Читать книгу Eisblumenblüte - Isolde Kakoschky - Страница 10
Оглавление6. Kapitel
Verdutzt rieb sich Kristina die Augen. Draußen war es hell. Sie lag in ihrer Unterwäsche im Bett. Langsam drang der Abend wieder in ihr Bewusstsein. Sie hatte mit Mark im Strandhotel gegessen. Dann waren sie in ihre Wohnung gegangen und hatten weiter geredet und die Bilder aus der Schachtel angesehen. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Verdammt! Wieso war sie eingeschlafen? Hatte Mark sie ins Bett gebracht?
Sie zog sich den Bademantel über und öffnete die Tür zum Wohnraum. Kater Toni hatte es sich im Sessel bequem gemacht, doch sonst war niemand da. Auch im Bad fand sie nur Leere vor. Wo war Mark? Weg! Er war gegangen, eine andere Erklärung gab es nicht. Sie hatte es verbockt. Da hatte sie den nettesten Kollegen der Welt, sie hatten beide den Abend genossen. Jedenfalls soweit sie sich erinnerte, und dann schlief sie einfach ein. So blöd konnte auch nur sie sein. Er hatte ja nicht einmal hier schlafen können, so ohne Decke und auf der schmalen Couch. Das hatte sie nun davon, sie war echt zu blöd, ganz normal mit einem Kerl ins Bett zu gehen. Deprimiert ließ sich Kristina auf einen Stuhl fallen, als sie hörte, wie sich an der Wohnungstür ein Schlüssel im Schloss drehte. Sie sprang auf.
»Mark!« Fassungslos sah sie ihn an, wie er lächelnd, mit Tüten vom Bäcker beladen, zur Tür herein kam.
»Guten Morgen, du Schlafmütze!« Er ignorierte ihr verdutztes Gesicht und brachte die Tüten in die Küche.
»Also, Kaffee kochen könntest du jetzt mal übernehmen«, rief er ihr zu. »Ich kenne mich in deiner Küche nicht so gut aus. Aber wo es frische Brötchen gibt, habe ich von der Nachbarin erfahren. Und weil ich nicht wusste, was du so frühmorgens magst, habe ich noch ein paar Pfannkuchen mitgebracht.«
Kristina war immer noch völlig perplex. Innerhalb von Sekunden hatte sich alles verändert. Sie schaltete die Kaffeemaschine an und deckte dann gemeinsam mit Mark den Frühstückstisch. Was für ein Glück, dass es im Kühlschrank noch Wurst und Käse gab. Nach der ersten Tasse Kaffee fand sie auch ihre Worte wieder.
»Da habe ich mich gestern Abend ja schön blamiert«, versuchte sie ihrem eigenen Verhalten durch Offenheit das Peinliche zu nehmen.
»Ach, so schlimm war es nun auch wieder nicht«, widersprach Mark. »Die Müdigkeit hat dich einfach übermannt. Was sollte ich da anderes machen, als dich ins Bett zu bringen?« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu.
»Und du, wo hast du denn geschlafen? Die Couch war nicht ausgeklappt und du hattest ja nicht mal eine Decke«, zählte sie alle Unzulänglichkeiten auf.
Mark lachte. »Auch wenn ich zuerst nicht wusste, ob das Ding eine Schlaffunktion besitzt, habe ich doch noch den richtigen Hebel erwischt. Und eine Decke fand sich dort in dem Hocker. Du bist ein ordentlicher Mensch, und da ich das auch bin, habe ich vorhin alles wieder weggeräumt.«
Sie ließen sich das Frühstück schmecken. Seit Jahren hatte Kristina nicht mehr zu zweit gefrühstückt. Mark erging es ähnlich. Nach der Scheidung hatte es wechselnde Bekanntschaften in seinem Leben gegeben, doch seit er Kristina kannte, war sie das Ziel seiner Wünsche geworden. Mark war glücklich und er sah Kristina an, dass es ihr auch gut ging.
