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Negore, der Feigling
ОглавлениеElf Tage lang war er der Fährte seines fliehenden Volkes gefolgt, und diese Verfolgung war selbst nichts anderes als eine Flucht gewesen. Denn hinter ihm kamen – das wusste er mit Sicherheit – die gefürchteten Russen. Sie schleppten sich mühselig durch das sumpfige Tiefland und über die schroffen Wasserscheiden und wurden nur von einem Gedanken geleitet: sein ganzes Volk zu vernichten. Er führte nur eine ganz leichte Ausrüstung mit sich. Ein Schlafsack aus Kaninchenfell, ein Vorderlader und einige Pfund an der Sonne gedörrter Lachs machten sein ganzes Gepäck aus. Er hätte sich über die Schnelligkeit gewundert, mit der ein ganzer Stamm – mit Frauen und Kindern und Greisen – wanderte, hätte er nicht gewusst, dass es der Schrecken war, der sie vorwärtstrieb.
Es war in den alten Tagen, als Alaska noch russisch war. Das 19. Jahrhundert hatte seine erste Hälfte zurückgelegt, als Negore dem fliehenden Stamme folgte. In einer Sommernacht holte er ihn bei den Quellen des Peelat ein. Obgleich es beinahe Mitternacht war, schien es doch noch heller Tag, als er durch das Lager ging. Viele bemerkten ihn. Alle kannten ihn. Dennoch wurde er nur von wenigen begrüßt. Und ihr Gruß war kalt.
»Negore – der Feigling«, hörte er Illila, eine junge Frau, lächelnd rufen. Und Sunnee, die Tochter seiner Schwester, lachte mit.
Bitterer Zorn fraß an seinem Herzen. Aber er ließ es sich nicht anmerken, sondern bahnte sich einen Weg durch das Lager und zwischen den Feuern hindurch, bis er eine Stelle erreichte, wo ein alter Mann saß. Eine junge Frau knetete dem Greis mit gewandten Fingern die müden Beinmuskeln. Der hob seine blinden Augen und lauschte scharf, als Negores Fuß einen trockenen Zweig zerbrach. »Wer kommt?« fragte er mit dünner, zitternder Stimme.
»Negore«, sagte die junge Frau und sah kaum von ihrer Arbeit auf.
Negores Gesicht zeigte keinen Ausdruck. Mehrere Minuten blieb er stehen und wartete. Das Kinn des alten Mannes war wieder auf die Brust gesunken. Die junge Frau drückte und rieb die erschöpften Muskeln. Sie lag auf den Knien. Das gesenkte Haupt war von der schwarzen Fülle ihres Haares wie durch eine Wolke verhüllt. Negore betrachtete ihren schlanken Körper, der sich schmiegsam in den Hüften bog, wie der Körper eines Luchses sich biegen mag. Sie war geschmeidig wie ein junger Weidenzweig. Und dabei doch kräftig, wie nur die Jugend es ist. Negore starrte sie an und war sich einer heißen Sehnsucht bewusst, die mit dem Gefühl körperlichen Hungers verwandt war.
Schließlich sagte er: »Hast du keinen Gruß für Negore, der weit gewandert und erst jetzt zurückgekommen ist?«
Sie blickte mit kalten Augen zu ihm auf. Der alte Mann kicherte vor sich hin.
»Du bist meine Frau, Oona«, sagte Negore. Sein Ton war gebieterisch und enthielt die leise Andeutung einer Drohung.
Geschmeidig wie eine Katze schnellte sie auf und stand in ihrer ganzen Größe vor ihm. Ihre Augen funkelten. Ihre Nasenflügel bebten wie die Nüstern eines Hirsches.
»Ich sollte deine Frau werden, Negore«, sagte sie. »Aber du warst ein Feigling. Die Tochter des alten Kinoos' heiratet keinen Feigling.«
Als er sprechen wollte, brachte sie ihn mit einer herrischen Bewegung zum Schweigen.
