternachtsblau lackierte Spider auf der leeren Autobahn dahin. Robson lehnte sich im Fahrersitz zurück, eine Hand am Sportlenkrad, die andere lässig auf der Mittelkonsole. Über einen an den Bordcomputer angeschlossen BlackBerry hörte er sich Mitschnitte des gestrigen Konzerts an.
Mann, das war einfach nur geil gelaufen. Das Publikum hatte ihm vom ersten Song an praktisch aus der Hand gefressen. Alle Bandmitglieder in Hochform, kein einziger Patzer, jeder Ton saß. Natürlich strichen wieder viele hübsche Frauen um ihn herum, angezogen vom Ruhm wie die Motten vom Licht. Er nahm eine knackige Blondine mit ins Hotel, deren phantasielose Anhimmelei ihm jedoch bald auf die Nerven fiel. Leider stellte sich außerdem heraus, dass ihre Haare schlecht gefärbt und ihre Fingernägel abgekaut waren. Rob hatte an ihrem ungepflegten dunklen Haaransatz vorbei an die Wand gestarrt, während er mühsam in ihr kam. Sie würde wahrscheinlich in diesem Moment all ihre Freundinnen anrufen, um damit anzugeben, mit dem Sänger der Muddy Blue Waters gebumst zu haben.
Geschieht mir ganz recht, dachte Rob, ich hätte lieber mit einem guten Buch ins Bett gehen sollen. Na, Schwamm drüber. Alles was zählte war die Musik. Rob drehte die Lautstärke auf und sang aus voller Kehle mit.
Dr. Stefan Prudens starrte stumm in seinen Tee. Er war vor seinem Schreibtisch geflüchtet, auf dem zwei OP-Berichte darauf drängten, fertiggestellt und an den Oberarzt weitergeleitet zu werden. Und nun fühlte er sich zwischen den schwatzenden Kollegen im Aufenthaltsraum ebenso fehl am Platz wie im Büro, wie in diesem gesamten verdammten Gebäude.
Immer häufiger dachte er, dass es ein Fehler gewesen war, dem Wunsch seines Vaters zu folgen und Medizin zu studieren. Er hätte mit Holz arbeiten, Zimmermann werden wollen. Stattdessen beugte er sich der Familientradition. Wobei er einen krummeren Buckel bekam als durch jeden Handwerksberuf. Es schien, als würde es ihm nie wieder gelingen, den Rücken gerade zu machen. Eingesperrt in der Klinik, im Auto, im Schlafzimmer, träumte er nachts davon, über Dächer zu balancieren, frische Balken zu riechen.
„Na, Prudens, fertig mit dem Papierkram?“ Dr. Rettig schlenderte herein, machte sich auf dem freien Stuhl neben Stefan breit und beugte sich vertraulich zu ihm hinüber. „Nicht, dass unser Schönling noch ungeduldig wird ...“
Stefan ging Rettigs Distanzlosigkeit zusehens auf die Nerven. Zum Einen dieselte der Mann sich mit einem Parfüm voll, das für jede Nase, die sich nach Holzgeruch sehnte, eine schallende Ohrfeige darstellte. Stefan bemühte sich, durch den Mund zu atmen, wie er es in der Pathologie gelernt hatte. Zum Anderen schien seine Neugierde keine Grenzen zu kennen, schnüffelte und huschte er durch die Flure wie eine Ratte. Woher wusste der Kerl, dass Oliveira bereits auf seine Berichte wartete? Es fiel in die Zuständigkeit des Oberarztes, die Assistenzärzte zu beurteilen, zu fördern oder wenn nötig feuern zu lassen. Stefan hatte kein Problem damit. Zwar fand er Dr. Oliveira etwas schroff, und es wäre ihm lieber gewesen, wenn der nicht ganz so gute Chancen beim weiblichen Geschlecht gehabt hätte. Aber er konnte nichts wirklich Negatives über seinen Vorgesetzten sagen.
Die Tür flog auf, und Bärbel Lohmann wirbelte mit zerzausten roten Locken in den Raum. „Hallo zusammen, ich will nur mal schnell ...“ Sie versuchte, drei schmutzige Tassen, durch deren Henkel sie ihre Finger gehakt hatte, neben der Spüle abzustellen. Im anderen Arm hielt sie einen Stapel Aktenmappen.
