Читать книгу Davor war alles anders, danach auch - ISIS Ehbauer - Страница 5

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I. Teil

Christina betrachtete gedankenverloren den See vor ihrem Haus, der glasklar und windstill zwischen saftigen, bunt gesprenkelten Wiesen dalag. Dahinter sanft ansteigende Hügel, und etwas weiter in der Ferne die Silhouette eines sonst bedrohlich und düster wirkenden Waldes. Jetzt aber hat noch einmal die herbstliche Morgensonne alles in ein strahlendes Licht getaucht. Dieses Fleckchen Erde hat eine ganz besondere Ausstrahlung.

Hier verbrachte sie jetzt meist die Sommer. In der endlosen Stille konnte sie zu sich selbst finden und neue Kraft auftanken. Hier auch holte sie ihre Vergangenheit wieder ein, die sie so oft verdrängt hatte, die so unergründlich schien, wie der See vor ihr, der nicht immer so aussah, wie heute.

Sie wollte im Leben nie etwas Besonderes erreichen – nur ein kleines Stück vom großen Glück abbekommen. Das Leben ist kein Märchen – das wusste sie! Einmal war sie dem Glück so nahe, doch kalter Egoismus und hinterhältige Intrigen beendeten vorzeitig eine vielversprechende Episode; die fast in ein Märchen geendet hätte.

Davor aber verlief ihr Leben in fast normalen Bahnen. Aufgewachsen in einer Familie mit vier Brüdern, hatte sie es nicht immer ganz leicht. Sie war die Jüngste. In Berlin-Schöneberg wurde sie geboren. Endlich ein Mädchen … so der Vater! Sie war zwei Jahre alt, als sie ihre leibliche Mutter durch die Hand des Berliner-S-Bahnserienmörders, verlor. Das achte Opfer. Sie hat keine Erinnerung an ihre Mutter. Vater stand mit 5 kleinen Kindern mitten im Krieg da. Ihren jüngsten Bruder gab er der Schwester seiner verstorbenen Frau. Onkel und Tante waren kinderlos, wollten lieber das Mädchen, das gab er nicht her. Nach einiger Zeit lernte er eine wunderbare Frau kennen, die Kinder bekamen eine gute Mutter, die sich aufopferungsvoll ihren schweren Aufgaben stellte.

Christina wurde bis zu ihrem 18. Lebensjahr streng behütet. Konnten Vaters Argusaugen sie nicht erreichen, war immer einer der Brüder zur Stelle. Ihre Mutter hatte genug andere Aufgaben, die Rollenverteilung war seinerzeit vorgegeben.

Es war die Nachkriegszeit! Man lebte bescheiden, erfreute sich an jedem kleinen Aufschwung. Auch die kleinen Dinge hatten ihre Wirkung. Sie hatte eine Lehre als Verkäuferin begonnen, was hätte sie sonst lernen sollen? Friseuse hätte ihr gefallen, doch in jenem Jahr muss es einen Überschuss an Mädchen gegeben haben, der Traum hatte sich nicht erfüllt. Schneiderin hätte sie noch werden können, da fehlte es ihr an allen dazugehörenden Fähigkeiten. Ihre Freundin Mara hatte bei einem ältlichen, spindeldürren Fräulein so eine Lehre begonnen. Wenn es ihrer beider Zeit erlaubte tauschten sie ihre leidvollen Erfahrung schon mal aus. Christina verbrachte den überwiegenden Teil ihrer Lehrzeit mit „Schrubben der Regale „und hunderte Tüten mit Mehl, Zucker und Salz zu füllen. Eintüten nannte man das. Unter strengen Augen übte sie, bis eine gut gefaltete Tüte den Anforderungen entsprach. Von nun an ging̱ ’s bergauf! Jetzt wurden die Tüten gewogen – 500 Gramm mussten ein Pfund ergeben! Die Scheiben der Käse-, Wurst- und Kuchenvitrinen konnte sie mittlerweile auch glasklar hinkriegen; auch der riesige Fußboden erstrahlte bald in festlichem Glanz – ohne „Meister Proper“, den kannte man in der „SBZ „(Sowjetische Besatzungszone) noch nicht.

Ähnlich erging es Mara. Die Wohnung ihrer Lehrherrin war nicht groß, vollgestopft aber mit altem Mobiliar, Kästen, Kisten, Schachteln, alten Teppichen. Das galt es erst einmal auf Vordermann zu bringen. Und so mühte sie sich auf dem Hinterhof mit den alten, schweren Teppichen ab. Mit dem „Ausklopfer „drosch sie ihre ganze Wut in dieselben, heraus kam Jahre alter Staub. Im zweiten Lehrjahr durfte sie schon ab und zu beim Zuschneiden und Nähen zusehen, auch schon mal ein fertiges Kleidungsstück abliefern. Gelegentlich gabs ein kleines Trinkgeld von den Kunden, das waren jene Lichtblicke, die auch sie ihre trostlose Lehre vergessen ließ.

Welch ein Tag, sie halten endlich ihren Gesellenbrief in der Hand. Christina arbeitet nun als Verkäuferin, es macht ihr Spaß, Mara bewirbt sich in einem Bekleidungsinstitut.

Dann irgendwann trennten sich ihre Wege für lange Zeit!

Christina übernahm mit 20 Jahren einen kleinen, heruntergekommenen Konsumladen, der lange Zeit geschlossen war. Die Bevölkerung bringt etliche Beschwerden ein, und erzwingen so die Wiedereröffnung. Eine Woche hat sie mit zwei Handwerkern zu tun, bringt den Laden in Schwung. Man lieferte Ware an, die Seltenheitswert hatte. Die Kunden danken es ihr, zur Eröffnung bringen sie Blumen und kleine Geschenke. Es beflügelt sie sehr. Durch ihren Fleiß, der Umsichtigkeit und einem sehr guten Organisationstalent, hat sie sehr zufriedene Kunden. Das Sortiment bestand aus Seifenwaren, Spirituosen, Getränke, Obst-Gemüse und dem „Schwerpunkt – Kartoffeln „

Man schrieb das Jahr 1958.

Noch immer waren die Kartoffeln ein sogenannter Engpass! Endlose „Warteschlangen“, bei der letzten Lieferung waren wieder einige leer ausgegangen. Kam endlich eine Lieferung, dann war das ein riesiger, unüberschaubarer Kartoffelberg, es handelte sich um mehrere Tonnen! Dies jagte ihr immer wieder Angst und Schrecken ein. Bis zum Abend musste der per Hand mit einer 5-kg-Trichterwaage abgetragen werden. Es war eine elende Schinderei! Vielleicht musste sie sich bei ihrem Vater bedanken. Der war mit der Familie, als die Wohnung in Berlin-Schöneberg zu klein wurde, nach Berlin-Köpenick umgezogen, Teil der späteren „SBZ“. Ob es in Schöneberg doch schon modernere Waagen gab? Viele aus ihrer Lehrzeit arbeiteten schon im amerikanischen Sektor. Mit der S-Bahn fuhr man bequem von Ost nach West! Ihr machte die Arbeit in ihrem kleinen Laden Freude. Sie war freundlich und flink, die Kunden mochten sie. Besonders aber hatten es die Junggesellen auf sie abgesehen. Ständig fand sich der eine oder andere bei ihr ein, um für die jeweilige alte Wirtin etwas einzukaufen. Sie war eine kleine Schönheit geworden. Ihre grau-grünen Augen, ihr voller, straffer Busen und die sehr schönen Beine begeisterten schon so manches Männerherz! Eigentlich gehörte sie mit diesem Aussehen gar nicht hierher, dachte manch einer! Immerhin brachte es ihr aber soviel ein, dass sich bei Ankündigung einer großen Kartoffellieferung manchmal bis zu drei Verehrern anboten, den Berg abzutragen. Das waren ihre kleinen Glücksmomente! Wenn es die Zeit erlaubte, plauderte man schon mal über dies und das. Mit Komplimenten wurde sie überschüttet, jedes Mal lief sie rot an, es machte sie verlegen. Ein Verehrer hatte es ihr besonders angetan. Gut sah er aus, groß breitschultrig, blond, fast ein Typ wie der „blonde Hans“. Seine blauen Augen blitzten sie nur so an, das jagte ihr schon mal kleine nie gekannte Schauer über den Rücken. Ein gestandener Mann, acht Jahre älter als sie.

Das konnte gefährlich werden, dachte sie! Langsam wurde sie zu Hause aufmüpfig. Stück für Stück hatte sie sich ein wenig mehr Freiheit erkämpft. Das konnte die Familie überhaupt nicht begreifen, sie hatte gar nicht bemerkt, dass Christina langsam flügge wurde. Mit 18 Jahren durfte sie das erste Mal in eine Kinovorstellung, die um 22 Uhr 30 endete. Das Kino war gleich um die Ecke, Vater wartete schon auf dem Balkon.

