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Die Bruderschaft - Allein gegen die Mafia
ОглавлениеDer schwarze Mercedes fuhr in die Tiefgarage, und sein Fahrer lenkte die schwere Limousine in eine der vielen freien Parkbuchten. Der Fahrer, ein schweigsamer Usbeke namens Pjotre, drehte den Schlüssel, und der Motor erstarb. Er griff nach seiner Glock 18 und steckte sie in das Schulterholster, das unter dem dunkelblauen Jackett verborgen war. Auf dem Beifahrersitz nickte Sergey Illianow ihm zu, und die beiden stiegen aus. Sergeys stahlgrauer Anzug spannte über seinen prallen Oberarmen, und über seinen kahlrasierten Schädel verlief eine lange, hellrosane Narbe. Er war 1999 in Dagestan gewesen, hatte den Ausbruch des zweiten Tschetschenienkriegs erlebt, und dort hatte ein Streifschuss eines jungen, islamistischen Rebellen ihm dieses Souvenier verpasst. Er hatte den Jungen erschossen, bevor er gesehen hatte, dass der fast noch ein Kind war, vielleicht gerade mal ein Teenager. Damals, in einer ausgebombten Ruine, neben der Leiche seines Kameraden Dimitri, hatte er sich eines geschworen: Er würde nie wieder eine Marionette sein, die von den Mächtigen losgeschickt wurde, um die Drecksarbeit zu machen. Im Gegenteil, er wollte irgendwann einer der Mächtigen sein, die andere Leute losschickten, wenn es brenzlig wurde. Und jetzt, vierzehn Jahre später, im Alter von gerade einmal 35 Jahren, hatte er es geschafft. Er hatte eine kleine Armee unter sich, immerhin ein Dutzend treuer, skrupelloser Soldaten. Die meisten davon waren mit ihm gemeinsam in Tschetschenien gewesen, wie sein Fahrer und Bodyguard Pjotre. Und jetzt, nach fünf Jahren in Deutschland, schickten sie sich an, die Unterwelt von Düsseldorf zu erobern. In der dunklen Garage flackerte eine kümmerliche Leuchtstoffröhre, die es nicht schaffte, auch nur ein bisschen Licht in die Gänge zu zaubern. Stattdessen erschuf sie ein diffuses Gemisch aus Dunkelheit und Halbdunkel, das eigentlich nur aus Schatten bestand. Außer dem schwarzen SLK war nur noch ein anderes Auto in der Garage, ein Audi TT Cabrio. Daran gelehnt stand ein junger Mann, der eine Sonnenbrille trug. Sergey fragte sich, ob dieser Clown überhaupt etwas sehen konnte. Verdammte Kids, die versuchten, um jeden Preis cool zu sein, egal wie sehr sie sich lächerlich machten. Auch das bunte, golden glitzernde T-Shirt und die enge weiße Jeans ließen Sergey schnauben. Zuhause in Moskau verprügelte man Homosexuelle, und hier machte er Geschäfte mit ihnen. Verrückte Welt. Zum Glück würde die geschäftliche Beziehung mit dieser Tunte nicht allzu lange währen. Gemeinsam gingen sie auf den Jungen zu. „Guten Tag. Sie und ich, wir haben etwas zu besprechen?“ Sein Akzent war immer noch schwer und ausgeprägt. Er hatte aber auch nicht vor, das zu ändern. Schnell hatte er die Erfahrung gemacht, dass in seiner Branche ein starker, russischer Akzent etwas war, was seine Gegenüber zu beeindrucken schien. Seltsam. Der glitzernde Kerl streckte ihm die Hand entgegen. An seinen Fingern blitzten goldene und silberne Ringe.
„Ja. Hi, ich bin Kevin. Ich versorge die Diskotheken hier in der Stadt und ein paar in Köln mit Stoff. Ihr könnt gerne einsteigen in mein Geschäft.“ Die Hände locker vor dem Körper verschränkt, sah Sergey runter auf die Rechte, die ratlos in der Luft hing. „Okay, Kevin. Wir steigen nirgendwo ein, wir haben eigenes Geschäft. Aber wir nehmen ihnen Ware ab. Also, sie haben etwas für uns?“
„Naja, gut, dann nicht. Ja, habe ich. Gutes Zeug, das beste. Wartet eine Sekunde.“ Er ging um den Wagen herum und öffnete den kleinen Kofferraum des Cabrio. Im nächsten Moment kam er zurück, zwei graue Samsonite-Koffer in der Hand. Er wuchtete sie auf die Motorhaube des Mercedes‹. Mit einem Knirschen landeten sie auf dem Lack. Pjotre machte einen Schritt nach vorne, aber Sergey hielt ihn zurück.
„Еще нет!“ flüsterte er, und Kevin sah verwirrt zu ihnen herüber. „Sie zerkratzen unseren Lack!“ sagte Sergey. Dass das nicht die Übersetzung von dem war, was er Pjotre gesagt hatte, das musste der Dealer ja nicht wissen. „Ach so, das... Das tut mir leid“ stammelte er. Mit flinken Fingern gab er die Kombination an einem Koffer ein und ließ das Schloß aufschnappen. „Hier, bitte sehr. Zehn Kilo Kokain, direkt aus Amsterdam. So reinen Stoff finden sie hier nicht, den können sie locker strecken, und keiner beschwert sich.“ Er klang begeistert. Ein geborener Verkäufer, der in einem anderen Leben so vielleicht Fernseher oder Gebrauchtwagen hätte anbieten können. So brachte er halt Rauschgift an den Mann, seit er 18 Jahre alt war. „Sehr gut. Das nehmen wir!“ Sergey ließ sich von der Begeisterung nicht anstecken. Stattdessen nickte er nur leicht, und Pjotre griff nach den Koffern. „Was denn, was denn, sie wollen nichtmal probieren?“
Kevin klang ehrlich überrascht. „Was sollen wir probieren? Glauben sie, wir nehmen hier Drogen? Wir sind biznezmeni, wie man bei uns sagt, keine Junkies!“ Er nahm die beiden Koffer von Pjotre entgegen und drehte sich zu seinem Mercedes um. „Außerdem...“ Er wandte sich noch einmal zu Kevin um, und das Funkeln in Sergeys eisig blauen Augen würde das letzte sein, was der Junge jemals sehen würde, „würde es niemand wagen, uns über den Tisch zu ziehen! Niemand!“ Kevin hatte nicht bemerkt, das Pjotre seine Glock gezogen hatte. Er zielte auf einen Punkt genau zwischen den Gläsern der Sonnenbrille, und drückte ab. Das laute Bellen der Knarre erzeugte ein Echo in der leeren Tiefgarage, und das Mündungsfeuer warf wilde, abstrakte Schatten an die Wände. Als der tote Körper auf dem Boden aufschlug schoss Pjotre noch einmal, nur zur Sicherheit, diesmal genau in das rechte Glas der dunklen Brille. Mit einem Satz war er neben der Leiche, ging in die Hocke und griff in die Tasche der engen, weißen Jeans. Das Telefon des Jungen nahm er an sich, die Kohle ließ er stecken. Waren wahrscheinlich sowieso nur Peanuts. Dann eilte er um den Mercedes herum, sprang auf den Fahrersitz und startete den Motor. Mit quietschenden Reifen schoss der Wagen aus der Tiefgarage. Zurück blieb nur der Audi und daneben die Leiche eines jungen Mannes, der sich mit Leuten eingelassen hatte, mit denen man sich niemals einlassen sollte. Sergey hatte seinen Namen schon vergessen.
Der erste Arbeitstag in einer neuen Behörde war nie leicht. Kriminaloberkommissar David Krieger trug einen hellen Anzug aus leichten Leinen, und die Aktentasche in seiner Hand war eigentlich nur Requisite. Er hatte sich herausgeputzt, weil er dachte, dass die Zusammenkunft der neuen Arbeitsgruppe „Organisierte Kriminalität“ etwas Besonderes werden würde. Und weil er sich mit 28 Jahren selbst noch zu jung fühlte, um in einer eigens eingerichteten Arbeitsgruppe zu sitzen, hatte er sich Mühe gegeben, besonders kompetent auszusehen. Die Aktentasche war leer, bis auf eine Tageszeitung, die er noch schnell an einem Kiosk gekauft hatte. Aber so formell oder besonders sah es hier gar nicht aus. Stattdessen war in den Räumen des Polizeipräsidiums Düsseldorf ein Durcheinander, wie David es noch nie gesehen hatte. Techniker bauten Computer auf weiße Schreibtische, Sekretärinnen trugen Ordner und Mappen hin und her, und zwischen all dem Chaos versuchten ein paar Cops, sich in Ruhe zu unterhalten – ein unmögliches Unterfangen. David sprach einen der Anwesenden an.
„Hallo, ich bin KOK Krieger, und ich soll mich heute hier melden zur gemeinsamen Arbeitsgruppe ›Organisierte Kriminalität‹. Ist das hier das erste Koordinationstreffen?“
Der andere Polizist, etwa 50 Jahre alt, untersetzt und mit einem altmodisch karierten Anzug bekleidet, seufzte. „Ja, das ist es. Suchen sie sich nen Platz, nehmen sie sich eines der Namensschilder auf dem Tisch und hoffen sie, dass dieses Theater bald vorbei ist. Ich platze gleich vor Wut!“ Dann stürmte er davon, und David setzte sich auf den ersten Stuhl, der frei war. Dann beobachtete er das Durcheinander und musste lächeln. Irgendwie hatte dieses Theater was sympathisches.
Der Leiter der Einsatzgruppe, Kriminalrat Dieter Reuters, war lange Zeit beim BKA gewesen und hatte dort viele Erfahrungen mit der organisierten Kriminalität gesammelt. Die Russenmafia in Berlin, die Albaner in Hamburg, Rockerbanden im Ruhrgebiet, polnische Zuhälterbanden in München, er hatte gegen sie alle gekämpft.