Während sich Kristina ins Bad verzogen hatte, ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Er würde sie auch weiterhin nicht drängen, sie selbst sollte sich für ihn entscheiden, wenn sie soweit war. Auf jeden Fall konnte er dieser unbekannten Mitschülerin dankbar sein. Durch ihren Brief war etwas in Gang gekommen.
»Möchtest du auch noch duschen?«, riss ihn Kristina aus seinen Überlegungen.
»Nein, danke. Aber wenn du etwas Mundwasser hättest, das wäre gut, ich habe nämlich meine Zahnbürste nicht dabei.«
»Dem Manne kann geholfen werden!«, erwiderte sie vergnügt.
»Na sag mal, hast du so oft Herrenbesuch, dass du Zahnbürsten vorrätig hast?«
»Wäre das so schlimm?«, stieg sie auf seine Lästerei ein. »Nein, ich habe eine elektrische Zahnbürste und
die Wechselköpfe gibt es im Viererpack! Bediene dich!« Damit hielt sie ihm die Packung entgegen.
Als Mark aus dem Bad kam, war Kristina fertig angezogen. Sie hatte die Terrassentür geöffnet und schaute hinaus auf´s Meer. Er trat hinter sie und legte seine Arme um ihre Schultern. Sanft lehnte sie sich an ihn.
»Und, was machen wir nun noch mit dem angebrochenen Tag?« Mark wollte sich jetzt nicht verabschieden, viel zu schön war das Zusammensein mit Kristina.
»Ich habe eine Idee. Das Wetter ist heute so mild, es ist gar nicht kalt, die Sonne scheint auch noch. Wir könnten doch rüber nach Świnoujście fahren. Die Strandpromenade ist zu jeder Jahreszeit schön. Und wir finden später auf jeden Fall ein gutes Mittagessen.« Mark nickte zustimmend. »Na dann machen wir das doch!« Er war lange nicht mehr drüben in Polen gewesen. Seine Reisen gingen immer in Richtung der Familie und das war Rostock. Und überhaupt, alleine mochte er auch nicht gerne Ausflüge unternehmen.
»Nehmen wir mein Auto oder deins?«
»Gar keins!« Kristina grinste. »Wir nehmen den Bus.« Seit der Osterweiterung und Polens Beitritt zur EU gefiel Kristina der durchgehenden Personennahverkehr auf der Insel Usedom. Egal, wo man einstieg, bezahlen konnte man in beiden Währungen, Euro und Złoty. Sie nutze den Busverkehr gerne, um in Polen zum Essen oder einkaufen zu fahren, denn gerade in Świnoujście gab es nie genug Parkplätze.
»Na gut. Ich sehe, du kennst dich aus.« Er lächelte Kristina zu.
Es war nicht weit bis zur Haltestelle und da Kristina mit dem Fahrplan vertraut war, mussten sie gar nicht lange warten. Der Bus brachte sie bequem bis zur Strandpromenade. Obwohl es Dezember war, bummelten doch mehr Besucher dort entlang.
»Im Sommer war ich schon manchmal hier«, wies Kristina Mark auf die Konzert-Muschel hin. Hier hatte sie schon einige schöne Musikaufführungen erlebt. Aber auch mit der Mutter war sie schon zu DDRZeiten oft in Polen gewesen, ging ihr jetzt so durch den Kopf.
»Vielleicht hast du ja recht«, sprach sie ihren Gedanken jetzt aus. »Mutti und ich waren so oft hier, eigentlich nie aus einem bestimmten Grund. Wir sind einfach nur spazieren gegangen. Das hätten wir auf der deutschen Seite aber auch tun können. Möglich, dass sie die ganze Zeit nach ihm gesucht hat.« Wenn das so war, dann tat es ihr jetzt umso mehr leid. Dann war die Mutter über ihrer ganzen Suche hinweg gestorben.