Hans wohnte im Mietshaus gegenüber in einem möblierten Zimmer, die Wohnungsnot war damals sehr groß. Auf dem Balkon spielte er öfter Skat mit seinen Freunden. Sein Interesse für sie, hatte sie längst bemerkt, Ungeduld erfasste sie, sie malte sich aus, wie es wohl im Kino mit ihm sein würde? Ganz dicht würde sie neben ihm sitzen … Vielleicht seine Hand halten. Als er in den Laden kommt, fragt sie ihn, ob er auch gern ins Kino geht? Da er nicht gleich antwortete, hakt sie nach. Hans sagte: „Dass er schon die Gelegenheit gesucht habe, immer aber sei einer ihrer Brüder aufgetaucht; es hätte sich auch schon herumgesprochen, dass sie wie eine Nonne gehalten würde!“ Das war ihr sehr unangenehm: „Pah, ich hatte schon genug Freunde, alles wissen die zu Hause auch nicht!“ Gleichzeitig war sie über ihre Worte erschrocken – was musste er nun von ihr denken?! Bald lud er sie ein, zu einem Tanzabend. Endlich ihr erstes, richtiges Rendezvous! Mit entsprechenden Ermahnungen ihrer Eltern und einem wahnsinnig aufregenden engen, schwarzen Kleid machte sie sich auf den Weg. Hatte die zehn cm hohen, schwarzen Pumps mit den Pfennigabsätzen gewählt, Hans war sehr groß. Einmal nur durfte sie zu einem Tanz, das war der Abschlussball nach ihrer Lehrzeit! Was für ein Unterschied, es tanzten die Mädels miteinander, das hatte sie abgelehnt! Hans wartete schon, er sah hinreißend aus! Sein gut gestählter, durchtrainierter Körper, er war Judomeister mit allen Graden, begeisterte Christina. Sie tanzte selbstvergessen mit ihm, als hätte sie nie etwas anderes getan. Hans war ein hervorragender Tänzer. Insgeheim wunderte sie sich, nie hatte sie tanzen gelernt, wo auch? Ihr Körper macht ganz von allein jede Bewegung mit. Es war atemberaubend! Um ein Uhr sollte sie spätestens zu Hause sein. Sie musste dann erst mal durchs elterliche Schlafzimmer! Das fällt ihr zum ersten Mal auf, und sie ist verärgert darüber. Hans wohnte bei einer frommen, hellhörigen, alten Wirtin, die keinen Damenbesuch duldete. Und Christina duldete keinen Aufschub mehr!! Heute muss es passieren, so dachte sie. Die Küsse, die sie schon ausgetauscht hatten, ließen sie erschauern. Sie war völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Nun wollte sie alles! Ihr junger, unberührter Körper verzehrte sich nach ihm. Auf diesen Tag hatte sie lange gewartet. Er hatte sie wild und leidenschaftlich geküsst, Gefühle wallten in ihr auf, die sie noch nicht kennengelernt hatte. Hans tat sich schwer, was wenn die „Alte“ sie hören würde. Christina schmiegte sich an ihn, suchte wieder seine Lippen. Hans zog sie in den stockdunklen Flur mit nach oben. Von den Stöckelschuhen hatte sie sich schon längst befreit. Ohne Licht zu machen, und ganz leise erreichten sie den 2. Stock. Fast geräuschlos schloss er die Tür auf. Die alten Holzdielen knarrten unter ihren Schritten. Hans, bist du es? In letzter Sekunde schaffte er es, Christina in sein Zimmer zu schieben. Sie geriet in Panik! Der Rausch war erst mal verflogen; Wut stieg in ihr auf! Verdammt … leise trat sie auf den Balkon hinaus, von wo aus sie die beiden durch das angrenzende Küchenfenster sehen konnte. Da saß sie nun, die alte, neugierige Wirtin in ihrem aufgeplusterten Rüschennachthemd. Die langen Glastroddeln der alten Lampe berührten fast ihre aufgetürmte Spitzenhaube. Die Zeit rann ihr davon. Gegenüber im 1. Stock brannte im Wohnzimmer noch Licht. Die Eltern warteten noch auf ihre Tochter. Mein Gott, wüssten sie, wo ihre Tochter sich gerade aufhält und in welcher grotesken Lage sie sich befand? Lange hielt sie es in dem “Plüsch und Plunder“, der nach altem Staub und Mottenpulver roch, nicht mehr aus. Hans saß ebenfalls auf glühenden Kohlen. Er musste erst noch ihr neu erprobtes Rezept verkosten – dann ließ sie ihn endlich gehen. Wie kam sie nur unbemerkt und unbeschadet wieder hier heraus. Wenn sie wenigstens unbemerkt herauskam. Der Mond schien ins Zimmer, es war Vollmond. Der Mann im Mond lächelte ihr verheißungsvoll zu, lag es vielleicht daran, dass Christinas Leidenschaft wieder aufflammte? Sie forderte ihr Schicksal heraus. Nebenan war ein Schnarchen wie ein mittleres Erdbeben zu hören. Die Gefahr war erst mal gebannt. Alles Starre, Beengende fiel von ihr ab. Das alte Plüschsofa fiel schon fast auseinander. Sie zog ihn auf den Teppich und küsste ihn mit der verzweifelten Intensität einer Ertrinkenden. Hans fragte sie: „Willst du es wirklich?“Wovor hatte er Angst, doch nicht vor ihren Brüdern?! Er war doch Judomeister, an Körpergröße ihnen noch überlegen – aber sie waren drei! Ihre Freundinnen hatten es lange hinter sich gebracht, das erste Mal. Nein, sie würde nicht gehen, die Vorwürfe von den Eltern entgegennehmen, falls es später werden sollte. Schwer atmend beugte er sich über sie, streichelte sie zärtlich, liebkoste sie, auch ihn packte das Verlangen und die Lust nach diesem schönen, jungen Körper. Ihre Erregung besiegte jede Vernunft. Er verführte sie mit seinen Lippen, Christina war einer Ohnmacht nahe. Diese Augenblicke wollte sie für immer festhalten. Hans war ein aufregender, zärtlicher Liebhaber. Sie liebte ihn mit der ganzen Hingabe und Leidenschaft einer erwachten Frau. Dass sie ihm etwas vorgemacht hatte in puncto „Männererfahrungen „hatte er wohl bemerkt. Es gab noch keine Babypille und er machte sich bereits Gedanken, ob diese erste Nacht mit ihr eventuell Folgen haben könnte?! Sie hatte, nach neun Monaten genau, gebar Christina, Marc, einen wunderschönen Knaben. Ihre Eltern wunderten sich, sie hatten sich plötzlich verlobt. Als sie fast im sechsten Monat schwanger war, bemerkte ihre Mutter erst ihren Zustand; der Familienrat beschloss, es müsste schnell geheiratet werden. Hans war bereit dazu. Täglich wartete sie nun auf dem Balkon auf seine Rückkehr nach getaner Arbeit. Immer häufiger wartete sie vergebens. Auf ihre Fragen antwortete er ausweichend, schob Freunde und Kollegen vor. Den Eltern gefiel das gar nicht. Zur allgemeinen Verwunderung blieb er sogar dem Polterabend fern und alle Verwandten entsetzten sich darüber. Wozu hatte man alles “ Verderbliche „so lange von Christina ferngehalten. Übermorgen sollte die Hochzeit sein. Mutters Schwestern waren schon angereist, in der Küche wurden u.a. zahlreiche Hühner gerupft, fürs Hochzeitsmahl. Alle legten Hand an, es sollte doch ein schönes Fest werden. Vater schwoll mächtig der Kamm, er nahm seine Tochter beiseite und bat sie, Hans nicht zu heiraten; sie würde ins Unglück rennen. Er habe vier Kinder großgezogen, auf eins mehr käme es nicht mehr an. Sie war sprachlos und freute sich über diese Aussage des Vaters. Sie hatte früher andere Sätze vernommen. Ihr waren auch schon Zweifel gekommen, womöglich hatte der Vater recht.

Das schöne Hochzeitskleid, die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren! Die ganze Straße nahm Anteil, sie kannten Christina von klein an, und mochten sie alle. Der Schlächter hatte mit einem Riesenpaket zum Festschmaus beigetragen. Vor allem aber wollte sie ihren Sohn, ihr Gefühl sagte ihr, dass es ein Sohn werden würde, nicht unehelich auf die Welt bringen. Sie wollte auch um ihre kleine Familie kämpfen. Mit viel Geduld und ein wenig Glück hatte sie sich schon eine kleine Wohnung erkämpft. Die ganze Verwandtschaft half bei der Einrichtung. Ihr Bruder Hardy hatte ihr die ganze Wohnung renoviert. Es wurde ein gemütliches Heim und selbst die Babywiege stand schon bereit. Endlich war sie frei, abgenabelt von zu Hause!

Die Hochzeit war wunderschön, sie freute sich auf die Zukunft. Hans im Smoking, sein Anblick, ließ sie alle Querelen vergessen. Alle, die sie kannten, brachten Geschenke und Blumen, es war wunderbar. Doch noch ein guter Anfang!

