Читать книгу Mein Morbi und ich - Iris Weitkamp - Страница 5

Einige Vorworte

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Die Situation, in der ich mich als Patientin mit einer chronischen Erkrankung befinde, erinnert stark an eine Wohngemeinschaft. Dummerweise war ich nie der Typ für Wohngemeinschaften.

Ich lebe seit zehn Jahren mit Morbus Crohn, einem ungepflegten, faulen Mitbewohner, der in Küche und Bad eine Sauerei hinterlässt und seinen Anteil an der Miete schuldig bleibt. Der den letzten Joghurt wegfuttert, ohne anzuklopfen in fremde Schlafzimmer platzt und ungeniert furzt. Dem der Gebrauch einer Klobürste vollkommen fremd ist. Einem lästigen, peinlichen Typen wie Spike aus dem Film ‚Notting Hill’, dem versauten, rasend unverschämten Untermieter von Gutmensch William.

Als Morbi damals bei mir einzog fragte ich mich, wie ich überhaupt an einen solchen Mistkerl geraten konnte. Und wie ich ihn schnellstmöglichst wieder los würde. Am Kragen packen und rauswerfen wollte ich den Burschen. Leider verfügt er über einen unbefristeten Mietvertrag. Alles Wüten und mit dem Rechtsanwalt drohen hilft nichts - er lümmelt unbeeindruckt auf dem Sofa und grinst: „Also, mir gefällt`s hier.“

Als ich meine Diagnose bekam, sah ich zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Entweder mit dem Fuß aufzustampfen, mich wie ein trotziges Kind auf den Boden zu werfen und zu quengeln. Oder mir das Leben mit der Krankheit so angenehm zu gestalten, wie es geht. Die erste Möglichkeit erschien verlockend, weil sofort umsetzbar. Sie barg jedoch gravierende Nachteile. In Selbstmitleid zu schwelgen, in der Rolle des bedauernswerten Opfers zu verharren, würde wohl kaum meine Lebensqualität erhöhen. Im Gegenteil, es wäre eine Zumutung für meinen Partner, mein gesamtes soziales Umfeld und für mich selbst. Allerdings ... solange das Jammern eine Ausnahme bliebe und nicht zum Selbstzweck ausartete, könnte ich mir die eine oder andere wehleidige Phase gönnen ...? Wenn ich mir ein Zeitlimit setzte: Zwanzig Minuten / bis morgen früh / bis der Wecker klingelt - dann wäre es doch in Ordnung? Frisch ausgeheult, würde ich danach wieder Taten folgen lassen!

Ich schielte aus meinem Jammertal nach der zweiten Möglichkeit. Hm. Mich konstruktiv mit der Krankheit auseinander zu setzen, mit der ich Alltag und Körper zu teilen haben würde ... dies roch nach Arbeit. Und es war Arbeit. Aber gleichzeitig wurde es spannend! Ich entdeckte, dass mein ungebetener Mitbewohner, ebenso wie Spike, manchmal eine gutherzige Seite zeigt. Dass er, wenn es darauf ankommt, seinem Vermieter sogar helfend zur Seite stehen kann.

Wer ist mein unerwünschter Mitwohni überhaupt?

Ein gewisser Antoni Lesniowski studierte Medizin an der Universität von Warschau und in Berlin. Nach seiner Promotion arbeitete er als Chirurg in Warschau und beschrieb 1904 als erster Arzt jenes Krankheitsbild, welches mich heute auf Trab hält. Es handelt sich um eine chronisch entzündliche Darmerkrankung (CED), die zur Gruppe der Autoimmunerkrankungen gehört. Vereinfacht gesagt, betrifft die chronische Entzündung hauptsächlich den Dünndarm, es können jedoch Bereiche des gesamten Magen-Darm-Traktes, häufig der Darmausgang, befallen sein. Zu den Symptomen gehören Bauchschmerzen, Durchfall und Fieber. Nicht selten kommt es zu vernarbten Stellen, Darmverengungen bis hin zu Darmverschlüssen, Fisteln oder Durchbrüchen zum Magen oder zur Scheide. Die Entzündung kann sich bis in die Augen, die Gelenke und die Wirbelsäule ausbreiten, auch auf Haut, Leber und Gallenwege übergreifen.

Achtundzwanzig Jahre später dokumentierten die nordamerikanischen Magen - und Darmspezialisten Burrill Bernard Crohn, Leon Ginzburg und Gordon D. Oppenheimer ebenfalls diese Krankheit.

Nun wird niemand ernsthaft glauben, die Vereinigten Staaten von Amerika könnten bei irgendeiner Gelegenheit den Kürzeren ziehen. Und ganz und gar undenkbar scheint es, ein Amerikaner könne einem Polen gegenüber den Kürzeren ziehen. So auch jetzt. Die Krankheit ist uns, trotz achtundzwanzig Jahren Vorsprung des polnischen Arztes, weltweit unter dem Namen ‚Crohn`s disease’ (Morbus Crohn) geläufig. Einzig in der polnischen Literatur hält sich die Bezeichnung ‚Lesniowski-Crohn's disease’ mit einem trotzigen Stolz, für den ich vor den Polen einfach den Hut ziehen muss.

