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Blinde Passagiere
ОглавлениеWenn er kein Pech hat, kann ein tüchtiger junger und gewandter Vagabund trotz aller Versuche des Zugpersonals, ihn zu ›schmeißen‹, an einem Zuge hängen, vorausgesetzt natürlich, daß es Nacht ist. Das ist unbedingt erforderlich. Wenn ein Vagabund dieser Art sich unter solchen Bedingungen zum Anhängen entschließt, so führt er es auch aus, wenn das Schicksal ihm nicht einen Streich spielt. Außer Mord hat das Zugpersonal keine gesetzliche Methode, ihn zu ›schmeißen‹. Daß das Zugpersonal nicht immer vor Mord zurückschreckt, ist ein allgemeiner Glaube in der Landstreicherwelt. Da ich jedoch in meiner Vagabundenzeit keine diesbezüglichen persönlichen Erfahrungen gemacht habe, kann ich nicht dafür einstehen. Aber ich habe folgendes über die ›schlechten‹ Linien gehört: Wenn ein Vagabund ›nach unten gegangen‹ ist und der Zug sich in Bewegung gesetzt hat, gibt es offenbar keine Möglichkeit mehr, ihn zu vertreiben, ehe der Zug hält. Der Landstreicher, der bequem, von den vier Rädern und dem ganzen Rahmen umgeben, auf dem Wagengestell liegt, hat das Personal hinters Licht geführt –oder er glaubt es wenigstens, bis er eines Tages mal auf einer ›schlechten‹ Linie fährt. Eine schlechte Linie ist in der Regel eine Eisenbahn, auf der vor kurzem einer oder mehrere Beamte von Vagabunden totgeschlagen worden sind. Gnade Gott dem Landstreicher, der auf einer solchen Linie unter dem Wagen gefaßt wird – denn gefaßt wird er, und wenn der Zug sechzig Meilen in der Stunde macht. Der Bremser nimmt einen Koppelungsbolzen und eine Signalschnur und geht auf die Plattform vor dem Wagen, unter dem der Vagabund hängt. Dann bindet er den Bolzen an die Schnur, läßt den Apparat zwischen die Plattformen fallen und wirft die Leine aus. Der Bolzen schlägt auf die Schwellen zwischen den Schienen, springt zurück gegen den Wagenboden und schlägt dann wieder gegen die Schwellen. Der Bremser läßt die Schnur hin und zurück, bald nach der einen, bald nach der andern Seite laufen, läßt ein wenig nach, holt wieder ein, so daß seine Waffe Gelegenheit zu jeder Art Stoß und Rückschlag erhält. Jeder Schlag des tanzenden Bolzens kann den Tod bringen, und bei einer Fahrt von sechzig Meilen in der Stunde trommelt er einen reinen Zapfenstreich des Todes. Am nächsten Tage findet man die Überreste des Landstreichers am Bahnkörper, und eine Zeile im Lokalblatt berichtet von dem Unbekannten, zweifellos einem Vagabunden, der vermutlich betrunken und wahrscheinlich auf dem Gleise eingeschlafen war.
Als ein charakteristisches Beispiel, wie ein gewandter Vagabund ›anhängen‹ kann, möchte ich folgende Begebenheit erzählen: Ich war in Ottawa und wollte mit der Kanada-Pazifikbahn nach dem Westen. Eine Fahrt von dreitausend Meilen lag vor mir; es war Herbst, und ich mußte über Manitoba und die Rocky Mountains. Kaltes Wetter war zu erwarten, und der geringste Aufschub hätte die Reise nur noch kälter und beschwerlicher gemacht. Dazu kam, daß ich schlechter Laune war. Die Entfernung zwischen Montreal und Ottawa beträgt hundertundzwanzig Meilen. Das mußte ich wohl wissen, denn ich hatte eben die Strecke zurückgelegt und sechs Tage dazu gebraucht. Durch ein Versehen war ich von der Hauptstrecke abgeirrt und auf eine kleine Seitenlinie gekommen, auf der nur zwei Lokalzüge täglich verkehrten. Und die sechs Tage hatte ich von trockenem Brot gelebt, das ich, nicht einmal reichlich, von den französischen Bauern erbettelt hatte.
Mein Aerger wuchs noch, weil ich den ganzen Tag, den ich in Ottawa verbrachte, herumlaufen mußte, um mir Kleidung für die lange Reise zu verschaffen. Ich möchte hier einschieben, daß Ottawa mit einer einzigen Ausnahme die Stadt in den Vereinigten Staaten ist, wo es am schwersten ist, sich Kleidung zu erbetteln; die eine Ausnahme ist Washington. Diese schöne Stadt ist der Höhepunkt. Dort verbrachte ich einmal vierzehn Tage mit vergeblichen Versuchen, mir ein Paar Schuhe zu erbetteln, und schließlich mußte ich nach Jersey City reisen, ehe ich sie bekam.
Doch zurück nach Ottawa. Pünktlich um acht Uhr morgens begann meine Kleiderjagd. Ich arbeitete energisch den ganzen Tag. Ich schwöre, daß ich vierzig Meilen lief. Ich besuchte tausend Hausfrauen und nahm mir nicht einmal die Zeit, um Mittagessen zu fechten. Und um sechs Uhr nachmittags, nach zehn Stunden unablässiger, harter Arbeit, fehlte mir noch ein Hemd, während die Hosen, die ich endlich ergattert hatte, zu eng waren und dazu alle Anzeichen einer baldigen Auflösung trugen.
