Читать книгу Herbstblatt - Isolde Kakoschky - Страница 6
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Und die Scheiben, sie sind blind So blind, dass sich die Seele sehnt
Dem Tod ganz nah, ganz nah zu sein
Mit letzter Kraft zog Cosima die Autotür hinter sich zu. Nur weg hier, weiter konnte sie nichts mehr denken. Ihre zitternden Finger bekamen kaum den Schlüssel ins Zündschloss, während sie sich mit der linken Hand die Tränen aus den Augen wischte. Mechanisch legte sie den Gang ein und fuhr los. »Mich siehst Du nicht wieder!« sagte sie leise zu sich selbst. Ihre Wut und Enttäuschung übertrug sich aufs Gaspedal. Mit überhöhter Geschwindigkeit raste sie aus dem Ort. In ein paar Kilometern stand ein dicker Baum, an dem wollte sie diesen Qualen ein Ende setzen. Endlich nicht mehr leiden müssen, nie wieder so traurig sein, nie wieder … Sollte er doch sehen, wie es ohne sie war! Sollte er sich doch einen anderen Abtreter suchen!
Immer wieder musste sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischen, sonst hätte sie die Straße nicht mehr erkannt. Na ja, nicht mehr weit, dann würde es zu Ende sein. Die Straße ging einen ganz leichten Anstieg hinauf, ehe sie zur nächsten Stadt hinab führte. Genau auf der Anhöhe der Baum, der sollte es sein. Bedachtsam lenkte sie nach links und löste ihren Sicherheitsgurt. Nichts wäre schlimmer, als wenn es schief ginge und sie überleben würde, vielleicht als Krüppel. Sie trat das Gaspedal weiter durch und atmete tief ein und aus.
Gleich … In diesem Moment erschrak sie! Selten
kam ihr auf dieser Straße jemand entgegen, doch nun tauchte da aus dem Nichts ein anderes Auto auf, genau auf ihrer Spur, denn sie fuhr ja schon auf der Gegenfahrbahn. In wenigen Augenblicken würde es schrecklich knallen, das drang wie ein Blitz durch ihre Gedanken. Ja, sie wollte sterben. Doch die Menschen in dem anderen Auto nicht!
Die Entscheidung kam keine Sekunde zu spät. Cosima riss das Lenkrad nach rechts, ein Blick streifte das Auto, das in diesem Moment an ihr vorbei fuhr und durchdringend hupte. Ihr Wagen schoss über die Straße, sie versuchte gegen zu lenken, doch die Räder kamen von der Fahrbahn ab. Nur mit Mühe hielt sie das Lenkrad fest. Mit schlingernden Bewegungen brachte sie das Fahrzeug wieder auf die Straße. Vorsichtig bremste sie ab und hielt am Straßenrand. Sie rieb sich die Augen und schniefte durch die Nase. Wo war nur das blöde Taschentuch? In der Seitentür steckte noch eine Serviette, die musste es erst mal auch tun. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken und lehnte so minutenlang am Lenkrad. Was war das nur gewesen? Sie lebte noch. Aber wie sollte es weiter gehen? Wer konnte ihr nur helfen? Der Mensch, den sie am meisten liebte, war nicht mehr für sie da.
Sie blickte auf, in die Richtung des nächsten Ortes und fuhr langsam wieder los. Zum Friedhof wollte sie fahren, zu den Gräbern Ihrer Eltern.
Cosima öffnete das eiserne Tor. Kein einziges Auto stand außer ihrem auf dem Parkplatz. Es dämmerte schon, schließlich war Herbst und es wurde früher dunkel. Langsamen Schrittes ging sie zum Grab ihrer Mutter. Sie hatten einige Jahre den üblichen Zickenkrieg zwischen Mutter und Tochter gehabt, doch als die Mutter tödlich verunglückte, da verstanden sie sich wieder sehr gut. Das hatte ihr immer geholfen in der Bewältigung ihrer Trauer. Und doch hätte sie noch so gerne mit ihrer Mutter gesprochen. Jetzt kniete sie vor dem Grab und weinte.
»Mutti, was soll ich nur tun? Wie soll ich das nur überstehen?« stellte sie die Fragen, auf die sie keine Antwort fand.
»Ich glaube, Du würdest mich verstehen. Ich habe Dich mal gesehen, da ging ich noch zur Schule, wie Du einen Kollegen geküsst hast! Kann es sein, dass Du einmal etwas erlebt hast,
wie ich? Hättest Du mir raten können? Was kam danach?« Ihre Tränen tropften in den Sand. Sie erhob sich und wand sich zum Gehen.
Elf Sterbejahre später und damit ein paar Grabreihen weiter war das Grab ihres Vaters. Sie hatte ihn sehr geliebt, ohne wenn und aber. Als er an Krebs erkrankte, hatte sie zuerst gehofft, er möge gesund werden und dann, er möge nicht leiden. Es war sehr schnell gegangen vor einem Jahr.
»Ach Vati«, fing sie an zu erzählen, »wenn Du wüsstest, was alles passiert ist im letzten Jahr.«
Er hatte Robert gekannt, mit ihm hätte sie darüber sprechen können. Doch als der Vati noch lebte, da war noch alles ganz anders gewesen. Da war Robert noch ihr Chef gewesen und sonst nichts. Aber war dem Vati nicht auch mal seine Sekretärin etwas mehr gewesen …?
