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1. Die Skulptur

Für die Skulptur stellt sich vor allem als Fördernis im Vergleich mit den Heiligtümern anderer Nationen und Religionen der griechische Tempel in seiner Eigenschaft als Haus und Träger der Bilderwelt ein34. Das schönste denkbare Zusammenwirken von Architektur und Skulptur zeigen die Giebelgruppen. Gern wüßten wir, wie lange am Tempelgiebel Malerei und Relief mit der Freiskulptur konkurriert haben. Als diese siegreich war und als erlauchtes Thema den Hauptmythus des betreffenden Heiligtums darstellen durfte, da schuf sie im Ägineten-, im Parthenongiebel usw. jene Wunderwerke der Komposition und der Lichtwirkung, in denen sie die beiden Hälften in schön aufgehobener Symmetrie sich das Gleichgewicht halten und, unter sich gleichwertig, nach einem herrschenden Mittelpunkt ansteigen ließ. Und dazu kamen, als Teile der Tempelarchitektur, noch der äußere und der innere Fries, die der Grieche nach ihrem plastischen Bilderschmuck Figurenträger (zoporoi) nannte, es kamen dazu die Metopen und die Akroterien, die, wenn bei den Griechen auch noch maßvoll gehalten, doch mit Palmetten, Greifen und andern Göttertieren, Niken oder Moiren ausgestattet sind.

Die Vorhalle und die übrigen Hallen waren mit Anathemen im weitesten Sinne oft ganz angefüllt, von der Freigruppe bis zur bloßen erbeuteten Waffe, besonders dem Schilde. Hier standen Statuen der Tempelgottheit selbst, ihrer Nebengottheiten, ihrer Priester und Priesterinnen, auch der Stifter und der Heroen des Ortes, außerdem aber auch Throne, Klinen, Leuchter, Tische, Dreifüße, Altäre, Urkundenstelen und Andenken aller Art.

Auch im Innern, dem durch eine Dachöffnung wird haben Licht zugeführt werden können, da die Öffnung der Tempelpforten für die Beleuchtung nicht würde genügt haben, befand sich eine Menge von Anathemen. Es waren Statuen der mitwohnenden Götter (teoi synnaoi), bisweilen der ganzen mythischen oder allegorischen Verwandtschaft der Tempelgottheit, die gemeinsam oder allmählich hingestiftet waren, besonders aber solche dieser Tempelgottheit selbst aus verschiedenen Zeiten, vom Xoanon abwärts, und unter ihren verschiedenen Beinamen (epiklhseis)35, wodurch die Kunst den Vorteil hatte, eine und dieselbe Göttergestalt in verschiedenen Auffassungen darstellen zu können; auch Bildnisstatuen fehlten nicht. Die Hauptsache aber war das Tempelbild, das sich auf einem gleichfalls oft reich geschmückten Piedestal (batron), meist frei umgehbar und nur selten an die Tempelwand angelehnt, erhob. Diese freie und isolierte Aufstellung des Hauptbildes, das man weder durch eine Nische mit der Architektur des Tempel in Verbindung brachte, noch als Relief aus derselben hervortreten ließ, ist für die Entwicklung der griechischen Kunst von hohem Wert. Mit ihr gehörte die Hauptaufgabe der Freiskulptur. Man halte damit zusammen, wie die ägyptische Skulptur wesentlich am Bau klebt; selbst wo die Statuen getrennt von Wänden und Pfeilern sitzen, fühlt man doch, daß sie noch dazu gehören, und ohnehin ist ihre Stellung noch so, daß sie wie Bauteile wirken. Auch die christliche Freiskulptur hat sich mühsam vom Altarschrein und von den Bauteilen (Portalen usw.) losarbeiten müssen. Bei den Griechen dagegen ist die Verbindung der Skulptur mit dem Bau, auch wo sie vorkommt, eine gutwillige. Mehrmals ist das Kultbild von zwei begleitenden Gottheiten umgeben – besonders Praxiteles liebte die Trinitäten, – so daß Demeter mit Kore und Iakchos, Apoll mit Artemis und Leto, Zeus mit Hera und Athene, Athene mit Asklepios und Hygieia dargestellt war36 – zu geschweigen der in kleinem Maßstab beigegebenen Figuren des Bildhauers, der Tempeldienerinnen, siegreicher Feldherren usw. zu Füßen des Hauptbildes, was alles natürlich je nach Größe und Stoff des Bildes sehr verschieden war.