Um sechs Uhr stellte ich die Arbeit ein und steuerte auf das Eisenbahngelände los, in der Erwartung, unterwegs etwas zu essen zu bekommen. Aber ich war immer noch vom Unglück verfolgt. In einem Haus nach dem andern wurde ich abgewiesen. Endlich bekam ich ein ›Futterpaket‹. Meine Laune besserte sich gleich, denn es war das größte Futterpaket, das ich je in meinem langen, ereignisvollen Leben gesehen hatte. Es war in Zeitungspapier gewickelt und so groß wie ein ausgewachsener Handkoffer. Ich machte, daß ich auf ein unbebautes Grundstück kam, und öffnete es. Das erste, was ich sah, war Kuchen, immer mehr Kuchen, aller Arten Kuchen und wieder Kuchen. Es war alles Kuchen. Kein Butterbrot mit ordentlichen Fleischstücken – nichts als Kuchen, und ich verabscheute auf der ganzen Welt nichts so sehr wie Kuchen! In einem andern Zeitalter und unter einem andern Himmelsstrich setzte das Volk sich an die Wasser Babylons und weinte. Ich aber setzte mich auf einen Baugrund in der stolzen Hauptstadt Kanadas und weinte ... über einen Berg Kuchen. Wie man das Antlitz eines toten Sohnes betrachtet, so betrachtete ich diese Menge verschiedenen Backwerks. Ich war wohl ein undankbarer Landstreicher, daß ich mich nicht des Überflusses freute, von dem mir eine Familie geschenkt hatte, bei der am Abend zuvor Gesellschaft gewesen war. Den Gästen hatte der Kuchen offenbar auch nicht geschmeckt.
Dieser Kuchen bezeichnete jedoch den Wendepunkt in meinem Schicksal. Schlimmer konnte es nicht werden: jetzt mußten bessere Zeiten kommen. Und sie kamen denn auch. Im nächsten Hause wurde ich ›hereingebeten‹. Und das ›Hereingebetenwerden‹ ist der Höhepunkt der Glückseligkeit. Man kommt unter Dach und Fach, hat gewöhnlich Gelegenheit, sich zu waschen und an einem richtigen Tische zu essen. Vagabunden lieben es, die Beine unter einen Tisch zu strecken. Das Haus war geräumig und gut eingerichtet und lag inmitten eines großen Gartens mit schönen Bäumen, ein gut Stück von der Straße ab. Man hatte gerade fertig gegessen, und ich wurde ins Speisezimmer geführt – an sich schon etwas höchst Ungewöhnliches, da Vagabunden, die das Glück haben, ›hereingebeten zu werden‹, in der Regel in der Küche essen müssen. Ein grauhaariger, liebenswürdiger Engländer, seine matronenhafte Gattin und eine hübsche, lebhafte junge französische Dame unterhielten mich, während ich aß. Als ich den Bahnhof erreichte, fand ich zu meinem großen Aerger eine Bande von mindestens zwanzig Vagabunden vor, die alle darauf warteten, auf dem ›blinden‹ Güterwagen des Überlandzuges zu fahren. Nun lasse ich mir zwei oder drei Vagabunden auf einem ›Blinden‹ gefallen. Die bemerkt man nicht. Aber zwanzig! Das mußte zu Unannehmlichkeiten führen. Kein Zugpersonal würde uns alle fahren lassen.
Ich möchte hier gleich erklären, was ein ›Blinder‹ ist. Gewisse Postwagen sind ohne Türen an den Schmalseiten gebaut; daher werden sie blind genannt. Gesetzt nun, ein Vagabund ist, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, auf die Plattform eines blinden Wagens gesprungen, so kann kein Schaffner oder Bremser kommen und das Geld für die Fahrkarte verlangen oder ihn herunterschmeißen. Es ist klar; der Vagabund ist vollkommen sicher, bis der Zug das nächste Mal hält. Dann muß er abspringen, in der Dunkelheit vor den Zug laufen und, wenn er vorbeikommt, wieder auf den ›Blinden‹ springen. Aber es gibt viele Arten, es zu machen, wie wir sehen werden.
Als der Zug zum Bahnhof hinausfuhr, stürzten sich die Vagabunden auf die drei ›Blinden‹. Einige krochen hinauf, als der Zug noch keine Wagenlänge vom Bahnhof entfernt war. Das waren Anfänger, und ich sah denn auch, wie sie mit größter Schnelligkeit wieder herunterflogen. Selbstverständlich hatte das Zugpersonal aufgepaßt, und als der Zug das erstemal hielt, ging der Spektakel los. Ich sprang ab und lief ein Stück an den Schienen entlang voraus. Ich bemerkte, daß mir mehrere Vagabunden auf den Hacken waren. Sie wußten offenbar gut Bescheid, wie man es machen mußte. Wenn man sich an einen Überlandzug ›anhängen‹ will, muß man an den Haltestellen immer ziemlich weit vorauslaufen. Ich tat es, und allmählich gab einer nach dem andern von denen, die mir folgten, den Wettlauf auf. Aus der Art, wie sie zurückblieben, konnte man auf ihre Gewandtheit und ihren Mut im Aufspringen auf einen Zug schließen.
Das muß nämlich folgendermaßen gemacht werden: Wenn der Zug sich in Bewegung setzt, fährt der Bremser auf dem ›Blinden‹ zum Bahnhof hinaus. Um zu den andern Wagen zurückzukommen, muß er von dem ›Blinden‹ abspringen und die Plattform eines nichtblinden Wagens entern. Wenn der Zug also die Schnelligkeit erreicht hat, die der Bremser für gut befindet, springt er von dem ›Blinden‹ herunter, läßt ein paar Wagen vorbeifahren und springt dann wieder auf. Und deshalb muß der Vagabund so weit vorauslaufen, daß der Bremser den ›Blinden‹ schon verlassen hat, wenn er aufspringt.
Ich hatte einen Vorsprung von ungefähr fünfzig Fuß vor dem letzten Vagabunden und wartete nun. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich sah die Laterne des Bremsers auf dem ersten ›Blinden‹. Und ich sah die Dummköpfe verlassen neben dem Gleis stehen, während der ›Blinde‹ vorbeifuhr. Sie versuchten gar nicht erst, hinaufzukommen. Dann kamen, weiter vorn, die Vagabunden, die einigermaßen wußten, was man zu tun hatte. Sie ließen den ersten ›Blinden‹, auf dem der Bremser stand, vorbeifahren und sprangen dann auf den zweiten und dritten. Natürlich sprang der Bremser vom ersten ›Blinden‹ ab und auf den zweiten, und während der Zug weiterfuhr, räumte er auf und warf die Hinaufgesprungenen wieder hinunter. Aber die Hauptsache war, den andern so weit vorauszukommen, daß der Bremser den ersten ›Blinden‹, wenn er bei mir vorbeikam, schon verlassen hatte und sich in einem eifrigen Handgemenge mit den Vagabunden auf dem zweiten ›Blinden‹ befand. Ein halbes Dutzend der geübteren Vagabunden, die weit genug vorausgelaufen waren, gelangte denn auch auf den ersten ›Blinden‹.