Plötzlich war ihr, als säuselte eine Stimme durch die Kronen der alten Bäume. Sie drehte den Kopf, um besser hören zu können und glaubte es ganz deutlich zu vernehmen:
»Erzähle es mir, lass es raus, meine Tochter. Es wird Dir helfen!« Sie lauschte noch einen Moment, doch nun war wieder tiefe Stille. Nur ab und zu fiel ein Blatt vom Baum.
»Es ist spät heute, Vati. Ich komme morgen wieder, dann werde ich es Dir erzählen. Ich werde lieber gehen, sonst schließt mich noch jemand ein, es ist ja schon völlig dunkel.« Cosima küsste die Rosenblüte, die sie ein paar Tage vorher in die Vase gestellt hatte, und ging den Weg zurück. Am Grab ihrer Mutter machte sie noch mal kurz halt.
»Bis morgen, Mutti!« Noch vor einer Stunde hatte es für sie kein Morgen mehr geben sollen.
Cosima stieg ins Auto und fuhr nach Hause. Als sie an der Stelle des Beinahe‐Unfalls entlang kam, hätte sie schwören können, dass sie trotz der Dunkelheit die Spuren noch sehen konnte.
In ihrer Wohnung verließ sie jede Kraft. Völlig erschöpft fiel sie ins Bett. Albträume geisterten durch ihren Schlaf. Gesichter, die zu Fratzen
wurden, Autos, die sie wütend angriffen, sprechende Bäume, die sie mit ihren Ästen festhielten und zwischen allem immer wieder Robert. Sie wollte auf ihn zu laufen, doch ein unüberwindlicher Graben tat sich auf, der mit jedem Schritt, den sie machte, noch tiefer und breiter wurde. Schweißgebadet wachte sie auf. Die erste Dämmerung zeigte sich am Horizont. Es hatte keinen Sinn, noch mal zu versuchen, weiter zu schlafen, obwohl Feiertag war. So ließ sie sich Badewasser in die Wanne laufen, goss einen großen Becher duftendes Schaumbad dazu und nahm ein ausgiebiges Bad. In der Zwischenzeit lief der Kaffee durch die Maschine und als sie im Bademantel mit der Kaffeetasse auf dem Sofa saß, kamen die Lebensgeister langsam zurück.
Es war gut, dass sie allein war, stellte Cosima fest. Reiner, ihr Mann, war mit dem LKW im Ausland unterwegs. Tim, ihr Ältester, hatte schon seine eigene Wohnung und Tom, der Kleine, war auf Klassenfahrt. Wenigstens musste sie so keinem was erklären.
Doch, erklären musste sie es, und sie wollte es auch. Doch es war so schwer, wo sie doch selbst nicht wusste, was geschehen war und schon gar nicht, wie es weiter gehen sollte. »Der Vati!« fiel ihr plötzlich wieder ein. Sie wollte doch zum Friedhof und mit dem Vati sprechen. Nun konnte sie gar nicht schnell genug in die Sachen kommen. Sie streifte Jeans, Pulli und eine warme Jacke über und sprang fast die Treppen hinunter und in das Auto. Heute fuhr sie ausgesprochen langsam, noch immer das Bild von gestern vor Augen, als plötzlich das andere Fahrzeug da war und sie es fast gerammt hätte.
Der Friedhof lag ruhig da. Es war ja noch früher Morgen und gerade bahnten sich die ersten Sonnenstrahlen einen Weg durch die Bäume. Cosima ließ sich auf einer Bank nieder. Sie hatte sie eben entdeckt und war sich sicher, dass da gestern noch keine war. Die Bank stand genau so, dass sie zu beiden Gräbern sehen konnte.
»Hallo, Mutti! Hallo, Vati!« begrüßte sie die Eltern, vorsichtig um sich blickend, ob sie jemand sehen und hören könnte. Nachher hielt man sie noch für geistig verwirrt. Sie wartete, ob aus den Bäumen eine Antwort kam, aber alles blieb stumm. So sprach sie weiter:
»Ich muss Euch was erzählen, was mir passiert ist. Ihr werdet mich verstehen, denn ich bin mir sicher, Ihr habt etwas Ähnliches einmal erlebt. Aber ich weiß auch, dass es bei Euch irgendwann zu Ende war, denn Ihr habt Euch nicht getrennt. Ich weiß, Ihr habt Euch geliebt bis zum Schluss. Und ich liebe Reiner auch immer noch. Ich möchte ihn auf keinen Fall verlieren.
Ach, weißt Du, Mutti«, sprach sie nun ihre Mutter an, »bis zu Deinem Tod war die Welt noch in Ordnung. Doch kurz danach geriet alles aus den Fugen. Erst gab es keine Mauer an der Grenze mehr, dann gab es unsere vertrauten Sachen nicht mehr, und dann gab es unser ganzes Land nicht mehr. Damit fing ja alles an.
Und dann, nach Deinem Tod, Vati, war plötzlich alles noch anders. Und ich weiß auch nicht, wie es jetzt weiter gehen soll. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Da ist nichts bewusst Geplantes gewesen, es ist einfach so passiert. Aber es war wunderschön! Und nun ist es vorbei, und ich weiß nicht weiter.«
Cosima lehnte sich zurück und ließ den Blick in die Baumkronen gleiten, die schon langsam die Blätter verloren. Die Sonne drang durch die Zweige und plötzlich wurde ihr so angenehm warm. Sie schien weg zu schweben, trieb mit dem Wind über Felder und Wiesen, sah Häuser und Autos unter sich und fand sich wieder auf einer Treppe, der Treppe, die einmal vor fast 8 Jahren zu Roberts Büro geführt hatte.