»Kinoos und ich kamen aus einem fremden Land zu euerm Volk. Dein Volk nahm uns an seinem Feuer auf und gab uns Wärme. Es fragte weder woher, noch warum wir auf der Wanderung waren. Es glaubte, Kinoos hätte sein Augenlicht schon lange verloren. Und weder er noch ich, seine Tochter, haben etwas anderes gesagt.
Kinoos ist ein tapferer Mann, aber er war nie ein Prahlhans. Und wenn ich dir jetzt erzähle, wie er blind wurde, so wirst du ohne Zweifel verstehen können, warum die Tochter Kinoos nicht die Kinder eines Feiglings gebären will, wie du es bist, Negore.«
Wieder verhinderte sie, dass er zu sprechen begann.
»Du musst wissen, Negore, dass du, selbst wenn du Tagereise zu Tagereise legen könntest, die du in diesem Lande gemacht hast, nicht das unbekannte Sitka am großen Salzmeer erreichen würdest. Dort gibt es sehr viele russische Männer, und ihre Herrschaft ist sehr hart. Und von Sitka ist der alte Kinoos, der in jenen Tagen noch ein junger Kinoos war, mit mir geflüchtet. Ich war damals erst ein kleines Kind, das er in seinen Armen trug. Er flüchtete über die Inseln, die mitten im Meer liegen. Die Leiche meiner Mutter erzählt von dem Unrecht, das er erduldete. Und die Leiche eines Russen, dem ein Speer durch Brust und Rücken ging, berichtet von Kinoos Rache.
Aber wohin wir auch flohen, überall fanden wir das verhasste russische Volk. Kinoos kannte keine Furcht, aber ihr Anblick peinigte ihn. Deshalb flohen wir immer weiter, durch die Meere, durch die Jahre, bis wir das große Nebelmeer erreichten, Negore. Du hast von ihm gehört, wenn du es auch nie gesehen hast. Wir haben unter vielen Völkern gelebt, und ich wuchs zur Frau heran. Aber Kinoos wollte keine andere Frau, als er älter wurde. Und ich nahm keinen Mann.
Zuletzt kamen wir nach Pastolik, das dort liegt, wo der Yukon sich in das große Nebelmeer ergießt. Hier lebten wir lange am Rande des Meeres unter einem Volk, das die Russen hasste. Aber zuweilen kamen sie doch, diese Russen. Sie kamen in großen Schiffen, und das Volk von Pastolik musste ihnen den Weg über die unzähligen Inseln des vielmündigen Yukon zeigen. Und zuweilen geschah es, dass die Männer, die sie mitnahmen, damit sie ihnen den Weg zeigten, nie mehr zurückkehrten. Schließlich wurde das Volk zornig und schmiedete einen großen Plan. Als bald darauf ein mächtiges Schiff kam, trat der alte Kinoos deshalb einige Schritte vor und sagte den Russen, dass er ihnen den Weg zeigen wolle. Er war damals schon ein alter Mann, und sein Haar war weiß. Sein Herz aber kannte keine Furcht. Er war indes ein Mann, der vieles verstand. Deshalb führte er das Schiff dorthin, wo das Meer nach dem Lande strebt und die weißen Wogen gegen ein Gebirge toben, das den Namen Romanoff trägt. Und das Meer sog das Schiff hinein, wo die weißen Wogen branden, und es geriet auf die Klippen und zerschellte. Dann kam das ganze Volk von Pastolik – denn so war es geplant. Sie kamen mit ihren Speeren und Bogen und einigen Gewehren. Aber vorher hatten die Russen den alten Kinoos geblendet, damit er niemandem mehr den Weg zeige. Dann kämpften sie – dort, wo die weißen Wogen branden – mit dem Volk von Pastolik.
Der Häuptling der Russen aber war Iwan. Er war es gewesen, der mit seinen beiden Daumen dem Kinoos die Augen ausdrückte. Er war es, der sich den Weg durch das weiße Wasser erkämpfte – gemeinsam mit den beiden Männern, die allein von allen Russen übrigblieben. Und er zog an der Küste des Großen Nebelmeeres nach Norden. Kinoos war weise. Er konnte nicht mehr sehen und war hilflos wie ein Kind. Deshalb floh er vom Meere den großen, fremden Yukon entlang nach Nulato. Und ich floh mit ihm.