Zwischen den drei Amerikanern ergab sich die Namensgebung angeblich dadurch, dass der Nachname ‚Crohn’ im Alphabet am weitesten vorne steht. Ich denke eher, die Jungs haben das in einer Pokerpartie entschieden. Oder der durchsetzungsstarke Burrill hat Leon und Gordon unter den Tisch getrunken. Unser guter B.B. erlangte jedenfalls Weltruhm und praktizierte angeblich noch als Neunzigjähriger.


Hinsichtlich der Ursachen und einer vollständigen Heilung von Morbus Lesniowski-Crohn scheint man heute im Grunde nicht sehr viel weiter zu sein, als man es zur Zeit der Erstbeschreibung war. Engagierte Fachärzte und Forscher mögen mir verzeihen, dies ist mein eigener laienhafter Eindruck. Als ich mich über Morbus Crohn informierte, fand ich eine Fülle von Vermutungen, aber nur wenige harte Fakten.

Das Einzige, was in Bezug auf Morbus Crohn wirklich gesichert scheint, ist seine Diagnose. Ich weiß also zweifelsfrei, unter welcher Krankheit ich leide. Damit hat es sich auch schon mit den Gewissheiten, alles Weitere ist eine Kette von ‚sehr wahrscheinlich’, ‚der Erfahrung nach’ und ‚vielleicht’.

Möglicherweise sind Bakterien oder ein Virus für die Erkrankung verantwortlich. Letzterer gilt als nicht ansteckend und könnte jahrelang unbeachtet im Körper schlummern. Andere Theorien gehen von bestimmten genetischen Anlagen beziehungsweise Defekten aus. Warum die Krankheit bei dem einen Menschen ausbricht, beim anderen nicht, und wodurch dieser Ausbruch ausgelöst wird – ein enger Zusammenhang mit seelischer Belastung und Stress gilt als sicher. Im Krankheitsverlauf wechseln sich Phasen verstärkter Aktivität und akuter Entzündungen mit mehr oder weniger beschwerdefreien Ruhephasen ab. Morbus Crohn gilt als unheilbar, auch wenn in schöner Regelmäßigkeit neue Wunderwaffen präsentiert werden (beispielsweise der Schweinebandwurm oder eine hoch dosierte Cortisongabe).

Was die moderne Medizin leisten kann, ist die Linderung und Bekämpfung der Symptome. Und hier gibt es zweifelsohne eine Weiterentwicklung zu verzeichnen. Im günstigsten Fall ermöglicht sie dem Patienten ein weitgehend normales Leben. Sogar die Beschwerdefreiheit über einen längeren Zeitraum, Monate oder gar Jahre, ist möglich.

Zuletzt las ich, dass in den westlichen Industriestaaten von 100.000 Menschen ungefähr 150 an CED leiden. Wie bei vielen Autoimmunerkrankungen ist die Zahl der neu erkrankten Personen in den letzten Jahren stark gestiegen. Sie wird vermutlich, gefördert durch den zunehmenden Druck in allen Bereichen des Lebens, weiter steigen. Und jeder dieser neu erkrankten Menschen steht erschrocken, fassungslos, klagend oder tapfer der neuen Realität gegenüber, sieht sein ganzes Leben sich verändern.


Als ich die Diagnose erfuhr, mein mangelhafter Gesundheitszustand also endlich einen Namen bekam, spürte ich vor allem: Erleichterung. Es war, als habe in meiner Speisekammer monatelang ein Ungeziefer die Lebensmittel angefressen, resistent gegen Fallen, Gifte und Abschreckung. Und eines Abends, als ich überraschend die Tür aufriss, hockte es entlarvt im Lichtkegel und blinzelte.

„Ha!“, dachte ich, „Hab ich dich endlich, Morbus Crohn!“

In Wirklichkeit hatte eher er mich, aber das wusste ich noch nicht. Ich fühlte mich fast als Siegerin. Den Feind kennen, sagt ein chinesisches Sprichwort, heißt ihn besiegen.

Die alten Chinesen waren glücklich dran, sie besaßen keinen Internetanschluss. Ich schon. Ich suchte im World Wide Web nach Informationen und fand das nackte Grauen. In den Foren der Selbsthilfe(?)gruppen schienen sich ausschließlich Leidensgenossen zu tummeln, deren Leben quasi vorbei war (wobei ihre Energie leider noch zum Verbreiten von Horrorgeschichten reichte). Nach der Lektüre unzähliger Berichte über Magendurchbrüche und künstliche Darmausgänge bekam ich nächtelang kein Auge zu.