Stefans Miene erhellte sich. „Frau Lohmann! Warten Sie ...“ Er sprang auf und griff vorsichtig nach den Tassen. „Machen Sie jetzt Pause?“
Bärbel bewegte ihre befreiten Finger. „Würde ich gern. Aber ich muss für Dr. Oliveira die neuen OP-Pläne vorbereiten, die braucht er morgen früh.“ Sie packte ihre rutschende Aktenlast mit beiden Händen und wandte sich zur Tür. „Danke für Ihre Hilfe.“
„Jaja, so ist das ...“ Rettigs Aftershave stieg von neuem in Stefans Nase. „Casanova pfeift, und die Weiber springen.“
Stefan seufzte. Er selbst hatte einfach keine Chancen bei den Frauen. Nie gehabt. Wer würde einen unscheinbaren Typen wie ihn schon wahrnehmen? Nicht groß und nicht klein, weder dick noch dünn, mit einer Haarfarbe zwischen blond und braun ... Der ideale Mörder, so unauffällig, dass sich kein Zeuge an ihn erinnern könnte. Als Frau würde er sich selber auch nicht sehen neben diesem charismatischen Halbgott in Weiß, dem die brasilianischen Gene einen leicht gebräunten Teint wie aus dem Solarium geschenkt hatten, dessen durchtrainierter Körper sogar im OP-Kittel toll aussah. Er wirkte so ekelhaft perfekt! Jede zweite Schwester war hinter Oliveira her, und die Patientinnen flogen auf ihn. Stefan wusste ziemlich sicher, dass der Oberarzt nicht die Dummheit besaß, sich mit einer Patientin einzulassen. Was das Personal anging, fand er das vielleicht weniger heikel. Stefan dachte an Bärbel Lohmann und biss die Zähne zusammen.
„Kopf hoch, Kollege“, raunte Rettig, der schon wieder viel zu dicht neben im stand. „Casanovas Tage hier sind gezählt ...“
Was hatte Rettig nur immer mit Dr. Oliveira? Stefan achtete eigentlich nicht auf solche Dinge, doch allmählich kam es ihm vor, als hege Rettig einen ganz besonderen Groll. Ob die Panne mit der Gipsschiene damit zusammenhing, die Rettig einer hübschen blonden Dame voreilig abgenommen hatte? Die Radiusfraktur der Dame war verrutscht, Rettig hatte einen ordentlichen Einlauf kassiert - mehr nicht. Es musste doch selbst ihm klar sein, dass er den Rüffel verdient hatte. Dass er froh sein konnte, wenn die Patientin ihn nicht verklagte.
„Hier.“ Rettig blieb hartnäckig. Er klappte sein Handy auf und hielt es Stefan triumphierend unter die Nase.
Das Foto im Display zeigte Dr. Oliveira, wie er am Krankenbett einer hellblonden Frau stand, die Hand nach ihr ausgestreckt. War das nicht die mit der Gipsschiene? Stefan konnte problemlos deutsches Kiefernholz von nordischem unterscheiden, erkannte auf der Straße aber kaum seine Nachbarn. Und im Profil, halb verdeckt ... schwer zu sagen. Es gab noch zwei weitere Aufnahmen, offensichtlich durch einen Türspalt fotografiert, auf denen Oliveira ihr die OP-Haube abnahm. Unten rechts im Bild standen Datum und Uhrzeit eingeblendet.
„Da muss man sich doch fragen“, grinste Rettig anzüglich, „was ein Chirurg um zwei Uhr dreißig ganz allein am Bett einer jungen, hübschen Patientin zu suchen hat?“
„Wer möchte noch eine Portion ‚Red Beauty’?“ Hilke lud großzügig Nudeln und Hackfleischsauce auf die Teller.
Inga langte zu. Nachdem sie den ganzen Morgen bei den Schafen geholfen hatte, war sie hungrig wie ein Wolf. „Was ist ‚Red Beauty’?“
„Du meinst wohl: Wer war ‚Red Beauty’.“ Ralf lachte. „Unsere Kuh bekommt jedes Jahr ein Kalb, und wenn das in die Flegeljahre kommt, also ungefähr zehn, elf Monate alt ist, schlachten wir es. Glaub mir, so niedlich die kleinen Kälbchen am Anfang sind, so froh ist man später, wenn der Schlachter auf dem Hof steht. Red Beauty war besonders nervig. Er hat den ganzen Tag Schafe gescheucht und zwei Pferche zerlegt.“
„Ja, und unsere Erdbeerpflanzen gefressen.“
„Dem Grünkohl dagegen hat er kein Blatt gekrümmt“, bedauerte Ralf.