Als wir das erstemal hielten und am Gleis entlang vorliefen, zählte ich nur fünfzehn Vagabunden. Fünf von uns waren ›geflogen‹. Der Ausrottungsprozeß war also gut im Gange und wurde Station auf Station fortgesetzt. Jetzt waren wir vierzehn, dann neun, schließlich acht. Es erinnerte mich an die zehn Negerlein im Kinderlied. Ich war fest entschlossen, das letzte Negerlein zu sein. Und warum auch nicht? War ich nicht mit Kraft, Gewandtheit und Jugend gesegnet? Ich war achtzehn Jahre alt und in glänzender Form. Und Nerven hatte ich auch nicht. War ich nicht zudem ein Vagabund von Gottes Gnaden? Waren die andern nicht die reinen Dummköpfe und Anfänger neben mir? Wenn ich nicht das letzte Negerlein wurde, so konnte ich ebensogut das ganze Spiel aufgeben und mich auf irgendeiner Farm anstellen lassen. Mit der Zeit war unsere Zahl auf vier reduziert worden, und nun begann sich das ganze Zugpersonal dafür zu interessieren, und es wurde ein Kampf zwischen Witz und Gewandtheit, bei dem das Personal natürlich die besseren Chancen hatte. Einer nach dem andern verschwand, bis ich schließlich allein übrig war. Nun ja, ich war nicht wenig stolz darauf! Kein Krösus ist je stolzer auf seine erste Million gewesen. Ich hing fest trotz der beiden Bremser, eines Schaffners, eines Heizers und eines Lokomotivführers.
Hier ein paar Beispiele, wie ich mich anhing: Weit voraus in der Dunkelheit – so weit, daß der Bremser, der auf dem ›Blinden‹ fährt, ihn bestimmt verlassen hat – springe ich auf. Schön, bis zur nächsten Station bin ich sicher. Dann wiederhole ich das Manöver. Der Zug fährt zum Bahnhof hinaus. Ich sehe ihn kommen. Es ist kein Licht zu sehen auf dem ›Blinden‹. Hat das Personal den Kampf aufgegeben? Ich weiß es nicht. Das weiß man nie, und man muß immer auf alles vorbereitet sein. Sobald der ›Blinde‹ neben mir ist, springe ich auf und strenge meine Augen an, um zu sehen, ob der Bremser auf der Plattform steht. Vielleicht steht er tatsächlich mit abgeblendeter Laterne da, um sie mir an den Kopf zu schlagen. Ich kenne das! Ich habe zwei- oder dreimal eine Laterne an den Kopf bekommen.
Aber nein, der erste ›Blinde‹ ist leer. Der Zug beschleunigt seine Fahrt. Jetzt bin ich sicher bis zur nächsten Station. Aber bin ich wirklich sicher? Ich spüre, wie der Zug seine Schnelligkeit vermindert. Im selben Augenblick bin ich auf der Hut. Man führt etwas im Schilde gegen mich, und ich weiß nicht, was. Ich versuche, nach beiden Seiten gleichzeitig Ausguck zu halten, und vergesse auch nicht, den Tender vor mir zu beobachten. Von jeder dieser drei Seiten, vielleicht auch von allen dreien auf einmal, kann der Angriff erfolgen.
Ah, jetzt kommt es! Der Bremser ist auf der Lokomotive gefahren. Das wird mir erst in dem Augenblick klar, als er seine Füße auf das rechte Trittbrett des ›Blinden‹ setzt. Wie der Blitz bin ich unten und laufe vor die Lokomotive. Ich verschwinde im Dunkel. Genau so war die Situation, als der Zug Ottawa verließ. Jedenfalls bin ich vorn und der Zug muß an mir vorbeifahren, wenn er seine Reise fortsetzt. Meine Chancen, hinaufzuspringen, sind so gut wie je.
Ich passe genau auf. Ich sehe, wie die Laterne sich auf die Lokomotive zu bewegt, und sehe sie nicht wieder zurückkommen. Folglich muß sie sich noch auf der Lokomotive befinden, und es liegt nahe, daß an dem Handgriff der Laterne ein Bremser hängt. Dieser Bremser muß faul sein, sonst hätte er seine Laterne ausgelöscht, als er nach vorn ging, statt nur die Hand vorzuhalten. Der Zug fährt wieder schneller. Der erste ›Blinde‹ ist leer, und es gelingt mir, hinaufzukommen. Wie zuvor, fährt der Zug langsamer, der Bremser von der Lokomotive klettert von der einen Seite auf den ›Blinden‹ hinauf, und ich springe auf der andern Seite hinunter und laufe vor.
