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ОглавлениеDas Lied vom Gotsen
Es fließt der Fluß zum Meer, es vergeht ein Jahr ums andere. Jedes Jahr grünt zum Frühling hin der graue Wald über den Flüssen Dnjestr und Reut3.
Vor einhundert Jahren war der Frühling nicht schlechter, aber es gab weniger Gerechtigkeit auf der Welt. Damals herrschten in Moldawien die Stambuler Türken, auf den moldawischen Thron hatten sie Griechen als Gospodaren4 gesetzt. Der Gospodar lebte wie ein Sultan, der Bauer, der Grundbesitzer wie ein Gospodar, und der Steuerinspektor, der Serdar5, wie Gospodar und Bauer zusammen. Für das Volk und für den Christusglauben standen allein die Gotsen.
Schau einmal, heißt es im Volk, schau in der Dunkelheit über den Fluß, wenn du nachts am Ufer entlangreitest: Dann siehst du die Felsen, die dunkle Höhle im steilen Hang, und in der Höhle einen Stoß glimmender Kohle. Aber es ist keine Kohle, es ist altes Münzgold. Der Eingang zur Höhle ist schmal, hat eine steinerne Schwelle. An der Wand zur Linken ein steinerner Rauchfang, an der Wand zur Rechten ein steinernes Lager. Oberhalb davon Nischen: Darin standen einst die heiligen Ikonen. Über jeder Nische ist eine schwarze, eiserne Halterung in den Fels geschlagen: In diesen Halterungen glommen die Öllämpchen vor den Ikonen. Das verwunschene Gold ist auf dem Boden in der Mitte gehäuft: Nicht alles konnte er mehr verteilen, der Gotse, der Recke, der in dieser uralten Zelle lebte, die vor ihm einem Eremiten Obdach gewesen war, einem Gottesmann. Das treue Roß war am Flußufer entlanggetrottet, unterhalb der Felsen. Den Gotsen selbst – möge seine sündige Seele dem Herrn gefallen! – trugen Adler auf breiten Schwingen zur Rast in die Höhle.
Dieser Gotse war kein Talgar, kein Räuber: Er brach den Pharaonen-Pferdedieben6 die Beine, beraubte allein die Reichen, behielt von der Beute nur den hundertsten Teil und verteilte das Übrige an die Besitzlosen, er tötete nur, um sich zu verteidigen, und mittwochs und freitags fastete er. Weißt du, welche Tracht er trug? Die gleiche, wie jeder Hirte sie trägt: Leder an den Füßen, Pluderhosen und ein Hemd aus Leinen, im Gürtel ein Messer, Pistolen und einen Flachmann – eine Feldflasche, vornehm ausgedrückt –, auf dem Kopf eine Schaffellmütze, um die Schultern einen weiten Umhang aus Schafwolle, auf dem Rücken einen kurzläufigen Karabiner. Er selbst war stattlich wie eine Pappel und kräftig wie eine Eiche, stark wie ein Wolf, furchtlos wie eine Kugel, listig wie eine Schlange, schnell wie die Gedanken, feurig wie die Liebe, treu wie das Schicksal, gegenüber den Armen großzügig und sanft, gegenüber den Mächtigen unerbittlich; kräftig und abfallend waren seine Schultern, breit die behaarte Brust, schmal die Taille, der Schnurrbart rotbraun und lang, das Gesicht wie Gold und Bronze, die Augen klares Feuer.
Im zehnten Jahr seiner Heldentaten ging der Gotse in der Heiligen Osternacht zum Gebet in Gottes Kirche.
Er hatte fünfzehn Griechen getötet – du kennst sie doch: Gibt man zehn Türken, zehn ungetaufte Juden und zehn räudige Hunde in die Kelterei, fließt das Blut eines Griechen; er hatte dreißig Serdare ausgeraubt – waren sie doch reicher als der Fürst selbst und hatten den Armen Kreuz und Hemd als Zins abgenommen; er hatte im Wald einen türkischen Polizeichef abgefangen und ihn mit einem Pferdehufeisen beschlagen; er hatte einhundertzwanzig Lieder komponiert, vierzig Faß bessarabischen Wein getrunken, in Schenken und auf Hochzeiten getanzt; er besaß ein rotbraunes Pferd, schnell wie der Wind, schlau wie ein Fuchs, das nie lahmte, nie schwitzte, obwohl es klein von Wuchs war und nervös tänzelte – wann also hätte der Gotse in die Kirche gehen sollen? Neun Jahre lang war er nicht in der Kirche gewesen, obgleich er nicht weniger an Gott gedacht hatte als du und ich; im zehnten Jahr machte er sich auf und tat den feierlichen Schwur, in dieser Nacht – was auch geschehen möge – niemandem Böses zu tun, und sei es der Teufel selbst.