Hilke warf ihm einen strengen Blick zu. „Ich war jedenfalls drauf und dran, mir ein großes Messer aus der Küche zu holen und ihm eigenhändig die Kehle durchzuschneiden.“ Sie bemerkte, dass Inga die Gabel sinken ließ, und seufzte. „Sieh mal, von diesem Rind essen wir ein Jahr lang, und wir versorgen noch alle Nachbarn mit Fleisch. Ich finde, das ist eher vertretbar als zum Beispiel Hühner zu schlachten oder Kaninchen. Da müssen gleich mehrere Tiere sterben, um nur eine Mahlzeit auf den Tisch zu bringen.“
„Du hast Recht. Und bei euch hat das Tier ein artgerechtes Leben gehabt, keinen ewig langen Schlachttransport ...“ Inga musste zugeben, dass der Jungbulle ausgezeichnet schmeckte. „Ich bin halt `ne Stadtpflanze. Ohne die leiseste Ahnung, wie das Essen auf den Tisch kommt.“
„Ach, bis jetzt stellst du dich doch ganz ordentlich an. Vor allem, wenn man bedenkt, dass du deinen linken Arm noch nicht wieder richtig benutzen kannst ... Wie sieht`s aus, hilfst du nächste Woche beim Honig abfüllen?“
„Nun übertreib es nicht, Hilke. Lass uns erst mal abwarten, wie sie den heutigen Arbeitseinsatz wegsteckt.“
Ralf passte es gar nicht, dass Inga ihren Arm schon so stark belastete, auch wenn sie immer wieder versicherte, der Chirurg habe dringend dazu geraten. Sie hatte ‚Gas gegeben’ wie von Dr. Oliveira empfohlen, ging zweimal pro Woche zur Krankengymnastik und absolvierte zu Hause brav ihre Übungen. Für ihr Handgelenk konnte Inga deutliche Erfolge verbuchen, es wurde zusehens geschmeidiger und beweglicher. Was ihr Herz anging, war sie anfangs skeptisch gewesen, hatte ihren eigenen intensiven Gefühlen dem Therapeuten gegenüber nicht recht getraut. Würde sie beim zweiten Termin nur einen sympathischen Krankengymnasten in ihm sehen? Hatte sie sich geirrt? Gespannt hatte sie den Moment erwartet, da er durch die Tür kommen und sie begeistern oder enttäuschen würde.
Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Mit jedem Wiedersehen vertiefte sich die Liebe, die sie Michael Levin gegenüber empfand. Sie genoss die privaten Gespräche, die sich vor oder nach der Behandlung ergaben und immer viel zu kurz waren. Den Rest des Tages verbrachte Inga stets damit, in Gedanken wieder und wieder seiner warmen Stimme zuzuhören, seinem trockenen, feinen Humor ...
„Äh - was? Ach so, Honig. Klar. Wann soll`s denn losgehen?“ Da hatte sie schon wieder angefangen zu träumen.
Ihre Freunde grinsten und erklärten es noch einmal. „Bei Rapshonig muss man genau den richtigen Zeitpunkt abpassen. Ist er zu flüssig, wird er später im Glas zu einer steinharten Masse, die der Kunde mühsam herausmeißeln muss. Wird er zu fest, bekommt man ihn nicht mehr aus dem Tank“, sagte Hilke. „Ralf liegt tagelang auf der Lauer, um den Kristallisierungsprozess zu beobachten. Wenn der Honig gut ist, muss man quasi alles fallen lassen, was man gerade in Händen hat, und sofort abfüllen.“
„Aber wie machen das denn die großen Firmen?“
„Naja, Zusätze sind offiziell verboten. Der Honig wird in der Regel erhitzt.“
„Steht denn da nicht immer ‚kalt geschleudert’ drauf ...?“ Inga versuchte, sich zu erinnern. Ernährung hatte bisher für sie bedeutet, nach Feierabend durch den Supermarkt zu hetzen und in Plastik eingeschweißte Dinge in ihren Einkaufskorb zu werfen.
„Stimmt - weil es überhaupt keinen Sinn macht, die Waben beim Schleudern zu erwärmen. Im Gegenteil. Aber das sagt ja nichts darüber aus, ob der Honig nicht zu einem anderen Zeitpunkt erhitzt wird ...“ Hilke zwinkerte ihr zu. „Dir brauche ich doch wohl nicht zu erklären, wie Werbung funktioniert.“
„Nee.“ Inga schüttelte nachdenklich den Kopf. Werbung nicht - aber das Landleben. Auf Drossels Hof gab es frisches Fleisch, wenn der nächste Jungbulle schlachtreif war, und neuen Honig, wenn die Bienen ihn gesammelt hatten. Man richtete sich nach dem Rhythmus der Natur, die einen ernährte. „Es wird mir eine Ehre sein, an eurem Qualitätshonig mitzuwirken. Sagt mir Bescheid, und ich verspreche, die scheußliche braune Vase meiner Schwester fallen zu lassen und herbeizueilen.“
Michael Levin verabschiedete seinen letzten Patienten für diesen Tag und schloss das große Tor zur Straße. Er nahm seine Gartenwerkzeuge aus dem Schuppen, um den schönen Nachmittag auszunutzen. Während er eine Kletterrose neben der Praxistür hochband und die Erde rund um die Büsche und Stauden in den kleinen Beeten auflockerte, musste er an die ‚Fee’ denken, wie er seine Patientin aus Marunthien immer noch heimlich nannte. Obwohl sie sich fröhlich, lebhaft und durchaus nicht feenhaft gab, würde sie diesen Spitznamen bei ihm nicht mehr los werden. Mittlerweile hatte er festgestellt, wie gut er sich mit ihr unterhalten konnte und begann, sich auf diese Patientin besonders zu freuen. Morgen war ihr fünfter Termin. Pfeifend fegte Michael den Innenhof, wischte die Bank und den Tisch ab. Bei gutem Wetter würde sie vielleicht lieber draußen warten wollen statt im Haus. Es wurde allmählich dunkel. Im letzten Tageslicht schloss Michael seine Praxis ab und machte sich auf den Heimweg.