Drei Tage nach der Hochzeit kam Hans nicht nach Hause. Christina war krank vor Sorge … das passierte jetzt öfter. Er fing an zu trinken, oder trank er schon früher, sie kannte ihn ja kaum richtig. Schreckliche Szenen spielten sich ab, auch schon während der Schwangerschaft. Er bleibt jetzt immer öfter weg; endlich vertraut sie sich den Eltern an. Sie sind erschüttert, haben es kommen sehen. Als noch herauskam, dass er schon lange eine ältere Freundin hatte, die einen großen Einfluss auf ihn ausübte; und nicht bereit war, auf ihn zu verzichten, reichte Christina die Scheidung ein. So einen Vater wollte sie ihrem Sohn nicht erhalten. Leider zog sich das hin, in der DDR ließ man sich nicht scheiden, die Partei gaukelte Harmonie in allen Lebenslagen vor. Dadurch erlebt sie noch viele, hässliche Auftritte, wenn er betrunken ist. Niemand kann das verstehen, er hat so einen, wunderbaren, hübschen Sohn. Einmal ist sie nachts um zwei Uhr mit dem Kinderwagen zu den Eltern gefahren, ihr Sohn sollte das nicht mitbekommen. Nach einem weiteren Jahr wurde die Ehe geschieden. Hans hatte nichts besessen, auch keine Verwandten – aber er räumte fast die ganze Wohnung aus, brachte alles zu seiner Liebsten. Wie konnte sie sich so irren und täuschen lassen? Sie hat nur ein verächtliches Lächeln für ihn. Christina hatte ihm nicht lange nachgetrauert, zu groß war der Verrat gewesen; dennoch war sie ihm dankbar für diesen wunderbaren Sohn! Außer der Statur hatte er wenig von seinem Vater, darüber war sie froh. Für ihr kleines „Mutzelmännchen „muss sie nun allein geradestehen – das will sie auch! Ihren Laden hatte sie aufgegeben. Nach einer kurzen Babypause bemüht sie sich um eine neue Stelle. Marc wird bei den Eltern bleiben, die Wochenenden verbringen sie gemeinsam.

In Neukölln ist eine Stelle in einem großen Lebensmittelgeschäft frei. Sorgfältig kleidet sie sich und stellt sich vor. Der Chef wird gerufen. Er war wohl das, was man eine imposante Erscheinung nennt. Groß, stark, elegant, wäre da nicht die große, leicht gebogene Nase, könnte man ihn fast schön nennen. Sie schätzte ihn auf ca. 48 Jahre. Sieben Augenpaare musterten sie kritisch. Seine kühle Arroganz mit der er sie von oben herab, ansieht, störte sie sehr. „Sind Sie sicher, dass sie hier arbeiten wollen und können, das ist kein Modesalon?!“Davor habe sie keine Angst, sie kann arbeiten; erzählt ihm von dem Laden, den sie geleitet hatte. In seinen Augen las sie, dass sie die Stelle bekommen würde.

Täglich fuhr nun auch sie mit der S-Bahn in den amerikanischen Sektor für 0,20 DM. Das waren Zeiten! Entsprechend natürlich die Löhne und Gehälter. Fünf Verkäuferinnen aus der SBZ und drei aus dem amerikanischen Sektor, brachten nun gemeinsam die Ware an den Mann. Es gab sie schon damals, die feinen Unterschiede. Wer aus der SBZ kam, bekam automatisch weniger Gehalt, er sollte sich den Wechselkurs zunutze machen, die einhellige Meinung der Unternehmer. Doch ein Zehnstundentag blieb für Ost und West gleich. Die Arbeit musste verrichtet werden, da achtete schon Helga ’drauf! Mit der drallen Helga, die erst kürzlich von Mecklenburg nach Neukölln gezogen war, verstand sie sich gut. Helga war alleinstehend, ein absolutes „Arbeitstier „– die rechte Hand vom Chef. Sie überforderte sich selbst und die Kolleginnen.

Christina hatte hier ein Terrain betreten, wo sie gefordert wurde. Sie eine Schützin, kämpferisch, zeitweise mit fast revolutionären Ambitionen, wollte nicht länger zusehen, wie Helga sich gesundheitlich ruinierte. Mit Klugheit und Diplomatie schaffte sie es, in kurzer Zeit, das Arbeitsklima ein wenig menschlicher zu gestalten. Dem Chef konnte das nicht gefallen, dem Charisma von Christina aber verfiel auch er.

Donnerstag, das war der Tag, an dem Helga und der Chef frei hatten. Nicht etwa zusammen, Helga machte zu Hause den Papierkram, der Chef amüsierte sich im „Paracelsiusbad „. Man war ja wer. Da gings um das neue Wirtschaftswunder, um Klatsch und Tratsch. Einige Prominente waren immer anwesend. Unter ihnen C.J der „Normannische Kleiderschrank“. Ihnen war das egal, sie trällerten den gerade aufgekommenen Schlager:

Unser Chef ist nicht da,

das haben wir gern, denn wir kennen ihn nah

und lieben ihn fern.

Wollte Gott, er käme nie zurück,

das wär für ihn und für uns ein Glück!

Die Stimmung ist groß, der Umgang famos,

was will denn der Alte hier bloß?

Unser Chef …

Am nächsten Tag lädt der Chef sein Team für kommenden Samstag zur Gastwirtsmesse am Funkturm; mit anschließendem Restaurantbesuch, ein.

Christina wollte nicht mitgehen, sie möchte den Tag mit Marc verbringen. Alle reden auf sie ein, besonders der Chef. Sie war lange nicht aus, stimmt dann doch zu. Unbedingt wird sie sich ein neues Kleid kaufen, ein paar neue Schuhe vielleicht noch. Am Mittag treffen sich alle, der Chef signalisiert ihr durch seine Blicke, sie hat eine gute Wahl getroffen. Obwohl sie so jung ist, hat sie einen treffsicheren Geschmack. Elegant gekleidet, mit ihren italienischen Modellschuhen tritt sie gekonnt auf, wie auf einem Laufsteg. Wie selbstverständlich bleibt er immer an ihrer Seite. Es wird sehr viel verkostet, sein gesamtes Team ist schon leicht beschwipst. Auch im Restaurant richtet er es so ein, dass er wieder neben ihr sitzt. Helga wundert sich. Mit dem Chef unterhält Christina sich zum ersten Mal eigentlich über private Dinge. Sie ist ein gewaltiges Energiebündel, es sprudelt alles nur so aus ihr heraus. Der Chef staunt nicht schlecht; und sie ist eine Augenweide denkt er bei sich. Sie verabschieden sich und zerstreuen sich in alle Winde.


Christina will gerade in den Bus einsteigen, da hält der Chef mit quietschenden Bremsen neben ihr. Die Erleichterung ist ihm anzusehen, dass er sie wirklich in letzter Sekunde erreicht hat. Er schlägt vor, als krönenden Abschluss noch eine nette Bar aufzusuchen. Dieses Angebot beflügelt augenblicklich ihre Sinne. Er steuert eine exclusive Bar an. Ein erlesenes Publikum – das ist eine Klasse für sich. Hier ist ihr Platz – irgendwann wird sie dazugehören. Bekannte Leute vom Film sind anwesend; er will sie darauf aufmerksam machen, sie hat sie längst erkannt. Ihr Vater hat ihr als Kind immer sehr viele Anekdoten und Geschichten von den Stars der UFA erzählt, sie hat sich später sehr dafür interessiert. Zum ersten Mal tanzt sie mit ihrem Chef, das hätte sie sich nie träumen lassen. In seinen Armen kommt sie sich ein wenig verloren vor, er ist bärenstark. Neben ihm wirkt sie zerbrechlich; für ihn ist sie eine begehrenswerte, junge, Frau. Er wird sie erobern – das steht für ihn fest. Nach einiger Zeit werden sie ein Paar. Für sie ist es nicht die große Liebe, ihre Wunden sind noch nicht verheilt. Trotzdem bleibt sie immer öfter bei ihm. Sie verbinden das Angenehme mit dem Nützlichen! Sie spart die Wege zwischen Ost und West. Die Wochenenden will er nun verstärkt natürlich mit ihr verbringen. Da ist noch Marc; und so sagt sie ihm, dass sie ihn mit einbeziehen müssen.

Unverblümt sagt er ihr, dass er sich absolut nichts aus kleinen Kindern mache! Er habe einen Sohn aus erster Ehe, das reiche ihm, und auch zu dem habe er keinen Kontakt. Das kann sie nicht verstehen.Wo immer sie mit Marc auftaucht, erntet er liebevolle Blicke und viele Süßigkeiten. In voll besetzten Bahnen wird er ihr fast aus dem Arm gerissen und auf den Schoß genommen, so süß ist er mit seinen großen schwarzen Kirschenaugen, den dichten langen Wimpern, seinen rosigen Pausbäckchen und dem dunklen Lockenköpfchen! Sie ist so stolz auf ihn. Lieber verzichtet sie auf den Chef, sie wird sich rar machen. Er redet sich heraus, sagt, er habe ihn ja noch nicht gesehen. Das wirst du auch nicht!

