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Erster Band
Der Kreisarzt
ОглавлениеEinmal im Herbst hatte ich mich auf der Rückfahrt von der Jagd erkältet und war krank geworden. Glücklicherweise ergriff mich das Fieber erst in der Kreisstadt, im Gasthaus, und ich schickte nach dem Arzt. In einer halben Stunde erschien der Kreisarzt, ein kleingewachsener hagerer Mann mit schwarzen Haaren. Er verschrieb mir das übliche schweißtreibende Mittel, verordnete ein Senfpflaster, steckte sehr geschickt den Fünfrubelschein in den Umschlag seines Ärmels, wobei er jedoch trocken hüstelte und zur Seite blickte, und wollte sich schon endgültig nach Hause begeben, fing aber plötzlich zu reden an und blieb. Das Fieber quälte mich; ich sah eine schlaflose Nacht voraus und war froh, mit einem Menschen sprechen zu können. Man brachte uns Tee. Mein Arzt kam ins Gespräch. Er war gar nicht dumm und drückte sich geschickt und recht amüsant aus. Es ist so merkwürdig auf der Welt: Mit manchem Menschen lebt man lange zusammen und in den freundschaftlichsten Beziehungen, und doch spricht man mit ihm niemals ganz offen, vom Grunde der Seele; einen andern hat man kaum kennengelernt, und schon sagt man ihm oder er uns wie in der Beichte alles, was auf dem Herzen ist.
Ich weiß nicht, womit ich das Vertrauen meines neuen Freundes gewonnen hatte, aber er erzählte mir, so mir nichts, dir nichts, einen recht interessanten Fall; ich aber bringe ihn zur Kenntnis des geneigten Lesers, wobei ich mir die Mühe gebe, die Worte des Arztes wiederzugeben.
»Sie kennen wohl nicht«, begann er mit schwacher, zitternder Stimme (das ist die Wirkung des unvermischten Berjosowschen Tabaks) – »Sie kennen wohl nicht den hiesigen Richter Pawel Lukitsch Mylow? Sie kennen ihn nicht . . . Nun, es ist ja gleich.« Er räusperte sich und rieb sich die Augen. »Die Sache passierte, wenn ich mich recht besinne, in den großen Fasten, beim richtigen Tauwetter. So sitze ich also bei ihm, dem Richter, und spiele Préférence. Unser Richter ist ein guter Mensch und spielt gerne Préférence. Plötzlich –«; mein Arzt gebrauchte sehr oft das Wort plötzlich, »– meldet man mir: ›Ein Mann will Sie sprechen.‹ – Ich frage: ›Was will er denn?‹ – ›Einen Zettel hat er gebracht, sagt man mir, ›wahrscheinlich von einem Kranken.‹ – ›Gib den Zettel her‹, sage ich. Es stimmt, es ist von einem Kranken. Nun gut, Sie verstehen doch: Das ist ja unser Brot. Die Sache ist aber die: Mir schreibt eine Gutsbesitzerin, eine Witwe, ihre Tochter liege im Sterben, ich solle um Gottes Willen hinfahren, auch Pferde seien nach mir geschickt. Das wäre alles noch gar nichts . . . Sie wohnt aber zwanzig Werst von der Stadt, es ist Nacht, und die Wege – nicht zu sagen! Auch ist’s eine bettelarme Witwe, höchstens zwei Rubel habe ich zu erwarten, und auch das ist noch zweifelhaft; werde mich wohl mit Leinwand oder Graupen bezahlen lassen. Aber Sie verstehen doch: Die Pflicht geht über alles. Da liegt ja ein Mensch im Sterben. Also übergebe ich plötzlich meine Karten dem Gerichtsrat Kalliopin und gehe nach Hause. Ich sehe, vor dem Haus steht ein Bauernwägelchen, furchtbar dicke Bauernpferde, die Haare sind wie Filz, und der Kutscher sitzt vor Ehrfurcht ohne Mütze da. Ich denke mir: Nun, Bruder, deine Herrschaft speist wohl nicht von goldenen Tellern . . . Sie belieben zu lachen, aber ich muß Ihnen sagen, daß unsereins, armer