Als er durch die kleine Gasse hinter Carl`s Kneipe radelte, drangen wilde Schlagzeug- und Gitarrentöne aus dem alten Festsaal. Wahrscheinlich Halbstarke von irgendeinem Jugendprojekt. Besser, als wenn sie auf der Straße rumlungern, dachte Michael und trat kräftiger in die Pedale, um die Lärmquelle hinter sich zu lassen.
„Ganz schön was los heute“, brummte ein übergewichtiger Kerl am Tresen von Carl`s Kneipe. Sein Kumpel nickte. Carl zapfte ein perfektes Pils zu Ende, stellte es vor den Dicken hin und ging, um die Zwischentüren zu schließen. Besser.
Mittlerweile trafen sich die Muddy Blue Waters seit so vielen Jahren bei ihm zum Proben, dass sie zur Kneipe gehörten wie die verschrammten Holztische im Schankraum und die Fledermäuse auf dem Dachboden. Ordentliche Jungs, die ein- bis zweimal die Woche ihren Alltag als Geschäftsleute, Architekten oder Ärzte hinter sich ließen und den Staub aus dem leerstehenden Festsaal bliesen. Carl nannte sie seine Rockveteranen, obwohl sie beileibe noch nicht so zerknittert aussahen wie zum Beispiel die Stones. Manchmal konnten sie ganz schön anstrengend sein, wenn jeder zum Einspielen einen anderen Rhythmus hämmerte oder ein Streit über neue Stücke aufkam. Heute schien so ein Tag für Letzteres zu sein, und Carl wäre das planlose Geschrammel von vorhin fast lieber gewesen.
„Du musst zugeben, dass ‚We Will Rock You’ der ideale erste Song für ein Konzert ist. Vor allem beim Open Air ... ein Hammer-Einstieg ...“
„Kommt überhaupt nicht in die Tüte, dass ich den Mercury gebe.“
„Weil er tot ist?“
„Nee, weil er schwul war. Als Nächstes mach’ ich womöglich einen auf Tim Fischer, zwäng mich in ein hautenges, goldenes Abendkleid und wackel mit dem Hintern. Vergiss es.“
„Tim Fischer wackelt nicht mit dem Hintern, er wiegt seine Hüften. Du hättest gar nicht die nötige Anmut dafür.“
„Ich fühl mich gleich viel besser.“
„Mann, Rob, stell dich nicht an. Wir spielen auch Stücke von Juli und von Tina Turner, und keiner käme auf die Idee, dich für `ne Frau zu halten.“
„Das würde mir auch hoffentlich niemand abkaufen.“
„Bist du etwa homophob oder so? Wir haben uns damals gegen eine Coverband entschieden, um nicht so festgelegt zu sein. Wir wollten die freie Auswahl, und wir haben sie uns genommen. Queen haben super Sachen gemacht. Ich kann keinen Grund sehen, darauf zu verzichten.“
„Wir haben auch abgemacht, dass ein neues Ding einstimmig angenommen wird oder gar nicht. Also spar dir deine Puste für die Trompete.“ Verdammt nochmal, er konnte diesen Dreck nicht ertragen! Jungenhände, die am Hosenschlitz fummelten, seine eigene Hand packten und hinein zu zwingen versuchten. Komm schon, stell dich nicht an, oder hältst du dich für was Besseres ... In Robson stieg Übelkeit auf. Er drängte die alten Erinnerungen an seinen Schlafsaal im Internat zurück und griff nach dem Mikrofon.
„Unser Robbie hier hat Schiss um sein Image als Frauenschwarm. Dabei heißt es doch ‚We Will Rock You’ und nicht ‚We Will Pop You’ ...“
„Halt die Klappe, Larry.“
Hinter seinem Tresen wurde es Carl langsam zu bunt. Energisch riss er die Tür zum Saal auf und blaffte: „Wollt Ihr Pfeifen heut’ noch was üben? Wenn nicht - raus hier. Rumzanken könnt Ihr genausogut woanders.“ Grummelnd verschwand er wieder zu seinen Zapfhähnen, sechs erwachsene Männer wie gescholtene Schulbuben zurücklassend.
Folgsam begann die Band mit einer rockigen Version von ‚Against The Grain’. Garth Brooks stellte glücklicherweise ein unverfängliches Thema dar.