Am Wochenende fährt sie zu Onkel Hardy. Marc kann dann wieder VW fahren. In der S-Bahn versprüht er wieder eine geballte Ladung an kindlichem Charme. Er weiß sich in Szene zu setzen. Irgendwann während einer Unterhaltung schnappte er das Wort, abstrakte Kunst, auf. Von den Erwachsenen längst abgehakt, nicht für ihn! Kurioserweise muss er das Wort an passender Stelle, während der S-Bahnfahrt, lautstark loswerden. Eine große Ruine, ein Relikt aus dem 2. Weltkrieg, (Gedächtniskirche) fesselt ihn.“ Mami, Mami, kuck, – ab … strack … die … Kunst!!“ Die Lacher hat er auf seiner Seite. Niemand glaubt, dass er erst anderthalb Jahre alt ist. Später wurde er fürs Kinderfernsehen, für kleine Werbeaufnahmen entdeckt. Christina wird sich arrangieren müssen. An allen Fronten gibts schon mal ein paar kleine Machtkämpfe. Marc, der Chef, die Eltern und sie selbst möchte auch noch etwas vom Leben haben.

Der Chef ist am Montag richtig grantig, er hatte gehofft, sie würde wenigstens Sonntagabend noch kommen. Er macht ihr Vorhaltungen.

Christina ist sehr erstaunt, sagt: Wir sind doch nicht verheiratet, ich teile meine Freizeit nach Prioritäten ein, zur ersten gehört erst mal Marc!

Beleidigt zieht er davon.

Auf der Arbeit kommen sie sich alle bei Kaffee und Kuchen näher, unterhalten sich auch über private Dinge. Christina hat nur ein Thema – Marc! Alle wollen ihn kennenlernen, doch wann? Früh schläft er noch, abends schon wieder. Wenn sie ein paar Tage Urlaub hat, wird sie ihn vorstellen.

Helga wird sehr krank – Krebs! Sie litten mit ihr, sind erschüttert und tief bewegt. Bald schied sie aus. Drei Monate später wird sie zu Grabe getragen. Ein großer schmerzvoller Einschnitt! Wie schnell so ein Menschenleben ausgehaucht werden kann, sie war doch noch so jung! Der Chef bejammert am meisten sich selbst, wie viel sie ihm an Arbeit immer abgenommen hat, jetzt müsste er sich um noch mehr kümmern. Christina findet es geschmacklos, sagt es ihm auch; übernimmt dann nach und nach Helgas Aufgaben. Ihr Team steht hinter ihr. Durch ihr soziales Engagement bügelt sie manche Laune des Chefs aus. Vor allem aber halten sie an ihrem Donnerstag fest! Aller angestauter Ärger verpufft, sie lassen es sich dann, so richtig gut gehen.

Am Samstagabend lädt der Chef Christina in eine „Transvestitenbar“ ein. Da gehen ihr die Augen über, solche schönen Männer als Frauen verkleidet hat sie in so großer Anzahl noch nicht gesehen. Sie will gar nicht glauben, dass es Männer sind, die ein hervorragendes Programm bieten. Ein besonderer Höhepunkt an diesem Abend ist ein Tanz mit Willi Birgel! Mit einem blonden Starlet kam er offenbar aus dem Theater; beide waren noch ziemlich stark geschminkt. Galant bat der frühere „Herzensbrecher“ Christina um diesen Tanz. Sie fand ihn ziemlich betagt, dennoch schmeichelten die Komplimente, die er ihr machte. Selbst der Chef vergaß seine sonst üblichen Eifersuchtsanwandlungen. Darüber wunderte sie sich schon mal, nie gab sie ihm Anlass dazu. An diesem Abend fährt sie nach Hause, die letzte S-Bahn erreicht sie gerade noch. Ungern ist sie nachts allein unterwegs, eine Sekunde denkt sie an den S-Bahnmörder. In diesem Moment geht ihr durch den Kopf, wie egoistisch ihr Chef ist, er ärgerte sich, dass sie die Nacht nicht bei ihm verbringen wollte, und setzt sie kurz vor dem Bahnhof ab. Sie wird in Kürze diese Beziehung beenden. Zu weit gehen ihre Bedürfnisse und Vorstellungen auseinander. Mit so einem Egoisten wird sie ihre Zeit nicht länger vergeuden. Der Altersunterschied ist auch zu groß.

Eine schöne Episode fällt ihr ein. Sie kann sich rühmen, auch mit C.J. getanzt zu haben. Er war phänomenal; kannte den Chef. Mit seiner rauchigen, heiseren Stimme sagte er zu ihr:“Schade Mädel, du bist mir zwei Köpfe zu klein; ich mag nun mal große Weiber“ Aber, du bist nicht nur eine Sünde wert – und leider auch vergeben! Er hätte zu ihr sagen können, was immer er wollte, wichtig für sie war, dass er überhaupt etwas zu ihr gesagt hatte!

„Der Normannische Kleiderschrank! „Da zehrt sie ihr ganzes Leben von. Sie hat ihn als einen großartigen, wunderbaren Menschen kennengelernt. Wen er mochte, der befand sich in seinem Schlepptau; da kannte er keine Starallüren! Eine wunderschöne Erinnerung in ihrem Leben – sie war im richtigen Moment am richtigen Ort! Der Weltenbummler war immer seltener in Berlin!

Christina trifft fast der Schlag! Eine vertraute Stimme dringt an ihr Ohr. Was machst du denn hier? Das gibts doch gar nicht! Mara, was hat dich hierher verschlagen? Die beiden Freundinnen aus der Kinderzeit haben sich wieder. Unglaubliches und viel haben sie sich zu erzählen. Welch merkwürdiger Zufall! Mara arbeitet gegenüber in einem erst kürzlich eröffneten kleinen Modesalon. Alle Bewerberinnen konnte sie hinter sich lassen. Sie war Schneiderin, sah blendend aus und hatte die Figur eines Mannequins. Groß, blond – das Pendant zu Christina. Gleich in der zweistündigen Mittagspause treffen sich die beiden; sie können es kaum glauben, sich unter solchen Umständen wiedergefunden zu haben. Christina war auch umgezogen, in eine größere Wohnung. Meist aber war sie im Westen bei Verwandten, so waren Maras Versuche, sie aufzufinden, fehlgeschlagen! Bei Mara ist es sehr behaglich, eine angenehme Atmosphäre, sie treffen sich jetzt oft. Christina fragt sie, seit wann sie im Westen arbeitet? Es sei ihre erste Stelle. In dem Bekleidungswerk schlug man sie zur Abteilungsleiterin vor. Zuerst war sie ganz stolz – doch dann hieß es: dieser Posten verlange natürlich eine Parteizugehörigkeit. Aus Gesundheitsgründen schied sie aus! Nach Herzenslust kann Christina im Salon herumstöbern, gelegentlich probiert sie schon mal ein aufregendes Modellkleid. Der Chef indessen beobachtet argwöhnisch das „Treiben „der beiden. Es missfällt ihm sehr, er fühlt, dass sie ihm so nach und nach entgleitet; und wird sehr aufpassen müssen, verlieren will er sie auf keinen Fall. Maras Einfluss auf Christina war immer groß, sie mag den Chef nicht – wie auch umgekehrt. Christina wird kritischer dem Chef gegenüber, nimmt nicht mehr widerspruchslos alles hin. Die Beziehung steht auf dem Prüfstein! Der Chef würde Mara am liebsten den Zutritt zu seinem Laden verbieten, traut es sich dann doch nicht. Seine Arroganz findet Mara dumm und abstoßend, fragt sich, was Christina an ihm findet? Dafür hasst er Mara, schiebt sein Unvermögen letztendlich ihr zu.

An einem Samstag, während ihres Urlaubs, nimmt sie Marc mit ins Geschäft. Sie zeigt ihm alles, erklärt ihm, was sie so alles tun muss. Die Kunden immer nett bedienen, denn die Konkurrenz ist schon da. Geduldig und sehr aufmerksam hört er sich das alles an. Unbedingt muss er wissen, was Kunden und Konkurrenz sind. Auch das erklärt sie ihm mit lächelnder Miene! Ein Fach mit Lutschern hat nun aber sein Interesse geweckt. Im Brustton der Überzeugung sagt er: „So Onkel Günther, jetzt habe ich mir aber ganz bestimmt einen Lutscher verdient, ich habe so schön gelernt!“ Ihre Kolleginnen amüsieren sich köstlich über den kleinen Kerl, sie finden, er hat recht. Der Chef aber ringt um Fassung, wechselt mehrmals die Farbe im Gesicht und stößt dann übel gelaunt hervor: „Bettelnde Kinder kann ich für den Tod nicht ausstehen!“ Christina erbleicht, Marc fängt an zu weinen. Sie nimmt eine Handvoll Lutscher, wirft ein 5-Mark-Stück auf den Ladentisch, nimmt ihren Sohn an die Hand, verlässt den Laden!

Eine Woche später erhält sie einen formlosen Heiratsantrag vom Chef mit der Bedingung, Marc müsse bei den Großeltern bleiben, da hätte er es ja sehr gut. Das weiß sie. Niemals ohne ihren Sohn – das war wie das „Amen in der Kirche.“ Sie kündigt die Stellung, gleichzeitig beendet sie diese Beziehung! Das hatte ihm noch keine geboten! Er droht mit Vertragsstrafe und besteht auf einer vierwöchigen Kündigungsfrist. Viel, viel später ist ihr eingefallen, dass sie gar keinen Vertrag hatte. Erst fragte sie gelegentlich nach, dann hatte auch sie das vergessen.