»Weißt du, was ich dann nicht verstehe«, entgegnete Mark. »Wenn deine Mutter immer nach diesem Krzysztof gesucht hat und er dein Vater ist, warum war sie dann so böse, als du sie nach deinem Vater gefragt hast?«
Kristina überlegte. »Stimmt, ist seltsam. Aber vielleicht hat er sie sitzen lassen mit mir.«
»Möglich. Allerdings hat sie dich Kristina genannt, mit K am Anfang. Das kann ein Hinweis auf Polen sein.« Mark nahm ihre Hand. »Doch hier weiter zu suchen, wie es deine Mutter tat, das hilft nichts. Am liebsten würde ich zu dir sagen: Sieh nach vorne, lass die Vergangenheit ruhen. Aber ich verstehe dich auch, du musst deine vergessene Kindheit wiederfinden. In ein paar Wochen fährst du in deine alte Heimat, das bringt dir vielleicht etwas Licht ins Dunkel.«
Kristina nickte. »Ja. Und jetzt lass uns essen gehen. Mir knurrt der Magen.«
Nachdem sie das hervorragende Fischgericht in einem der Restaurants genossen hatten, liefen sie langsam wieder in Richtung der deutschen Grenze und statteten dem berühmt-berüchtigten Markt noch einen kurzen Besuch ab. An jedem zweiten Stand plärrte irgendein Spielzeug elektronische Weihnachtslieder in den Nachmittag. Da war kein Gedanke an »Stille Nacht, heilige Nacht«. Obwohl Polen durch die katholische Kirche geprägt war, regierte hier nur der billige Kommerz.
An der Grenze warteten sie auf den nächsten Bus. Dort wo einstmals Zoll und Kontrollbeamte ihren Dienst taten, hatten sich nun Imbissbetreiber und Händler niedergelassen. Und wären nicht die Schilder gewesen, man hätte den Grenzübertritt kaum bemerkt.
»Jetzt haben wir aber eine große Runde gedreht«, stellte Mark fest, als sie den Bus wieder verließen.
»Schön war es. Aber nun werde ich erst einmal nach Hause fahren.« Auf Kristinas enttäuschten Blick fügte er scherzhaft hinzu: »Ich muss doch mal wieder die Socken wechseln.«
Sie schmunzelte. »Na gut, das sei dir gegönnt. Und was hast du morgen vor? Wollen wir uns richtige Weihnachtsstimmung um die Nase wehen lassen? Wie wäre es mit Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt?«
»Gute Idee!«, stimmte Mark ihr zu. »Dann kommst du zu mir, da ist es nicht weit. Bis morgen dann!« Er zog Kristina in seine Arme und drückte sie sanft an sich.
Noch einen Moment verweilten sie, ehe sich jeder in eine andere Richtung entfernte. Während Mark sein Auto vom Hotel-Parkplatz holte, lief Kristina zu ihrer Wohnung. Es fühlte sich so gut an, wenn Mark sie umarmte. Ob sie nun wusste, wer ihr Vater war, das schien ihr plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Mark mochte sie, das spürte sie deutlich. Und sie mochte Mark; mehr noch, ihr schien, als hätte sie sich in ihn verliebt. Das war ein großartiges Gefühl.
»Na Toni, was meinst du, kann uns Mark öfter besuchen kommen?« stellte sie ihrem Kater die Frage. Als der wohlig schnurrte, lächelte sie: »Dann ist es ja gut!«
Mit einem leichten Kribbeln im Bauch stand Kristina am Sonntag vor dem Haus, in dem Mark wohnte.
Auch er bewohnte nur eine kleine Mietwohnung, aber in sehr zentraler Lage. Kristina konnte es kaum erwarten, los zu fahren. Schnell hatte sie die notwendigsten Hausarbeiten erledigt und ihren Kater noch mit Fressen und einer neuen Füllung für sein Katzenklo versorgt. Mit schief gelegtem Kopf hatte Toni sein Frauchen beobachtet. Er war es zwar gewöhnt, alleine in der Wohnung zu bleiben, wenn sie bei der Arbeit war, doch vielleicht kannten ja auch Tiere den Unterschied zwischen Arbeitstagen und Wochenenden. Dass Kristina nun schon wieder weg fuhr, schien ihn zu irritieren.