Zu ihrem fünften Krankengymnastiktermin erschien Inga eine halbe Stunde zu früh. Es war ein heißer Maitag, und sie setzte sich auf die Bank im grünen Innenhof. Der Springbrunnen plätscherte, eine Amsel sang. Im Haus knarrten Holzdielen. Inga stellte sich vor, wie Michael Levin den kleinen Flur durchquerte und mit dem nächsten Patienten hinter der Tür mit der Aufschrift ‚Sanitätsbaracke’ verschwand. Sie kramte ihre Unterlagen für die Anti-Atom-Gruppe aus der Tasche. Eigentlich hatte sie sich viel mehr ehrenamtlich engagieren wollen, solange sie ohne feste Arbeit war. Doch die Zeit verflog nur so. Ihre Tage waren ausgefüllt mit verschiedenen Aushilfsjobs, mit spontanen Einladungen und Besuchen, Fahrradtouren und Arbeiten im Garten ... Nun aber! Inga begann, einige Ideen für die nächste Anti-Atom-Aktion zu notieren.
Nach wenigen Stichworten jedoch schweiften ihre Gedanken wieder ab zu dem Mann, den sie liebte wie nie einen Menschen zuvor, und den sie gleich wiedersehen würde. Sabije versuchte beharrlich, ihn ihr auszureden. ‚Denke doch logisch, seine Wirkung auf dich kommt nur daher, dass er deinem Körper etwas Gutes tut’, argumentierte sie immer wieder. ‚Sei vernünftig, der Mann lebt in einer festen Beziehung’. Und Inga bemühte sich, logisch zu denken und vernünftig zu sein.
Aber schien es denn vernünftig, diese Liebe einfach abzuschütteln wie ein paar Regentropfen? War es nicht ein Glück, ein Geschenk, jemandem begegnet zu sein, der sie so sehr begeisterte? Selbst wenn er bereits eine Frau hatte, Inga würde sich auch mit einer Nebenrolle in seinem Leben zufrieden geben. Nur eine einzige Nacht, einen Kuss, jeden Krümel, den sie bekommen konnte, würde sie nehmen und nicht nach dem Morgen fragen. Der Gedanke, für ihn nichts als eine typische schwärmende Patientin zu sein, nagte an ihr. So stimmte es ja nicht. Schließlich hatte sie sich in ihn verliebt, bevor er mit Ihrer Behandlung begann. Sie wollte, dass er das wusste. Dass sie nicht eine von vielen war. Dass es anders war.
„Tut mir leid, Sie zu stören.“ In der offenen Haustür stand Michael Levin und lächelte sein gewinnendes Lächeln.
Inga lächelte zurück, versank in seinen graublauen Augen. Er stand einfach nur da und sah sie an, wartete geduldig, dass sie ihre Sachen zusammenpackte und ihm ins Haus folgte. Sie betrachtete sein Gesicht, seine entspannte Haltung. Diese lebendigen Augen ... In der linken Wange hatte der Mann sogar ein Grübchen, das war einfach nicht fair. Heute würde sie es tun.
Seit einer Woche hatte sie die Worte wieder und wieder geübt, im Kopf hin und her gewälzt. Wenn sie heute nichts sagte, würde sie es niemals wagen. Und es womöglich ihr ganzes Leben lang bereuen. Aber ach - wie anfangen? Wie sollte sie einen passenden Moment und den richtigen Ton finden? Eine Sitzung beim Physiotherapeuten lieferte wenig geeignete Stichwörter. ‚Dehnen Sie nicht über den Schmerz hinaus, Ihre Gesundheit ist das Wichtigste.’ - ‚Aber noch wichtiger als meine Gesundheit sind Sie’ ...? Himmel, das klang ja geradezu unterirdisch schlecht.
Was mach ich nur, was mach ich nur ... Aufgeregt und furchtsam wie vor dem ersten Sprung ins tiefe Becken irrten Ingas Gedanken hin und her. Schließlich gab sie sich selbst einen kräftigen Schubs und stürzte sich kopfüber hinein.
„Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen.“ Jetzt gab es kein Zurück, keinen festen Boden mehr unter den Füßen. „Ich habe mich in Sie verliebt. Auf den allerersten Blick.“
Du lieber Himmel, ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich gesagt habe, dachte Inga, während sie sich eine ganze Menge unsortiertes Zeug reden hörte über seine Augen und ihre Gefühle und den Blumenkübel im Hof. Wie im Nichtschwimmerbecken strampelte sie wild herum, um sich irgendwie über Wasser zu halten. Endlich schaffte sie es mit Mühe, ihren Redefluss zu stoppen. Für einen Moment bekam sie Angst, nie wieder normal atmen zu können. Vorsichtig blinzelte sie zu ihm herüber.
Ohne eine Spur von Verlegenheit erwiderte er ihren Blick, antwortete mit seiner normalen, freundlichen Stimme: „Das muss ich erstmal eine Weile sacken lassen.“
Auf einmal fühlte Inga sich überhaupt nicht mehr ängstlich und verlegen. Er war nicht zurückgeprallt, nicht peinlich berührt, sondern begegnete dem unerwarteten Liebeskuddelmuddel ganz entspannt und offen. So, wie er anscheinend allem im Leben begegnete, in einer aufgeschlossenen, ruhigen, ja: demütigen Weise.