Wie ich im Dunkel warte, fühle ich mich von unsagbarem Stolz durchbebt. Der Überlandzug hat zweimal meinetwegen gehalten – meinetwegen, des armseligen Landstreichers auf der Walze. Ich allein habe zweimal den Überlandzug mit seinen vielen Passagieren und Wagen, seiner Regierungspost und seinen zweitausend Pferdekräften, die in der Lokomotive arbeiten, aufgehalten. Und dabei wiege ich nur hundertundsechzig Pfund und habe keine fünf Cent in der Tasche. Wieder sehe ich, wie die Laterne zur Lokomotive kommt. Aber diesmal ganz offensichtlich. Ein wenig zu offensichtlich für meinen Geschmack, und ich denke nach, was das bedeuten kann. Auf jeden Fall habe ich etwas andres zu fürchten als den Bremser auf der Lokomotive. Der Zug fährt vorbei. Im letzten Augenblick, ehe ich den Sprung wage, sehe ich eine dunkle Gestalt auf dem ersten ›Blinden‹ – einen Bremser ohne Licht. Ich lasse ihn vorbeifahren und will auf den zweiten ›Blinden‹ springen. Aber der Bremser vom ersten ist abgesprungen und läuft hinter mir her. Im Fluge sehe ich auch die Laterne jenes Bremsers, der sich auf der Lokomotive befand. Er ist ebenfalls abgesprungen, und nun sind beide Bremser neben dem Gleise, auf derselben Seite wie ich. Im nächsten Augenblick kommt der dritte ›Blinde‹ an mir vorbei, und ich springe hinauf. Aber ich bleibe nicht oben. Ich habe meinen Gegenzug berechnet. Ich laufe über die Plattform und höre im selben Augenblick, wie der Bremser auf das Trittbrett springt. Ich springe auf der anderen Seite ab und laufe in der Richtung des Zuges nach vorn. Ich will einen kleinen Vorsprung bekommen und dann auf den ersten ›Blinden‹ springen. Es gelingt mir gerade noch im letzten Augenblick, denn der Zug beschleunigt jetzt seine Fahrt. Der Bremser ist mir wieder auf den Hacken und läuft weiter. Ich glaube, daß ich der bessere Schnellläufer von uns beiden bin, denn ich erreiche den ersten ›Blinden‹. Ich stehe auf dem Trittbrett und sehe mich nach meinem Verfolger um. Er ist nur zehn Fuß hinter mir und läuft schnell, aber die Schnelligkeit des Zuges ist jezt ungefähr ebenso groß wie seine eigene, und der Abstand zwischen ihm und mir verringert sieh nicht. Ich rede ihm ermutigend zu, strecke die Hand aus, um ihm zu helfen; aber er bricht in einen mächtigen Fluch aus, gibt den Kampf auf und springt ein paar Wagen weiter hinten auf den Zug. Der Zug fährt jetzt mit voller Fahrt, und ich lache vor mich hin, als ich ganz unvorbereitet von einem Wasserstrahl getroffen werde. Es ist der Heizer, der von der Lokomotive aus den Wasserschlauch auf mich richtet. Ich gehe auf das hinterste Trittbrett des Tenders, wo ich unter dem vorspringenden Dach vollkommen geschützt bin. Das Wasser fährt über meinen Kopf hin, ohne mir etwas zu tun. Es juckt mir in den Fingern, dem Heizer ein Stück Kohle an den Kopf zu werfen, aber ich weiß, daß ich, wenn ich es tue, von ihm und dem Lokomotivführer totgeschlagen werde, und so beherrsche ich mich.
Kaum hält der Zug das nächste Mal, so bin ich wieder unten und laufe in der Dunkelheit nach vorn. Ais der Zug diesmal die Station verläßt, befinden sich beide Bremser auf dem ersten ›Blinden‹. Ich errate, was sie vorhaben. Der Wiederholung des Spiels von vorhin haben sie einen Riegel vorgeschoben. Ich kann nicht wieder auf den zweiten Wagen springen, auf die andere Seite laufen und dann den ersten einholen. Sobald der erste ›Blinde‹ vorüber ist, springen sie, jeder auf einer Seite des Zuges, ab. Ich aber springe auf den zweiten Wagen, und indem ich dies tue, weiß ich, daß die Bremser mich jetzt von beiden Seiten angreifen werden. Es ist gleichsam eine Falle. Beide Auswege sind versperrt. Und doch gibt es noch einen Weg; nach oben. Darum warte ich nicht, bis meine Verfolger mich eingeholt haben. Ich klettere auf das eiserne Geländer der Plattform und stehe auf dem Rad der Handbremse. Damit bin ich aber auch am Ende meiner Weisheit angelangt, und ich höre die Bremser von beiden Seiten die Stufen heraufstürmen. Ich lasse mir nicht die Zeit, mich nach ihnen umzusehen. Ich hebe die Arme über den Kopf, bis sie den Rand der herabgebogenen Wagendächer erreichen. Die eine Hand liegt natürlich auf dem einen, die andere auf dem andern Dache. Unterdessen kommen beide Bremser die Treppe herauf. Ich weiß es gut, obwohl ich keine Zeit habe, mich nach ihnen umzusehen, denn alles das geschieht im Laufe weniger Sekunden. Ich springe mit den Füßen ab und schwinge mich hoch. Gerade als ich die Beine unter mir hochziehe, strecken beide Bremser die Hände aus und greifen in die leere Luft Ich weiß das sehr gut, denn ich blicke hinunter und verfolge mit Interesse ihre Bewegungen. Und ich höre sie auch fluchen.
So zwischen den äußersten Rändern der zwei abwärts gewölbten Wagendächer hängend, befinde ich mich jetzt in einer äußerst gefährlichen Stellung. Mit einer schnellen Anspannung aller Kräfte schwinge ich beide Beine auf das eine und beide Hände auf das andere Dach. Dann fasse ich den Rand, klettere über die Rundung auf das flache Dach, setzte mich hin und schöpfte Luft, während ich mich die ganze Zeit an einem Ventilator, der über das Dach ragt, festhalte. Jetzt bin ich oben auf dem Dach – auf ›Deck‹, wie wir Vagabunden es nennen, und den hier beschriebenen Vorgang nennt man unter Brüdern ›decken‹. Und ich will noch sagen, daß nur ein junger, kräftiger Vagabund einen Passagierzug decken kann, und daß besagter junger, kräftiger Vagabund keine Nerven haben darf. Der Zug fährt immer schneller, und ich weiß, daß ich sicher bin, bis er das nächste Mal hält, aber auch nur so lange. Ich weiß, daß die Bremser mich mit Steinen bombardieren werden, wenn ich nach dem Halten des Zuges noch auf dem Dache bin. Ein tüchtiger Bremser kann einen ziemlich schweren Stein auf das Wagendeck ›fallen lassen‹ – einen Stein von, sagen wir, fünfundzwanzig Pfund Gewicht. Anderseits werden die Bremser sehr wahrscheinlich erwarten, daß ich an derselben Stelle, wo ich hinauf gekrochen bin, wieder herunterkomme, und ich muß also dafür sorgen, daß ich auf eine andere Plattform gelange. In der stillen Hoffnung, daß die erste halbe Meile kein Tunnel kommt, stehe ich auf und gehe den Zug ein halbes Dutzend Wagen hinunter. Man darf nicht ängstlich sein, wenn man eine solche Reise macht. Die Dächer der Passagierwagen sind nicht für nächtliche Spaziergänge eingerichtet. Und wenn jemand glaubt, daß sie es doch sind, so rate ich ihm, es selbst einmal zu versuchen. Ich möchte ihn gern über das Dach eines rumpelnden, schleudernden Wagens spazieren sehen, wo es nichts gibt, an das er sich anklammern kann, als die dunkle leere Luft. Und wenn er dann an das gewölbte Dachende kommt, das feucht und glatt vom Tau ist, so muß er schnell machen, daß er auf die nächste Dachwölbung gelangt, die auch feucht und glatt ist. Glauben Sie mir: wenn man das gemacht hat, so weiß man, ob das Herz in Ordnung ist, oder ob man zu Schwindel neigt.