Dies war die Tat meines Vater Kinoos, eines alten Mannes. Aber was tat der junge Mann Negore?«
Wieder brachte sie ihn durch eine Bewegung zum Schweigen. Dann sprach sie weiter: »Mit meinen eigenen Augen sah ich – in Nulato, vor den Toren des großen Forts, und es ist nur wenige Tage her –, wie der Russe Iwan, der meinem Vater die Augen stahl, den Riemen seiner Hundepeitsche auf dich legte und dich wie einen Hund prügelte. Das sah ich, und ich erkannte, dass du ein Feigling bist. Aber in der Nacht, da dein ganzes Volk – ja, selbst die Knaben, die noch keine Jäger sind – die Russen überfiel und sie schlug, da sah ich dich nicht.«
»Aber Iwan schlugen sie nicht«, sagte Negore. »Eben jetzt ist er euch auf den Fersen, und mit ihm kommen viele Russen vom Meere.«
Oona gab sich keine Mühe, ihre Überraschung und ihren Schmerz, dass Iwan nicht getötet worden war, zu verbergen. Sie fuhr fort: »Am Tage sah ich einen Feigling. In der Nacht aber, als alle Männer, selbst die Knaben, die noch keine Jäger sind, kämpften, sah ich dich nicht. Und ich weiß jetzt, dass du ein zweifacher Feigling bist.«
»Hast du zu Ende gesprochen?« fragte Negore.
Sie nickte und sah ihn von der Seite an, als wunderte sie sich, dass er überhaupt zu reden wagte.
»Dann wisse, dass Negore kein Feigling ist«, sagte er. Und seine Stimme war ganz ruhig und sehr leise. »Wisse, dass ich, als ich noch ein Knabe war, ganz allein dorthin wanderte, wo der Yukon sich in das große Nebelmeer ergießt.
Selbst nach Pastolik bin ich gewandert und noch weiter nach dem Norden, am Rande des Meeres entlang. Das tat ich, als ich noch ein Knabe war, und wahrlich, ich war kein Feigling. Ich war auch nicht feige, als ich – ein junger Mann und ganz allein – den Yukon weiter hinaufzog, als je ein anderer getan. So weit, bis ich ein fremdes Volk erreichte, das in einem großen Fort lebt und eine ganz andere Sprache spricht als die der Russen. Ich habe auch den großen Bären im Tananaland getötet, wo keiner von meinem eigenen Volk je gewesen ist. Und ich habe mit den Nukluyets und den Kaltags und den Sticks in fernen Gegenden gekämpft ... Ich ganz allein. Von diesen Dingen weiß mein Volk nichts, und deshalb erzähle ich sie dir selbst. Aber lasse mein Volk von den Taten erzählen, die es kennt. Es wird nicht sagen, dass Negore ein Feigling ist.«
Er schwieg stolz, und stolz wartete er.
»Dies mag alles geschehen sein, bevor ich in das Land kam«, sagte sie, »und ich weiß nichts davon. Ich weiß nur, was ich selbst erlebt habe, und ich sah, dass du wie ein Hund gepeitscht wurdest. Und als es Nacht geworden war und das große Fort in roten Flammen stand und die Männer töteten und getötet wurden, da sah ich dich nirgends. Deshalb nennt auch dein Volk dich den Feigling Negore.«
»Es ist kein guter Name«, kicherte der alte Kinoos.