Mensch, alles in Erwägung ziehen muß . . . Wenn der Kutscher wie ein Fürst dasitzt, die Mütze gar nicht abnimmt, dazu in den Bart lächelt und auch noch mit der Peitsche spielt – dann kann man sicher zwei Depositenscheine verlangen! Aber hier sehe ich, es riecht nicht danach. Doch ich denke mir: Es ist nichts zu machen, die Pflicht geht über alles. Ich nehme die notwendigsten Arzneien und fahre davon. Glauben Sie mir, wir kamen kaum an. Der Weg ist höllisch: Bäche, Schnee, Schmutz, ausgespülte Stellen, und an einer Stelle hat das Wasser gar den Damm durchbrochen – ein wahres Unglück! Ich komme aber doch an. Ein kleines Häuschen, mit Stroh gedeckt. In den Fenstern ist Licht: Also erwartet man mich. Mich empfängt ein ehrwürdiges, altes Mütterchen, mit einer Haube. ›Retten Sie sie‹, sagt sie, ›sie stirbt.‹ Ich sage: ›Beunruhigen Sie sich nicht. Wo ist die Kranke?« – ›Bitte, hier.‹ – Ich sehe ein sauberes Zimmerchen, in der Ecke brennt ein Lämpchen, im Bett liegt ein Fräulein, vielleicht zwanzig Jahre alt, bewußtlos. Sie glüht förmlich, und sie atmet schwer: hohes Fieber. Da sind auch zwei andere junge Mädchen dabei, ihre Schwestern – ganz erschrocken, in Tränen aufgelöst. ›Gestern‹, sagen sie, ›war sie noch gesund und aß mit Appetit; heute früh klagte sie über Kopfweh, und plötzlich gegen Abend ist sie in diesem Zustand.‹ Ich sage wieder: ›Beunruhigen Sie sich bitte nicht . . .‹. Es ist, wissen Sie, die Pflicht des Arztes – und mache mich an die Arbeit. Ich lasse sie zur Ader, verordne ein Senfpflaster und verschreibe eine Mixtur., Indessen sehe ich sie an, und wissen Sie: Bei Gott, so ein Gesicht habe ich noch nie gesehen – mit einem Wort, eine Schönheit! Das Mitleid schneidet mir das Herz entzwei. Die Gesichtszüge sind so angenehm, die Augen . . . Da wird sie, Gott sei Dank, ruhiger; es tritt Schweiß ein, sie kommt zu sich, sieht sich um, lächelt und fährt sich mit der Hand übers Gesicht . . . Die Schwestern beugen sich über sie und fragen: ›Was ist mit dir?‹ – ›Nichts‹, sagt sie und wendet sich weg . . . Ich sehe: Sie ist eingeschlafen. Nun sage ich, daß man die Kranke in Ruhe lassen solle. So gingen wir alle auf den Zehenspitzen hinaus, nur ein Dienstmädchen blieb für alle Fälle bei ihr. Im Gastzimmer steht aber schon der Samowar auf dem Tisch, auch Jamaikarum ist dabei: In unserem Berufe geht es eben nicht anders. Man gibt mir Tee und bittet mich, über Nacht dazubleiben . . . Ich willige ein. Wohin soll ich jetzt noch fahren? Das alte Mütterchen stöhnt immer. ›Was haben Sie?‹ sage ich ihr. ›Sie wird am Leben bleiben, machen Sie sich keine Sorgen und ruhen Sie sich lieber selbst aus, es ist schon nach zwei.‹ – ›Aber Sie werden mich doch wecken lassen, wenn was passiert?‹ – ›Gewiß, gewiß.‹ – Die Alte begab sich zur Ruhe, und auch die jungen Mädchen gingen auf ihr Zimmer; mir richtete man im Gastzimmer ein Bett her. So legte ich mich hin, konnte aber nicht einschlafen – merkwürdig! Ich war doch wirklich müde genug. Aber meine Kranke ging mir nicht aus dem Sinn. Endlich hielt ich es nicht länger aus, stand plötzlich auf; ich denke mir: Ich will mal hingehen und nachschauen, was die Patientin macht. Ihr Schlafzimmer ist aber neben dem Gastzimmer. Ich stehe also auf und öffne leise die Tür; das Herz klopft mir dabei. Ich sehe, das Dienstmädchen schläft, hat den Mund offen und schnarcht sogar, die Bestie! Die Kranke aber liegt mit dem Gesicht zu mir und hat die Hände nach beiden Seiten geworfen, die Ärmste. Ich komme näher . . . Da öffnet sie plötzlich die Augen und sieht mich an! ›Wer ist das? Wer ist das?