Doch mit der Zeit sammelte ich meine eigenen Erfahrungen und bemerkte, dass man mir nur die halbe Wahrheit erzählt hatte. Mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung bricht nicht automatisch das reine Elend über einen herein, jedenfalls nicht nur. Natürlich gibt es Momente des reinen Elends. Ich will nicht behaupten, dass Morbus Crohn ein pures Vergnügen sei. Schmerzen, Erschöpfung, körperliche und seelische Beeinträchtigungen sind jedoch nur eine Seite der Krankheit. Daneben kommen Denkanstöße, Chancen zur Veränderung, sogar wirklich witzige Situationen auf einen zu. Als es mir gelang, Augen und Ohren zu öffnen, konnte ich unglaublich viel lernen. Die Krankheit und ich haben so viel Zeit miteinander verbracht, so viel erlebt, dass mein ungebetener Gast all seine Gesichter zeigte. Mein Morbi ist ein Blödmann und eine Nervensäge, ein unschätzbarer Spiegel, der mir so manches Mal vorgehalten wird. Ein Till Eulenspiegel, mein persönlicher Hofnarr. Unter Verwendung allerlei lästiger Possen zeigt er an, was nicht so ganz rund läuft bei mir. Ich bin dankbarer geworden, demütiger, auch risikofreudiger. Nicht, weil ich nichts mehr zu verlieren hätte, sondern weil ich merke, wie unendlich viel es zu verlieren gibt.


Bald ergaben sich persönliche Gespräche mit anderen Betroffenen von Autoimmunerkrankungen. Eine Kollegin erfuhr ihre Diagnose ‚Multiple Sklerose’ und fürchtete, dies würde sie den Job, ihren Verlobten, ihr ganzes bisheriges Leben kosten. Der Neffe einer Freundin glaubte, wegen des Morbus Crohn seinen Traum vom Reisen aufgeben zu müssen. Eine Psychotherapeutin seufzte, ihre Patientin habe wegen einer CED allen Lebensmut verloren. Jeder dieser Menschen war heilfroh, von ermutigenden, ja sogar guten Erfahrungen zu hören. Bedauerlicherweise ließ der Konsum von Erfahrungsberichten eher ein Gefühl des Grauens oder mindestens der Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit zurück. Kaum jemand gab sich Mühe, dem etwas Positives entgegenzusetzen.

Also legte ich ein großes Brett quer über Regal und Sofalehne, rückte einen Küchenstuhl heran und schrieb Morbis und meine gemeinsame Geschichte auf.


Warum nenne ich meine Krankheit ‚Morbi’? Es klingt nicht so auf Kampf gebürstet, weniger formell als ‚Morbus Crohn’. Immerhin wohnen wir im selbem Körper. Würde man sich in einer WG mit ‚Sie’ anreden? „Entschuldigen Sie mal, Frau Meier, Sie haben diesen Monat nicht ein einziges Mal den Müll raus getragen …“? Eher nicht.

Mein Morbi und ich haben zusammen für die Europäische Kommission gearbeitet, an Naturschutzexpeditionen teilgenommen und in einer Gruppe von fünftausend Atomkraftgegnern auf der Straße geschlafen. Wir hocken ständig aufeinander, da braucht es einen knackigen Rufnamen.

Während ‚Morbi’ schlimmstenfalls ein wenig albern wirkt, mag meine pragmatische (ignorante?) Haltung zur politisch korrekten Formulierung gelegentlich weiblichen Unmut hervorrufen. Ich wähle zur besseren Lesbarkeit die allgemeine, nun einmal männliche Form. Die weibliche ist, in Wort und Schrift wie in Fleisch und Blut, halt ein bisschen komplizierter. Eventuell empörte Leserinnen bitte ich um Nachsicht, dass ich nicht ein ganzes Buch lang Stolpersteine wie „LeserInnen, KollegInnen“ oder „Leserinnen und Leser, Kolleginnen und Kollegen“ vor unseren Augen umherkollern lasse. Es liest (und schreibt) sich angenehmer, wenn man sein Bewusstsein nicht permanent vor sich her tragen muss.


‚Mein Morbi und ich’ möchte nicht behaupten, ein Fachbuch über Morbus Crohn zu sein. Medizinische Fachliteratur existiert in ausreichender Zahl und hoher Qualität, so dass ich dem kaum etwas hinzuzufügen hätte.

Doch die erste Frage, die jedem Autor oder Buchhändler gestellt wird, lautet: „In welche Kategorie gehört das?“ Der Drang zum Schubladendenken ist übermächtig. Und die Kriterien der Sortierung bleiben trotzdem ein Rätsel. Zum Beispiel fand ich ‚Dilbert’ in einem großen Berliner Büchertempel nicht unter ‚Comics’, sondern unter ‚Wirtschaft’. Liegt das nun am Zustand unserer Wirtschaft - oder der Schlagfertigkeit des Händlers?

Vielleicht steht ‚Mein Morbi und ich’ ja unter ‚Reiseliteratur’ - das würde sogar passen.

Mein Morbi und ich

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