Читать книгу Frühlingstochter - Isolde Kakoschky - Страница 10

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6. Kapitel

Manuela strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Über all den Gedanken war es anscheinend spät geworden. Obwohl sich der längste Tag des Jahres näherte, hatte sich bereits die Dunkelheit über die Stadt gesenkt. Sie sah über die Dächer in die Weite.

Wieviel einfacher war es heute, in Verbindung zu bleiben. Durch Handy und Internet waren Entfernungen nicht mehr relevant. Das ganze Leben war freier und selbst die katholische Kirche schien weltoffener zu werden.

Am liebsten hätte sie jetzt noch Maria angerufen, doch mit Blick auf die Uhr verschob sie ihr Vorhaben auf den nächsten Tag. Etwas Neues hatte sich ja auch gar nicht ergeben. Es war besser, sie legte sich jetzt hin, denn am Morgen trieb sie der Wecker unerbittlich raus.

Als es neben ihr durchdringend piepste, schien es ihr, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Traumlos und kurz war die Nacht gewesen. Jetzt wurde es langsam hell. Früher hatte sie auch im Schichtdienst gearbeitet. Heute wertete sie die Daten aus der Schaltwarte aus und konnte regelmäßig im Tagesdienst arbeiten, solange es keine Havarie gab. Doch das war sehr selten geworden in den letzten Jahren. Die modernen Anlagen arbeiteten sauberer und sicherer, als es in der DDR der Fall gewesen war. Damals hatte es ständig aus irgendwelchen Rohren gedampft und gezischt, dass es regelrecht unheimlich war.

Sie brühte sich rasch einen löslichen Kaffee auf, richtig frühstücken würde sie später in der Kantine. Die Sonne schob sich kraftvoll durch den Morgendunst als Manuela dem Chemiewerk entgegen fuhr. Tausende Menschen hatten sich früher in die S-Bahn gedrängt um zu ihren Arbeitsstellen zu fahren. Heute hatte sich die Zahl der Arbeitsplätze drastisch reduziert. Der einstmals prächtige, unterirdisch angelegte S-Bahnhof wurde nicht mehr gebraucht und verfiel. Dafür waren die Straßen ständig verstopft.

Es war nicht unbedingt ihr sehnlichster Wunsch gewesen, in einem Chemiewerk zu arbeiten. Auf jeden Fall hatte sie sich gewünscht, zu studieren. Sie wollte nicht wie ihre Mutter tagein tagaus hinter dem Ladentisch vom Konsum stehen. Und selbst wenn man, wie Maria später, in einem schicken Geschäft in bester Lage in der Magdeburger Innenstadt arbeitete, so erschien es Manuela doch nicht als das Ziel ihres Lebens. Ihre schulischen Leistungen waren in allen Fächern gut, nicht etwa, weil sie Angst vor dem Vater und seinen Strafen hatte, sondern weil ihr das Lernen Freude bereitete. Aber als es in der achten Klasse darum ging, wer zur Oberschule wechseln durfte, um das Abitur abzulegen, da war sie nicht dabei. Sie wusste, es fehlte ihr nicht an den Leistungen, da hätte sie es locker mit Susanne und Franziska aufnehmen können, doch die Weigerung ihrer Eltern, sie in die FDJ eintreten zu lassen und ihre Nichtteilnahme an der Jugendweihe machten ihren Traum vom Abitur vorerst zunichte.

Ihre Schwester hatte die Schule noch nach der achten Klasse verlassen und war dann wie ihre Mutter Verkäuferin geworden. »Das reicht!«, hatte der Vater bestimmt und seiner Tochter fortan jede Mark ihres Lehrlingsgeldes als »Kostgeld« abgenommen. Das blieb auch so, nachdem sie ausgelernt hatte. Maria hatte eisern jeden Pfennig, den sie durch zusätzliche Arbeit verdiente, zur Seite gelegt, um Geld für ihren Neuanfang zu haben.

Auch Manuela wollte raus. Raus aus der Familie, raus aus der Stadt. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, solch einen abrupten Schritt zu gehen, wie ihre Schwester. Sie liebte ihre Mutter und auch mit dem Vater kam sie inzwischen ganz gut klar. Manuela war klug genug, eine möglichst brave Tochter zu sein, die dem Vater wenig Anlass zur Klage und damit zur Bestrafung gab.