‹ – Ich wurde verlegen. – ›Fürchten Sie sich nicht‹, sage ich ihr, ›gnädiges Fräulein, ich bin der Arzt und will nachsehen, wie Sie sich fühlen.‹ – ›Sind Sie der Arzt?‹ – ›Gewiß . . . Ihre Frau Mama hat mich aus der Stadt holen lassen; wir haben Sie zur Ader gelassen, gnädiges Fräulein; wollen Sie jetzt schlafen, und in zwei Tagen werden wir Sie, so Gott will, wieder auf die Füße bringen.‹ – ›Ach, ja, ja, Doktor, lassen Sie mich, nicht sterben . . . bitte, bitte.‹ – ›Was haben Sie, Gott sei mit Ihnen!‹ – Sie hat wohl wieder Fieber, denke ich mir; ich fühle ihr den Puls, sie hat wirklich Fieber. Sie sah mich an und ergreift plötzlich meine Hand. ›Ich will Ihnen sagen, warum ich nicht sterben will, ich will es Ihnen sagen, ich will es Ihnen sagen . . . wir sind jetzt allein; aber bitte, Sie dürfen es niemand . . . hören Sie . . .‹ Ich beugte mich über sie; sie nähert ihre Lippen meinem Ohr, ihre Haare berühren dabei meine Wange . . . ich muß gestehen, mir schwindelte der Kopf – und sie fängt zu flüstern an . . . Gar nichts verstehe ich . . . Ach, sie phantasiert ja . . . Sie flüstert und flüstert so schnell, und es klingt gar nicht wie Russisch. Als sie fertig war, fuhr sie zusammen, ließ den Kopf in die Kissen sinken und drohte mir mit dem Finger. ›Also passen Sie auf, Doktor, keinem Menschen . . .‹ Ich beruhigte sie einigermaßen, gab ihr zu trinken, weckte das Dienstmädchen und ging hinaus.«
Der Kreisarzt nahm mit wütender Gebärde eine Prise und blieb einen Augenblick lang starr.
»Indessen«, fuhr er fort, »ging es der Kranken am anderen Tag, gegen meine Erwartung, nicht besser. Ich überlegte und überlegte und entschloß mich plötzlich, zu bleiben, obwohl mich andere Patienten erwarteten . . . Sie wissen doch, man darf seine Patienten nicht negligieren, die Praxis leidet darunter. Erstens befand sich aber die Kranke wirklich in einem verzweifelten Zustand; und zweitens fühlte ich mich, offen gestanden, zu ihr stark hingezogen. Außerdem gefiel mir auch die ganze Familie. Die Leute waren zwar arm, aber doch von einer seltenen Bildung . . . Der Vater war ein gelehrter Mann und sogar Schriftsteller gewesen; er war natürlich arm gestorben, hatte aber seinen Kindern eine ausgezeichnete Erziehung gegeben, hatte auch viele Bücher hinterlassen. Kam es daher, weil ich mich mit besonderem Eifer um die Kranke bemühte, oder aus einem anderen Grunde, jedenfalls darf ich sagen, daß sie mich im Hause liebgewonnen hatten wie einen Verwandten. Die Wege waren indessen noch schlechter geworden, jede Kommunikation hatte sozusagen aufgehört; selbst die Arzneien konnte man nur mit großer Mühe aus der Stadt beschaffen . . . Der Kranken ging es nicht besser . . . Ein Tag verging nach dem anderen . . . Und da . . . da . . .«
Der Kreisarzt schwieg eine Weile.
»Ich weiß wirklich nicht wie ich es Ihnen sagen soll . . .« Er nahm wieder eine Prise, räusperte sich und trank einen Schluck Tee. »Ich will es Ihnen ohne Umschweife sagen, daß sich meine Patientin . . . in mich, wie man es so nennt . . . daß sie sich in mich verliebt hat . . . oder nein, eigentlich nicht verliebt . . . übrigens aber . . . wirklich . . .«
Der Kreisarzt senkte den Kopf und errötete.