Jetzt stand er am Kopf des Konferenztisches und sah in die Gesichter seiner neuen Mitarbeiter, den Mitgliedern der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe „Organisierte Kriminalität“. Er sah den Generalstaatsanwalt Steffen Siebert, ein erfahrener Kämpfer gegen das Verbrechen, er sah Polizisten aus lokalen Kripo-Stellen und der Bundespolizei, und er sah den Analytiker Kai Lorenzen, der bis vor ein paar Wochen beim Militärischen Abschirmdienst (MAD) gearbeitet hatte. Und er sah ein paar Sekretärinnen, die der Arbeitsgruppe permanent zur Verfügung gestellt wurden. „Meine Damen und Herren, ich begrüße sie zur ersten Besprechung der Arbeitsgruppe Organisierte Kriminalität. Wir werden in den nächsten Monaten, vielleicht Jahren, einen Kampf führen, den die Politik scheinbar verloren gegeben hat: Immer weniger Geld für Polizei und Staatsanwaltschaft, immer mehr Streichungen, während gleichzeitig das organisierte Verbrechen auf dem Vormarsch ist. Wir sind ein gemeinsames Projekt des LKA und der Kriminalpolizeibehörden in Düsseldorf, Köln und den großen Ruhrgebietsstädten Dortmund, Bochum, Essen und Gelsenkirchen.“ Er machte einen Schritt vom Tisch weg und deutete auf eine Stellwand, an der mit Reißzwecken ein großer Zettel befestigt war. „Unsere Ziele sind bandenmäßige Kriminalität in den folgenden Bereichen: Kapitalverbrechen jeder Art, Eigentumsdelikte, Fälschungskriminalität, Prostitution und alle begleitenden Verbrechen.“ Er lächelte bitter.
„Sie sehen also: Wir haben eine ganze Menge zu tun.“ Auch die anderen im Raum sahen grimmig in die Runde. Tatsächlich, ein scheinbar aussichtsloser Kampf...
Das „Paradise“ war ein kleiner Laden in der Seitenstraße eines Gewerbegebiets am Rand der Innenstadt. Der Name war eine maßlose Übertreibung, es war dunkel, eng, und die Zimmer waren lieblos eingerichtet, mit billigen Betten, geschmackloser Deko und großen Spiegeln an den Wänden, damit die Freier alles sehen konnten, was sie wollten, wenn es zur Sache ging. Im großen Hauptraum saßen etwa zehn Frauen verteilt auf roten Kunstledersesseln und warteten auf Kundschaft. Sie waren allesamt jung, auffällig geschminkt, in knappen Dessous, die mehr zeigten, als sie verdeckten und auf hochhackigen Schuhen, und sie alle kamen aus der ehemaligen Sowjetunion. Hinter der Theke stand einer von Sergeys Soldaten, ein großer, breit gebauter Russe namens Nikolai. Sein beeindruckend massiger Brustkorb steckte in einem engen schwarzen T-Shirt, und aus den Ärmeln ragten muskulöse, tätowierte Oberarme. An der Tür stand ebenfalls einer von Sergeys Handlangern, der aussah, als wäre er ein Klon von Nikolai, nur dass seine Haare nicht neun Millimeter lang waren, sondern nur drei. Und er hatte eine kleine Narbe über dem rechten Auge, die seine Braue teilte. Wachsam beobachtete er die Szenerie. Mit Ärger war nicht zu rechnen, es war kein einziger Kunde im Haus. Das würde erst später kommen, in ein, vielleicht zwei Stunden. Um diese Uhrzeit verirrte sich nur selten jemand ins „Paradise“.
Als es schließlich klopfte war er überrascht. Er warf einen Blick durch das kleine Guckloch in der schweren Tür, doch als er sah, wer geklopft hatte, öffnete er mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Es war zwar selten, aber manchmal benutzte der Chef den Haupteingang, wenn er Lust hatte, die Leute im Laden zu begrüßen.
„Sergey, Bruder, schön dich zu sehen.“ Sie gaben sich die Hand, und der Boss legte seinen Arm um die breiten Schultern des Türstehers. Sie waren keine Brüder, aber sie hatten gemeinsam im Krieg gekämpft, und auch nach der Entlassung aus dem Militärdienst hatten sie so viel durchgemacht, dass sie sich so nahe standen wie sonst nur Brüder. „Kolja, es ist auch schön, dich zu sehen. Alles ruhig hier?“ „Ja, wie immer.“ Sergey nickte. Hinter ihm trat Pjotre ein, und auch er gab dem Rausschmeißer die Hand. „Pjotre, amüsier dich ein bisschen. Ich bin oben im Büro. In einer Stunde kommt ein Mann, der mich sprechen will. Begleite ihn nach oben, ja?“ „Natürlich, Boss.“ Kolja verschränkte die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick wieder aufmerksam durch den Raum pendeln. Pjotre setzte sich zu einem der Mädchen, und Sergey musste lächeln. Ja, es lief alles so, wie er sich das vorgestellt hatte.
Die erste Einsatzbesprechung war genauso langweilig gewesen wie alle Besprechungen in allen Behörde der Welt, aber es war nichts gegen die Langeweile, die danach folgte: David Krieger saß zusammen mit einem Kollegen aus der Arbeitsgruppe vor einem Computer und klickte sich durch Fallakten um herauszufinden, ob einer der vielen tausend offenen Fällen in einem Zusammenhang zum organisierten Verbrechen stehen könnte. „Wie wäre es hiermit: Hinter der Kö‹, vor einem kleinen Wettbüro hat irgendwer letzte Woche einen Jugoslawen erschossen.“ David sah sich zu seinem Kollegen um. Christian Schmidt war ein Jahr jünger als er selbst, 27, und ebenfalls Kriminaloberkommissar. Er hatte sich auf diese Stelle beworben, weil seine Frau der Meinung war, er solle sich beruflich nach oben orientieren, und das hier klang nach „oben“. Also war er von der ständigen Mordkommission in Münster nach Düsseldorf gekommen.
„Ich weiß nicht“ sagte David. „Das kann auch genauso gut ein Streit zwischen frustrierten Zockern gewesen sein, der tödlich geendet ist.“ „Naja, haben wir was besseres?“ Schmidt sah ihn an. „Nein, du hast recht. Schreib es auf die Liste.“ Die „Liste“ bestand bis jetzt aus einem einzigen Fall. Und sie klickten sich jetzt schon seit zwei Stunden durch die Dateien. Den Kampf gegen das organisierte Verbrechen hatte sich David wirklich anders vorgestellt. Aber das Leben eines Bullen war eben nicht wie im Fernsehen...
Das Büro des „Paradise“ war der Ort, von dem Sergey Illianow seine Geschäfte tätigte. Er saß in seinem Stuhl hinter einem eindrucksvollen Mahagonischreibtisch und empfing Geschäftspartner, beriet sich mit Pjotre oder traf strategische Entscheidungen, um die Vormachtsstellung in Düsseldorfs Unterwelt zu erkämpfen. In dem großen Safe, der hinter dem großen, ledernen Bürostuhl stand, befanden sich jederzeit etwa 250.000 Euro. Offiziell waren das die Einnahmen aus dem „Paradise“ und ein paar anderen Läden, aber in Wirklichkeit war die Summe um einiges höher, als die legalen Läden in zwei Monaten erwirtschafteten. Es waren die Einnahmen aus den anderen Geschäften, aus Schutzgelderpressung, Überfällen, Rauschgifthandel und dem Verkauf gefälschter Markenartikel überall in der Stadt. Das Geld aus diesen illegalen Aktivitäten floss in das „Paradise“ und wurde von hier aus gewaschen. Frisierte Bücher und gefälschte Abrechnungen machten es möglich. „...dann sind wir uns ja einig. Noch etwas zu trinken?“ Er stand auf und griff nach der Flasche aus geschliffenem Kristallglas, die auf dem Schreibtisch stand. Er goß sich einen Wodka ein, teuren, den man trinken konnte wie Wasser. „Ja, gerne.“ Arkadiusz Bloch sah sich nervös um. Er hatte immer für jemanden wie Sergey Illianow arbeiten wollen, aber jetzt, wo er ihm gegenüber stand, war sich der junge Pole nicht mehr so sicher, ob er es wirklich konnte. Vor allem nicht das, was Sergey von ihm verlangte. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er griff nach dem Bündel Hunderter, das auf dem Tisch lag, und steckte es in die Seitentasche seiner Trainingsjacke. Der Boss reichte ihm das Glas, und sie stießen an. „Auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Weißt du, mein Freund, ich habe auch mal so angefangen wie du, klein, die Drecksarbeit machen.“ Sein Blick verschwamm, als er sich erinnerte. „Aber jetzt, jetzt bin ich reicher Mann. Du siehst, man kann auch in unserer Bruderschaft alles werden, was man will, wenn man sich nur anstrengt!“ Das konnte Arkadiusz nicht abstreiten. Er hatte schon Geschichten gehört darüber, wie sich Sergey nach oben gearbeitet hatte. Und genau das machte ihm Angst. Der Russe war skrupellos und eiskalt. Er leerte seinen Drink, dann verabschiedete er sich. Seine Knie zitterten noch, als er vor seinem alten Opel Astra stand. Morgen würde Arkadiusz Bloch seinen ersten Mord begehen.
„...haben wir eine Liste von 35 Verbrechen zusammengetragen, die wir auf Verbindungen zur organisierten Kriminalität untersuchen.“ David und Christian präsentierten die Ergebnisse ihres ersten Arbeitstags vor der Einsatzgruppe. „Besonders überrascht hat uns, dass wir nichts gefunden haben, was auf Verbindungen zum Rotlichtmilieu hindeutet. Und nur einer der Fälle hatte eine Verbindung zur Drogenszene.“ Christian zeigte mit dem Finger auf das Foto eines jungen Mannes, das er an die Stellwand gepinnt hatte: Kevin Streicher, 24 Jahre jung, vor zwei Wochen in einer Tiefgarage in Oberbilk erschossen. David fuhr fort:
„Dieser bedauernswerte junge Mann hat schonmal gesessen, ein Jahr für Handel mit Betäubungsmitteln. Vor 14 Tagen hat irgendwer ihm die Lichter ausgeblasen. An seinen Fingern fanden wir Spuren von Kokain, und in seiner Hosentasche 3500 Euro, ein massives Bündel 50er. Also offensichtlich kein Raubmord.“ Kriminalrat Reuters sah zufrieden aus. „Danke meine Herren.“ Er erhob sich, und David und Christian setzten sich an den Konferenztisch. „Dann haben wir doch einen Fall, mit dem wir anfangen können. Kevin...“ Er musste sich zur Stellwand umdrehen, um sich an den Nachnamen zu erinnern. „Kevin Streicher. Schmidt, Krieger, sie fahren los und finden raus, warum irgendwer diesen... Geschäftsmann aus dem Verkehr ziehen wollte. Herr Lorenzen wird weiter in den Akten nach Fällen suchen, die vielleicht etwas mit dem Mord an Streicher zu tun haben. Die Akten können sie sich vorne bei der netten Frau...“ Er kratzte sich am Kopf. Generalstaatsanwalt Siebert sprang ein. „Die Akten liegen vorne bei der Frau Baumeister, einer unserer liebreizenden Sekretärinnen.“
„Genau.“ Reuters übernahm wieder. „Danke sehr.“ Allgemeines Stühlerücken, der erste Arbeitstag war beendet. „Hey Christian, gehen wir noch raus auf ein Bier? Ich muss die Stadt kennen lernen, und wie könnte man das besser machen, als etwas um die Häuser zu ziehen?“ David zog sein Jackett an. Der Kragen seines Hemds kratzte ihn schon seit Stunden am Hals. Morgen würde er mit Jeans und T-Shirt zur Arbeit kommen. „Ich würde gerne, aber meine Frau wartet auf mich. Neue Wohnung, wir müssen noch einrichten, du kennst das bestimmt.“ „Kenne ich nicht, aber verstehe ich. Dann ein anderes Mal.“ Auf dem großen Parkplatz vor dem Präsidium trennten sich ihre Wege, und David stieg in seinen kleinen, blauen Mazda, das MX-5 Cabrio. Als er den Schlüssel im Schloss drehte sprang die Anlage an, und lauter Heavy Metal dröhnte aus den Boxen. Ein paar übereifrige Beamte, die auch nach Feierabend noch im Büro saßen, stürzten an die Fenster und sahen sich nach der Quelle des Lärms um, während er mit quietschenden Reifen den Parkplatz verließ.