»Das verstehst du nicht, Kinoos«, sagte Negore höflich. »Aber ich werde es dir erklären. Du musst wissen, dass ich mit Kamo-tah, dem Sohn meiner Mutter, auf die Bärenjagd gegangen war. Und Kamo-tah kämpfte mit einem großen Bären. Drei Tage hatten wir nichts zu essen gehabt, und Kamo-tahs Arm war nicht mehr kräftig, sein Fuß nicht mehr schnell genug. Und der große Bär nahm ihn in seine Arme und zerquetschte ihn, bis seine Knochen wie trockene Äste krachten. So fand ich ihn, wie er krank und klagend auf dem Boden lag. Und es war nichts zu essen da, und ich konnte auch nichts töten, um es dem Kranken zu essen zu geben.
Deshalb sagte ich zu ihm: ›Ich will nach Nulato gehen und dir Lebensmittel bringen. Und ich werde auch starke Männer holen, die dich nach dem Lager tragen können.‹ Und Kamo-tah sagte: ›Geh nach Nulato und hole Lebensmittel, aber sage keinem, was mir geschehen ist. Und wenn ich wieder gesund und stark geworden bin, will ich diesen Bären töten. Dann will ich mit Ehren nach Nulato zurückkehren, und keiner wird lachen und sagen, dass Kamo-tah von einem Bären besiegt wurde.‹
Und ich richtete mich nach dem Wunsch meines Bruders. Als ich nach Nulato gekommen war und der Russe Iwan mich mit der Hundepeitsche schlug, wusste ich, dass ich nicht kämpfen durfte. Denn keiner wusste von Kamo-tah, der hungrig und verwundet und klagend dalag. Wenn ich mit Iwan kämpfte und von ihm getötet wurde, musste mein Bruder sterben. Deshalb sahst du, Oona, dass ich mich wie einen Hund prügeln ließ.
Dann hörte ich die Schamanen und die Häuptlinge davon sprechen, dass die Russen eine seltsame Krankheit über unser Volk gebracht hatten, dass sie unsere Männer töteten, unsere Weiber stahlen, und dass das Land von ihnen gesäubert werden müsse. Wie gesagt: Ich hörte ihre Rede und hielt sie für eine kluge und gerechte Rede. Und ich wusste auch, dass die Russen in dieser Nacht getötet werden sollten. Aber mein Bruder Kamo-tah lag draußen, verwundet und klagend und ohne Fleisch zum Essen. Deshalb konnte ich nicht bleiben und mit den Männern und den Knaben, die noch keine Jäger sind, kämpfen.
Und ich nahm Fleisch und Fisch mit mir und auch die Merkmale von der Hundepeitsche Iwans. Als ich aber hinkam, hörte ich Kamo-tah nicht mehr klagen. Denn er war tot. Da ging ich sofort wieder nach Nulato und – wahrlich, es gab kein Nulato mehr, nur Asche, wo das große Fort gestanden hatte, und die Leichen vieler Männer. Ich sah, wie die Russen in vielen Booten vom Meer her den Yukon heraufkamen. Viele Russen waren es. Und ich sah, wie Iwan aus dem Versteck, in dem er gelegen, hervorkroch und mit ihnen sprach. Am nächsten Tag sah ich, wie Iwan sie auf die Fährte des Stammes führte. Auch jetzt sind sie auf der Fährte. Und ich bin hier, ich, Negore, aber ich bin kein Feigling.«
»Dies sind Worte, die ich höre«, sagte Oona. »Kamo-tah ist tot und kann nicht für dich Zeugnis ablegen. Ich weiß nur, was ich erfahren habe, und ich muss mit meinen eigenen Augen sehen, dass du kein Feigling bist.«
Negore machte eine ungeduldige Bewegung.
»Aber es lässt sich Rat schaffen«, fügte sie hinzu. »Bist du bereit, nicht weniger zu tun, als der alte Kinoos getan hat?«
Er nickte und wartete, was sie weiter sagen würde.