Als der Zug seine Fahrt ermäßigt, krieche ich auf eine Plattform, ein halbes Dutzend Wagen hinter der, auf die ich gesprungen war. Es ist niemand dort. Als der Zug hält, lasse ich mich zu Boden gleiten. Vorn, zwischen mir und der Lokomotive, sind zwei Laternen, die sich vor und zurück bewegen. Die Bremser sehen sich auf den Dächern nach mir um. Ich bemerke, daß der Wagen, neben dem ich stehe, vier Räder hat. (Wenn man ›unten‹ auf dem Gestell fahren will, muß man sorgfältig die sechsrädrigen Wagen vermeiden – die bringen Unheil.)
Ich ducke mich unter den Zug und krieche an den Stangen entlang. Es ist das erstemal, daß ich unter einen Zug der Kanada-Pazifikbahn gekrochen bin, und ich kenne seine innere Einrichtung noch nicht. Ich versuche, oben auf den Rahmen zwischen ihn und den Boden des Wagens zu kriechen, aber es ist nicht genügend Platz, daß ich mich hineinzwängen könnte. Das habe ich noch nie erlebt. In den Vereinigten Staaten ist man gewohnt, auf richtigen Schnellzügen ›unten‹ zu fahren, und ich pflege es so zu machen, daß ich das Geländer fasse, die Füße nach der Bremsstange schwinge und von dort auf den Rahmen hinaufkrieche. Innerhalb des Rahmens kann ich dann auf der Kreuzstange sitzen. Indem ich mich in der Dunkelheit immer weiter mit den Händen vorfühle, merke ich schließlich, daß zwischen der Bremsstange und der Erde Platz ist. Mit großer Mühe kann ich mich hineinzwängen, ich muß mich flach hinlegen und durchwinden. Sobald ich innerhalb des Rahmens bin, setze ich mich auf die Stange und denke darüber nach, ob der Bremser jetzt wohl herauskriegt, wo ich geblieben bin. Der Zug setzt sich in Bewegung. Sie haben es endlich aufgegeben, nach mir zu suchen.
Aber haben sie es wirklich aufgegeben? Schon als wir das nächste Mal halten, sehe ich, wie eine Laterne unter den Rahmen gehalten wird, der dem meinen am nächsten ist, aber am andern Ende des Wagens. Sie suchen die Stangen ab, um mich zu finden. Ich muß schnell machen, daß ich wegkomme. Auf dem Bauche krieche ich unter die Bremsstange. Sie sehen mich und laufen mir nach, aber ich krieche auf Händen und Füßen quer über die Schienen nach der entgegengesetzten Seite und verstecke mich hier in dem schirmenden Dunkel. Wieder die alte Situation. Ich bin wieder vor dem Zuge, und der Zug muß an mir vorbeifahren.
Der Zug fährt an. Auf dem ersten ›Blinden‹ ist eine Laterne. Ich liege auf dem Boden und sehe den Bremser vorbeifahren und nach mir ausschauen. Auf dem zweiten ›Blinden‹ ist auch eine Laterne. Der Bremser erblickt mich und ruft es dem Bremser, der auf dem ersten Wagen vorbeigefahren ist, zu. Beide springen ab. Schön, dann muß ich eben den dritten ›Blinden‹ nehmen. Aber – lieber Gott – auf dem dritten ›Blinden‹ ist auch eine Laterne! Das ist der Schaffner. Ich lasse ihn vorbeifahren. Jedenfalls habe ich jetzt das ganze Zugpersonal vor mir. Ich drehe mich um und laufe in der dem Zuge entgegengesetzten Richtung. Über die Schulter sehe ich zurück. Alle drei Laternen sind jetzt auf der Erde und schwanken auf der Suche nach mir umher. Ich nehme einen Anlauf. Die Hälfte der Wagen ist schon vorbei, und der Zug fährt ziemlich schnell, als ich aufspringe. Ich weiß, daß die beiden Bremser und der Schaffner in zwei Sekunden wie rasende Wölfe über mich herfallen werden. Ich springe wieder auf die Handbremse, fasse die gewölbten Dachenden und bin im nächsten Augenblick auf ›Deck‹, während meine enttäuschten Verfolger sich auf der Plattform zusammendrängen wie heulende Hunde, die eine Katze auf einen Baum gejagt haben, und da stehen sie nun und fluchen und erzählen mir Unliebenswürdigkeiten über meine Vorfahren.
Aber was mache ich mir daraus? Einschließlich Lokomotivführer und Heizer sind sie fünf gegen einen, und obwohl die Majestät des Gesetzes und eine große, mächtige Körperschaft hinter ihnen stehen, führe ich sie alle an. Ich bin ganz hinten auf dem Zuge, und so laufe ich über die Wagendächer vor, bis ich mich über der fünften oder sechsten Plattform von der Lokomotive befinde. Dann spähe ich vorsichtig hinunter. Auf der Plattform steht ein Bremser. Daß er mich bemerkt hat, kann ich aus der Art sehen, wie er sich in größter Eile in den Wagen schleicht, und ich weiß auch, daß er jetzt hinter der Tür steht und darauf wartet, über mich herzufallen, wenn ich hinunterklettere. Aber ich tue, als wüßte ich es nicht, und bleibe dort, um ihn in seinem Irrtum zu bestärken. Ich sehe ihn nicht, weiß aber gut, daß er hin und wieder die Tür öffnet, um sich zu vergewissern, daß ich immer noch da bin.