Die Gasse hinter der kleinen Kneipe war dreckig und dunkel. Müllcontainer standen dicht an dicht, und der Abfall der Restaurants und Bars in der Straße stank höllisch. Arkadiusz drückte sich in die Schatten und hielt den Blick immer auf den Hintereingang der Kaschemme gerichtet, aus der irgendwann sein Opfer getorkelt kommen sollte. Er hatte die Hände in den Seitentaschen seiner Sportjacke, und seine Finger umschlossen den Griff der klobigen, schwarzen Knarre, die Sergeys Bodyguard ihm gegeben hatte. Er hatte ihm kurz die Handhabung erklärt und ihm dann noch einmal ins Gedächtnis gerufen, dass er sich besser nicht erwischen lassen sollte – und falls doch, dann sollte er vergessen, von wem er die Knarre hatte oder wer ihm den Auftrag gegeben hatte, den Wirt zu erschießen. Er zeigte ihm Polaroids, auf denen ein gefesselter Mann auf einem Stuhl saß, nackt, blutüberströmt. Da, wo einmal seine Genitalien gewesen waren, war jetzt nur noch eine riesige, hässliche, rotbraune Wunde. Mehr an Überzeugungskunst brauchte es nicht. Arkadiusz hatte genickt, die Knarre eingesteckt und war verschwunden. Jetzt stand er hier und wartete darauf, dass die Kneipe geschlossen wurde und der Wirt auftauchte. Der junge Pole hatte nicht gefragt, warum Sergey den Tod des Mannes wollte, und es war eigentlich auch egal. Er hatte sich den Russen als Handlanger angeboten, und sie waren auf sein Angebot eingegangen. Jetzt musste er die Sache durchziehen, sonst war er der Nächste, den man tot in einem Müllcontainer oder dem Kofferraum eines ausgebrannten Autos finden würde. Die Kälte stieg ihm in die Glieder, und er tänzelte auf der Stelle. Es war gleich Mitternacht, die anderen Läden in der Gegend hatten schon zu, es war Dienstag Nacht, da war nicht viel los. Endlich knipste jemand die kleine Lampe über der Hintertür an und erfüllte damit die Gasse mit einem dreckigen, gelben Leuchten. Die Metalltür wurde aufgestoßen, und ein kleiner Mann in einem verwaschenen Flanellhemd trug ein paar blaue Müllsäcke in der Hand. Das war seine Gelegenheit! Arkadiusz zog die Glock aus der Tasche. Er hielt sie jetzt in beiden Händen, wie Pjotre es ihm erklärt hatte, und zog den Abzug. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt, um den Rückstoß abzufangen, aber außer einem metallischen Klicken hörte er nichts. Die Sicherung! Verfluchte Hölle! Zum Glück hatte der Kerl mit den Mülltüten nichts gehört. Er stand mit dem Rücken zu seinem Mörder an einem der Müllcontainer und warf der Reihe nach die Tüten hinein. Schnell suchte der mit seinem Daumen nach dem kleinen Hebel rechts auf der Pistole. Er schob ihn nach unten und zog dann mit zittrigen Fingern den Abzug durch. Das Krachen war lauter, als er erwartet hatte, und vor Schreck krümmten sich seine Finger gleich ein zweites Mal. Jetzt erschien ihm der Schuss schon nicht mehr so laut, und er zielte auf den Körper, der langsam, an den Container gelehnt, zu Boden rutschte. Erschrocken stellte er fest, dass es ihm nichts ausmachte, dass er gerade einen Menschen umbrachte. Im Gegenteil, der Adrenalinrausch gefiel ihm. Er pumpte noch zwei weitere Kugeln in den Leib, der vor ihm lag, hilflos und blutig, dann steckte er die Pistole in die Tasche und drehte sich um. Der Kellner, der für seinen Chef den Müll rausgebracht hatte, starb, bevor sein Killer aus der Gasse verschwunden war. Als das Martinshorn von Polizei und Krankenwagen erklang war Arkadiusz schon wieder zuhause und kippte billigen Wodka in ein schmutziges Glas...
„Guten Morgen mein Freund.“ Trotz der Runde durch die Kneipen in seiner Gegend war David an diesem Morgen frisch und munter. Er hielt vor der kleinen Doppelhaushälfte, vor der Christian auf ihn wartete. „Schickes Auto.“ Sein neuer Partner ließ sich in die tiefen Sportsitze fallen. „Aber du hast offensichtlich keine Familie, stimmts?“ Er lächelte David an. „Wie kommst du darauf?“ „Weil du weder einen Kindersitz noch die Einkaufstüten einer Frau in diesem Junggesellenschlitten untergebracht kriegst.“ David drehte die Anlage auf. „Gut beobachtet, Partner.“ Jetzt lächelte auch er. „Tja, ich bin ein ziemlich guter Bulle.“ David trat das Gaspedal durch und sie machten sich auf den Weg zur Wohnung von Kevin Streicher, dem toten Drogendealer.
„Er hat den falschen erwischt?“ Sergey schlug mit der Faust auf den Tisch. Dann stieß er einen unaussprechlichen russischen Fluch aus und goss sich ein neues Glas Wodka ein. Sein Fahrer und Bodyguard hatte eine Morgenzeitung in der Hand. „Sieht so aus. Die Zeitung spricht von einem jungen Mann, und der Wirt ist älter.“
„Wie konnte dieser Idiot den falschen Kerl umlegen?“ Pjotre versuchte, seinen Boss zu beruhigen. „Da hat anscheinend ein Aushilfskellner den Müll rausgebracht, nicht der Wirt.“ Er stieß sich von der Stuhllehne ab, auf der er gesessen hatte. „Aber Sergey, sieh mal die positiven Seiten. Gibt es eine bessere Warnung? Wenn wir den richtigen erwischt hätten, dann hätte niemand mehr Schutzgeld zahlen können. Und glaub mir, der verkauft bestimmt keinen Stoff mehr außer dem Fusel in seinen Flaschen.“ Der grobschlächtige Kerl sah seinen Chef an, wie er nickte und in sein Glas blickte. Ja, sein Bodyguard hatte Recht.
„Trotzdem. Sag diesem Anfänger, dass gefälligst nur die Leute umgelegt werden, die wir umgelegt haben wollen. Verstanden?“ Pjotre knurrte eine Bestätigung auf russisch. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und rief Arkadiusz an. Er bestellte ihn in ein kleines Restaurant in der Nähe der Kö‹. Der Pole würde ihnen keine Probleme machen, dafür würde er schon sorgen. Leute zum Schweigen oder zum Gehorsam bringen war seine Spezialität gewesen, damals in Dagestan, später in Grosny, und auch noch heute in Deutschland. Grimmig lächelnd verließ er das „Paradise“ und fuhr zum vereinbarten Treffpunkt.