Ein bisschen Freiheit bekam sie, als im Walzwerk eine neue Produktionsanlage in Betrieb ging und der Vater begann, in drei Schichten zu arbeiteten. Manuela freute sich immer auf die Mittagschichtwoche. Wenn sie Schulschluss hatte, war er schon weg. Wenn er von der Schicht kam, lag sie schon im Bett. Da die Mutter hinter dem Ladentisch im Konsum stand, hatte sie den ganzen Nachmittag für sich. Dann streifte sie ziellos durch die Wiesen und Felder, die sich am Stadtrand erstreckten. Oft lag sie auch am Rand eines kleinen Teiches im Gras und blinzelte in die Sonne oder beobachtete die Wolken.

Hier hatte sie auch Karsten das erste Mal getroffen. Karsten. Noch immer durchflutete eine warme Welle der Zuneigung ihren Körper, wenn sie an ihn dachte. Was wäre gewesen, wenn sie sich unter anderen Umständen begegnet wären? Jahrelang hatte sie den Gedanken an ihn verdrängt. Nun war er schon zum zweiten Mal binnen weniger Tage wieder präsent.

Es war Anfang September gewesen. Manuelas letztes Schuljahr hatte gerade begonnen. Dort an dem kleinen Teich hatte sie unter einem Baum im Gras gelegen, als sie vom Geräusch eines Mopeds aufgeschreckt wurde. Als es verstummte, trat ein junger Mann in ihr Blickfeld. Sie schätzte ihn vielleicht auf Anfang Zwanzig.

»Ist hier noch frei?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er sich neben ihr nieder gelassen. Nach einer Weile still nebeneinander musste Manuela über die seltsame Situation lachen. Das ermunterte ihn, sie erneut anzusprechen.

»Ganz allein hier?«

»Du doch auch!« Ganz selbstverständlich hatte sie ihn sofort geduzt.

»Gar keine Freunde oder Geschwister?«

»Doch, eine große Schwester. Aber die wohnt nicht mehr zuhause.«

Traurig hatte er sie angesehen. »Meine auch nicht. Und ich weiß nicht einmal, wo sie jetzt ist. Ihre Tochter hat sie mitgenommen, die müsste so in deinem Alter sein.«

Als Karsten ihr das erzählte, erinnerte sich Manuela sofort wieder an Kristina, die vor Jahren nach den Winterferien plötzlich verschwunden war. Das war dann also seine Nichte.

»Wohnst du in der Nähe?« Karsten hatte nirgendwo ein Fahrrad entdecken können, demzufolge musste sie wohl zu Fuß gekommen sein.

»Ja, gleich dort vorne, in der Siedlung. Und du?«

»Ein Stückchen weiter weg. Drüben, auf dem Berg.« Er musterte sie neugierig. »Gehst du noch zur Schule?«

Manuela nickte. »Das letzte Jahr.«

»Und dann?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich hätte gerne studiert, bin aber nicht zur Oberschule gekommen. Jetzt muss ich mir wohl eine Lehre suchen.«

»Dann mach doch eine Ausbildung mit Abitur«, schlug ihr Karsten vor, »dann kannst später immer noch studieren. Das gibt es bei uns im Werk, aber bestimmt auch woanders.«

Von da an hatte sie der Gedanke nicht mehr losgelassen. Im Walzwerk musste es nicht gerade sein. Einerseits wollte sie nicht Metallurge werden und außerdem wäre sie dann weiter unter der Fuchtel des Vaters geblieben. Es sollte doch noch etwas anderes geben.

Gleich am nächsten Tag hatte sie mit ihrem Klassenlehrer darüber gesprochen. Er hatte ihr nahegelegt, in die Chemie zu gehen. Es war der Industriezweig der Zukunft. Tausende Menschen arbeiteten bereits dort und viele wurden noch gebraucht. Aber das Beste für Manuela war, während der Ausbildung würde sie im Lehrlingswohnheim in der Nähe des Chemiewerkes wohnen. Der Gedanke schien einfach genial, frei sein, ohne weglaufen zu müssen. In einer ruhigen Minute hatte sie auch ihre Eltern davon überzeugen können. So bewarb sie sich zur Ausbildung als Facharbeiter für chemische Produktion mit Abitur.