Nun stand sie also hier und drückte auf den Klingelknopf. Sofort ertönte im Lautsprecher Marks Stimme: »Schön, dass du da bist, komm kurz rein.« Im selben Moment summte der Türöffner. Sie stieg die Treppe hinauf, wo sie Mark schon an der geöffneten Tür in Empfang nahm und in Richtung Wohnzimmer geleitete.
»Setz dich noch mal hin, ich ziehe mir nur die Schuhe an«, rief er ihr zu. Kurz darauf stand er fertig angezogen neben ihr und nahm ihre Hände, um sie vom Sessel hoch zu ziehen. »So, wir können.«
In gemächlichem Tempo liefen die beiden in Richtung Rathaus. Sie erfreuten sich an der bunten Weihnachtsbeleuchtung, welche die Straße in ein warmes Licht tauchte, obwohl es erst kurz nach dem Mittag war. Als sie den Rathausplatz erreichten, blieben sie einen Augenblick stehen und ließen den großen Tannenbaum auf sich wirken.
»Der Baum ist wirklich schön. Und irgendwie waren wir wieder mit beteiligt, dass er nun hier steht und uns die Adventszeit verschönert!«, sprach Mark aus, was Kristina gerade gedacht hatte. So ähnlich hatte sie sich das Anfang der Woche vorgestellt, doch nun war alles viel schöner gekommen.
»Möchtest du hier etwas essen oder suchen wir uns ein Restaurant?«, wollte Mark nun wissen. Keiner von beiden hatte schon zu Mittag gegessen.
Kristina überlegte nur kurz. »Lass uns hier etwas passendes suchen. Es wird doch genug angeboten. Ich hatte mich ja heute auf eine Bratwurst vom Grill eingestellt.«
Wenig später saßen sie auf einer Holzbank neben einem wärmenden Feuerkorb und ließen sich die Wurst schmecken.
»Du, Mark«, stupste Kristina ihn plötzlich an, »mir ist gerade was eingefallen, was aus meiner Kindheit.«
»Echt? Willst du es erzählen?« Neugierig sah er sie an.
»Ja. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal mit meiner Mutter mit dem Bus zu einem Weihnachtsmarkt gefahren bin. Dort gab es ganz tolle Würstchen, Thüringer. Die haben so gut geschmeckt. Dort hat Mutti einen kleinen, geschnitzten Räuchermann gekauft. Schade, dass wir ihn damals nicht mitgenommen haben. Ich glaube, das war die einzige Reise, die ich mit
meiner Mutter je unternommen hatte, bis zu dieser langen Bahnfahrt.«
Mark schmunzelte. »Und das fällt dir ein, weil wir gerade eine Bratwurst essen! Na dann ist ja noch nicht alles verloren von deiner Erinnerung. Wenn du erst die Stadt wiedersiehst, wirst du dich bestimmt an ganz viel erinnern.« Er legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich. »Aber jetzt hole ich uns einen Glühwein. Da wirst du dich wohl kaum erinnern, oder hast du schon als Kind Glühwein getrunken?«
Ehe Kristina noch etwas erwidern konnte, war Mark schon in Richtung Glühweinstand verschwunden und kam bald darauf mit zwei bunten Porzellanbechern zurück. Sie prosteten sich zu. Das heiße Getränk rann durch ihre Kehle und wärmte den Magen. Und der Mann neben ihr sah sie zärtlich an und wärmte ihr Herz. Hand in Hand bummelten sie an der Vielzahl von kleinen Verkaufsständen entlang und freuten sich über die lachenden Kinder, die eine um die andere Runde auf dem Karussell drehten.
In ihrer Tasche fühlte Kristina die Umrisse der Glühweintasse, für die sie sich den Pfandbetrag nicht hatte zurückzahlen lassen. Ab sofort würde sie selbst für ihre Erinnerungen sorgen.