Die Wohnung des jungen Dealers gab nicht allzu viel her. Sie hatten kleine Päckchen mit weißen Pulver gefunden, einen kleinen Spiegel und weiße Linien darauf, daneben einen zusammengerollten 50er. Ansonsten war nichts zu finden. Ein Adressbuch oder sowas gab es nicht, natürlich nicht, heutzutage hatte jeder alles im Handy. Aber auch ein Telefon fanden sie nicht. Ungewöhnlich, gerade für einen Rauschgifthändler, der immer und überall für die Süchtigen erreichbar sein musste. Immerhin hatte man auch bei der Leiche kein Telefon gefunden. Rechnungen oder Unterlagen, die auf einen bestehenden Mobilfunkvertrag hinwiesen, suchten sie auch vergebens. David und Christian wollten gerade eine Pause einlegen und sich irgendwo einen Döner oder eine Pizza besorgen, als Davids Handy klingelte. Reuters‹ Stimme klang aus dem winzigen Lautsprecher oben über dem Display. „Krieger, Schmidt, ich habe etwas, das sie vielleicht interessieren würde. Ihr kleiner Kokshändler wurde mit einer 9mm Pistole erschossen, die Zugrillen auf den Geschossen aus seinem Kopf deuten auf eine Glock oder eine Heckler und Koch hin. Und jetzt das wirklich Interessante: Kugeln aus der selben Waffe hat heute Morgen die Rechtsmedizin aus einem toten Kellner gezogen, der in Friedrichstadt hinter einer schäbigen Kneipe umgenietet wurde. Wir gehen also davon aus, dass beide vom selben Täter erschossen wurde.“ David nickte. „Hat ein erster Backgroundcheck des Toten irgendwas ergeben?“
Bei OK-Fällen – also Fällen aus dem Bereich der organisierten Kriminalität – war nicht nur das Verbrechen an sich wichtig, sondern auch der Kontext, der große Zusammenhang. Jemand, der nur tötet, ist ein Mörder, aber kein OK. Aber jemand, der tötet, um den reibungslosen Ablauf eines großangelegten Betrugs zu sichern handelt im Kontext des organisierten Verbrechens. „Negativ, Krieger. Der Kellner war Anfang 20, Student, der zweimal in der Woche dort gearbeitet hat. Keine Vorstrafen, keine Feinde, soweit die Arbeitskollegen wissen. Die Mordkommission hat bis jetzt noch nichts rausgefunden über den Jungen. Interessant war dafür aber der Wirt der Kneipe, in der das Opfer gearbeitet hat: Wilfried Willmer, 52 Jahre alt, vorbestraft wegen Rauschgifthandels, Kokain, wie euer Kandidat. Außerdem das Übliche, was Wirte so haben. Ein paar Mal Körperverletzung, ergebnislos eingestellt, ein paar Bußgelder wegen Lärmbelästigung.“ „Interessant. Danke, Chef.“ Er notierte die Adresse des zweiten Toten und die Eckdaten von Willmer, dann unterbrach er die Verbindung. „Tja Christian, Neuigkeiten: Wir haben einen zweiten Toten, der mit der selben Waffe umgelegt wurde. Wenn wir hier nichts finden fahren wir direkt weiter.“ Sein Partner fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes, blondes Haar. „Scheint, als hätten wir mit unserer Vermutung recht gehabt: Die Sache mit dem Kokainhändler ist was Größeres.“
„Glaub mir, Sergey ist nicht wütend. Diesmal ist nichts schief gegangen. Aber du musst darauf achten, dass du Sachen richtig machst. Wir haben gesagt der Kerl ist über 50. Du hast einen Studenten erschossen. Mach die Augen auf, und denk ein bisschen nach, dann hast du keinen Ärger mit uns!“ Pjotre flüsterte nur, trotzdem hatte seine Stimme genug Nachdruck, um klarzumachen, dass es keinen Zweifel gab. Arkadiusz hatte Glück gehabt, mehr nicht. „Natürlich. Verstehe ich, ich habe einfach... Naja, es ist Mist passiert. Das tut mir leid.“ Mit einer Hand winkte der kantige Russe ab. Er griff in die Innentasche seiner Lederjacke und holte einen weißen Briefumschlag daraus hervor. „Vergiss es. Sowas passiert. Wir haben einen neuen Auftrag für dich. Wenn man bedenkt, dass es das falsche Ziel war, hast du gute Arbeit geleistet. Mach so weiter, dann bringst du es zu was...“ Arkadiusz brummte etwas unhörbares. Vor ein paar Tagen war er noch Feuer und Flamme gewesen, in einer Organisation wie der von Sergey und Pjotre aufzusteigen. Aber mittlerweile war er da gar nicht mehr so sicher. Ob er aus dieser Nummer jemals heile rauskommen würde? Er steckte den Briefumschlag ein, in dem wieder ein Bündel Geldscheine war. Pjotre stand auf und legte einen Zehner für den Kaffee auf den Tisch. Da war das Trinkgeld inklusive. „Komm mit, wir gehen noch ein paar Schritte, dann erkläre ich dir, wie es weiter geht...“ Ein paar Minuten später hatte der junge Pole seine neuen Anweisungen. Und jetzt war er endgültig sicher, dass dieses Leben nichts für ihn war. Wenn er nur nicht so tief drinstecken würde mittlerweile...
Auch die Wohnung des Kellners brachte sie nicht weiter, also fuhren sie als nächstes zum Wirt des „Sansi-Bar“. Von außen sah das Haus sauber und ordentlich aus, doch im Flur stand allerlei Gerümpel herum, eine alte Couch, ein kaputter Kinderwagen, ein Fahrrad ohne Reifen. Laut Klingelschild wohnte Wilfried Willms im zweiten Stock. Die Gerüche im Treppenhaus waren ein buntes Gemisch aus menschlichen Ausdünstungen und internationaler Küche. Vor der Tür auf der linken Seite im zweiten Stock blieben sie stehen. „Willst du?“ Christian sah David an. „Ist das erste Mal, das wir nen Verdächtigen besuchen.“
„Na gut.“ David wischte sich mit der Hand durch das Gesicht, um einen ernsthaften Ausdruck hervorzuzaubern. Die Rechte auf dem Griff der Walther P99 DAO im Hüftholster, klopfte er mit der linken Hand an die Tür. „Herr Wilms? Aufmachen, Polizei!“ Aus der Wohnung hörten sie ein Poltern. „Herr Wilms, bitte öffnen sie die Tür! Wir haben ein paar Fragen zu den Vorfällen von letzter Nacht. Das Poltern wurde lauter, als würde es näher kommen. Sie sahen einen Schatten, der den Türspion verdunkelte, dann ein leises Klicken. Ein Klicken, das jeder Polizist genau kennt. „Ach du Scheiße!“ rief David, und stieß Christian vor der Tür weg. In der nächsten Sekunde sprengten Schüsse Löcher in das Holz der Tür, einer, zwei, drei, vier, fünf. Dann wieder das Poltern, und das Splittern von Glas aus der Wohnung. Sie rissen beide ihre Dienstwaffen aus dem Holster und standen auf. „Dieser Dreckskerl wollte uns umlegen! Und jetzt verschwindet er wahrscheinlich aus dem Fenster!“ Sie bauten sich vor der Tür auf und sahen sich an. „Auf drei?“ David sah seinen Partner an. Gemeinsam zählten sie, und bei drei traten sie in das billige braune Holz der Wohnungstür. Krachend und splitternd sprang sie auf, und das Schloss fiel zu Boden. „Polizei! Keine Bewegung!“ Sie enterten die Wohnung, und aus einem kleinen Flur kamen sie direkt in ein unordentliches Wohnzimmer. Schäbige Möbel und ein alter Fernseher dominierten die Szenerie. Eine Glastür führte auf einen winzigen Balkon. Die Tür war nur noch ein leerer Rahmen, und der Boden davor war voller Glassplitter. Anscheinend hatte Wilfried Wilms sie zu heftig geöffnet. „Gesichert!“ rief Christian hinter ihm, und David rannte auf den Balkon. Zwei Meter unter ihm war das Wellblechdach einer kleinen Garage. Unten auf der Straße sah er einen mittelalten Mann, der um die Ecke humpelte. In einem letzten Versuch riss er seine Knarre hoch und rief noch einmal runter:
„Stehenbleiben! Polizei!“ Aber der Kneipenbesitzer hörte nicht auf ihn. „Hey David“ hörte er hinter sich Christians Stimme. „Kein Wunder, dass der abgehauen ist.“ Er hielt einen Beutel in die Luft. Einen Beutel voller Kokain...
„Der Junge hat seine neuen Befehle gekriegt. Und diesmal wird nichts schief gehen.“ Pjotre stieß mit dem Queue die weiße Kugel an, und die preschte in die pyramidenförmig angeordneten bunten Kugeln weiter vorne, die sich auf dem ganzen Tisch verteilten. „Ich bin stolz auf dich, Bruder. Hast du dafür gesorgt, das er die gleiche Waffe benutzt?“ Sergey beobachtete den Billardtisch. Im Hintergrund lief leise eine CD mit russischen Volksliedern. Der große Unterweltboss liebte diese Musik, die schwere Leier, die traurigen Stimmen, die melancholischen Lieder über Mütterchen Russland und das Vaterland, dem es zu dienen galt. „Ja, er hat die gleiche Waffe wie beim letzten Mal.“ Er zielte über den Daumen auf die gelbe Kugel mit der Nummer 1. „Also wird jeder ihm die Sache mit diesem kleinen Koksdealer in der Tiefgarage anhängen?“ Sergey klang zufrieden. Sie hatten dem Jungen klargemacht, dass es sich für ihn nicht lohnen würde, zu singen, falls die Bullen ihn greifen würden. Also konnten sie ihn genauso gut wegen ein paar Sachen hin hängen, die er gar nicht getan hatte. „Ich habe noch etwas, was ich dir erzählen wollte, aber ich bin bis jetzt nicht dazu gekommen, Boss.“ Er reichte den langen, dünnen Queue an seinen Chef weiter, der eine Kugel anvisierte, einmal ausatmete und routiniert zustieß. Die weiße Kunstharzkugel schoss über den grünen Filz, traf den halbroten Ball und versenkte ihn in der seitlichen Tasche. Zufrieden grunzte Sergey. „Was denn, Pjotre? Erzähl schon.“ Er beugte sich über den Tisch und suchte sich sein nächstes Ziel. „Also gut. Ich habe gestern mit unserem Kontakt bei der Polizei gesprochen. Ich habe ihm seinen Umschlag gegeben, und er meinte, es gibt hier in Düsseldorf eine neue Gruppe.“ Der Kahlkopf mit der langen Narbe drehte sich um, und der Stock verfehlte die weiße Kugel. Stattdessen riss er auf ein paar Zentimetern den Filz auf. „Eine neue Gruppe? Wie meinst du das? Sag es mir!“ Er warf den Holzstock auf den Tisch und griff nach einer Schachtel Zigaretten, die auf dem Rand des Tisches lag.
„Naja, er hat gesagt, da sind Bullen versammelt, aus verschiedenen Bereichen. Kripo, BKA, LKA. Die haben einen eigenen Staatsanwalt. Ist kleine Gruppe, die nur gegen Organisierte Kriminalität hier in Nordrhein-Westfalen vorgehen soll. Erst seit ein paar Tagen im Amt, und niemand im Präsidium weiß, was die machen.“
Sergey schnippte mit einem Finger den Deckel seines Benzinfeuerzeugs auf und zündete sich seine Zigarette an. „Soso, eine eigene Gruppe für organisierte Kriminalität, ja? Sag unserem Freund, wir verdoppeln seinen Bonus, wenn er rausfindet, was da abläuft.“ „Jawohl, Chef.“ Der massige Bodyguard kratzte sich am Kopf. „Und ich habe noch was: Die haben wohl auch schon einen ersten Haftbefehl. Und du wirst nie raten, für wen?“ Sein schiefer Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen, doch sein Boss wurde ungeduldig.