Der Zug fährt langsamer, wir nähern uns einer Station. Ich lasse die Beine hinunterhängen, um mich vorzufühlen. Der Zug hält, ich baumle immer noch mit den Beinen. Da höre ich den Bremser vorsichtig die Tür öffnen. Er ist zu meinem Empfang gerüstet. Plötzlich springe ich auf und laufe über das Dach, gerade über dem Kopfe des Mannes, der da unten auf mich lauert. Der Zug hält; die Nacht ist ruhig, und ich sorge dafür, daß meine Füße auf dem eisernen Dache soviel Lärm wie nur möglich machen. Ich weiß es natürlich nicht, nehme aber an, daß er jetzt hinläuft, um mich zu fassen, wenn ich auf die nächste Plattform hinunterkomme. Aber ich komme gar nicht hinunter. Als ich die Mitte des Zuges erreicht habe, mache ich kehrt und schleiche schnell und vorsichtig zu der Plattform zurück, die der Bremser und ich eben verlassen haben. Die Bahn ist frei. Ich klettere auf der andern Seite des Zuges hinunter und verstecke mich im Dunkeln. Keine Seele hat mich gesehen.
Ich steige über die Einfriedung neben dem Bahnkörper, lege mich hin und passe auf. Aha! Was ist das? Ich sehe eine Laterne, die sich oben auf den Dächern von einem Wagen zum andern bewegt. Sie meinen, ich sitze noch oben, und suchen mich nun. Und noch besser – auf dem Boden, zu beiden Seiten des Zuges, bewegen sich zwei Laternen in derselben Richtung und mit derselben Schnelligkeit wie die auf den Dächern. Es ist die reine Hasenjagd, und ich bin der Hase. Sobald der Bremser auf dem Dache mich erblickt, wollen die beiden andern mich packen. Ich drehe mir eine Zigarette und sehe die Prozession vorüberziehen. Sobald sie vorbei ist, kann ich mich in aller Ruhe vorn zum Zuge begeben. Der Zug setzt sich in Bewegung, und ohne Widerstand komme ich auf den ersten ›Blinden‹. Aber ehe noch der Zug richtig in Gang gekommen ist, und als ich mir gerade die Zigarette anzünden will, sehe ich, daß der Heizer über die Kohlen hinten auf den Tender geklettert ist und mich betrachtet. Ich bekomme einen furchtbaren Schreck. Von seinem Platz aus kann er nach mir mit Kohlenstücken werfen und mich zu Frikassee machen. Statt dessen spricht er mich an, und ich höre zu meiner großen Erleichterung Bewunderung in seiner Stimme.
»Du verfluchter Schweinehund!« sagt er.
Das ist ein großes Kompliment, und ich werde von Stolz durchschauert wie ein Schulknabe, der ein Lob erhält. »Hör' mal,« rufe ich zu ihm hinüber, »mach' das nicht wieder mit dem Schlauch.«
»Nein«, antwortet er und geht wieder an die Arbeit. Mit der Lokomotive habe ich mich befreundet, aber die Bremser lauern immer noch auf mich. Als wir das nächste Mal halten, sind alle ›Blinden‹ mit Bremsern besetzt, und wie früher, lasse ich sie vorüber und klettere in der Mitte des Zuges auf Deck. Aber jetzt ist das Personal darauf gekommen, was ich vorhabe, und der Zug hält. Die Bremser wollen mich ›schmeißen‹, eher haben sie keine Ruhe. Dreimal hält der mächtige Überlandzug meinetwegen an dieser Station, und jedesmal entwische ich den Bremsern und klettere wieder auf Deck. Aber es ist hoffnungslos, denn endlich haben sie doch die Situation erfaßt. Ich habe ihnen gezeigt, daß sie den Zug nicht vor mir schützen können. Sie müssen etwas anderes machen. Und das tun sie. Als der Zug das letztemal hält, setzen sie in voller Fahrt hinter mir her. Ja, ich weiß schon, was sie wollen. Sie wollen versuchen, mich müde zu hetzen. Im Anfang drängen sie mich bis zu den letzten Wagen des Zuges zurück. Ich bin mir ganz klar über die Gefahr, die mir droht. Sobald sie mich hinter den Zug bekommen haben, wollen sie losfahren und mich stehenlassen. Ich mache kehrt, laufe in einer Schlangenlinie, schlüpfe zwischen meinen Verfolgern hindurch und gelange so zu den vordersten Wagen. Einer der Bremser ist mir beständig auf den Hacken. Na schön, ich will ihn tüchtig laufen lassen, denn ich bin glänzend in Form. Ich laufe am Gleis entlang. Mir macht es nichts aus. Selbst wenn er mich zehn ganze Meilen jagt, so muß er doch zum Zuge zurück, und ich kann immer genau so gut aufspringen wie er selbst.
So laufe ich weiter, halte mich immer ein kleines Stück vor ihm und strenge meine Augen an, damit ich in der Dunkelheit etwaige Wildfallen oder Weichen sehen kann, die mir Schaden bringen könnten. O weh! Ich bemühe mich zu sehr, das zu sehen, was weiter voraus liegt, stolpere über einen kleinen Gegenstand gerade vor mir und falle hin. Im nächsten Augenblick bin ich wieder auf den Beinen, aber schon hat der Bremser mich am Kragen. Ich leiste keinen Widerstand. Ich muß Luft schöpfen und ihn mir ansehen. Er ist schmalschultrig, und ich wiege wenigstens dreißig Pfund mehr als er. Außerdem ist er ebenso müde wie ich, und wenn er boxen will, soll er mich kennenlernen. Aber er boxt nicht, so daß ich dies Problem nicht zu erörtern brauche. Statt dessen beginnt er mich nach dem Zuge zurückzuziehen, und jetzt erhebt sich ein neues Problem. Ich sehe die Laternen des Schaffners und des anderen Bremsers. Wir nähern uns ihnen. Nicht umsonst habe ich die Bekanntschaft der New Yorker Polizei gemacht. Nicht umsonst habe ich in Güterwagen, bei Wasserbehältern und in Gefängniszellen blutige Geschichten von Mißhandlungen gehört. Wenn diese drei Männer mich nun mißhandelten? Der Himmel weiß, daß ich ihnen Anlaß genug dazu gegeben habe. In aller Eile überdenke ich die Situation. Immer mehr nähern wir uns den beiden Eisenbahnmännern. Ich sehe mir Bauch und Kiefern des Mannes, der mich festhält, an und denke aus, was ich mit der rechten und mit der linken Faust machen werde, wenn er das erste Zeichen von Unfreundlichkeit gibt.