Er ließ das Pferd auf dem Feld zurück, warf die Zügel über den Sattelbogen und ging durch das Dorf. Er ging und sah überall Licht in den Hütten, gedeckte Tische und geweißte Öfen. In einer Kate aber, der ältesten, ärmlichsten von allen, waren die Fenster dunkel – offenbar reichte es dort nicht einmal für ein Licht, geschweige denn für einen Osterkuchen. Dem Gotsen war traurig zumute – war er doch in genau so einer armen Kate aufgewachsen –, und mit bedrücktem Herzen betrat er die Kirche. Sein Herz spürte, daß ihm die Welt nicht einmal in der Osternacht Ruhe lassen würde – und so geschah es auch, nach Gottes Willen. In der Kirche war es voll und eng, alle hielten brennende Kerzen in der Hand, auf allen Gesichtern lag Freude. Der Gotse stand abseits im Schatten – er überragte alle anderen –, verrichtete voller Inbrunst sein Gebet und blickte um sich: Neben ihm stand ein Kind, ausgemergelt, in Lumpen gehüllt, und hielt die Hand seiner Mutter, einer blassen, ärmlich gekleideten, aber hübschen jungen Frau mit großen Augen. Der Gotse beugte sich zu ihr und fragte sie leise: »Frau, wer bist du, warum bist du so blaß und teilnahmslos?« Die Frau warf dem Gotsen einen scheuen Blick zu, schlug die Augen nieder und gab keine Antwort. Erneut sprach der Gotse sie an und fragte, dieses Mal noch leiser: »Gehört nicht dir die Kate an der Schlucht, ist es nicht deine Kate, in der das Fenster dunkel ist?« Doch wieder antwortete seine Nachbarin nicht, sie wandte sich nur ab und bekreuzigte sich vor den Ikonen. Der Gotse hörte nicht mehr, was auf dem Ambo über Christi Auferstehung gesungen und gelesen wurde. »Das Kreuz und die Gottesmutter mögen mich strafen«, dachte er wehmütig. »Ich habe mir fest gelobt, diese Nacht niemandem Böses zu tun, aber mein Menschenherz duldet es nicht!« Und ohne das Gebet zu beenden, verließ er schnellen Schrittes die Kirche. Weit hinter der Schlucht, jenseits der Teiche, stand leuchtend wie eine Laterne das prächtige Herrenhaus auf dem Gutshof. Wie der Gutsherr stieg der Gotse die Freitreppe hinauf, verscheuchte die Hunde mit der Peitsche, und wie der Gutsherr betrat er die hellen, herrschaftlichen Gemächer, und was weiter geschah, kannst du dir denken.
In jener Osternacht konnte die blasse Moldauerin, die in der Kirche kein Wort zu dem Gotsen gesagt hatte, sich lange nicht entschließen, ihre Kate zu betreten: Auf dem Heimweg ging sie mehrmals daran vorüber, da ihr schien, das sei nicht ihr Haus – so hell erleuchtet waren ihre Fenster von den herrschaftlichen Kerzen, so reich gedeckt war der Tisch mit dem herrschaftlichen Mahl. An diesem Tisch saß der hochgewachsene, mächtige Recke und hielt ihr schwaches, kleines Kind in seinen starken Armen. In dieser Osternacht wurde die moldauische Witwe die Geliebte des Gotsen, seine Liebste, seine Gefährtin. Drei Jahre lang liebte sie den Gotsen innig und treu. Im vierten Jahr aber – wenig Verstand und Ehre steckt in den Menschen! – bestach sie der Wamisch, der Kreispolizeichef, woraufhin sie, die Verräterin, den Gotsen preisgab. Tschauschen7, Panduren8 und Armaschen9 umstellten ihr Haus, als der Gotse nach einer langen Reise ruhte, und wollten ihn lebendig ergreifen. Er erwachte, packte die Pistolen, stieß mit dem Fuß die Tür der Kate aus den Angeln, sprach sein Geheimwort, ließ Nebel auf seine Feinde herabsinken, pfiff nach seinem Pferd Rojbu – das vom Futterkasten her freudig heranpreschte –, sprang in den Sattel, schnalzte mit der Zunge und flog davon schneller als ein Gedanke, die Zügel zwischen den Zähnen haltend und mit den Pistolen nach hinten feuernd. Doch die Feinde ließen nicht von ihm ab. Schwimmend durchquerte das Pferd einen Fluß, durchquerte einen zweiten, durchquerte einen dritten Fluß, und schon waren die Wälder, waren die Kodry10 nah, wo der Gotse sich verbergen wollte. Ein Arwanit, ein Häscher – die Erde soll ihn verschlucken! –, hatte den Karabiner nicht mit Kugeln geladen (den Gotsen trifft keine Kugel), sondern mit Silbermünzen, und er durchschoß dem Gotsen den Rücken und seinem Pferd das Bein. Das Pferd strauchelte, der Gotse fiel zu Boden – und sofort fesselte man ihn, trat mit Absätzen auf seinen Scheitel, daß er barst, und brachte ihn in Ketten auf einem Fuhrwerk nach Jassy11 … Gute Christenmenschen, auch das geschah an einem Ostertag!