„Pjotre, das hier ist kein Fernsehquiz, jetzt sag es mir schon!“ „Na gut Chef. Für unseren Freund Wilms. Soll auf Polizisten geschossen haben, dann weggelaufen.“ Jetzt lachte er laut auf. Doch Sergey lachte nicht. „Sie suchen Wilms? Dann kann es sein, das sie auch uns suchen bald. Du weißt was das heißt, oder?“ Pjotre verstummte. Er wusste allerdings, was das hieß. Wilfried Wilms musste sterben. So war das eben in dieser Welt, wer eine Gefahr darstellte, der musste eliminiert werden. Sergey Illianow wäre niemals dort gewesen, wo er jetzt war, wenn er Gefahren ignoriert hätte. „Jawohl, Chef.“
„Schonmal auf dich geschossen worden?“ David winkte in Richtung des Barkeepers, und der nickte. Im nächsten Moment standen zwei neue Flaschen Bier vor den beiden Cops. „Nein. Ist das erste Mal. Und meine Frau wird das auch niemals erfahren, die lässt mich doch niemals zur Arbeit gehen. Am zweiten Tag fast erschossen worden... Wo gibt’s denn sowas?“ Sie stießen an, und beide tranken schweigend. Nach zwei Minuten sagte Krieger:
„War auch für mich das erste Mal. Und es war das erste Mal, das ich meine Waffe im Einsatz ziehen musste. Aber glaub mir, das wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Ich zieh lieber, als das ich erschossen werde.“ Die Flasche in beiden Händen haltend sah er gedankenverloren vor sich hin. „Vielleicht hast du recht. Aber ist das die Art, wie du Polizeiarbeit leisten willst?“ Christian klang besorgt. Er war Polizist geworden, weil sein Vater Polizist war, und davor auch dessen Vater. Der Polizeidienst war in seiner Familie Ehrensache. „Nein, aber was wir beide machen, das ist auch keine normale Polizeiarbeit. Wir sichern keine Unfallstellen, untersuchen keine Wohnungseinbrüche, und wir regeln nicht den Straßenverkehr. Wir kämpfen jeden Tag gegen den kriminellsten Abschaum der Stadt. Da gelten andere Regeln. Falls es überhaupt Regeln gibt.“ David leerte sein Bier und hob zwei Finger in Richtung des dunkelhaarigen Riesen hinter dem Tresen. „Verdammt. Du hast recht. Aber trotzdem...“ David unterbrach ihn. „Nichts trotzdem. Jeden Tag musst du dafür sorgen, dass du zu deiner Frau zurück nach Hause gehen kannst. Und ich muss dafür sorgen, dass du zu deiner Frau nach Hause gehen kannst. Und das hier...“ er tippte auf den Griff der P99, die er jetzt in einem Schulterholster trug, „ist das Einzige, was uns helfen kann. Die bösen Jungs denken nicht darüber nach, was richtig und was falsch ist. Im Zweifel schießen die...“ Christian saß auf dem Barhocker, die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt, und starrte stumm auf die Flasche Bier, die vor ihm stand. David trank den letzten Schluck seines Gerstensafts, stellte die leere Flasche auf die Theke und zog sich seine abgewetzte schwarze Lederjacke an. „Okay Partner, genug gejammert. Morgen müssen wir nach diesem Wilms suchen. Und wenn wir den finden wird er es bereuen, auf uns geschossen zu haben, das schwöre ich dir.“ Mit einem Achselzucken erhob sich der brave Ehemann. Der Gedanke daran, einen Kriminellen zu jagen, der vor ein paar Stunden noch auf ihn geschossen hatte, trieb das Adrenalin durch seinen Körper. Sein ganzes Leben lang hatte er versucht, sich anständig zu verhalten und niemandem Schaden zuzufügen. Aber der Gedanke, dass dieser schmierige Spelunkenwirt frei rumlief, entfachte den Killerinstinkt in ihm. Ja, Wilfried Wilms würde bereuen, dass er auf die beiden geschossen hatte.
Die beiden Samsonite-Koffer standen auf dem Tisch. Der Araber, der Sergey gegenüber saß, befeuchtete seinen Finger mit der Zunge, steckte ihn eines der zehn Päckchen in den Koffern, dann verteilte er das weiße Pulver auf seinem Zahnfleisch. Es wurde sofort taub, und er verdrehte zufrieden die Augen. Dann streichelte er seinen Kinnbart und rechnete im Kopf. „Ist guter Stoff. Kann ich geben 30.000 Euro pro Paket. Ich nehme alle zehn Pakete, Hälfte jetzt, Hälfte, wenn sie verkauft sind.“ Er suchte Sergeys Blick. Der schüttelte den Kopf. „30.000 Euro ist viel zuwenig. Du kannst das Kokain strecken, aus jedem Kilo kannst du mindestens 1,5 Kilo machen. Streck es mit Novocain und Milchpulver, dann merkt es keiner. Du kannst ein Vermögen damit machen. Also, 50.000 Euro pro Paket.“ Der Araber schnaubte.
„50.000 Euro, Allah, wie soll ich da noch Geld verdienen? Ich bin an einer langfristigen Geschäftsbeziehung mit euch interessiert, also mein Vorschlag: 35.000 Euro.“
„40.000. Halb und Halb. Du nimmst erst einmal ein Kilo, und wenn das weg ist kommst du wieder und sagst mir, ob du zufrieden bist oder nicht.“
Der Russe beobachtete den dicken Kerl, der eine riesige Silberkette über seinem weißen T-Shirt trug. Als der lächelte stand Sergey auf und reichte ihm die Hand. „Ibrahim, es ist mir eine Freude.“ Sie schüttelten die Hände, dann nahm der Araber eines der Päckchen und steckte es in eine der Taschen seines Mantels. Auch er stand jetzt auf. „Sergey, ich danke ihnen. Wenn ich das nächste Mal hier bin reden wir über eine andere Sache: Mädchen. Ich kenne Leute in Dubai, die osteuropäische Frauen haben wollen, und ich kenne Leute, die arabische Frauen nach Deutschland schleusen wollen. Vielleicht hätten sie ja Interesse daran, die Palette in ihren Clubs etwas zu erweitern?“ Sein Lächeln offenbarte zwei Reihen gelber Zähne. Ein schmieriger Zuhälter aus dem Orient, der als Oberhaupt seiner weitverzweigten Sippe deren Geschäfte leitete. Sergey verabscheute ihn. Er war kein aufrechter Biznezmen, wie man im neuen Russland sagte, sondern ein schleimiger Kleimkrimineller, der zufällig über viel Geld und Einfluss verfügte. Und das war der einzige Grund, warum sich der russische Mafiaboss mit diesem Halunken abgab. „Natürlich, Ibrahim. Ich bin immer daran interessiert, mein Geschäft auszuweiten. Pass auf dich auf.“ Das war ein ernstgemeinter Rat. Für den Araber würden schwere Zeiten heraufziehen, da war sich Sergey sicher.
Verschlafen saßen sie in ihrem kleinen Büro. David hatte mit den Polizeiwachen in der Stadt telefoniert um Druck zu machen bei der Fahndung nach Wilms. Er hatte überall die selbe Antwort bekommen: Wenn er auftauchte, tauchte er auf, wenn nicht, dann nicht. David hatte nicht den Eindruck, dass Zielfahndung die nötige Priorität bei den uniformierten Bullen hatte. Christian schnallte sich das Schulterholster um, steckte seine Walther ein und lehnte sich in seinem ungemütlichen Kunststoffstuhl zurück. „Sollen wir vielleicht selbst nach ihm suchen? Die Schupos scheinen nicht sonderlich hilfreich zu sein.“ Er faltete die Hände hinter dem Kopf und sah zur Decke. Er hatte seiner Frau wirklich nicht gesagt, dass auf sie geschossen worden war. Er hatte es nicht übers Herz gebracht. David griff wieder nach dem Telefonhörer.
„Von mir aus. Aber ich will die Akte haben. Wenn ich noch eine Minute länger auf den Bildschirm starren muss, dann schieße ich auf den Computer.“ Sein Finger tippte die Kurzwahl 2, und er landete im Büro der Sekretärinnen. „Ja, hallo, David Krieger. Ich bräuchte die Akte Wilms, Wilfried, in zweifacher Ausführung ausgedruckt. Danke sehr, Frau Baumeister.“ Er warf den Hörer auf die Gabel. „Hast du die Baumeister schon gesehen? Eine wirklich heiße Puppe. Vielleicht sollte ich mal mit der was trinken gehen.“ Ein breites Grinsen fuhr ihm ins Gesicht. Christian seufzte.
„Klar, warum nicht? Für mich ist das vorbei. Eines Tages wirst du das auch noch erleben.“ Sein Lächeln wirkte fast väterlich, obwohl David ein Jahr älter war als er. „Keine Ahnung. Wenn ich die richtige finde von mir aus. Bis dahin gebe ich mir einfach Mühe, zu suchen.“ Sein Lachen wurde vom Klopfen an der Tür unterbrochen, dann betrat Nina Baumeister das Zimmer. Sie trug ein enges rotes Kostüm und schwarze Pumps. Mit wenigen Schritten durchquerte sie den Raum, legte die beiden Akten vor David auf den Schreibtisch und lächelte ihn an. „Bitte sehr, ihre Akten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie wieder zur Tür. Die Hand schon auf der Klinke, drehte sie sich noch einmal um.
„Ach ja, Herr Krieger: Wir können gerne was trinken gehen. Aber nennen sie mich nicht ›heiße Puppe‹. So hat mein Großvater Frauen angebaggert. Wir leben im Jahr 2013. Überlegen sie sich was anderes, dann ziehe ich gerne mit ihnen los.“ Sie schmunzelte, und über den Rand ihrer schmalen Brille zwinkerte sie ihm zu. Mit offenem Mund saß David an seinem Schreibtisch. Christian hielt sich den Bauch vor Lachen, und es dauerte fast fünf Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Wilfried Wilms traute sich nicht, in ein Hotel zu gehen. Er hatte keinen Ausweis dabei. Der lag noch in seiner Wohnung, als die verdammten Bullen aufgetaucht waren. Das Koks hatte er auch zurücklassen müssen. Er besaß nichts, außer der Kleidung die er am Leib trug, den 700 Euro in seiner Hosentasche – und der 9mm Kanone, mit denen er seine Wohnungstür gelöchert hatte. Also konnte er sich nirgendwo ein Zimmer holen. Aber wohin dann? Die Polizei würde ihn bestimmt schon suchen. Seit den Schüssen in dem schäbigen Mietshaus waren fünf Stunden vergangen. Fünf Stunden, in denen Wilfried mehr geschwitzt hatte, als in den letzten fünf Jahren. In seinen Gedanken spielten sich immer wieder Möglichkeiten ab, wie es weitergehen könnte: Verhaftung, Selbstmord, sich freiwillig stellen, ein Leben auf der Flucht, wie ein gehetztes Tier... Er saß in einem kleinen Café in der Nähe des Hauptbahnhofs, einen großen Becher Kaffee vor sich, und schüttelte den Kopf. Aus Verzweiflung, aus Wut über sich selbst, und aus Angst. Wie sollte es jetzt weitergehen? Er konnte nicht zu seinem Bruder, der würde ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Mit seinem kriminellen älteren Bruder wollte der anständige Grundschullehrer nichts zu tun haben. In seiner Kneipe konnte er sich auch nicht verstecken, das war zu offensichtlich. Zu seiner Exfrau? Nein, da würden sie ihn auch suchen. Eigentlich blieb nur eine Möglichkeit. Aber die ließ ihn erst recht zittern. Er schluckte. Was sein musste, das musste eben sein.