In der Umgebung des Tempels standen im Freien der oft sehr reich mit Reliefs geschmückte Brandopferaltar und die übrigen Altäre, und überhaupt war der ganze Tempelhof (peribolos) mit seinen Propyläen, Stoen, Nebengebäuden, Nebentempeln verwandter Gottheiten und der Tempelgottheit mit speziellen Beinamen37 eine Stätte für weitere Kunstwerke aller Art. Hier waren Gemäldehallen, sog. Leschen – auch in den Tempeln befanden sich übrigens hingestiftete Tafelbilder –, mythische Gräber, Statuen – selbst reihen-und alleenweise – von Göttern, Heroen, Helden, Staatsmännern, berühmten Frauen, Wettsiegern, auch Tierbilder und Gruppen auf Lang- oder Halbkreispiedestal, dies alles im Maßstab gleichfalls sehr verschieden, und dann etwa noch ein Koloß der Tempelgottheit, wie die Promachos der athenischen Akropolis, – und dazwischen sah man heilige Pflanzen, Quellen und Tempeltiere, die sich frei ergingen.

Verließ man das große Heiligtum, um in die Stadt hinunterzugehen, so fand man auch hier überall kleinere Tempel (oikhmata, sacella) und geschlossene Bezirke (temenh) von Heroen; die Hauptstätte der Skulptur und Malerei aber war die Agora mit den sie rings umgebenden oder in ihrer Nähe befindlichen Stoen, welche oft wieder der Zugang zu Tempeln und anderen öffentlichen Gebäuden waren. Voll von Skulpturen waren auch Theater, Stadien und Gymnasien, und vor der Stadt kamen die Gräberstraßen mit ihren Monumenten vom Cippus (sthlh) an mit der Palmette, welche gleichsam die Bekränzung des Grabes mit Blumen monumental verewigte, bis zum reichen Grabrelief und zum zierlichen Sacellum. Götterbilder befanden sich in den Quellenheiligtümern und Grotten, und heilige Haine mit einem Tempel als Zentrum waren oft reich mit Statuen angefüllt38; von dem Reichtum an Skulpturen vollends, der an den großen Agonalstätten mit ihren Athletenstatuen, Tethrippen, Siegergruppen usw. vorhanden war, machen wir uns kaum einen Begriff. Es war "ein zweites Volk" in Erz und Marmor da39, und es ist, als hätte diese Kunst unendlich vieles hervorbringen müssen, damit noch beim Anblick der Reste die Nachwelt über den Reichtum der Nation und über den ernsten monumentalen Willen staune, den sie mit diesem Aufwande verband.

Für das Phänomen nun, daß in dieser Kunst der ideale Stil verhältnismäßig leicht die Oberhand gewann, wollen wir zwar nicht die innersten Gründe definieren, einige äußere Fördernisse aber sind hier zu betrachten. Vor allem war sie eine religiöse und somit, wie jede religiöse Kunst, auch z.B. die ägyptische, eine dem vollen Realismus abgewandte, mindestens auf das Konstante angewiesene. Ihre nächste Aufgabe war die Götterbildung. Diese war sehr früh möglich, insofern sie in der Phantasie des Volkes schon vorhanden war. Am frühsten ist sie vielleicht in den Inselsteinen und ähnlichen Gebilden jener ältesten Kunst nachweisbar, wo die einzelnen göttlichen Wesen noch mit Tierteilen auftreten; aber auch sonst war das Bedürfnis nach Verbildlichung der Götter gewiß früh allgemein, und dazu war der Drang nach ihrer Vergegenwärtigung vorhanden, welche zugleich eine Huldigung an sie war. Ihren allerersten Ausgang aber mag die Übung der Götterbildung in uralter Zeit beim häuslichen Herde genommen haben. Hier hatte man zuerst die Toten begraben und verehrt und daneben vielleicht von Anfang an die Herdflamme (estia); als Konsequenz des Polytheismus mochten sich dann allmählich, je nach dem Bedürfnis der Anrufung und der Erinnerung an geleistete Hilfe, auch als Erbschaft von Verwandten, eine Anzahl kleiner Götterfiguren an dieser Stelle zusammenfinden. Außerdem aber war auch das Grab ein Ort, wohin Götterfigurinen – allerdings neben Genrefiguren, Tierbildnissen usw. – gestiftet wurden.