Vier Wochen, in denen Christina durch die Hölle geht. Verletzter Stolz, Eifersuchtsdramen und Tobsuchtsanfälle bestimmen jetzt die Tagesordnung. Zwischendurch fleht er sie immer wieder an, sie möge doch bei ihm bleiben, er könne ohne sie nicht mehr leben. Sie verabscheut ihn jetzt – nicht mal vor dem Team, und neuerdings sogar vor Kunden, beherrscht er sich. Sehr hässliche Worte fallen. Öffentlich wird sie so verletzt und gedemütigt. Worte, wie Ostschlampe, Hure, kann jeder hören. Vor Scham möchte sie in ein tiefes Loch fallen – doch da ist meist kein’s. Immer wieder hält er ihr vor, wen und was sie durch ihn alles kennengelernt hat! Sie sei eine egoistische, hinterhältige Person, habe es nur auf sein Geld abgesehen. Das verschlägt ihr die Sprache, sie kann sich nicht erinnern, nur ein winziges Geschenk oder Blumen je von ihm bekommen zu haben. Wenn sie mal ausgingen, dann bezahlte er, da sie immer bescheiden war, hielt sich auch das sehr in Grenzen. Ihr Gehalt gab sie meist für elegante Garderobe aus, weil er stets in exklusive Restaurants und Bars einkehrte. Was hat sie nur getan, dass er so mit ihr umspringt. Er hat nicht das Recht sie so zu behandeln, niemals benahm sie sich so.

Als er sie erneut im Laden „Osthure „nennt, reißt es ihr den Boden unter den Füssen weg. Sie fühlt sich so schlecht und ist hilflos gegen so eine widerwärtige Behandlung. Am liebsten würde sie augenblicklich sterben wollen –, sie geht ins Bad, dort hat er seine Schlaftabletten deponiert.

Ohne zu überlegen, nimmt sie eine Handvoll und schluckt sie mit etwas Wasser runter. Dann geht sie.

Er brüllt noch hinterher, was ihr einfiele, sie habe noch zu arbeiten! Sie dreht sich nicht mehr um, weinend geht sie die Straße entlang. Dieser Schuft ist nicht eine einzige Träne wert, die Tränen rinnen ihr längst über ihr trauriges Gesicht! Noch einmal geht ihr durch den Kopf – „Das Leben ist kein Märchen; du musst abhauen, bevor es zu spät ist! „Kurz vor’m Bahnhof Neukölln bricht sie zusammen. Eine Kundin konnte der Feuerwehr Näheres mitteilen. Von den Streitigkeiten hatte sie im Laden einiges mitbekommen, schimpfte lautstark über diesen widerlichen Kerl. Man dürfte dort nicht mehr einkaufen, doch weit und breit gab es kein anderes Geschäft. Als sie im Krankenhaus irgendwann aufwacht, sitzt ein junger, netter Arzt an ihrem Bett. Er hält ihre Hand, sagt, Sie haben unheimliches Glück gehabt, viel Zeit hätte nicht mehr vergehen dürfen. Was hatten Sie für Gründe, Sie sind so jung und hübsch, das ganze Leben haben sie noch vor sich. Nein, so ein Leben will sie nicht leben, es bricht alles aus ihr heraus. Wie kann man gegen haltlose Lügen und Ungerechtigkeiten vorgehen, immer bekommen die Lügner recht! Er nimmt sich Zeit, sie erzählt diesem jungen Mann ihre ganze traurige Geschichte. Dann fragt er, haben Sie Kinder? „Oh, mein Gott, Marc, was habe ich getan?“ Weiter fragt er, welche Angehörigen er verständigen soll? Nein, nein, das darf niemand wissen. Doch sagt er, Sie müssen mir eine Adresse oder Telefonnummer geben. Kurz überlegt sie, dann gibt sie die Telefonnummer von ihrem Bruder Hardy.

„Sie sollten diesen Mann nie wiedersehen, er bringt nur Unglück über sie.“

Ich muss noch dort arbeiten, er droht mir mit Vertragsstrafe, was immer das heißt. Ich werde mich darum kümmern, Sie bekommen vom Krankenhaus eine Bescheinigung mit. Dorthin können Sie unmöglich zurückkehren!

Ihr Bruder kommt ganz aufgelöst an. Seine Schwester – er will das nicht glauben. Sie, die immer so stark ist, für andere stets einsteht, da muss Entsetzliches vorgefallen sein, dass sie zu solch einer Kurzschlusshandlung fähig war. Auch ihm erzählt sie die ganze unheilvolle Geschichte. Diesen fiesen Kerl wird er sich vorknöpfen. Christina beschwört ihn, nichts den Eltern zu sagen, sie würden es nicht verkraften. Er verspricht es.

Der Chef erscheint. Ihr Bruder sagt ihm, dass er hier nichts verloren habe, er möchte sofort gehen, das Ganze wird für ihn ein Nachspiel haben. Dann muss auch ihr Bruder gehen. Sie verabreden, dass er sie morgen abholt, einen Tag soll sie noch zur Beobachtung bleiben. Der Chef hat einmal noch probiert zu ihr vorzudringen, der Arzt war schneller, erteilte ihm Besuchsverbot, machte ihm auch starke Vorwürfe.

So nach und nach erholt sie sich. Wie konnte sie nur so etwas tun. Warum hat sie nicht da an ihren Marc gedacht, das wird sie sich nie verzeihen! Mein Gott, wenn sie gestorben wäre? Was hätte sie ihrer Familie angetan, wegen so einem charakterlosern Typen! Sie war doch immer eine Kämpferin, warum konnte sie diesen unberechtigten Beleidigungen und Schmähungen nicht anders begegnen? Aber wie? Am nächsten Tag entlässt sie der Arzt mit guten Wünschen und Ratschlägen, den Umgang mit ihrem Chef untersagt er ihr fast. Sollte es Probleme geben, sei er jederzeit für sie da. Für diese Worte ist sie ihm sehr dankbar, er gibt ihr noch den Brief für ihren Chef mit.

Zu Mara wird sie jetzt gehen, ein Mensch, der sie kennt, wie sie wirklich ist, der sie versteht! Zwei Stunden später wird dort ein riesiger Strauß roter Rosen abgegeben – der erste übrigens in der ganzen gemeinsamen Zeit. Reuevoll bittet er um Vergebung. Er würde auch Marc zu sich nehmen, wenn sie ihn heiraten würde. Christina glaubt, dass er wahnsinnig oder verhaltensgestört sei. Wieso laufen ihr gerade solche Männer immer über den Weg? Die Rosen will Christina in den Müll werfen, doch Mara sagt, was können die Rosen dafür. Das ist mal ein teurer Strauß, der kommt in meinem Schaufenster gut zur Geltung, da hat auch dein Chef etwas davon! Mara bittet sie inbrünstig, nicht wieder auf diesen Kerl hereinzufallen. Christina hat nicht vor, sein Image wieder aufzupolieren; sie weiß, ein Mensch, kommt auf die Welt, mit Eigenheiten, Stärken und Schwächen. Er könnte sich nie ändern, auch wenn er es wollte. Deshalb bleibt sie unerbittlich – aber morgen muss sie wieder rübergehen. Augen zu und durch!

Abends ist Mara bereits verabredet, mit Rolf Eden, der ist gerade dabei, sich das Image eines Playboys zuzulegen. Momentan ist sie seine Favoritin. Doch wie lange, Rolf wechselt die Gespielinnen schneller als die Hemden. Mara überedet Christina mitzukommen. Musst aber allein zurückfahren, ich bleibe bei Rolf. Lange will sie ohnehin nicht bleiben. So lernt sie auch den damals schon berühmt-berüchtigten „Eden-Saloon „kennen.

Um Mara nicht auf den Wecker zu fallen, schließt sie sich einem „Damentrio „an. Karin Baal, Kai Fischer und Barabara Valentin, letztere das „Blonde Busenwunder „. Diese nimmt Christina forsch an die Hand, entführt sie buchstäblich in einen anderen kleinen Raum, dort läuft ein Film von ihr. Oben ohne! Das könntest du mit deiner Figur auch machen, verkündet sie. Es sind natürlich die Männer in der Überzahl. Christina ist entsetzt, fluchtartig verlässt sie diesen Raum. Die Herren amüsieren sich auf ihre Kosten! Nein, das ist nicht ihr Ding! Die anderen sind später gute Schauspielerinnen geworden.

Anschließend fährt sie nach Hause, krampfhaft überlegt sie, was sie ihren Eltern sagen soll, von ihrer größten Schmach wird sie nicht berichten. Sie hat eben einen freien Tag, morgen wird sie dann ihre Wohnung auf Vordermann bringen.