»Nein«, fuhr er lebhaft fort, »von Verliebtheit war natürlich nicht die Rede! Jeder Mensch muß doch seinen Wert kennen. Sie war ein gebildetes, kluges und belesenes Mädchen, ich habe sogar mein Latein fast ganz vergessen. Und was das Äußere betrifft« – der Kreisarzt sah mich mit einem Lächeln an, »so kann ich damit wohl nicht prahlen. Aber als Dummkopf hat mich der liebe Gott auch nicht in die Welt gesetzt: Was weiß ist, werde ich nicht schwarz nennen; ich verstehe einiges von den Dingen. Ich hatte zum Beispiel sehr gut begriffen, daß Alexandra Andrejewna – keine Liebe zu mir empfand, sondern nur eine sozusagen freundschaftliche Zuneigung, eine Art Achtung. Es ist zwar möglich, daß sie sich selbst darin täuschte, aber sie befand sich in einer solchen Lage, Sie können es sich selbst denken . . . Übrigens«, fügte der Kreisarzt hinzu, der alle diese abgebrochenen Sätze in einem Atem und in sichtlicher Verwirrung gesprochen hatte, »ich bin, glaube ich, zu weit abgeschweift . . . So werden Sie nichts verstehen . . . gestatten Sie, daß ich Ihnen alles der Reihe nach erzähle.«
Er trank sein Glas Tee aus und fuhr mit ruhigerer Stimme fort.
»So war es also. Meiner Kranken ging es immer schlimmer und schlimmer. Sie sind kein Mediziner, verehrter Herr, und können nicht begreifen, was in der Seele unsereines vorgeht, besonders in der ersten Zeit, wenn wir zu merken anfangen, daß die Krankheit uns über den Kopf wächst. Wo bleibt dann unser Selbstvertrauen! Man verliert plötzlich jeden Mut. Man glaubt, alles vergessen zu haben, was man einmal gewußt hat, man glaubt, daß der Kranke kein Vertrauen mehr hat und daß auch die anderen schon unsere Ratlosigkeit merken, daß sie uns widerwillig die neuen Symptome mitteilen und uns scheel ansehen, daß sie miteinander tuscheln – mit einem Wort, es ist schlimm! Es gibt doch wohl eine Arznei, sagt man sich, gegen diese Krankheit, und es gilt nur, sie zu finden. Ist es vielleicht diese? Man macht den Versuch, nein, es ist nicht die richtige. Man läßt der Arznei keine Zeit, ordentlich zu wirken . . . bald greift man nach dieser, bald nach jener. Man nimmt das Rezeptbuch zur Hand und denkt sich, das richtige Mittel steht doch drin! Bei Gott, manchmal schlägt man das Buch aufs Geratewohl auf und denkt sich, vielleicht hilft das Schicksal . . . Der Mensch liegt indessen im Sterben; ein anderer Arzt könnte ihn sicher retten. Du sagst, es sei ein Konsilium nötig, du wollest die Verantwortung nicht allein tragen. So dumm schaust du aber in solchen Fällen aus! Doch mit der Zeit gewöhnst du dich daran, und es macht dir nichts. Der Kranke ist gestorben, es ist nicht deine Schuld, du bist nach allen Regeln vorgegangen. Noch qualvoller ist aber dieses: Du siehst das blinde Vertrauen, das man dir entgegenbringt, und fühlst dabei, daß du nicht helfen kannst. So ein Vertrauen setzte eben die ganze Familie Alexandra Andrejewnas auf mich: Sie hatten ganz vergessen, daß ihre Tochter in Lebensgefahr schwebte. Ich suche sie auch meinerseits zu überzeugen, daß es nichts Ernstes sei, aber das Herz krampfte sich mir vor Gram zusammen. Um das Unglück voll zu machen, waren die Wege so schlecht geworden, daß der Kutscher mit den Arzneien oft ganze Tage ausblieb. Ich verlasse das Krankenzimmer nicht, kann mich von ihr nicht losreißen, erzähle ihr, wissen Sie, allerlei lustige Anekdoten, spiele Karten mit ihr. Durchwache ganze Nächte. Die Alte dankt mir mit Tränen in den Augen, ich aber denke mir: Ich verdiene diesen Dank nicht. Ich gestehe es Ihnen offen, jetzt brauche ich es nicht mehr zu verheimlichen – ich verliebte mich in meine Kranke. Auch Alexandra Andrejewna hing an mir; außer mir ließ sie niemand zu sich ins Zimmer. Sie spricht mit mir, fragt mich aus, wo ich studiert habe, wie ich lebe, wer meine Verwandten seien, mit wem ich verkehre. Ich weiß, daß sie nicht sprechen darf, aber ich bringe es nicht übers Herz, es ihr zu verbieten. Manchmal fasse ich mich beim Kopf und rufe: ›Was tust du, Verbrecher . . .?