»Wie du gesagt hast, suchen sie uns auch jetzt, diese Russen. Zeige ihnen den Weg, Negore, so wie ihnen Kinoos den Weg gezeigt hat, so dass sie unvorbereitet dorthin kommen, wo wir sie erwarten werden: in eine Schlucht in den Bergen. Du kennst die Stelle, wo die Bergwände schroff und gezackt sind – dort werden wir sie alle vernichten, und auch Iwan. Wenn sie wie Fliegen an den Wänden kleben und dem Boden nicht näher sind als dem Gipfel, dann werden unsere Männer von oben und von allen Seiten mit Speeren und Bogen und Gewehren über sie herfallen. Und von den Gipfeln werden die Frauen und die Kinder große Felsblöcke losreißen und hinabschleudern. Es wird ein großer Tag sein, denn die Russen werden getötet, das Land wird gesäubert ... Und Iwan, auch Iwan, der meinem Vater die Augen raubte und der die Hundepeitsche auf dein Gesicht legte, wird sterben. Er wird getötet werden, wie man einen tollen Hund tötet, und sein Körper soll an den Felsen zerschellen. Aber wenn der Kampf beginnt, musst du daran denken, Negore, dass du dich heimlich hinwegschleichst, damit du nicht getötet wirst.«
»So wird es geschehen«, sagte er. »Negore wird ihnen den Weg zeigen. Und was dann?«
»Dann werde ich deine Frau werden, Negores Frau, die Squaw eines tapferen Mannes. Du sollst für mich und Kinoos auf die Jagd gehen, und ich werde das Essen für dich kochen und dir warme und starke Parkas nähen und dir Mokassins verfertigen, nach der Sitte meines eigenen Volkes, die besser ist als die deines Volkes. Und ich werde, wie ich dir sage, deine Frau werden für immer. Und ich will dir das Leben glücklich machen, so dass alle deine Tage ein Gesang und ein Lachen werden. Und du wirst erkennen, dass Oona anders ist als alle Frauen, denn sie ist weit gereist und hat in seltsamen Gegenden gewohnt. Sie kennt die Wege der Männer und weiß, wie man sie glücklich macht. Selbst in deinem Alter wird sie dich noch glücklich machen. Und wenn du an die Tage deiner Kraft zurückdenkst, wird die Erinnerung selbst voller Süße sein, denn du wirst erkennen, dass sie gut zu dir war und Glück und Friede und Ruhe bedeutete, und dass sie mehr als alle anderen Frauen für ihre Männer eine Frau für dich und deine Frau gewesen ist.«
»So wird es geschehen«, sagte Negore. Die Sehnsucht nach ihr fraß an seinem Herzen, und er streckte seine Arme so hungrig nach ihr aus, wie andere Männer ihre Hände nach dem Essen ausstrecken.
»Wenn du den Russen den Weg gezeigt hast, Negore«, rügte sie. Aber ihre Augen waren sanft und heiß, und er erkannte, dass sie ihn anblickte, wie noch keine Frau je getan.
»Es ist gut«, sagte er und wandte sich entschlossen von ihr ab. »Ich gehe jetzt, um alles mit den Häuptlingen zu verabreden, damit sie wissen, dass ich gegangen bin, den Russen den Weg zu zeigen.«
»O Negore, mein Mann! Mein Mann!« flüsterte sie bei sich, als sie ihn gehen sah. Aber sie sagte es so leise, dass nicht einmal der alte Kinoos es hörte. Und seine Ohren waren überscharf, weil er blind war.
*
Drei Tage darauf wurde Negore, der absichtlich sein Versteck schlecht gewählt hatte, wie eine Ratte hervorgezogen und vor Iwan gezerrt, vor »Iwan den Schrecklichen«, wie seine Männer ihn nannten, die hinter ihm hermarschierten. Negore war nur mit einem elenden Speer mit Knochenspitze bewaffnet, und er hüllte sich in seinen Kaninchenmantel. Obgleich es ein warmer Tag war, zitterte er wie Espenlaub. Zuerst schüttelte er den Kopf, als ob er die Sprache, in der Iwan ihn anredete, nicht verstünde, und deutete an, dass er sehr müde und krank sei. Und dass er nur den einen Wunsch hege, sich setzen und ausruhen zu dürfen. Immer wieder wies er auf seinen Magen, um zu zeigen, wo er krank wäre, und er zitterte schrecklich.