Gisela freut sich, sie endlich mal zu sehen. Als sie von diesem Drama erfährt, ist sie entsetzt. Dann sagt sie, dass du den überhaupt in dein Leben gelassen hast, habe ich nie begriffen. Ich habe ihn nur einmal gesehen, das reichte mir; ein sehr unsympathischer Mann. Christina bittet sie auch um Stillschweigen, das musst du mir nicht sagen, aber, hast du nicht eine Sekunde an Marc gedacht? Das passt doch überhaupt nicht zu dir. Gisela, ich denke Tag und Nacht daran, die Schuldgefühle werde ich niemals loswerden … Wegen diesem Monster!

Nun erzähle von Dir, sie möchte nicht mehr über diese schreckliche Sache reden. Gisela hat nicht viel zu berichten. Ein Tag ist so eintönig wie der andere. Ich erlebe doch nichts Aufregendes, so wie du. Ab und zu ein Plausch im Treppenhaus, mehr nicht. Ich hoffe, wir sehen uns wieder öfter, du bringst immer frischen Wind in die „Einöde „Eine Weile unterhalten sie sich noch, dann muss Christina ihr Pensum in der Wohnung schaffen.

Spät abends steht der Chef vor ihrer Tür. Sie erblasst, alles flammt erneut auf. Sie bleibt in der Tür stehen, will ihn nicht hereinlassen. Er bittet sie ganz ruhig und beherrscht um den Eintritt in ihre Wohnung, in aller Form möchte er sich bei ihr entschuldigen. Das glaubt sie jetzt nicht!

Dazu ist es zu spät, nie werde ich vergessen können, was du mir angetan hast. Marc hätte beinahe seine Mutter verloren. Warum diese obszönen Beleidigungen, wie konntest du mich derart erniedrigen, vor allem weißt du, dass sie nicht stimmen!

Er gibt zu, dass es aus Eifersucht geschah. Überall erregt sie Aufsehen. Ihre Figur, ihr Aussehen, das will er mit niemand teilen. Dann hat ihm Mara noch den Rest gegeben, jede freie Minute verbrachte sie nur noch mit ihr, außerdem habe sie einen zweifelhaften Umgang. Sie verteidigt Mara, sagt, du hast nicht das Recht so mit Menschen umzugehen, schon gar nicht, wenn man vorgibt, sie zu lieben. Wieso findest du plötzlich den Weg „in den Osten“, deine Worte! Nachts hast du mich allein gelassen, es war dir egal, wie, und ob ich nach Hause komme. Wie Schuppen fiel mir dein ganzes, egoistisches Verhalten von den Augen.

Ihm wurde im Leben auch nichts geschenkt, so seine Antwort. Und deshalb zahlst du es den Menschen heim, die für dich arbeiten, deinen Wohlstand ermöglichen; und zum Schluss noch eine „äußerst preiswerte Geliebte „abgeben …?

Er läuft ganz rot an, das hatte er nicht erwartet. Ich hatte dir einen Heiratsantrag gemacht, als du den ablehntest, bin ich durchgedreht. Können wir noch mal von vorn anfangen? Staunend sieht sie ihn an, du hast wirklich gar nichts begriffen!

Du bist nicht der Mann, den ich ein ganzes Leben an meiner Seite haben wollte.

Den Altersunterschied hätte ich wegstecken können, nicht aber deine miesen Charaktereigenschaften, und du glaubst, dass du mich liebst, du suchst nur eine billige Arbeitskraft, und liebst nur dich selbst. Wer einmal in den Spiegel deiner Seele gesehen hat, kann sich nur abwenden, dann bittet sie ihn, zu gehen. Er scheint ziemlich geknickt, sie glaubt ihm nicht mehr. Christina, ich habe nie eine Frau so geliebt wie dich, bitte bleibe bei mir. Günther, das ist nun schauderhaft, sie öffnet wieder die Tür. Fast auf Knie ’n bittet er sie, noch solange bei ihm zu arbeiten, bis er für Helga und sie Ersatz gefunden hat. Da sind wir gleich beim Thema. Die Arbeit, die sie geleistet hat, hast du uns allen aufgebürdet, während du dich in bester Gesellschaft amüsiert hast. Auf uns konntest du dich verlassen, wie sieht dein Dank aus? Du hättest mich auch erschießen können, mit dem Revolver aus deiner Schublade. Ein Wunder, dass es bei deinem Jähzorn nicht passiert ist. Sie überlegt kurz, ob sie sein Angebot annehmen sollte, das Geld braucht sie. Den Eltern muss sie somit nichts erzählen, kann rumhorchen, wo eine Stelle frei ist. Was werden die Kunden davon halten, die das Geschehen mitbekamen, eine peinliche Situation! Da es die Kündigungsfrist betrifft, sagt sie zu, mit der Einschränkung, dass sie von nun an getrennte Wege gehen. Freudestrahlend willigt er ein, versucht gleich ein paar Bedingungen zu stellen. Günther, zu meinen Bedingungen, oder gar nicht, es gibt genug Arbeit. Einen Tag will sie sich noch erholen, dann wird sie kommen. Zerknirscht billigt er ihr das zu.

Juli 1961

Christina arbeitet die letzte Woche beim Chef. Dieser versucht, sich loyal zu geben, es gelingt ihm immer seltener. Nur noch wenige Tage wird er sie sehen, er konnte sie bisher nicht umstimmen. Die Eifersucht frisst ihn fast auf. Mittwochabend sieht er durch den Türspion vorn in der Ladenjalousie gerade noch, wie sie und Mara, beide toll zurechtgemacht, in ein Taxi steigen. Mara muss unbedingt raus, Rolf hat sie ausgetauscht, Christina will sie trösten, Mara nimmt es relativ gelassen. War ’ne schöne Zeit, er hätte ihr so gar im Winter, Süßkirschen aus Italien einfliegen lassen. Spinnt die jetzt, oder ist es Galgenhumor? Sie fragt nicht weiter.

Heute wird Christina das “ Resi in der Hasenheide“ kennenlernen. Mara hat ihr schon so viel davon erzählt; und sie hat eine glänzende Idee. Nicht umsonst steht sie einem Modesalon vor.

Beide probieren und probieren, dann entscheiden sie sich für das Modell „Karina „. Ein schwarzer enger Rock, knieumspielt, feinstes Tuch! Darüber eine eng anliegende, taillierte Bluse mit Schößchen und einem tollen Dekollete, das ganze schwarz/weiß gepunktet. Dazu elegante schwarze Pumps. Schnell werden die Strumpfnähte noch gerade gezogen. Siegessicher lächeln sie in den großen Spiegel, er gibt das Bild vielsagend zurück! Fantastisch sehen sie beide aus, sie können sich sehen lassen – das wissen sie!

Mara hatte zur Eile gedrängt, um diese Zeit traf sich dort die halbe Welt. Schließlich wollte man einen guten Platz erwischen, die Telefone würden klingeln. An endlos scheinenden Tischreihen vorbei, steuert sie zielsicher einen Tisch an, auf einer höher gelegenen Ebene. Von hier aus hat man einen herrlichen Blick auf die große Bühne, auf der das Live-Orchester platziert ist, mit den wunderschönen Wasserspielen. Genau das ist die Position, sehen und gesehen, werden. Christina ist berauscht, so gewaltig groß und so schön hat sie es sich nicht vorgestellt. Eine unglaubliche Stimmung! Nur die Tischtelefone geben ein wenig Licht her. Völlig ausreichend für eine romantische Nacht! Umgeben von internationalem Stimmengewirr taucht man ein, in das Spiel des Lebens. Elegant gekleidete Damen, bewegen sich mit einem Teil des Wirtschaftswunders an Hals und Armen, graziös auf dem Tanzparkett. Die Älteren von ihnen tragen ein wenig mehr – die Jüngeren dagegen müssen sich das erst noch verdienen! Zum ersten Mal klingelt das Telefon, ihre Nr. 33 ! Neugierig schauen sie umher. Nein, sie würden noch nicht tanzen, erst möchten sie ihre Bestellung aufgeben. Der Kellner war schon dreimal vergebens da, ständig telefonierten sie. Eine halbe Stunde gehen sie nicht ans Telefon. Jemand zischt ihnen im Vorbeigehen „Arrogante Weiber „zu.

Mara tanzt das erste Mal. Christina kommt sich ein wenig verloren vor; sie zündet sich eine von Maras langstieligen Zigaretten an. Das Vergnügen ist nur kurz, ein Hustenanfall beendet vorzeitig dieses Laster!

So in Gedanken, schöne Frau, darf ich bitten? Ein etwas schwammiger Mann steht vor ihr, zwei Sekunden zögert sie; dann erhebt sie sich doch, besser als allein herumzusitzen.

Schwere süße Parfüms schwängern die Luft, und von den Samtvorhängen der Bühne weht jener eigenartige Duft herunter, den Christina als Kind in den alten Kinos so geliebt hatte. Den „Zauberberduft „nannte sie ihn immer, der hatte sie mehr angezogen, als der jeweilige Film. Hier hat sie ihre Erinnerung daran wiedergefunden. Einen Moment lächelt sie versonnen vor sich hin. Das verbucht ihr Tänzer offenbar für sich, zieht sie eng an sich, sein heißer Atem streift ihre Wange. Daraufhin versteift sie sich noch mehr, lockert die Umklammerung. Das gefällt ihm gar nicht. Er sagt zu ihr, wenn sie keinen Spaß haben wollen, wären sie doch lieber zu Hause geblieben. Uns trennen Welten, antwortet sie, und was die Definition Spaß angeht, haben wir wohl sehr verschiedene Auffassungen! Dann lässt sie ihn stehen, geht zurück an ihren Tisch. Mara hat die Szene kurz mitbekommen, fragt, was war denn das für ein Heini? Eklig! Spottend und zynisch ziehen sie über einige ihrer bisherigen Tänzer her. Vorerst wird sie nicht tanzen.