Das Wort ‚Demut’ klang für Inga bisher eher negativ geprägt, nach Unterwerfung oder blindem Gehorsam. Nun fiel ihr der Begriff wieder ein, als sie versuchte, seine Haltung in Worte zu fassen. Demut, das schien die passende Bezeichnung für Michael Levins ruhige Akzeptanz dem Leben gegenüber und seine seltene Fähigkeit, sich selbst zurücknehmen zu können, ohne sich aufzugeben.
„Sind Sie okay?“ fragte er behutsam, „Kann ich Ihnen etwas dazu sagen?“
Inga nickte stumm. Sie wagte nicht, ihn dabei anzusehen und senkte den Blick auf seine Hände. Am rechten Handgelenk trug er zwei Lederbänder, ein geflochtenes und eines mit silberfarbenen Perlen und Knoten. Sie fragte sich, ob es wohl von demselben Silberschmied wie sein Amulett stammte, und ob die Anordnung der Perlen etwas bedeutete.
„Mit einer Frau, die ich als Patientin kennen gelernt habe, würde ich grundsätzlich nichts anfangen. Zwischen Therapeut und Patient besteht nun einmal eine einseitige Abhängigkeit. Ich weiß ziemlich viel von Ihnen, Sie können mir ganz offen alle Ihre Krankheits- und Lebensgeschichten erzählen. Aber ich selber gebe in der Praxis nichts von dem Michael preis, der ich privat bin.“
Das ist nicht wahr, begehrte Inga innerlich auf. Du hast mir so viel von dir erzählt, was dir wichtig ist und was du nicht magst. Allein die Bemerkungen, die du in unseren Gesprächen machst, die Art, wie diese Räume eingerichtet sind und wie du aus dem Fenster siehst ... Spontan wollte sie widersprechen, doch es gelang ihr, sich zu bremsen. Sie würde lediglich erreichen, dass er ihr gegenüber künftig weniger mitteilsam wäre.
„Wir werden ausprobieren, ob Ihre Behandlung noch funktioniert. Einen Menschen, der mir zu nahe steht, könnte ich nicht behandeln. Bei meinem Bruder zum Beispiel fand ich es ziemlich schwierig. Aber ich glaube, dass es klappen wird. Und Sie müssen sehen, ob es für Sie in Ordnung ist, sich weiter von mir behandeln zu lassen.“
Die Übungen liefen dann genau wie immer ab. Sanft und umsichtig beugte und dehnte er ihre Hand, gab die Anweisungen mit leiser Stimme, erwiderte ihr Lächeln. Als sie sich zum Abschied die Hände schüttelten, fragte er:
„Und? War es schwierig für Sie?“
Inga fand die Frage abwegig, war ihre Situation doch seit dem ersten Termin unverändert. Aber dann fiel ihr ein, dass es für ihn Neuland darstellte, was er da betreten musste.
„Nein, ist in Ordnung.“
„Ja, den Eindruck hab ich auch. Bis zum nächsten Mal dann.“ Er öffnete ihr die Tür und begleitete sie in den Hof.
Neben dem Springbrunnen drehte sie sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. „Sie müssen mich nicht retten, wissen Sie.“
Michael Levin lächelte und zeigte dabei sein Grübchen.
Während sie durch das Tor auf die Straße ging, fühlte sie sich froh und traurig zugleich. In dem Moment, als sie ihm ihre Liebe erklärte, war das wie ein Abschied gewesen. Ein Abschied wovon, überlegte Inga. Von einem Traum.
Indem sie den Mund aufmachte, war sie von ihren Träumen, in denen alles möglich schien, in die Realität gewechselt. Sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er sie in seine Arme reißen und küssen würde. Womit dann? Mit einer Reaktion, die ihr einen Vorwand geboten hätte, ihn zu hassen? Die souveräne Art, wie er mit der Situation umgegangen war, ließ ihn nur noch liebenswerter erscheinen. Und gleichzeitig unerreichbarer.
Inga fuhr geradewegs zum Aussichtsturm an der Elbe. Egal, in welcher Stimmung sie die Stufen empor stieg, stets schienen mit jedem Schritt die Probleme, die Wut und die Angst und die Traurigkeit weiter zurück zu bleiben, kleiner zu werden wie Steine auf dem Waldboden. Unzählige Male war sie schon hier gewesen, und nie verfehlte die weite Landschaft ihre beruhigende Wirkung. In Sturm und Regen hatte sie am hölzernen Geländer gestanden, bei flirrender Hitze und bei Glatteis, wenn die Treppe eigentlich lebensgefährlich war. An klaren Tagen konnte man glauben, bis nach Hamburg schauen zu können. Zwei Bussarde kreisten am Feldrand, vielleicht ein Pärchen. Außer dem leichten Rauschen der Baumwipfel hörte man keinen Laut.