Noch ein paar Mal hatte sie sich zwanglos, ohne jede Verabredung, mit Karsten getroffen. Dann war es Winter geworden.

Manuela sah von der Arbeit auf. Wie gut, dass ihr im Laufe der vielen Jahre alle Tätigkeiten in Fleisch und Blut übergegangen waren. So konnten ihre Gedanken schon einmal abschweifen.

Den Rest des Tages versuchte sie sich zu konzentrieren, doch schon auf der Heimfahrt geisterte ihr wieder Karsten und die Vergangenheit durch den Kopf. Zwar besaß sie im Auto eine Freisprechanlage, doch sie mochte es gar nicht, beim Fahren zu telefonieren.

Wenn sie angerufen wurde, versuchte sie immer, das Gespräch recht kurz zu halten. Doch Maria wollte sie lieber erst von der Wohnung aus anrufen. Hastig streifte sie die Schuhe von den Füßen und hängte die dünne Jacke, die sie über dem Pulli getragen hatte, an die Garderobe. Dann ließ sie sich in den Sessel fallen und tippte auf Marias Nummer im Handy.

Schon wenige Augenblicke später hörte sie die Stimme ihrer Schwester. »Hallo Manuela, was gibt es Neues!«

»Hallo Maria!«, grüßte sie zurück, ohne weiter auf die Frage einzugehen.

»Nun sag schon!«, drängelte Maria am anderen Ende der Funkverbindung.

»Nun bleib mal locker«, beruhigte Manuela ihre Schwester. »Es gibt nichts Neues, ich wollte mich nur mal melden.«

»Na gut. Was macht die Familie, war es schön im Zoo?«, lenkte Maria das Gespräch nun auf ein weniger brisantes Thema. Sie wollte Manuela Zeit geben, spürte sie doch ganz genau, dass da noch etwas im Hintergrund schlummerte.

»Na sicher war es schön«, bestätigte Manuela. »Kinder und Tiere, das passt immer, solltest du eigentlich noch wissen«, lästerte sie ein wenig. »Stella liebt die Affen über alles.«

Maria lachte. »Das kann ich mir gut vorstellen, ist ja selber so ein kleines Äffchen.«

»Ja, genau!« Manuela stimmte kurz in das Lachen ihrer Schwester ein, dann wurde sie still, ehe sie mit einem Seufzer weiter redete.

»Also gut, du ziehst es mir ja doch aus der Nase. Ich muss seit Sonnabend immer an Karsten denken.«

»Verstehe.« So etwas hatte Maria schon erwartet.

»Ich war dort, wo er früher gewohnt hat, aber das Haus steht nicht mehr. Ich weiß nicht mal, ob er noch in der Stadt wohnt. Aber ich würde ihn wirklich gerne wiedersehen…«

»…und es ihm sagen?«, hakte Maria nach. »Er weiß doch wohl immer noch nichts?«

»Nein, er weiß nichts. Und ich habe keine Ahnung ob und wie ich es ihm beibringe. Trotzdem, finden möchte ich ihn schon.«

»Hast du mal ins Telefonbuch gesehen?« Es erschien als das Naheliegendste.

»Ja, aber er steht nicht drin.« Der Einfall war Manuela auch schon gekommen.

»Warte mal, ich sitze gerade vor dem Computer, ich schaue mal im Internet.« Sie hörte, wie Maria mit der Tastatur klapperte.

»Nein, nichts«, bekannte die bald darauf ernüchtert.

»Nicht schlaflos in Seattle, sondern spurlos im Internet.«

»Na gut, wenn er nicht in virtuellen Welten zu finden ist, muss ich es doch im realen Leben weiter versuchen.

Ich wollte sowieso noch einmal nach Hettstedt fahren. Vielleicht finde ich Nachbarn, die etwas wissen.« Maria musste schlucken, ehe sie der Schwester antworten konnte. »Dann wünsche ich dir viel Kraft und noch mehr Erfolg. Und halt mich unbedingt auf dem Laufenden!«

»Na sowieso! Bei wem sollte ich wohl mein Herz ausschütten, wenn nicht bei dir? Bis bald, Maria!«

»Na klar, was sonst! Dann bis bald!« Maria ließ ihre Stimme betont munter klingen, doch insgeheim dachte sie: Hättest du es doch damals nur getan und dich mir anvertraut…

Frühlingstochter

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