Aber Iwan führte einen Mann aus Pastolik mit sich, der die Sprache Negores redete. Viele Fragen über den Stamm wurden Negore gestellt, bis der Mann aus Pastolik, der Karduk hieß, sagte: »Iwan hat gesagt, dass du zu Tode gepeitscht wirst, wenn du nicht sprichst. Und wisse, fremder Bruder, wenn ich dir sage, dass Iwans Wort hier Gesetz ist, dann sage ich es als dein Freund und nicht als Freund Iwans. Denn ich bin nicht freiwillig von meinem Lande an der See hergezogen, aber ich hege den brennenden Wunsch, am Leben zu bleiben. Deshalb werde ich dem Willen meines Herrn gehorchen – so wie du gehorchen wirst, fremder Bruder, wenn du weise bist und am Leben bleiben willst.«
»Aber, fremder Bruder«, gab Negore ihm zur Antwort, »ich kenne wirklich nicht den Weg, den mein Volk gegangen ist, denn ich war krank, und sie flohen so schnell, dass die Beine unter mir versagten und ich stürzte.«
Negore wartete, während Karduk mit Iwan sprach. Dann bemerkte Negore, wie das Gesicht des Russen finster wurde, und er sah Männer kommen und sich neben ihn stellen, während sie die Riemen ihrer Peitschen knallen ließen. Worauf er große Furcht zeigte und laut schrie, dass er ein kranker Mann sei und nichts wissen, aber sagen wolle, was er wusste. Und mit solchem Erfolg sprach er, dass Iwan seinen Männern befahl zu marschieren. Zu beiden Seiten Negores gingen Männer mit Peitschen, damit er nicht weglief. Wenn er zeigte, dass er infolge seiner Krankheit schwach wurde, stolperte und nicht so schnell ging, wie die Männer gingen, schlugen sie ihn mit ihren Peitschen, bis er vor Schmerz laut aufschrie und neue Kräfte entfaltete. Und als Karduk ihm erzählte, dass alles wieder gut für ihn werden würde, wenn sie seinen Stamm überrumpelt hätten, fragte er: »Darf ich dann ruhen, ohne mich zu rühren?«
Immer wieder fragte er: »Darf ich dann ruhen, ohne mich zu rühren?« Doch während er sehr krank zu sein schien und sich mit matten Augen umschaute, prüfte er die Kampftüchtigkeit von Iwans Männern und stellte mit Befriedigung fest, dass Iwan in ihm nicht den Mann erkannte, den er vor den Toren des Forts geschlagen hatte. Es war eine seltsame Schar, die seine matten Augen sahen. Da waren slawische Jäger mit heller Haut und mächtigen Muskeln. Da waren auch sibirische Mischlinge, deren Nasen Adlerschnäbeln glichen. Und magere, schiefäugige Männer waren da, in deren Adern ebenso viel mongolisches und tatarisches wie slawisches Blut floss. Sie alle waren wilde Abenteurer, Plünderer und Zerstörer aus den fernen Ländern jenseits der Beringsee, die jetzt die neue Welt mit Feuer und Schwert versengten und gierig nach ihren Reichtümern an Pelzen und Häuten haschten. Negore betrachtete sie mit Befriedigung, und in seiner Phantasie sah er sie zermalmt und getötet in der Schlucht zwischen den Bergen. Und immerfort sah er vor sich das Gesicht und die Gestalt Oonas, die im Bergpass auf ihn wartete; immer hörte er ihre Stimme in seinen Ohren und fühlte den sanften, warmen Glanz ihrer Augen auf sich ruhen. Aber er vergaß nie, zu zittern oder zu stolpern, wenn der Boden uneben war, oder laut zu schreien bei dem schneidenden Schmerz der Peitschenschläge. Außerdem fürchtete er Karduk, denn er wusste, dass er kein richtiger Mann war. Sein Auge war falsch und seine Zunge gewandt ... Ja, es war eine Zunge, die seinem Urteil nach für ehrliche Rede zu gewandt schien.