Freilich ist es nun sehr merkwürdig, daß der griechische Mythus, wenn wir vom Palladion, den dädalischen und wenigen andern Götterbildungen absehen, von dem vielen vorhandenen Bildwerk gar keinen Gebrauch macht, so wie auch vom Tempel, als deutlichem baulichen Lokal nicht oft die Rede ist. Homer in dem vermutlich doch schon bilderreichen IX. Jahrhundert spricht von keinem Bild; die Götter selber erscheinen bei ihm noch. Aber unabhängig von allem Mythus scheint die Sitte des Bilderstiftens im Volke bestanden zu haben, und nun ist wichtig und entscheidend, daß das Anathem seiner Natur nach auf beständige Wiederholung der Bilder einer und derselben Gottheit hindrängte, von der man Hilfe wünschte oder genoß, und dies vom kleinsten Tierbildchen des Armen an bis zu den Stiftungen reicher Poleis. Indem sich nun in den Tempeln und ringsum durch beständiges Hinstiften eine Masse von Bildern der betreffenden Tempelgottheit aufsammelte40, mußte sich notwendig eine Verschönerung und Veredelung des Typus derselben ergeben. Bei dem in allen griechischen Dingen wirksamen Agon war auch hier der Wettstreit eine gegebene Sache, zumal unter den frühen und mächtigen Tyrannien; auch das vielleicht rasche Steigen des Maßstabes bis ins Kolossale und daneben die naive Vorliebe für kostbare Stoffe wird uns bei den großen und reichen Stiftungen nicht wundern dürfen.

Für die Entwicklung der Idealformen aber war es weiterhin entscheidend, daß das Banner nicht die Malerei, sondern die Skulptur führte, welche genötigt ist, alles innerhalb der einen menschlichen Gestalt abzuschließen und sich fast rein auf die Form zu beschränken. Der einzige und natürliche Ausdruck des Geistes ist hier der menschliche Leib, und nun bewähren denn auch die Griechen ein rastloses und endlos reiches Bemühen, alles Geistige: Götter, Menschen, abstrakte Eigenschaften, Örtlichkeiten, Naturereignisse usw., in tausend menschlichen Bildungen darzustellen.

Nicht in der Skulptur allein freilich, sondern in jeder Gattung und von jeher41 mußte die Darstellung, damit das Geistige als solches spreche, vom bloß Zufälligen, von der gemeinen Wirklichkeit, welche jenes Leben nur verhüllt, individuell gebrochen zur Erscheinung bringt, absehen und die hundert Nebensachen, welche es überwuchern, weglassen. Die Skulptur aber insbesondere ist als solche zu weit größerer Vereinfachung der Form genötigt als die Malerei. In dieser ist die Illusion erlaubt, ja sie kann ein hohes Wirkungsmittel sein, in der Skulptur dagegen niemals. Hier macht sich vielmehr alle genaue und peinliche Verfolgung des körperlichen Details, z.B. etwa eine völlig naturalistische Bemalung, störend und widrig, und in diesem Sinne ist die Skulptur die wesentlich idealistische Kunst, während die Malerei durch Licht und Hintergrund und Fülle der Beziehungen eine ganz andere Gesamtrechnung hat; Rembrandt kann bei durchgehender Häßlichkeit der Formen einen idealen Gesamteindruck machen.