Verdammte Hölle, er kramte in seinen Taschen herum. Ein paar Münzen erschienen in seiner Handfläche. Jetzt musste er nur noch eine Telefonzelle finden. Mit zittrigen Fingern ließ er einen Zehner auf die Tischplatte fallen und verließ das kleine Café. Zum Glück war er in der Nähe des Hauptbahnhofs, denn hier hingen immer noch ein paar Münztelefone, eine aussterbende Institution. Er warf einen Euro in den Schlitz und wählte die Nummer, die er auswendig kannte, seit er sie das erste Mal wählen musste. Es klingelte dreimal, dann hörte er die kalte, harte Stimme von Sergey Illianow. „Da?“ Manchmal verfiel der brutale Gangster noch in seine Muttersprache, ohne das ihm dies auffiel. „Ich... Ich bin’s, Wilfried. Sergey, ich brauche deine Hilfe“ stotterte der Flüchtende.
Der Russe nannte ihm eine Adresse in der Innenstadt, an der er sich in zwei Stunden einfinden sollte. Auf Sergey war nun mal Verlass. Jetzt musste er nur noch die zwei Stunden totschlagen, ohne verhaftet zu werden oder verrückt zu werden vor Angst...
Nadine Wilms hatte den Nachnamen ihres Exmannes behalten. In ihrer Wohnung war alles ausgeleuchtet von roten Lampen, und die Einrichtung bestand hauptsächlich aus Leopardenmustern, billigem Lederimitat und Postern von nackten Frauen. Sie machte sich keine Mühe zu verstecken, dass sie hier nicht nur wohnte, sondern gleichzeitig auch anschaffte. Sie trug ein eng geschnürrtes Korsett, das ihre Brüste fast bis unter ihr Kinn presste, einen engen Minirock und weiße Stiefel, die ihr bis an die Knie reichten. „Ich habe Willi seit 2 Jahren nicht gesehen. Das habe ich ihnen doch schon gesagt.“ Sie blies einen Rauchkringel zwischen ihren Lippen hervor, und David bemerkte, dass ihre Lippen knallrot geschminkt waren wie die eines Clowns. „Frau Wilms, diesmal suchen wir ihren Willi nicht wegen ein bisschen Schnee oder einer Prügelei in seiner kleinen Spelunke. Der Typ hatte fast ein halbes Kilo Koks im Wohnzimmer, und er hat auf uns geschossen, nachdem wir uns als Polizisten zu erkennen gegeben haben!“ Laut und scharf ließ Christian die Hure wissen, dass dies nicht die Art von Besuch war, die sie sonst von Männern bekam. Jetzt schaltete David sich ein:
„Und wenn wir mitbekommen, dass du ihn hier oder woanders versteckst oder ihm sonstwie hilfst, dann sorge ich persönlich dafür, dass du in die ganze Sache mit reingezogen wirst. Mithilfe, Verschleierung, dann steckst du mitten drin im organisierten Verbrechen. Eine kleine Nummer zwar nur, aber weißt du wen es am härtesten trifft?“ Er fletschte böse seine Zähne. „Genau, die kleinen Fische. Und wenn das Gewerbeaufsichtsamt mitbekommt, dass du hier hurst, dann wird das sicher auch nicht billig.“ Er sah sich um. Christian sprang ihm zur Seite. „Ich bin kein Experte, aber das hier ist eine reine Wohngegend, hier einem Gewerbe nachzugehen... Deinem Gewerbe... Das wird teuer.“ Jetzt duzte auch Christian die Frau, die schon nicht mehr so selbstsicher aussah wie noch vor zwei Minuten. Organisiertes Verbrechen? Was hatte sie mit organisiertem Verbrechen zu tun? Sie schluckte. „Und wenn wir mit dir durch sind, dann geht es ab in den Frauenknast. Und glaub mir, der Frauenknast aus dem Fernsehen war nur ein Ferienlager im Vergleich zu dem, in den wir dich stecken werden. Mit Lebenslänglichen und Sicherungsverwahrten. Die freuen sich auf Frischfleisch wie dich.“ Davids Ansprache war völlig übertrieben, aber das wusste die Nutte nicht, und so, wie sie ihn ansah, hatte sie den beabsichtigten Erfolg. Auf dem Weg hierher hatte er überlegt, wie er eine Frau wohl verhören könnte, ohne wirklich aggressiv zu werden ihr gegenüber. Eine Frau hart anpacken und ausquetschen? Das fand er dann doch irgendwie falsch. „Also gut Schwester, letzte Chance! Wo ist dein Macker? Oder schaffst du mittlerweile für nen anderen an? Dann bist du vielleicht die nächste, auf die er schießt...“ Diese Prophezeiung ließ er ein paar Momente im Raum schweben. Mit brüchiger Stimme flüsterte sie: „Ich weiß wirklich nicht, wo Willie ist. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, er ist doch nur noch unterwegs, arbeiten.“ Ein Schluchzen unterbrach sie kurz, dann fuhr sie fort. „Er arbeitet jetzt für einen neuen Boss, und von seiner Kneipe aus verkauft er Kokain. Er nimmt auch selber Drogen, und seitdem dreht er völlig ab.“ Tränen liefen über ihren Wangen, und ihr Makeup verschmierte wie nach einem Regenschauer. „Ich möchte nur, dass meinem Willie nichts passiert. Der neue Boss ist wohl eine große Nummer, und vielleicht ist er da in was reingeraten...“ David warf etwas ein:
„Reingeraten? Dein Willie hat auf uns geschossen, durch eine geschlossene Tür. Das ist Vorsatz. Dafür geht der ein paar Jahre weg. Und Polizistenmörder oder Leute, die es versucht haben, behandeln die Wärter gerne besonders mies. Wir müssen denen nur erzählen, warum Willie sitzt...“ Es war Zeit für den guten Bullen. Christian zückte eine Karte und legte sie vor Nadine Wilms auf den altmodischen Wohnzimmertisch mit dem gefälschten Fliesenmuster. „Frau Wilms. Wir möchten ihnen doch helfen. Ihnen und Willie.“ Während Christian sprach sprang David auf und lief zum Fenster, rastlos, als könnte er nicht mehr still sitzen. Sein Gesicht spiegelte Wut wieder, rasende Wut. „Wollen sie etwa, dass mein Kollege Willie erwischt? Wenn sie etwas von ihm hören, dann überreden sie ihm, sich zu stellen. Oder rufen sie diese Nummer hier an.“ Er deutete auf seine Handynummer auf der Karte. „Ich werde dann alles tun, um Willie zu helfen.“ Auch er erhob sich nun. „Aber wenn sie ihm helfen und ihn verstecken, dann sind sie geliefert, und das wollen wir doch alle nicht...“ David gab ihm ein Zeichen, und der treusorgende, liebevolle Ehemann legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Frau Wilms... Wenn sie etwas hören... Tun sie das richtige, ja? Bitte...“ Gemeinsam verschwanden sie aus der Wohnung. Sie ließen Nadine Wilms zurück, die mit zitternden Fingern eine neue Kippe aus der Schachtel kramte und leise und einsam vor sich hin schluchzte. Willie, flüsterte sie zu sich selbst, Willie, pass bitte auf dich auf. Stell dich. Wenn dich der große Cop mit der Lederjacke und dem Schulterholster erwischt, dann erschießt er dich... Stell dich einfach... Bitte, Willie... Vor der Tür klopfte David seinem Partner auf die Schulter. „Gute Arbeit, guter Bulle. Die wird es nicht wagen, uns was zu verschweigen. Sobald die was erfährt erfahren wir es, das schwöre ich dir!“ Er lachte. „Tja, böser Bulle, ohne dich hätte ich das nie geschafft. Nach deinem Auftritt war es ja sehr leicht, wie der gute Bulle zu wirken, der ihr nur helfen will.“ David drehte den Schlüssel im Schloss, und der Motor des japanischen Cabrios heulte auf. „Wir sind wirklich ein super Team, Chris...“ Er lenkte den MX-8 um eine Ecke und bog auf die Umgehungsstraße ein, um wieder in die City und zum Präsidium zu kommen.
Die Adresse, die Sergey ihm gegeben hatte, war sicherlich nicht die beste der Stadt. Die Müllcontainer quollen über, die Haustür, vor der er stand, war aus den Angeln gehebelt, und den Gestank des Treppenhauses bekam er schon von draußen durch die offene Tür mit. Aber eine andere Wahl hatte er nicht. Er war sicher schon in der Fahndung ausgeschrieben, und ohne Ausweis oder andere Papiere konnte er sich kein Hotel nehmen. Er lehnte sich gegen das gesplitterte Holz und betrat einen Flur, in dem es aussah, als wäre eine Bombe im Haus explodiert: Müll, Werbung für 10 Haushalte, Essensreste, Zigarettenkippen, alles lag bunt verstreut auf dem Boden. An den Wänden waren mit einem dicken schwarzen Filzschreiber allerhand Parolen und Sprüche gekritzelt, die meisten in miserablem Deutsch.