Den ganzen Tag marschierten sie. Am nächsten Tag – als Karduk im Auftrag Iwans Fragen an ihn richtete – sagte er, dass sie tags darauf seinen Stamm erreichen würden. Aber Iwan hatte sich einst den Weg vom alten Kinoos zeigen lassen und dabei die Erfahrung gemacht, dass dieser Weg durch die weiße Brandung und durch einen tödlichen Kampf führte; also traute er keinem mehr. Als sie daher an einen Pass in den Bergen gelangten, ließ er seine Männer halt machen und fragte Negore durch Karduk, ob der Pass frei sei.
Negore warf einen kurzen, gleichgültigen Blick hinüber. Es war ein weiter, schräger Abhang, der sich in die steilen Wände der Bergseite hineinschnitt und so von Sträuchern und Kriechpflanzen überwuchert war, dass ein ganzes Dutzend Stämme sich gut dort hätte verbergen können.
Er schüttelte den Kopf. »Nein – dort ist nichts«, sagte er. »Der Weg ist frei.«
Wieder sprach Iwan mit Karduk, und Karduk sagte: »Wisse, fremder Bruder, wenn deine Rede nicht aufrichtig ist und wenn dein Volk den Weg versperrt und Iwan und seine Männer überfällt, so sollst du sterben, und zwar gleich.«
»Meine Rede ist aufrichtig«, sagte Negore. »Der Weg ist frei.«
Immer noch hegte Iwan Zweifel und befahl zwei seiner slawischen Jäger, allein hinaufzugehen. Zwei andern gab er Befehl, sich neben Negore zu stellen. Sie setzten ihm ihre Gewehrmündungen auf die Brust und warteten. Alle warteten. Und Negore wusste, wenn ein Pfeil geflogen kam oder wenn ein Speer geschleudert wurde, so traf der Tod ihn sofort. Die beiden slawischen Jäger kletterten mühsam hinauf und wurden immer kleiner. Als sie den Gipfel erreicht hatten und zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei, ihre Hüte schwenkten, glichen sie nur kleinen schwarzen Flecken am Himmel.
Die Gewehre wurden von der Brust Negores zurückgezogen, und Iwan befahl seinen Männern, vorzugehen. Er selbst ging stumm weiter, in tiefen Gedanken verloren. Als er eine Stunde marschiert war, sprach er, als ob er sehr unruhig wäre, durch den Mund Karduks zu Negore: »Wie konntest du wissen, dass der Weg frei war, wenn du nur so oberflächlich hinblickst?«
Negore dachte an die kleinen Vögel, die er zwischen den Steinen hatte sitzen sehen, und lächelte nur – es war ja so einfach. Aber er zuckte die Achseln und gab keine Antwort. Denn er dachte auch an einen anderen Pass in den Bergen, den sie sehr bald erreichen mussten, und wo die kleinen Vögel sicher alle verschwunden waren. Er war froh, dass Karduk vom großen Nebelmeer kam, wo es keine Bäume und keinen Streit gab und wo die Männer die Künste des Wassers und nicht die der Wälder lernten.
Drei Stunden später, als die Sonne gerade über ihren Häuptern stand, kamen sie wieder zu einem Pass, der sich durch die Felswände schlich.