Schrilles Kläffen gellte durch den Hamburger Hauptbahnhof und sorgte für Aufsehen. Die schmutziggelbe, krummbeinige Töle, die den Lärm verursachte, trug ein edles Halsband mit funkelnden Swarovskisteinen und passender Leine. Am Ende der Leine hing Jörg, in dunklen Hosen und einem Hemd von Boss, und ließ sich über den Bahnsteig schleifen. Es war die sicherste Methode, seinen Besuch im dichten Gewühl zu finden.
„Zwiebel!“ rief Inga lachend, und die Hündin legte an Tempo und Phonstärke noch zu. Nachdem die drei sich ausgiebig begrüßt hatten, beruhigte sich der Aufruhr. Durch die Menge der Reisenden an Gleis elf ging ein kollektiver Seufzer der Erleichterung.
An der Alster ließ Jörg seinen Hund frei laufen. Während Zwiebel hierhin und dorthin schnüffelte, bummelten die Zweibeiner hinterher.
„Du hast sie scheren lassen, oder?“
„Genaugenommen hab ich es selbst gemacht. Sag`s bloß nicht weiter. Wenn meine Kundinnen das mitbekommen, schleppen sie mir sofort ihre eigenen Köter in den Laden.“
Vor der pompösen Einfahrt zum Maritim leinte Jörg die Hündin wieder an. Nicht, dass Zwiebel sich nicht zu benehmen wusste. Vielmehr wollte Jörg dem strengen Portier unmissverständlich signalisieren, dass sie zusammen gehörten. Einen Herrn Neverland würde niemand in Hamburg abweisen, selbst wenn er in Begleitung eines verlausten Affen erschiene. Jörg und Inga machten es sich an einem schönen Platz am Fenster mit Blick auf die Alster gemütlich, während ein livrierter Kellner ohne mit der Wimper zu zucken einen Wassernapf aus feinstem Porzellan vor Zwiebel auf das Parkett stellte.
„So, mein Goldstück, dann bring mich mal auf den neuesten Stand. Bei dir hat sich ja wohl einiges getan, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Die beste Methode, Jörg zum Reden zu bringen bestand darin, ihm erst einmal ihre eigenen Sorgen zu erzählen. Umso leichter würde es ihr danach fallen, herauszufinden, was ihn bedrückte. Als Inga versuchte, in Kurzfassung von den Ereignissen der letzten Wochen zu berichten, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass in ihrem Leben kaum ein Stein auf dem anderen geblieben war. Kein Wunder, dass es Jörg vollkommen überforderte, alle Neuigkeiten zu verdauen. In dieser Verfassung, das wusste Inga aus langer Erfahrung, war es ein Kinderspiel, ihm seine intimsten Geheimnisse zu entlocken. Sie musste auch gar nicht lange bohren, um zum Kern des Problems zu gelangen: Claudia. Aus Ingas Sicht ein kaltherziges, egoistisches Biest, das den gutmütigen Jörg nur ausnutzte und sich einen Dreck um seine Gefühle scherte. Zum ersten Mal schien Jörg sich nun gewehrt zu haben, was Inga kaum fassen konnte. Das war ja wirklich höchste Zeit gewesen. Aber wie hatte er den Durchbruch geschafft? Millimeterweise holte sie es aus ihm heraus.
„Hm … naja - sie nannte mich immer ‚Bärchen’ ...“
„Wie furchtbar. Warum hast du ihr nicht gesagt, dass dir das auf den Keks geht?“
„Oh, ich hab`s ihr gesagt. Sie meinte, im Bett wäre ‚Jörg’ viel zu sperrig. Das würde so abgehackt klingen, nach koitus interruptus.“
Insgeheim musste Inga der verrückten Claudia da leider recht geben. „Aber ob ‚Bärchen’ so viel besser ist? Ich finde das, äh, nicht sehr erotisch ...“
Jörg seufzte. „Mich hat es jedenfalls echt abgetörnt. Erinnerst du dich noch an meinen Kumpel Toby? Seine Frau hat mal mitten in einer heißen Nummer ‚Dieter’ gestöhnt.“
„Au weia.“
„Ganz genau. Er hat die Scheidung eingereicht. Aber ich hätte mich ehrlich gesagt lieber ‚Dieter’ nennen lassen als ‚Bärchen’.“
„Vielleicht wäre Toby dann nicht zum Anwalt, sondern nach St. Pauli gefahren, eine Pistole kaufen.“
Jörg lachte laut auf.
„Obwohl ... ‚Jörg’ hat möglicherweise wirklich nicht den allersinnlichsten Klang. Bei der nächsten Frau könntest du dich doch etwas anders nennen. Ich meine - man kann von seinen Eltern schließlich nicht erwarten, dass sie bei der Namenswahl an alles denken. Wie wäre es zum Beispiel mit ‚Jörn’? Du müsstest nur einen einzigen Buchstaben ändern, und die Wirkung wäre eine ganz andere. Jörn ... das ist ein toller Name.“
„Also ob Jörg oder Jörn, das ist doch fast dasselbe.“
„Darf ich dich Jörn nennen?“
„Nur im Bett.“
Sie sahen sich an und lachten. Dieses Kapitel galt als lange abgeschlossen, und ihre Freundschaft war viel zu wertvoll, um daran zu rühren.