‹ Oder sie nimmt mich bei der Hand, hält meine Hand fest, sieht mich an, sieht mich lange, lange an, seufzt und sagt: ›Wie gut sind Sie!‹ Sie hat so heiße Hände, große, schmachtende Augen. ›Ja‹, sagt sie, ›Sie sind ein guter Mensch, ganz anders als unsere Nachbarn . . . nein, Sie sind ganz anders . . . Warum habe ich Sie nicht schon früher kennengelernt – ›Alexandra Andrejewna, beruhigen Sie sich‹, sage ich ihr, ›glauben Sie mir, ich fühle es, ich weiß nicht, womit ich es verdient habe . . . aber beruhigen Sie sich . . . alles wird gut werden, Sie werden gesund werden.‹ – Indessen muß ich Ihnen sagen«, fügte der Kreisarzt hinzu, indem er sich etwas vorbeugte und die Augenbrauen hob, »die Leute verkehrten mit den Nachbarn fast gar nicht, weil die kleineren Leute zu ihnen nicht paßten, aber mit den Reichen zu verkehren ihnen der Stolz nicht erlaubte. Ich sage Ihnen ja: Es war eine außerordentlich gebildete Familie; ich fühlte mich sogar geschmeichelt. Nur aus meinen Händen nahm sie die Arznei . . . die Ärmste setzte sich mit meiner Hilfe im Bett auf, schluckte die Arznei herunter und sah mich so an, daß mir das Herz stillstand. Indessen ging es ihr immer schlimmer und schlimmer; sie wird sterben, denke ich mir, sie wird ganz gewiß sterben. Glauben Sie es mir, ich könnte selbst ins Grab steigen. Ihre Mutter und die Schwestern beobachten mich und sehen mir in die Augen . . . und das Vertrauen schwindet. ›Nun? Wie geht es?‹ – ›Es geht nicht schlecht!‹ Aber von ›nicht schlecht« ist nicht die Rede, der Verstand steht mir still. So sitze ich eines Nachts wieder allein neben der Kranken. Das Dienstmädel sitzt auch da und schnarcht, was sie schnarchen kann . . . Dem unglücklichen Mädel konnte man keine Vorwürfe machen: Sie war zu abgehetzt. Alexandra Andrejewna hatte sich den ganzen Abend sehr schlecht gefühlt: Das Fieber quälte sie. Bis zur Mitternacht hatte sie sich hin und her gewälzt; endlich schien sie eingeschlafen zu sein; jedenfalls lag sie unbeweglich da. In der Ecke vor dem Heiligenbild brennt das Lämpchen. Ich sitze da, das Gesicht gesenkt, schlummere ebenfalls ein wenig. Plötzlich ist es mir, als stieße mich jemand in die Seite; ich wende mich um . . . Du lieber Gott! Alexandra Andrejewna starrt mich an . . . die Lippen stehen offen, die Wangen glühen förmlich. ›Was ist Ihnen?‹ – ›Doktor, ich werde doch sterben?‹ – ›Gott bewahre!‹ – ›Nein, Doktor, sagen Sie mir bitte nicht, daß ich leben werde . . . sagen Sie es nicht . . . wenn Sie nur wüßten . . . hören Sie, um Gottes willen, verheimlichen Sie vor mir meinen Zustand nicht!‹ Und dabei atmet sie so schnell. ›Wenn ich sicher wissen werde, daß ich sterben muß . . . dann werde ich Ihnen alles, alles sagen!‹ – ›Alexandra Andrejewna, ich bitte Sie!‹ – ›Hören Sie, ich habe ja gar nicht geschlafen, ich sehe Sie schon lange an . . . um Gottes willen . . . ich vertraue Ihnen, Sie sind ein guter Mensch, ein prächtiger Mensch, ich beschwöre Sie bei allem, was Ihnen heilig ist, sagen Sie mir die Wahrheit! Wenn Sie wüßten, wie wichtig es für mich ist . . . Doktor, um Gottes willen, sagen Sie mir, mein Zustand ist doch gefährlich?