Auf den Stufen der Treppe sah er gebrauchte Einwegspritzen, abgebrannte Streichhölzer, getrockneten Auswurf und andere, undefinierbare Flecken. Im dritten Stock ging er rechts in einen Flur, der von einer nackten, flackernden Glühbirne mehr schlecht als recht beleuchtet wurde. Er musste seine Augen fest zusammenkneifen, um im diffusen Halbdunkel die Zahlen an den Wohnungstüren erkennen zu können. 303, 305, 307. Hier musste es sein. Vor der Wohnung lag eine Fußmatte, die im Gegensatz zu allem anderen in diesem Haus sauber und neu war. „Willkommen“ stand darauf, in bunter, verschnörkelter Schrift. Wilfried Wilms ging in die Knie, hob die Matte an, und darunter lag ein kleiner, silberner Schlüssel. Tatsächlich, es war alles, wie Sergey gesagt hatte. Trotz ihrer geschäftlichen Differenzen in letzter Zeit konnte man sich doch auf ihn verlassen, wenn es brenzlig wurde. Der mittlerweile ehemalige Wirt nahm den Schlüssel und schloss die Wohnungstür auf. Er sah drei Türen, zwei davon geschlossen, eine dritte, die in ein kleines Wohnzimmer führte, stand weit offen. Er betrat den Raum, der mit ein paar billigen Möbeln vom Sperrmüll ausgestattet war. Nicht das Ritz Carlton, aber für eine absolute Notlösung völlig in Ordnung. Und er hatte einen Fernseher. Was konnte er mehr verlangen? Er ließ sich auf den abgewetzten Sessel fallen und entspannte sich. Plötzlich tauchte hinter ihm Arkadiusz auf, der sich im kleinen, engen Badezimmer der Wohnung versteckt und auf Wilms gewartet hatte. Er schlich sich nahe an sein Opfer heran, hob die Glock und drückte ab. Zwei Schüsse peitschten kurz hintereinander durch den Raum und schlugen im Hinterkopf des ahnungslosen Mannes ein, der sich gerade zum ersten Mal wieder sicher gefühlt hatte. Noch bevor er auf den gläsernen Wohnzimmertisch kippte war er tot, und zügig, aber ohne zu rennen, verließ Arkadiusz das Haus. Erst eine Straße weiter fiel ihm auf, das er die Pistole noch in der Hand hielt, so nervös war er gewesen. Ein sichernder Blick in jede Richtung, dann steckte er die Knarre hinten in seinen Hosenbund, zog seinen Pullover darüber und machte sich auf den Weg zur Straßenbahn. Er brauchte jetzt seine Ruhe. Wodka, und seine Ruhe...
Die Morgenbesprechung der Arbeitsgruppe „Organisierte Kriminalität“ begann diesmal anders, als die bisherigen. Anstatt mit einem Nicken und einem gemurmelten „Guten Morgen“ schoss Dieter Reuters direkt in den Raum, mit hochrotem Kopf und einem Gesichtsausdruck, als wäre gerade sein treuer Golden Retriever „Charlie“ vor seinen Augen überfahren worden. „Hinsetzen!“ blaffte er, und mit erstaunten Gesichtern kamen die anderen Leute am Tisch dieser Aufforderung nach. Sie warfen sich verstohlene Blicke zu, aber keiner konnte sich erklären, warum der Chef so sauer war. Aber gleich darauf würden sie es erfahren. „Das hier habe ich gerade aus der Lokalredaktion der größten deutschen Boulevardzeitung zugefaxt bekommen.“ Er warf ein paar Zettel auf den Tisch, die bunt mit Schlagzeilen bedruckt waren. Die größte und auffälligste lautete „Rüpelpolizisten bedrängen harmlose Witwe: ›Warum tun sie das?‹“, daneben Fotos einer verheulten Nadine Wilms. Aber von dem Nuttenlook von vorgestern war nichts mehr zu sehen, stattdessen hatte irgendwer sie in schicke, modische Klamotten gesteckt. Sogar ihr Haar war nachgefärbt worden. Hatte dieses Klatschblatt etwa die Wilms neu gestylt, um zu einem Schlag gegen das Präsidium ausholen zu können? Die Zettel machten die Runde. Staatsanwalt Siebert schüttelte nur den Kopf, Kai Lorenzen konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Nur David und Christian wurden wütend. „Chef, die Alte weiß irgendwas. Die hat noch Kontakt zu Wilms. Und überhaupt: ›Rüpelpolizisten‹... Klar waren wir nicht immer sanft, aber das hier ist Verleumdung.“ Christian warf die Zettel zurück auf den Tisch. Erst ein paar Sekunden später fiel David etwas auf. „Warum eigentlich Witwe? Seit wann ist die ne Witwe?“ Er sah Reuters an. „Tja, kommen wir zum nächsten großen Haufen, den jemand auf unseren Kopf abgeseilt hat.“ Er griff noch einmal in seine Aktenmappe und erneut flogen ein paar Zettel in die Mitte des Konferenztisches. „Unser Verdächtiger Wilfried Wilms wurde gestern Abend mit zwei Einschüssen in seinem fetten Schädel in einer Sozialbauhütte im Westen der Stadt gefunden. Verdächtige bis jetzt Fehlanzeige, ebenso Zeugen. In der Wohnung wurden Fingerabdrücke von 49 verschiedenen Personen gefunden. Bis jetzt, die Kollegen von der Spurensicherung arbeiten noch.“ „So wird aus den Ermittlungen zum versuchten Mord gegen Wilfried Wilms die Ermittlung zum Tötungsdelikt zum Nachteil Wilfried Wilms... Verrückt.“ „So verrückt ist das gar nicht.“ Dr. Lorenzen schaltete sich ein. Der Analytiker des Teams hatte sofort Schlüsse gezogen, Verbindungen gesehen, nach Zusammenhängen gesucht. Er schob seine kleine, runde Brille wieder hoch auf seine Nase, und warf einen Blick in die Runde. „Eigentlich ist es sogar höchst logisch. Wilms hat mit Drogen gehandelt. Wissen wir durch seine einschlägigen Vorstrafen und die Drogenfunde in seiner Wohnung, Kokain und Utensilien zum Handel mit Rauschgift. Zentrale der Geschäfte des Herrn Wilms war wahrscheinlich seine Kneipe, hinter der vor ein paar Tagen der Kellner erschossen wurde. Eine Warnung, oder vielleicht ein fehlgeschlagener Anschlag auf Wilms selbst? Anstatt sich ruhig auf dem Revier befragen zu lassen, hat er das Feuer auf die Kollegen Krieger und Schmidt eröffnet, wahrscheinlich war er hochgradig paranoid.“ Wieder ein Blick in die Runde. Die anderen lauschten gebannt den Ausführungen des Psychiaters, der nach seinem Studium in Hamburg lange als Therapeut und Berater der Polizei in Hannover tätig gewesen war. „Das der Mord an Kevin Streicher und die Ermordung des Angestellten von Wilms zusammenhängen wissen wir, weil die Tatwaffe identisch war. Auch Streicher war im Kokainhandel tätig, und seinem Mörder war das Bargeld, dass der Tote mit sich führte, egal.“ Sie alle erinnerten sich. Klar, der tote Dealer hatte ein kleines Vermögen in der Tasche gehabt, und es ließ sich kein Grund finden, warum jemanden den Aushilfskellner der „Sansi-Bar“ ermorden sollte. Es sei denn, Wilms war das eigentliche Ziel.“ Siebert lehnte sich nach vorne und faltete seine Hände auf dem Tisch. Allen war klar, was das bedeutete, aber er sprach es als erster aus.
„Wir haben es also mit Revierkämpfen auf dem Drogenmarkt zu tun. Revierkämpfen, die eine ungeahnte Brutalität entfalten“ Reuters stand auf, und ging ein paar Schritte auf und ab. „Okay, ich denke, sie wissen was zu tun ist: Finden sie den oder die Mörder von Wilms und den anderen, dann finden wir vielleicht auch raus, wer dahinter steckt.“ Jetzt erhoben sich auch die anderen. Bevor sie gehen wollten hielt der Chef sie noch einmal kurz auf. „Krieger, Schmidt, benehmen sie sich! Wir sind hier nicht in Amerika! Polizeiarbeit in Deutschland läuft sauber und nach Vorschrift, haben wir uns verstanden?“ Er musterte die beiden, und sie murmelten eine Zustimmung, die beide nur halb ernst meinten. Dann drehten sie sich um und verschwanden. Sie hörten noch, wie Reuters Siebert aufhielt. „Herr Siebert, wir haben heute noch einen Termin mit dem Innenminister...“ Verdammte Hölle. Wenn sogar der Innenminister sich schon einschaltete, dann standen sie ab jetzt wirklich im Fokus der Aufmerksamkeit. Es mussten also Erfolge her. So schnell wie möglich.
Arkadiusz saß zuhause vor dem Fernseher, und trank bereits sein fünftes Glas Wodka, aber das Zittern seiner Finger wollte einfach nicht nachlassen. Die Anspannung war von ihm abgefallen, nachdem er die Waffe eingesteckt hatte, aber sie war einer undefinierbaren Angst gewichen. Aber wovor? Vor der Polizei? Vor Sergey? Vor dem, was er getan hatte, seit er sich den Russen angedient hatte?
Seine Mutter hatte ihm oft erzählt, von dem kleinen Dorf in der Nähe von Kattowitz, in dem sie aufgewachsen war. Sie hatte ihren einzigen Sohn katholisch erzogen, einen gläubigen, anständigen Christen aus ihm gemacht. Aber dann war sie gestorben, da war er gerade dreizehn Jahre alt. Und weil weder in Deutschland noch in Polen lebende Verwandte aufgetrieben werden konnten, wurde er in ein Heim für Waisenkinder gesteckt. Er wurde nicht adoptiert, er war zu alt. Eltern, die ein Kind adoptieren wollen, wollen keine Dreizehnjährigen. Sie wollen Babys, die sie noch formen können. Also blieb er in dem Heim, bis er 18 war. Mittlerweile war er kein anständiger, gläubiger Christ mehr, sondern hatte mit ein paar anderen Jungs aus dem Heim schon eine Menge kleinerer Dinger gedreht: Diebstähle, Schlägereien, er hatte ein paar Mal Gras an ein paar andere Teenager verkauft. Und als er endlich rauskonnte aus dem Heim, da bezahlte das Sozialamt ihm eine kleine Wohnung. In der ersten Nacht in der eigenen Wohnung war ihm langweilig. Er fühlte sich einsam. Er war es nicht gewohnt, allein zu sein. Also ging er raus, und schlug mit einem Stein die Seitenscheibe eines Mercedes‹ ein, schraubte die Verkleidung des Armaturenbretts unten rechts vom Lenkrad ab und fummelte ein bisschen mit den Drähten rum, bis Funken sprühten und der Motor stotternd ansprang. Er fuhr die ganze Nacht durch die Gegend, bis ihm an einer roten Ampel das Benzin ausging. Dummerweise kam genau in diesem Moment ein Polizeiwagen um die Ecke, und sie nahmen ihn fest. Bis zur Verhandlung dauerte es ein paar Wochen, dann wurde er zum ersten Mal in seinem Leben rechtskräftig verurteilt: Bewährung, zwei Jahre, als Auflagen gemeinnützige Arbeit. Er hielt sich nicht daran, ging nicht zur gemeinnützigen Arbeit, baute wieder Mist, und bald saß er in der JVA Mettmann, für zwei Jahre und vier Monate. Natürlich wurde es dann im Bau nicht besser. Sein Weg war vorherbestimmt, und er blieb ein Kleinkrimineller, als er aus Mettmann rauskam. Doch erst jetzt hatte er wirklich einen Karrieresprung gemacht. Tatsächlich hatte er sogar zwölftausend Euro verdient, seit er für Sergey Leute ermordete. In gerade einmal einer Woche! Ehrfürchtig sah er auf die Scheine, die in kleinen Stapeln vor ihm auf dem Tisch lagen. Aber er hatte einfach ein unheimlich schlechtes Gefühl bei der Sache. Er hatte nur ein einziges Problem: Er konnte nicht mehr raus aus dem Job mit Sergey. Das war nicht die Art von Arbeit, bei der man schriftlich kündigen konnte. Er füllte das Glas erneut mit der klaren Flüssigkeit aus der Flasche mit dem blauen Etikett. Er saß vor fast 12.000 Euro in bar, und er war einfach nur ängstlich und unsicher. Das Leben eines Gangsters war die Hölle, das wusste er jetzt.