Inga griff über den Tisch und drückte seine Hand. „Sei froh, wenn du sie endlich los wirst. Sie hat dich nicht verdient.“
Jörg spielte gedankenverloren mit Ingas Fingern. „Los bin ich sie nicht. Noch nicht. Fürs Erste hab ich auf getrennte Schlafzimmer bestanden und ihr meine Kreditkarten weggenommen. Wenn sie ein tolles Kleid oder eine Sonnenbrille für zweitausend Euro gesehen hat, die sie unbedingt haben muss, kommt sie mich nachts besuchen. Ich hab ihr gesagt dass sie sofort rausfliegt, wenn sie ein einziges Mal etwas anderes zu mir sagt als ‚Jörg’.“
Sprachlos starrte Inga ihren lieben, etwas zu dicken, etwas zu weichherzigen besten Freund an. Er zahlte, zog ihren Arm unter seinen und geleitete sie hinaus in die Sonne.
„Weißt du, ich bin nicht blöd, sondern ein ganz normaler Mann. Mir ist vollkommen klar, dass Claudia nicht mich sondern meine Visacard meint, wenn sie sagt: ‚Ich liebe dich’. Sobald sie einen Typen findet, der so spendabel ist wie ich und zusätzlich einen Waschbrettbauch vorweisen kann statt eines Waschbärbauchs, ist sie weg. Aber ich bin immer noch verrückt nach ihr, vielleicht nur nach ihrem Körper, ich weiß es nicht ... und darum machen wir beide weiter, bis sie etwas Besseres gefunden hat. Angebot und Nachfrage.“
Nachdenklich schlenderte Inga neben ihrem Freund und seinem ulkigen Hund her. Sie konnte ihm kaum vorwerfen, sich an ein berechnendes Miststück zu verschwenden. Hatte Jörg sich nicht vor kurzem noch Fransen an den Mund geredet, dass sie diesen nichtsnutzigen Detlef zum Teufel jagen sollte? Aber nein, Inga war starrköpfig immer weiter in ihr Elend gerannt, blind und taub für alle Warnungen. Jörg war nichts weiter übrig geblieben, als ohnmächtig vor Zorn mit anzusehen, wie sie litt.
Jetzt ermunterte er sie: „Erzähl mir von diesem Krankengymnastikmenschen, in den du dich verliebt hast.“
„Meine Güte, merkt man mir das so deutlich an?“ Sie hätte sich denken können, dass Jörg sie zu gut kannte, als dass es ihm entgehen würde. Ausführlich und mit glänzenden Augen begann sie von Michael zu schwärmen. Im Grunde war sie froh, mit Jörg die Situation aus männlicher Sicht bereden zu können. „Manchmal sieht er mich so an, ich weiß nicht ... Und er hat nichts davon gesagt, dass er gebunden ist oder dass ich nicht sein Typ bin, nichts in der Art. Ich meine hey - sind das nicht die Sachen, die man einer Frau sagt, wenn man sie abwimmeln will?“
„Wahrscheinlich wollte er dich nicht verletzen. Mit einem Minimum an Kränkung ein Maximum an Abweisung erreichen.“
Der rücksichtsvolle, einfühlsame Michael Levin. Ja, das würde zu ihm passen. Inga liebte ihn dafür umso mehr. „Er sagt, dass eine Frau, die er als Patientin kennengelernt hat, für ihn nicht in Frage kommt. Wie verrückt ist das denn? Ich meine - wir sind doch nicht beim Gebrauchtwagenkauf. Man kann sich schließlich nicht vorher aussuchen, bei welchem Händler man kauft, beziehungsweise wo oder in wen man sich verlieben will. Es ist nichts was man tut, sondern es passiert einfach - oder nicht. Bin ich etwa an dem Morgen losgezogen mit dem Vorsatz, mir einen schicken Physiotherapeuten zu angeln?“
„Er ist ein Mann mit Prinzipien, und du bist als Patientin für ihn tabu. Finde ich gut, diese Einstellung.“
„Na super.“
„Inga, egal was er für dich empfindet oder nicht empfindet, er muss sich immer noch jeden Morgen beim Rasieren ins Gesicht sehen können ...“
„Dabei hab ich mich gar nicht als Patientin in ihn verliebt“, entgegnete Inga frustriert. „Das ist einfach nicht fair.“
Jörg legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an sich. „Die Liebe ist alles Mögliche, aber ganz sicher nicht fair. Na komm, mein Goldstück, wir gehen shoppen und kaufen uns glücklich. Und danach suchen wir uns bei Wächter`s einen Tisch in der Sonne und futtern Torte, bis wir platzen.“
Arm in Arm schlenderten sie in Richtung Jungfernstieg, um diesen vernünftigen Plan in die Tat umzusetzen.