Die wunderbaren Melodien, gespielt von einem fabelhaften Orchester, verbunden mit den riesigen Wasserfontänen, zaubern ein ganz besonderes Flair! In Ruhe genießt sie das.

Mit dunkler weicher Stimme singt eine Sängerin: „So oder so ist das Leben, ewige Ebbe und Flut!“ Das passt gerade gut zu ihr. Während sie noch immer ein wenig über ihre Tänzer spotten –

erschrickt Christina sehr. Eine Rohrpost kommt mit gewaltigem Getöse angesaust. Der Schreck fuhr ihr so in die Glieder, das sie ihr Glas fallen lässt; alles um sie herum lacht. Der Text ist leider englisch, mit russisch kommen sie hier nicht weit, diese Sprache hatten sie nicht fürs Leben gelernt. Das Telefon steht nicht still – und sie tanzen … tanzen! Dann wieder die Rohrpost! Der gleiche Absender: Mister Harriet o.ä.

Vergeblich blicken sie in alle Richtungen, bis sie endlich eine achtköpfige Herrengruppe entdecken, die wild gestikulierend auf sich aufmerksam macht. Ihre Zeichensprache verstehen sie. Als die Musik wieder einsetzt, stehen zwar eindeutig mehr Tanzpartner vor ihnen, sie entscheiden sich für zwei Herren aus der Gruppe. Es sind Schweden, wie sich später herausstellt. Unglaublich! Sie sehen wie Italiener aus! Dunkelhaarig, braun gebrannt. Als der Tanz zu Ende ist, bitten sie darum, sich einen Moment an ihren Tisch setzen zu dürfen. Einer der Herren spricht etwas deutsch, er bittet Christina um den nächsten Tanz für einen anderen Herrn aus ihrer Gruppe. Sie freut sich sehr, denn dieser Tanz ist der, auf den alle schon sehnsüchtig warten, der Tanz unter der Kugel um Mitternacht „Faszination „! Ein Englishwaltz, den wollte sie unbedingt tanzen. Mara wird wieder mit ihrem weltmännischen Traumtänzer tanzen, er hat so was von „Generaldirektor Krause „meint sie.

Mitternacht, alle Lichter gehen aus, nur die große Kugel ist beleuchtet. Das Licht bricht sich in ihr tausendfach. Langsam setzen sich die Wasserspiele in Bewegung. Ein Raunen geht durch den Saal. Welch ein Zauber … und diese Musik! Jetzt nahen auch wieder einige Herren, die mit Ihnen diesen ganz besonderen Tanz tanzen möchten. Auf diesen Tanz wartete auch sie, die beiden Schweden stehen ebenfalls vor ihnen. Blitzschnell schiebt Maras Tänzer den einzigen blonden Herrn, er sieht wirklich wie ein Schwede aus, an Christinas Seite, während er mit Mara entschwindet. Die beiden setzen sich ebenfalls in Bewegung. Ihr Tänzer wirkt etwas hilflos, Christina merkt sehr schnell, dass er überhaupt nicht tanzen kann. Sie verständigen sich in Ton und Bild, doch ein Tanz kommt nicht zustande. Immer wieder sagt er: sorry, sorry! Ihr kommt das sehr seltsam vor. Er aber strahlt sie so vergnügt und dankbar an, dass sie ihm auch nicht böse sein kann. Immer wieder zieht er sie ganz behutsam an sich, will sie nur im Arm halten. Manch lustigen Blick bemerkt sie. Sie, die vorhin so wunderbar getanzt hat, sie steht mit diesem Mann unter der Kugel … das sieht urkomisch aus, findet sie.Und so müht sie sich weiter ab, ihm ein paar Schritte wenigsten beizubringen, ohne jeglichen Erfolg. Wie zwei lustige Hühner hüpfen sie nun umher. Er ist unbeschreiblich glücklich, man sieht es! Sein Gesicht spiegelt die ganze innere Freude wider. Selten hat sie in so gütige Augen geblickt; das ist keine Pose, das ist rein und echt, denkt sie so bei sich. Er ist sehr nett und seeeehr sympathisch. Gäbe es einen „Vater Maria „, sie würde ihn so nennen. Es ist nicht der Typ Mann, wo man alle Hüllen fallen lassen möchte, um miteinander sofort zu verglüh’n! In seinen Augen liegt keine Begierde, eher eine Art Glückseligkeit, als hätte er soeben im Spielcasino den Jackpot geknackt. Der Tanz ist aus, Mara sagt, ihr Tänzer habe sie im Namen seines Chefs – der Einfachheit nennen wir ihn nun „Mister H. „mit der ganzen Gruppe in eine Bar eingeladen.

Wegen der Verständnisproblematik lehnt Christina dies ab. Mara würde gern mitgehen.Nach einem kurzen Wortwechsel zwischen ihnen und auch der beiden Herren, sieht Mister H. Christina sehr traurig an. Er ringt um Fassung, sie kann das gar nicht begreifen. Er nimmt ihre beiden Hände, küsst sie und bittet sie, natürlich wieder in englisch – doch bitte, bitte mitzukommen. Für ihn wäre es sehr wichtig und der schönste Tag in seinem Leben! Das kann sie nicht glauben. Total durcheinander, denkt sie, gibt es Zufälle? Wieso lernt sie sofort einen anderen Mann kennen, sie will das doch gar nicht, ihre Verletzungen sind so groß, dass sie nicht mehr an Wunder glaubt. Dieser hier ist in der Tat ein ganz anderer Mensch, sie ist versucht, ihm zu vertrauen. Ist das nicht längst aufgebraucht? Unschlüssig sitzt sie rum, erhebt sich, will gehen. Als sie aber wieder in seine Augen sieht, kann sie es ihm nicht abschlagen. Mara will noch schnell die Rechnung bezahlen, unsichtbare Geister haben sie längst beglichen. Mit drei Taxen fahren sie in die Old Fashand-Bar. Von einem sehr großen, seriösen Portier werden sie auf Klopfzeichen eingelassen. Einen Moment lang beschleicht Christina ein ungutes Gefühl. Das hatte sie so noch nicht erlebt, wieso werden sie auf besondere Klopfzeichen reingelassen? Merkwürdig!! Das will sie nicht, wieder will sie gehen. Mister H., der sie keine Sekunde mehr aus den Augen lässt, bemerkt es, schützend legt er seinen Arm um sie.

Sie schaut ihn an und fühlt sich unendlich wohl; so, als hätte er einen weiten, warmen Mantel um sie gebreitet. Sie genoss es, schloss die Augen und lehnte sich an ihn. Mehr wollte sie nicht, ewig hätte sie so sitzen mögen. Es war ein neues, nie gekanntes Gefühl – „Davor war alles anders! „

Dann wurde einander vorgestellt. Mister H. ist Generaldirektor der größten schwedischen Oel-Kompanie, Maras Tänzer, sein Sekretär und Dolmetscher. Christina kann nicht mehr an sich halten, sie muss laut lachen. Nur Mara weiß warum! Ein Segen, dass solche kleinen „Nebensächlichkeiten „nicht übersetzt werden müssen. Mara durfte noch einmal, vorerst, mit ihrem „Herrn Sekretär „tanzen. Danach zitierte Mister H. ihn an seine Seite, dort musste er für den Rest der Nacht zu seiner vollen Verfügung stehen. Das gefiel Mara unendlich! Für Christina war es auch nicht gerade leicht, sie musste jetzt stets beide Herren ansehen, denn beide hatten ihr ständig etwas zu sagen. Nur die Hände, die küsste nur einer! Am Anfang führte das Ganze zu den größten Lacherfolgen, der Sekretär sagte ständig: Christina, ich liebe dich sehr, das hörte sie nun in Schwedisch, Englisch und Deutsch. Scheinbar verwirrt und erstaunt, fragte sie dann jedes Mal, Sie auch? Es war ein verwirrendes Spiel! Wie sich aber bald herausstellte, steckte sehr viel mehr Ernst dahinter, als Christina vermutete. Seit ca. drei Jahren suchte Mister H. eine deutsche Frau, die mit ihm nach Schweden gehen würde. Christina war diese Frau, auf die er ewig gewartet hatte, so versicherte der Sekretär immer wieder. Von seiner Seite war es „Die Liebe auf den ersten Blick!“ Gleich als sie beide ihren Tisch 33 einnahmen, wusste er, das ist sie! Das gesamte Team spannte er ein, sie mussten abwechselnd mit Mara tanzen, dass kein anderer Mann dazwischenfunkte. Christina konnte das alles nicht einordnen, es schien ihr zu märchenhaft. Er aber studierte ihr Gesicht, jede Mimik, jeden Blick und begriff, dass sie ihm nicht glauben wollte. Immer wieder nahm er ihre Hände in die seinen und sah sie stumm an.