‹ – ›Was soll ich Ihnen sagen, Alexandra Andrejewna, ich bitte Sie!‹ – ›Um Gottes willen, ich flehe Sie an!‹ – »Ich kann es Ihnen nicht verhehlen, Alexandra Andrejewna, daß Ihr Zustand wirklich gefährlich ist, aber Gott ist gnädig . . .‹ – ›Ich werde sterben, ich werde sterben . . .‹ Und es schien, als freute sie sich darüber, ihr Gesicht wurde so heiter; ich erschrak. – ›Aber fürchten Sie sich nicht, fürchten Sie sich nicht, der Tod schreckt mich nicht.‹ Sie erhob sich plötzlich und stützte sich auf einen Ellenbogen. ›Jetzt . . . jetzt kann ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin, daß Sie ein guter, prachtvoller Mensch sind, daß ich Sie liebe . . .‹ Ich sehe sie wie wahnsinnig an; es ist mir ganz unheimlich zumute . . . ›Hören Sie es, ich liebe Sie . . .‹ – ›Alexandra Andrejewna, womit habe ich es verdient!‹ – ›Nein, nein, Sie verstehen mich nicht . . . du versteht mich nicht . . .‹ Und plötzlich streckte sie die Hände aus, umfaßte meinen Kopf und küßte mich . . . Glauben Sie mir, ich hätte beinahe aufgeschrien . . .! Ich fiel in die Knie und barg den Kopf ins Kissen. Sie schweigt; ihre Finger zittern in meinen Haaren; ich höre, sie weint. Ich beginne, sie zu trösten, ihr zuzureden . . . ich weiß wirklich nicht mehr, was ich ihr alles sagte. – ›Sie werden das Mädel wecken, Alexandra Andrejewna . . . ich danke Ihnen . . . glauben Sie mir . . . beruhigen Sie sich.‹ – »Ist schon gut, ist schon gut‹, sagte sie immer wieder. ›Gott sei mit ihnen allen; gut, sie werden erwachen, gut, sie werden herkommen, es ist mir ganz gleich: Ich werde doch sterben . . . Aber was fürchtest du? Heb doch den Kopf . . . Oder Sie lieben mich vielleicht nicht, vielleicht habe ich mich getäuscht . . . in diesem Falle verzeihen Sie mir.‹ – ›Alexandra Andrejewna, was sagen Sie . . .? Ich liebe Sie, Alexandra Andrejewna.‹ Sie blickte mir gerade in die Augen und öffnete die Arme. – ›Umarme mich denn . . .‹ Ich will es Ihnen offen sagen: Ich verstehe nicht, wie ich in jener Nacht nicht den Verstand verloren habe. Ich fühle, meine Patientin richtet sich selbst zugrunde; ich sehe, sie ist nicht bei Besinnung; ich verstehe auch, daß wenn sie nicht glaubte, sie müsse gleich sterben, sie an mich gar nicht gedacht hätte. Wie Sie wollen, es ist doch unheimlich, mit fünfundzwanzig Jahren zu sterben, ohne jemand geliebt zu haben. Das war es, was sie quälte, darum klammerte sie sich in ihrer Verzweiflung an mich – verstehen Sie es jetzt? Aber, sie läßt mich nicht aus ihren Armen los. ›Erbarmen Sie sich meiner, Alexandra Andrejewna, erbarmen Sie sich auch Ihrer selbst!‹ sage ich ihr. – ›Warum‹, sagt sie, ›soll ich mich erbarmen? Ich muß ja doch sterben . . .‹ Das wiederholte sie in einem fort. – ›Wenn ich wüßte, daß ich am Leben bleibe und daß ich ein anständiges junges Mädchen sein werde, dann würde ich mich schämen, ich würde mich wirklich schämen . . . aber so?‹ – ›Wer hat Ihnen denn gesagt, daß Sie sterben werden?‹ – ›Ach, hör auf, du wirst mich nicht betrügen, du verstehst gar nicht zu lügen, sieh mich nur an.‹ – ›Sie werden am Leben bleiben, Alexandra Andrejewna, ich werde Sie gesund machen; wir werden Ihre Frau Mama um ihren Segen bitten . . . wir werden uns durch das Band der Ehe verbinden, wir werden glücklich sein.‹ – ›Nein, nein, ich habe Ihr Wort, ich muß sterben . . . du hast mir versprochen . . . du hast mir gesagt . . .