Da ziehen hellblaue Ochsen den mit Eisenblech beschlagenen Wagen einen hohen Berg hinan. Auf dem Fuhrwerk liegt der Recke mit einer blutigen Wunde, neben ihm geht die majkuliza, die alte Mutter des Gotsen, tupft das Blut von seiner Wunde und fleht die krummgehörnten Ochsen an: »Sachte, sachte, ich bitte euch unter Tränen, schüttelt den Wagen nicht so, darin liegt mein Sohn im Sterben!« Und wie Wasser so sanft und sachte wiegt sich der Wagen, und der Recke sagt: »Geh fort, meine Liebe, mit deinem Glück, und mich laß mit meiner Feuerwunde!« – Aber nein, so wird es im Lied gesungen. Die Mutter des Gotsen hatte damals noch nicht vernommen, daß man ihren Sohn in den Kerker von Jassy brachte. Und sie wußte lange nicht, wie er dort schmachtete, wie ihn dort die Wachen quälten. Da sagte der Gotse den Wachen: »Gute Christenmenschen, mir liegt etwas auf der Seele, ich habe einem Herrn einen großen Beutel mit Geld gestohlen und nicht gesehen, daß darin auch ein kupfernes Bildchen an einem hellblauen Band war; es ist das Bild eines Säuglings, gestattet mir, es dem Herrn zurückzugeben, für diese Gefälligkeit will ich euch eine Stelle zeigen, wo ein großer Schatz verborgen ist, und ich gelobe bei Gott, in den Kerker zurückzukehren; im Traum habe ich gesehen, daß der Bauer nach Jassy gekommen ist und auf dem Markt mit Pferden handelt, ich gebe ihm das Bild und kehre zurück in die Fesseln.«
Du glaubst, der Gotse sei nicht zurückgekehrt, er habe nach seinem Pferd Rojbu gepfiffen, das frei durch die Kodry streifte? Nein, der Gotse ist kein Räuber, sein Wort gilt. Er machte den Herrn auf dem Markt ausfindig und gab das Bild mit dem Säugling zurück in die Hände seines Besitzers. Als er danach in den Kerker zurückkehrte, brachte man ihn vor Gericht zum Fürsten. Am Hof waren Truppen, viel Volk und allerlei Großkopferte. Der Fürst selbst, in Turban und Kaftan, saß auf seinem goldenen Thron und fragte des Gotsen: »Wo ist das Geld, das du zusammengeraubt und zusammengerafft hast?« Keine Silbe gab ihm der Gotse zur Antwort, schweigend stand er vor dem Thron, erhaben und streng. Da erkannte der Fürst, daß seine Frage vermessen gestellt war, und er stellte sie anders: »Wo ist das Geld, das du den Reichen entwendet hast?« Und der Gotse antwortete dem Fürsten: »Gospodar, Eure Hoheit, sprich immer so mit dem Volk: vernünftig und respektvoll. Wo das Geld ist, das ich den Reichen weggenommen habe, weiß nur mein Pferd Rojbu. Und weder dir noch deinen Dienern werde ich es geben: Ihr würdet es ohnehin verspielen und vertrinken!« Der Fürst versetzte dem gefesselten Gotsen einen Schlag auf die Wange, einen kräftigen Schlag. »So wurde auch Christus beim Verhör vor Pilatus geschlagen«, sagte der Gotse zu ihm, ganz leise vor Zorn. Der Fürst schrie drohend: »Schweig, Talgar, Räuber!« Und der Gotse sagte dem Fürsten: »Am Kreuz, Eure Hoheit, hat Gottes Sohn dem Räuber vergeben!« Der Fürst schlug den Gotsen noch schlimmer und befahl, ihn hinrichten zu lassen.
Du grünes Laub des wilden Apfelbaums, ihr Kodry im Frühling, und ihr reißenden Flüsse! Niemals mehr würdet ihr den Gotsen sehen, gäbe es nicht Gottes Schutz! Weder Kraft noch List, weder Talismane noch Zaubersprüche hätten ihn vor der Schmach bewahren können! Schon hämmerte man mit Äxten auf dem Platz in Jassy, schon schärfte der Henker seine schwere Scharfrichteraxt für den weißen Nacken des Gotsen. Aber die Kunde über die bevorstehende Hinrichtung war bis ins Elternhaus des Gotsen gedrungen. Steh auf, du Recke Gottes, und höre: Tränen vergießt deine älteste Schwester, die mit dem knielangen schwarzen Zopf, und ihre Tränen sind machtlos; Tränen vergießt deine mittlere Schwester, die mit dem hüftlangen rotblonden Zopf, und sie ist nicht imstande zu helfen; Tränen vergießt deine jüngste Schwester, ein Kind noch – und von ihren Tränen treten die Kodry auseinander, schäumen die Flüsse über die Ufer, klaffen die Schluchten auf. Nun aber, Gotse, packe die Gitter deines Kerkers – spürst du, wessen Stimme sich erhebt? Es ist die Stimme derjenigen, die dich geboren hat!
Als die Mutter des Gotsen zu weinen begann, erzitterte sein enger Kerker, erbebten dessen Mauern, zerbarst das rostige Gitter.
Als die Mutter des Gotsen zu weinen begann, zerfielen seine Ketten zu Staub, er trat hinaus auf das freie Feld und stampfte mit seinem starken Fuß auf den Boden:
»Hej, hej, gute Leute! An dieses Osterfest werdet Ihr noch lange denken!«