Karduk sagte: »Sieh genau mit deinen Augen, fremder Bruder, und prüfe, ob der Weg frei ist, denn Iwan gedenkt diesmal nicht zu warten und einige Männer vorausgehen zu lassen.«
Negore blickte prüfend hin, und während er hinschaute, standen zwei Männer neben ihm. Ihre Gewehrmündungen ruhten auf seiner Brust. Er sah, dass die kleinen Vögel alle verschwunden waren, und einmal sah er sogar das Funkeln des Sonnenlichts auf einem Gewehrlauf. Und er dachte an Oona und an ihre Worte: »Wenn der Kampf beginnt, Negore, musst du dich in aller Stille fortschleichen, so dass du nicht getötet wirst.«
Er fühlte den Druck der beiden Gewehre gegen seine Brust. Es war nicht so, wie sie es sich gedacht hatte. Hier gab es kein stilles Fortschleichen. Er würde als erster sterben, wenn der Kampf begann. Aber er sagte – und er tat noch immer, als blickten seine Augen matt und als würde er vom Fieber seiner Krankheit geschüttelt: »Der Weg ist frei.«
Sie gingen weiter, Iwan und seine vierzig Männer aus den fernen Ländern jenseits der Beringsee. Da waren auch Karduk, der Mann aus Pastolik, und Negore, gegen den immer noch zwei Gewehrmündungen gerichtet waren. Es war ein langes Klettern, und sie kamen nur langsam vorwärts. Aber Negore schien es, als ob sie sich sehr schnell der Mitte des Weges näherten, wo der Gipfel ebenso weit entfernt wie der Boden war.
Ein Gewehrschuss knallte zwischen den Klippen rechts, und Negore hörte den Kriegsruf seines Stammes; einen Augenblick sah er, wie Sträucher und Felsen sich mit seinen Stammesgenossen belebten. Dann fühlte er, dass eine heiße Flamme durch seinen Körper barst und ihn zerriss. Und als er fiel, spürte er die bittere Qual des Lebensgeistes, der mit dem Fleisch kämpfte, um frei zu werden.
Aber er hielt sein Leben mit dem harten Griff des Geizhalses zurück und wollte es nicht schwinden lassen. Immer noch atmete er die Luft ein, die seine Lunge mit schmerzlicher Süße zerwühlte. Wie durch einen Nebel bemerkte er – von kurzen Pausen unterbrochen, in denen er blind und taub war – das plötzliche Aufblitzen von Lauten und Bildern und sah, wie die Leute Iwans über ihre Toten strauchelten und wie seine eigenen Brüder die Opfer zerfetzten, und hörte, wie sie die Luft mit ihren Rufen und dem Getöse ihrer Waffen erfüllten, während hoch oben Frauen und Kinder große Felsblöcke losrissen, die wie lebende Wesen heruntersprangen und donnernd in die Tiefe fielen.
Die Sonne tanzte über seinem Kopf am Himmel, die mächtigen Felswände schaukelten und schwankten, und noch immer hörte und sah er wie durch einen Nebel. Als der große Iwan, von einem herabstürzenden Felsblock zermalmt, über seine Beine fiel, dachte er an die blinden Augen Kinoos' und freute sich. Allmählich verstummte das Getöse, und die Bergwände gaben keinen Widerhall mehr, und er sah seine Stammesgenossen näher- und näherkriechen und dabei die Verwundeten mit den Speeren durchbohren. Ganz in seiner Nähe hörte er, wie ein mächtiger Sklave sich gegen den Tod wehrte und halb aufrecht kämpfte, bis er von den durstigen Speeren rückwärts und zu Boden gedrückt wurde.
Dann sah er das Gesicht Oonas über sich und fühlte, wie Oonas Arme ihn umschlangen. Einen Augenblick machte die Sonne halt am Himmel und blieb stehen, und die hohen Wände standen da, ohne zu wanken.
»Du bist ein tapferer Mann, Negore«, hörte er sie in sein Ohr flüstern. »Und du bist mein Mann, Negore.«
Und in diesem Augenblick lebte er das ganze Leben voll Glück, von dem sie ihm erzählt hatte, und hörte Lachen und Gesang. Als die Sonne am Himmel erlosch, wie es in seinem hohen Alter gewesen wäre, wusste er, dass die Erinnerung an Oona süß war. Als die Erinnerung verblich, und er von der großen Dunkelheit, die über ihn kam, verschlungen wurde, fühlte er in ihren Armen die Erfüllung der Seligkeit und der ganzen tiefen Ruhe, die sie ihm versprochen hatte. Als die schwarze Nacht ihn einhüllte, lag sein Kopf an ihrer Brust, und er merkte, wie ein großer Friede über ihn kam. Er empfand die Stille vieler Abende und die Seligkeit des Schweigens.