Pah! Ich kenne einen Trick, den ich schon an ihm versuchen möchte, und es tut mir ordentlich leid, daß ich es nicht schon in dem Augenblick tat, als er mich packte. Ich könnte ihm einen tüchtigen Denkzettel erteilen, und das gerade, weil er mich am Kragen packt. Er hat die Finger fest in meinen Kragen gekrallt. Mein Rock ist zugeknöpft. Ich weiß nicht, ob ihr je eine Aderpresse gesehen habt. Da habt ihr sie: Ich brauche nur den Kopf unter seinen Arm zu ducken und mich herumzudrehen. Das muß schnell gehen – sehr schnell. Ich weiß schon, wie ich es machen muß – ich muß mich schnell und ruckweise drehen und bei jeder Umdrehung den Kopf unter seinen Arm ducken. Ehe er es weiß, sitzen seine Finger, die mich jetzt festhalten, selbst fest. Er kann sie nicht herausziehen. Es wirkt wie ein kräftiger Hebel. Wenn ich mich zwanzig Sekunden lang gedreht habe, wird ihm das Blut unter den Nägeln hervorspritzen, die feinen Sehnen werden reißen und alle Muskeln und Nerven zerquetscht werden, bis alles eine einzige blutige, schmerzende Masse ist. Versucht es mal, wenn euch jemand am Kragen hat. Aber ihr müßt schnell sein – schnell wie der Blitz. Und ihr müßt euch selber gut halten, während ihr euch herumdreht – das Gesicht mit dem linken, und den Unterleib mit dem rechten Arm schützen. Es könnte ja sein, daß der andere versuchte, euch durch einen Stoß mit seinem freien Arm anzuhalten. Es wäre auch gut, sich von dem freien Arm ab– statt sich ihm zuzudrehen. Ein Stoß in der Richtung der eigenen Bewegung ist nie so schlimm wie umgekehrt.
Der Bremser wird nie erfahren, wie nahe er daran gewesen ist, einen sehr, sehr ernsten Denkzettel zu erhalten. Seine Rettung ist, daß er offenbar nicht die Absicht hat, mir etwas zu tun. Als wir nahe genug sind, ruft er, daß er mich hat, und man gibt das Signal, daß der Zug anfahren soll. Die Lokomotive und die drei ›Blinden‹ fahren vorbei. Dann springen der Schaffner und der zweite Bremser auf. Aber der Mann, der mich am Kragen hält, hat mich immer noch gepackt. Ich weiß ganz genau, was sie wollen. Er soll mich festhalten, bis die letzten Wagen uns erreicht haben. Dann soll er aufspringen, und ich werde zurückgelassen – im Graben. Aber der Zug fährt schnell, denn der Lokomotivführer muß die verlorene Zeit wieder einholen. Es ist auch ein langer Zug. Die Sache ist nicht so einfach, und ich weiß, daß der Bremser die Schnelligkeit des Zuges mit Besorgnis mißt.
»Glaubst du, daß du's machen kannst?« frage ich unschuldig.
Er läßt meinen Kragen los, springt rasch zu und ist auf dem Zuge. Es fehlen noch mehrere Wagen. Das weiß er, und so bleibt er auf dem Trittbrett stehen, streckt den Kopf vor und sieht nach mir aus. In diesem Augenblick wird mir klar, was ich jetzt zu tun habe. Ich will auf die hinterste Plattform springen. Ich weiß, daß der Zug immer schneller und schneller fährt, aber wenn es schief geht, kann ich nur in den Dreck geworfen werden, und ich besitze den ganzen Optimismus der Jugend. Nicht mit einer Miene verrate ich, was ich im Sinne habe. Mutlos und mit hängenden Schultern stehe ich da und zeige, daß ich jede Hoffnung aufgegeben habe. Aber gleichzeitig untersuche ich mit dem Fuße den Kies. Er gibt einen ausgezeichneten Halt. Ich sehe auch nach dem Bremser, der immer noch den Kopf vorstreckt. Jetzt zieht er ihn zurück. Er ist ganz sicher, daß der Zug zu schnell fährt, als daß ich ihn noch erwischen könnte.
Und der Zug fährt wirklich schnell – schneller als je ein Zug, auf den ich es abgesehen hatte. Als der letzte Wagen vorbeifährt, laufe ich in der Fahrtrichtung mit. Es ist ein kurzer, schneller Anlauf. Ich kann nicht hoffen, dieselbe Geschwindigkeit wie der Zug zu erreichen, aber ich kann den Unterschied zwischen meiner und seiner Schnelligkeit auf ein Minimum reduzieren und den Stoß, wenn ich das Trittbrett erreiche, dadurch weniger fühlbar machen. In dem flüchtigen Augenblick kann ich das Geländer der hintersten Plattform in der Dunkelheit nicht sehen; ich habe auch keine Zeit, mich zu orientieren. Ich packe aufs Geratewohl zu, und im selben Augenblick verlieren meine Füße den Boden. Es ist der reine Glückstreffer. Im nächsten Augenblick könnte ich mit gebrochenen Rippen, gebrochenen Armen oder zerschmetterter Hirnschale über den Kies rollen. Aber meine Finger umklammern das Geländer, ein Ruck in meinem Arm, ich werde halb herumgeschleudert, und meine Füße landen mit einer starken Erschütterung auf dem Trittbrett. Ich setze mich nieder und bin sehr stolz. In meiner ganzen Vagabundenzeit ist dies das beste Stück Arbeit, das ich im Aufspringen auf einen Zug je geleistet habe. Ich weiß, daß man in der Nacht auf der letzten Plattform immer sicher ist, jedenfalls für ein paar Stationen, aber ich wage mich nicht zu den vorderen Wagen. Als der Zug das erstemal hält, laufe ich auf der dem Bahnsteig entgegengesetzten Seite an ihm entlang, an den Pullmanwagen vorbei, ducke mich und finde einen Platz unter einem der anderen Wagen. Beim nächsten Aufenthalt laufe ich wieder vor und finde einen neuen Platz.