„Wow, es muss absolut schrecklich sein, beschossen zu werden!“ Sie strich über seinen Arm, und David schnaufte leise. Er war mit Nina in einer kleinen Bar, die große Cocktails servierte, und in der leise Smooth Jazz im Hintergrund lief. „Ja, schön war das nicht.“ Er wunderte sich ein bisschen darüber, dass der Tod des verfluchten Spelunkenwirts, der ihn hatte töten wollen, nicht mit Genugtuung erfüllte. Im Gegenteil, er fühlte sich leer. Sie wussten mittlerweile, dass die beiden Kugeln aus dem hässlichen Schädel von Wilms aus der selben Waffe abgefeuert worden waren wie die, mit der der Rauschgifthändler Kevin und der Kellner Daniel erschossen wurden. Jeder Polizist der Welt wusste, welcher Schluss daraus zu ziehen war: Eine Waffe hieß ein Täter. „Ich finde es jedenfalls toll, das dir nichts passiert ist.“ Nina kam immer näher. Sie waren von der Arbeit nicht direkt zusammen los, sondern sie wollte vorher noch einmal nach Hause und sich umziehen. Dieser Zwischenstopp hatte sich gelohnt, denn aus der hübschen Sekretärin war eine umwerfend schöne, verführerische Frau geworden, die in ihren hochhackigen Schuhen, dem kurzen Rock und der engen Bluse soviel Sexappeal ausstrahlte, dass David zuerst wirklich nervös geworden war. Ihr dezentes Make-Up, das sie im Büro trug, hatte sie mit Lidschatten und einem auffälligen schwarzen Strich auf den Augenlidern ergänzt. Und jetzt war sie ihm ganz nah, berührte ihn, und er konnte ihr Parüm riechen, ein schwerer, süßlicher Duft. „Oh ja, ich auch. Aber jeden Tag brauche ich das nicht. Ich glaube es war das erste Mal, dass ich mich nach einem normalen Schreibtischjob gesehnt habe.“ David nahm einen Schluck von seinem Whiskey, und Nina kicherte. Sie hielt ihm ihr Glas hin, und sie stießen an. „Auf uns“ flüsterte sie, und ihre Augen funkelten ihn an. „Auf uns“ antwortete David, und er war sich nicht sicher, ob es richtig war, was hier passierte. Immerhin arbeiteten sie zusammen, und Liebschaften am Arbeitsplatz konnten problematisch werden, wenn etwas schief ging. Keine Frage, er hatte wirklich Lust auf sie, eigentlich seit dem ersten Tag, an dem er sie gesehen hatte, und so wie sie jetzt ganz nah bei ihm saß konnte er an nichts anderes denken als daran, wie sie wohl schmecken würde, wie sich ihre Haut anfühlen würde, wie sie wohl stöhnen würde. Aber er wusste auch, dass dieser Job genau das war, was er immer gewollt hatte, und zum Hauptthema des Kantinenklatsches im Präsidium zu werden würde seinen Stand bei Reuters sicher nicht verbessern. Ninas Hand riss ihn aus seinen Gedanken. Sie streichelte über die Innenseite seines Oberschenkels, und der Jeansstoff scheuerte leicht in seinem Schritt. Neckisch schlug sie die Augen auf und kam mit ihren Lippen ganz nah an sein Ohr. „Also, Superbulle, weißt du, was in diesem Fall die richtige Frage ist?“ Ich schluckte. Die richtige Frage? Was für eine Frage denn? Sie wartete keine Antwort ab, sondern hauchte verführerisch:
„Komm schon, das weißt du. Zu dir oder zu mir?“
Im schwarzen Mercedes SLK fuhren sie durch die Stadt, Sergey hinten auf der Rückbank, am Steuer Pjotre. Es war still im Auto, bis auf das leise Rauschen der Klimaanlage, dem Geräusch der Reifen, die über den nassen Asphalt rollten und einem leisen Brummen vom leistungsstarken Motor, der die schwere Limousine durch die Nacht zog.
Sergey betrachtete die Häuser, die Geschäfte, die Wagen und die großen Reklametafeln. Er hatte nur eine kleine Armee, aber diese bestand aus kampfgestählten, hartgesottenen Kerlen, die alles tun würden für ihn und für den Erfolg. Er hatte eigentlich keinen Grund, mitzukommen auf diese Tour. Pjotre hätte das Schutzgeld auch gut mit jemand anderem einsammeln können, mit Simon oder Kolja zum Beispiel. Aber Sergey war, obwohl er mittlerweile der Boss war, manchmal erfüllt von einem Drang, Schulter an Schulter mit seinen Soldaten auf der Straße zu stehen und das Geld einzutreiben. Pjotre zog den Wagen auf den Parkplatz einer kleinen Spielhalle und drehte den Motor ab. Sie stiegen aus, und Sergey straffte seine Schultern. Ein Adrenalinschub schoss durch seinen Körper, und er zupfte die Ärmel seiner italienischen Lederjacke zurecht. In der Spielhölle dudelten in drei Räumen bunte, grelle Automaten, doch die beiden großen, starken Russen ignorierten sie und liefen durch bis zu einem Tresen, hinter dem ein junges Mädchen stand. „Wo ist der Geschäftsführer?“ fragte Pjotre, und er legte noch mehr Wut und Schärfe in seine Stimme als normalerweise. Augenblicklich begann das Mädchen am ganzen Körper zu zittern. „Er ist hinten im Büro, aber... Ich darf Gäste da nicht durchlassen. Soll ich ihn holen?“ Trotz ihrer Angst wirkte sie gewillt, die Regeln durchzusetzen. Sergeys Bodyguard ignorierte sie, griff hinter die Theke und legte einen Riegel um, so das eine Klappe im Tresen aufschwang. Jetzt konnten sie den Kassenbereich betreten. Die kleine Kassiererin trat ihnen beherzt in den Weg, aber mit einem einzigen gezielten Schlag in ihren Magen brach Pjotre endgültig jeden Widerstand. Wimmernd und weinend brach sie zusammen und versuchte, nicht ohnmächtig zu werden. An der Tür hing ein Schild „Privat! Eintritt verboten!“, aber auch darauf achtete der Muskelprotz in den schwarzen Klamotten nicht. Er stieß die Tür auf und lächelte, als der Geschäftsführer ängstlich aus seinem Stuhl aufsprang. Er war etwa vierzig Jahre alt, schlank, und sein weißes Hemd hing an seinem Körper, als wäre es ein paar Nummern zu groß für seinen Träger. Vor ihm auf dem Schreibtisch ratterte eine Geldzählmaschine, die mit wahnwitziger Geschwindigkeit Scheine sortierte und zählte. „Guten Tag, Herr Dornheim. Ich denke sie wissen, warum wir hier sind...“ Diesmal war Pjotre betont freundlich, aber es war eine ironische Freundlichkeit, die furchteinflößend wirkte. „Bitte, bitte, tun sie mir nichts, ich will doch bezahlen.“ „Wenn du bezahlen willst, warum lässt du uns dann warten als wären wir Idioten?“ Mit drei großen Schritten war er bei dem Spargeltarzan, und scheinbar mühelos packte er ihn am Kragen und hob ihn hoch. „Versuch nicht, uns zu verarschen, verstanden?“
Krachend warf er Dornfeld gegen die Wand und schickte sofort eine Faust hinterher, die den verängstigten Kerl genau unter dem rechten Auge traf. Schmerzerfüllt stöhnte er auf, dann jammerte er los:
„Bitte, geben sie mir eine Woche, sie verlangen viel zu viel von mir! Ich kann das nicht alles auf einmal zahlen, verstehen sie doch...“ Ob Pjotre verstand oder nicht, das konnte Dornfeld nicht sehen. Es spielte auch keine Rolle. Mit der Rechten griff er in die Lade der Geldzählmaschine, in der die Scheine lagen, die bereits gezählt und sortiert waren. Er nahm sie, steckte das große Bündel in die Innentasche seiner Jacke, trat noch einmal nach Dornfeld und ging dann in Richtung Tür, ohne sein Opfer noch eines Blickes zu würdigen. Er verließ das Zimmer und durchquerte die Spielhalle.
Sergey stand immer noch in der Tür des Büros und betrachtete Dornfeld. Er hatte die ganze Zeit über kein Wort gesagt, geschweige denn seine Hände schmutzig machen müssen. Ein kaltes Lächeln fuhr durch sein Gesicht, dann folgte er seinem Bodyguard nach draußen und stieg in den Fond des Mercedes. „Jetzt weiter zur Bar ›Glasnost‹. Und Pjotre?“ Der Bodyguard und Fahrer suchte im Rückspiegel die Augen seines Chefs. „Ja Boss?“ „Gute Arbeit!“
Mit einem stolzen Funkeln in den Augen drückte Pjotre das Gaspedal durch, und der Motor heulte auf, als sie in Richtung der russischen Bar fuhren.