‹ Es war mir so bitter, aus vielen Gründen bitter. Urteilen Sie selbst, was man nicht alles erlebt. Man könnte meinen, es sei nichts Wichtiges, und doch tut es weh. Es fiel ihr ein, mich nach meinem Namen zu fragen, nicht nach dem Familiennamen, sondern nach dem Vornamen. Nun habe ich das Unglück, Trifon zu heißen. Jawohl: Trifon, Trifon Iwanowitsch. Alle im Hause nannten mich einfach Doktor. Es ist nichts zu machen, ich sage ihr: ›Ich heiße Trifon, gnädiges Fräulein.‹ Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und flüsterte etwas auf französisch, sicher etwas gar nicht Gutes; und dann lachte sie auch, und auch das Lachen war nicht gut. So verbrachte ich mit ihr fast die ganze Nacht. Am Morgen ging ich wie betrunken aus dem Zimmer; erst am Tag, nach dem Tee, kam ich wieder zu ihr. Mein Gott, mein Gott! Sie war nicht mehr zu erkennen, eine Leiche sieht besser aus. Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß ich jetzt absolut nicht verstehe, wie ich diese Marter habe aushalten können. Drei Tage und drei Nächte quälte sich noch meine Kranke . . . und was waren es für Nächte! Und was sie mir alles sagte . . .! Aber in der letzten Nacht, denken Sie sich nur, ich sitze neben ihr und bitte Gott nur um das eine: Nimm sie schneller zu dir, und auch mich dazu . . . Plötzlich tritt die alte Mutter ins Zimmer . . . Ich hatte der Mutter schon am Tag vorher gesagt, daß nur wenig Hoffnung vorhanden sei und daß es gut wäre, den Geistlichen zu holen. Als die Kranke die Mutter erblickte, sagte sie: ›Es ist gut, daß du gekommen bist . . . schau uns an, wir lieben einander, wir haben einander das Wort gegeben.‹ – ›Was hat sie, Doktor, was redet sie?‹ Ich war ganz starr. ›Sie phantasiert‹ sage ich, ›es ist das Fieber . . .‹ Sie aber sagt: ›Hör doch auf, eben hast du mir doch ganz was anderes gesagt und hast meinen Ring angenommen . . . Warum verstellst du dich? Meine Mutter ist gut, sie wird verzeihen, sie wird verstehen; ich aber sterbe, ich brauche nicht zu lügen . . . gib mir die Hand . . .‹ Ich sprang auf und lief hinaus. Die Alte erriet natürlich alles.
Ich will Sie jedoch nicht länger ermüden, und es fällt mir auch selbst schwer, mich daran zu erinnern. Meine Kranke starb am nächsten Tag. Gott hab’ sie selig!« fügte der Kreisarzt schnell und mit einem Seufzer hinzu. »Vor dem Tode bat sie ihre Angehörigen, hinauszugehen und sie mit mir allein zu lassen. ›Entschuldigen Sie‹, sagte sie mir, ›vielleicht habe ich Ihnen unrecht getan . . . meine Krankheit . . . aber glauben Sie mir, ich habe niemand mehr als Sie geliebt . . . vergessen Sie mich nicht . . . bewahren Sie meinen Ring . . .‹«
Der Kreisarzt wandte sich ab; ich faßte seine Hand.
»Ach«, sagte er, »wollen wir doch von etwas anderem reden, oder spielen wir vielleicht eine kleine Partie Préférence? Es ist für unsereinen nicht gut, sich so erhabenen Gefühlen hinzugeben. Unsereins hat nur an das eine zu denken – daß seine Kinder nicht schreien und daß seine Frau nicht schimpft. Ich bin nämlich seither in eine legitime Ehe getreten . . . Gewiß . . . Eine Kaufmannstochter habe ich genommen mit siebentausend Rubel Mitgift. Sie heißt Akulina, das paßt gut zu Trifon. Sie ist, offen gestanden, ein böses Frauenzimmer, schläft aber glücklicherweise den ganzen Tag . . . Nun, wie wäre es mit dem Préférence . . .?«
Wir setzten uns ans Préférencespiel zu einer Kopeke das Point. Trifon Iwanowitsch gewann zwei und einen halben Rubel und ging spät heim, sehr zufrieden mit seinem Sieg.