Jetzt bin ich einigermaßen sicher. Die Bremser glauben, daß ich endgültig geschmissen bin. Aber der lange Tag und die anstrengende Nacht fangen an, ihre Wirkung auszuüben. Da es weder windig noch kalt hier unten ist, nicke ich ein. Das geht nicht. Auf dem Wagengestell einzuschlafen, bedeutet den sichern Tod, und als wir an eine Station kommen, krieche ich daher heraus und gehe zum zweiten ›Blinden‹. Hier kann ich mich hinlegen und schlafen, und hier schlafe ich – wie lange, weiß ich nicht –, bis ich erwache, weil mir jemand eine Laterne vors Gesicht hält. Die beiden Bremser stehen da und starren mich an. Ich springe auf, um mich zu verteidigen, während ich darüber nachdenke, wer von den beiden mich wohl zuerst angreifen wird. Aber sie denken gar nicht daran.
»Ich glaubte, ich hätte dich geschmissen«, sagt der Bremser, der mich am Kragen gehabt hatte.
»Wenn du mich nicht losgelassen hättest, wärst du zusammen mit mir geflogen«, antwortete ich. »Wieso?« fragt er.
»Ich hätte dich festgehalten, das ist alles«, erwidere ich ihm.
Sie beraten sich, und zuletzt kommen sie zu folgendem Ergebnis:
»Na, dann wollen wir dich fahrenlassen, Kamerad! Es hilft ja nichts, daß wir versuchen, euch runterzukriegen.«
Und dann gehen sie ihres Weges und lassen mich bis zu ihrer Zweigstation in Frieden.
Ich habe hier ein Beispiel davon gegeben, was ›anhängen‹ heißt. Selbstverständlich habe ich eine Nacht gewählt, in der meine Bemühungen von Glück gekrönt waren, und nichts von den Nächten – und ihrer sind viele – gesagt, in denen ich Pech hatte und geschmissen wurde.
Zum Schluß möchte ich nur noch erzählen, was geschah, als wir die Zweigstation auf der Strecke erreichten. Auf den eingleisigen Überlandstrecken warten die Güterwagen an der Weiche und folgen dann den Personenzügen. Als ich in die Zweigstation kam, stieg ich ab und sah mich nach dem Güterzuge um, der hinterherfahren sollte. Ich fand ihn, stellte mich an einem Nebengleise auf und wartete. Dann schlüpfte ich in einen geschlossenen Güterwagen, der halb voll Kohlen war, und legte mich nieder. Fast im selben Augenblick war ich eingeschlafen.
Ich erwachte dadurch, daß die Tür zurückgeschoben wurde. Der Tag brach an, kalt und trübe, und der Güterzug war noch nicht abgefahren. Der Schaffner steckte den Kopf zur Tür herein. »Mach', daß du rauskommst, du verfluchter Schlingel!« brüllte er. Das tat ich, und als ich herauskam, sah ich, wie er den Zug entlang ging und jeden Wagen untersuchte. Sobald er außer Sehweite war, sagte ich mir, er würde nie im Leben darauf verfallen, daß ich so frech wäre, wieder in denselben Wagen zu kriechen, aus dem er mich eben herausgejagt hatte. Ich kletterte also ganz ruhig wieder hinein und legte mich schlafen.
Nun muß aber der Schaffner genau so überlegt haben wie ich, denn er dachte sich, daß ich es geradeso machen würde. Folglich kam er zurück und schmiß mich wieder hinaus.
Na, dachte ich bei mir, es wird ihm doch nie in den Sinn kommen, daß ich es zum drittenmal tue. Ich kehrte also zum selben Wagen zurück, beschloß aber, mich gegen weitere Überraschungen zu sichern. Nur eine der Seitentüren konnte geöffnet werden, die andere war vernagelt. Ich machte mich gleich an den Kohlenhaufen, grub ein Loch neben der vernagelten Tür und legte mich hinein. Der Schaffner kletterte herauf und guckte ins Loch. Sehen konnte er mich nicht. Er rief, ich sollte machen, daß ich wegkäme. Ich versuchte, ihn anzuführen, indem ich ganz still liegenblieb; als er aber anfing, Kohlenstücke in das Loch zu werfen, gab ich es auf und wurde zum drittenmal hinausgeschmissen. Dann teilte er mir in großer Erregung mit, was geschehen würde, wenn er mich noch einmal fände.
Jetzt veränderte ich meine Taktik. Wenn ein anderer genau so denkt, wie man selber, so muß man abbrechen und eine neue Taktik versuchen. Das tat ich. Ich versteckte mich zwischen ein paar Wagen auf einem anstoßenden Nebengleis und wartete. Gewiß, der Schaffner kam wieder zum Wagen zurück! Er schloß die Tür auf, kletterte wieder hinein, warf Kohlen in das Loch, das ich gemacht hatte, ja, er kroch ganz auf die Kohlen hinauf und spähte in das Loch hinunter. Damit war er befriedigt. Fünf Minuten später fuhr der Güterzug zur Station hinaus, und der Schaffner war nirgends zu sehen. Ich lief neben dem Wagen her, riß die Tür auf und kletterte hinein. Der Schaffner kam nicht wieder, und ich fuhr mit dem Kohlenwagen genau tausendundzweiundzwanzig Meilen. Die meiste Zeit schlief ich; nur an den Zweigstationen, wo die Güterzüge stets etwa eine Stunde halten, stieg ich ab, um mir etwas Essen zu erbetteln. Und am Ende der tausendundzweiundzwanzig Meilen verlor ich den Wagen durch einen glücklichen Zufall. Ich wurde hereingebeten, um etwas zu essen zu bekommen, und ich möchte den Vagabunden sehen, der nicht jeden Zug wegfahren läßt, wenn er ›hereingebeten‹ wird.