Sollte sie noch einmal so ein Glück haben, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie saßen an der Bar, sie war fast nüchtern, er übrigens auch! Eine gestandene Bardame, die das alles hautnah mitbekam, sagte immer wieder zu ihr: sie kenne die Männer, und dieser hier, der meine es verdammt ernst, da lege sie ihre Hände ins Feuer! Christina holte zwei Fotos von Marc aus der Tasche, die legte sie vor ihm hin, die hatte sie stets bei sich. Seine Traurigkeit schien nun grenzenlos. Vermutlich dachte er, sie sei verheiratet. Das konnte sie aufklären – seine Augen bekamen wieder diesen Glanz und die Wärme. Er küsste Marc auf dem Foto und sagte, so einen süßen Boy kann man ohne Wenn und Aber lieben; und er würde alles für ihn tun, um sie glücklich zu machen. Dann zeigte er ein paar Fotos von seinem Anwesen in Schweden. Mara mischte sich nun wieder ein, Christina dachte schon, sie sei eingeschlafen. Sie hatte ein paarmal getanzt mit den anderen Herren aus der Gruppe. Nun war sie aufgeregter als Christina, als sie diese Prachtvilla umgeben von einem riesigen Park sah. Du hast ein Massel, sagte sie immer wieder, warum greifst du nicht zu? Christina hatte noch immer Bedenken. Mister H. schwor, dass alles die reine Wahrheit wäre. Wenn er schon die halbe Nacht den Dolmetscher gebraucht habe, um ihr alles verständlich rüberzubringen, sollte sie ihm doch endlich glauben. Was sollte er mit einer Frau, die er nicht ausstehen könnte, und einem fremden Kind, vorerst noch mit großen Sprachschwierigkeiten?! Er betreibe keinen Mädchenhandel!!! Er wolle auch ganz schnell die deutsche Sprache erlernen. Das hatte gesessen, Christina schämte sich ein wenig, er sah es, küsste ihr diesmal die Stirn, mit einer liebevollen Andacht! Trotzdem unternahm sie noch einen letzten Versuch, ihn von seinem Plan abzubringen. Sie brachte ihre Eltern ins Spiel, äußerte ihre Ängste und Besorgnis darüber, dass sie und Marc sie vielleicht nie wieder sehen würden. Er lachte schallend, seine Miene erhellte sich dermaßen, dass Christina stutzte. Auf seinem Anwesen sei noch so viel Platz, für ihn seien die Eltern kein Problem – ganz im Gegenteil, er hätte leider keine mehr und würde sich sehr auf sie freuen. Sie glaubte ihm nun endlich, diese Augen konnten nicht lügen! Wieder nahm er sie in den Arm, streichelte sie ganz zärtlich und behutsam. In ein paar Stunden mussten sie am Flughafen sein, genau um 10.45 Uhr. Sie hatten eine wichtige Konferenz in Kopenhagen. Es wurde verabredet, dass er gleich vom Flughafen aus sie anrufen würde. Später dann aus Kopenhagen, danach aus Schweden, immer den Dolmetscher an seiner Seite. Er brauchte nur noch ihre Telefonnummer. Sie hatte noch kein Telefon, und so gab sie ihm die vom Laden. Mara war entsetzt, wie kannst du diese Telefonnummer geben? Sie wollte, dass Christina die von ihrem Salon gibt. Das gefiel Christina nicht, wenn er anrief, wollte sie gleich am Apparat sein, der vorn im Laden stand. Ein Zweitanschluss befand sich in den Privaträumen des Chefs. Sie machte sich keine Sorgen, es war wieder Donnerstag, er war gar nicht da – sein freier Tag! Es wurde verabredet, dass Mister H. in vier Wochen mit dem Dolmetscher nach Berlin kommen würde. Christina sollte mit Marc, den Eltern und allen erforderlichen Papieren und persönlichen Dokumenten am Flughafen auf ihn warten, er würde sie vorher telefonisch in Kenntnis setzen. Es wäre bitterer Ernst, er müsse sich darauf verlassen, und sie würden es niemals bereuen müssen – dafür verbürge er sich ! Mister H. und der Dolmetscher brachten Mara und Christina mit der Taxe zu Maras Salon. Noch einmal zog er Christina an sich, küsste sie wieder ganz zart auf die Stirn. Mit Tränen in den Augen beschwor er sie, auch wirklich wie verabredet in vier Wochen da zu sein. Christina versprach es! Sie fühlte sich unsagbar geborgen, sie würde ihn lieben können! Der Chef hatte sie wieder durch den Spion im Laden kommen sehen.

Es war das allererste Mal, dass er an einem Donnerstag im Laden blieb. Pünktlich um 10 Uhr klingelte das Telefon. Der Chef ging ran – und sprach englisch. Christina stockte der Atem, ihr wurde fast übel. Der Chef ging in sein Zimmer, er sprach etwa fünf Minuten. Sie wurde beinahe hysterisch, sie schrie ihn an, es wäre ihr Anruf, er lachte nur spöttisch. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Um 13 Uhr dann der zweite Anruf! Diesmal ging der Chef sofort nach hinten. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Jetzt ging er zu weit! Sie rüttelte an der Tür, wollte etwas retten, irgendwie eingreifen – in dieses Geschehen. Er hatte zugeschlossen. Auf so eine Gemeinheit war sie unvorbereitet. Mit welchem Recht nahm er sich diese unverschämte Frechheit heraus?! Als er wieder rauskam, stellte sie ihn zur Rede. Der blanke Hass stand in seinen Augen, und höhnisch lachte er sie wieder aus. Sie nahm nur ihre Tasche, noch im Arbeitskittel erschien sie tränenüberströmt bei Mara. Nicht eine Minute länger würde sie in dem Laden bleiben. Mara war ebenso erschrocken, riet ihr aber doch, die letzten Tage noch zu arbeiten. Es könnte ja vielleicht sein, dass Mister H. doch noch einmal anrief. Zwei Tage später rief er in der Tat an, aus Schweden. Der Chef ging sofort wieder nach hinten. Diesmal war das Gespräch kurz und er kam mit den Worten an:“ Dieser Herr wird nun nie wieder anrufen!“ Wäre Christina an seinen Revolver herangekommen ---in dieser Minute hätte sie ihn erschossen. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte für sie entschieden, wie für eine Minderjährige oder geistig beschränkte Person. Es war ungeheuerlich! Sie konnte es selbst nicht steuern. Zum zweiten Mal hatte er ihr Leben zerstört – in so kurzer Zeit. Mit ihrer grenzenlosen Wut und Fassungslosigkeit ging sie nun endgültig. Ihre Sachen und das Gehalt würde sie durch einen ihrer Brüder abholen lassen. Langsam wurde ihr klar, dass der Chef ganze Arbeit geleistet hatte. Sie hatte weder den vollständigen Namen richtig verstanden, eine Adresse hatte sie ebenfalls nicht. Gemeinsam mit Mara würde sie ihn suchen. Und wenn sie nach Schweden fahren müsste – mit dieser Ungeheuerlichkeit und den Lügen über sie würde sie nicht leben können. Das, nur das war ihr vorrangig und wichtig! Alles andere würde sich ergeben – oder nicht. Was hatte der Chef ihm gesagt? Sie konnte sich nicht verteidigen. Auf alle Fälle waren es haltlose Lügen. Ihr war alles aus der Hand genommen, sie konnte sich nicht rechtfertigen und kam sich vor, als wäre sie einem großen fatalen „Justizirrtum „zum Opfer gefallen. Alles Menschenmögliche würde sie tun, um der Wahrheit die Ehre zu geben! Mit ihren Eltern sprach sie sich darüber lange aus, sie mochten den Chef noch nie, hatten ihn allerdings auch nur einmal gesehen. Sollte Christina irgendwann Mister H. finden und er wäre noch immer ernsthaft an ihr interessiert, würden sie sie gehen lassen mit Marc – wenn auch schweren Herzens. Sie liebten Marc abgöttisch – sie würden nicht mitgehen! Ihre Eltern zweifelten nicht eine Minute, dass Christina ihn finden würde. Sie war schon immer eine Gerechtigkeitsfanatikerin gewesen, das würde sie geradebiegen.

Aber auch das wurde ihr aus der Hand genommen. Wieder entschieden andere für sie.

Am 13. August 1961 wurde die Mauer gebaut. In den Akten wurde sie nun als Grenzgängerin geführt!

Danach war alles anders!

Seinen Blick voller Liebe und Zärtlichkeit hatte er in ihr Herz gebrannt – ein Leben lang. Das merkte sie jetzt. Ein Gefühl der Hoffnung blieb in ihr – wenn ihr das Ziel auch erst einmal unerreichbar schien.

Irgendwann starb die Sehnsucht – nur die Erinnerung blieb. Den Traum träumt sie manchmal noch – fernab – von ihm! Unter der Ungerechtigkeit leidet sie, – ein ganzes Leben wird sie darunter leiden!

Davor war alles anders, danach auch

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