Bei all diesem Streben nach Abstreifung des Nebensächlichen wäre nun doch unter andern Umständen vielleicht nur eine ziemlich tote Verallgemeinerung der Form erreicht worden; allein hiervor wurden die Griechen durch andere Faktoren geschützt. Vor allem muß der Wunsch, sich die Götter zu vergegenwärtigen, ganz anderer Art gewesen sein als in dem knechtischen Orient, und zwar vor allem viel freier von allem Müssen. Besonders stark wirkte hier der Umstand, daß die Poesie schon vorher so mächtig auf die Herrlichkeit der Erscheinung der Götter hingewiesen hatte; auch wären diese, wie die Aöden sie schauten, schon bei weitem vielartiger gewesen als die orientalischen, selbst wenn sie nicht schöner gewesen wären, und in ihrem Gefolge kamen noch alle halbgöttlichen Wesen, die Allegorien, die dienenden Gottheiten (teoi propoloi) und alle Gestalten der heroischen Welt. Man mochte es vielleicht einmal kaum mehr erwarten können; eine unendlich reiche und herrliche Welt drängte sich hier ins Dasein.

Da man ferner vom Wüst-Symbolischen frei und rein auf die Menschengestalt angewiesen war, konnte man von Anfang an fest auf die Natur bauen und tat es auch, wie gerade die frühesten erhaltenen Reste durch ihren anatomischen Naturalismus lehren. Die Götter sind ideale Menschen42. Von höchster Bedeutung war es hier für die Kunst, daß sich die Ausbildung der Göttertypen in ihr erst vollzog, nachdem sich in der religiösen und poetischen Anschauung die ganze Einzelbedeutung der Götter längst zu Individualitäten ausgeglichen hatte und die frühere Naturbedeutung und sonstige ursprüngliche Bedeutung bis auf einen leisen Nachklang verschwunden war. Die Kunst konnte hier völlig frei schaffen und beschränkte und vereinfachte Trachten und Attribute immer mehr, ließ aber dafür den Charakter walten. Hier ist der Leib alles; was dagegen z.B. die Ägis der Pallas eigentlich ist, das begehrt die Skulptur kaum selber zu wissen, geschweige uns zu sagen.

Außer in der Einzelform aber suchte man die Wahrheit noch anderswo, nämlich in der Lebendigkeit in Haltung und Gebärde, und auch in dieser war man nicht durch heilige, traditionelle Gesten gehemmt, wie die Künstler des Orients. Diese mit allen Mitteln erstrebte Lebensfähigkeit geht der Idealität voraus, als gründlicher Bruch mit dem Konventionellen. Zuerst äußert sie sich in der Bewegung der Arme und Füße, welche früh anders als bei den Orientalen ist, und hier wird das entscheidende Faktum nicht sowohl die Darstellung des Geschehenden durch einen Erzähler sein – denn diesen Vorteil hätten die Orientalen auch haben können –, sondern das frühe Athletenbilden. Bei diesem war man auf die Form, weil und wie sie lebendig ist, angewiesen, und diese Übung – ein Unikum in der ganzen alten Welt – muß der Starrheit auch der alten Göttertypen ein Ende gemacht haben43.

Höchst bezeichnend ist hier, daß der Kopf am längsten konventionell und, nach unsern Begriffen, unschön und unlieblich bleibt44. Während schon die ganze Gestalt der höchsten Vollendung und in ihrer Vielheit dem größten Reichtum und der schönsten Komposition nahe ist, behauptet sich in ihm noch ein gutes Stück Typus und dabei das starre Lächeln, welches bei den Vorgängern offenbar als Andeutung des Lebens als solchen passiert hatte.

Zu der oben erwähnten Beschränkung der Attribute und Trachten gehört auch die Zurückdeutung der Götter in ein jugendliches Alter, die schon früher und in sehr bezeichnender Weise versucht wurde. So sah Pausanias45 schon von Ageladas (um 500 v. Chr.) einen ehernen Zeus als Knaben und einen ebenfalls noch bartlosen Herakles, und Herklisken als Anatheme in Olympia gab es offenbar schon aus guter Zeit46.

Hervorzuheben ist auch, daß das Nebeneinander einer Menge von Statuen einer und derselben Gottheit47, das wir oben (S. 16 f.) als so wichtig für die Veredelung der Götterbildungen erkannt haben, bei den Griechen nicht etwa wie bei den Ägyptern zur Identität führte48, sondern dazu, daß dieselbe Gottheit entsprechend den verschiedenen Stiftungen in verschiedener Größe, verschiedenem Stoffe und einer ganzen Fülle von Stellungen, Gebärden, Bekleidungen, Altersstufen vorhanden war. Zu Typen wurden eine Anzahl dieser Gedanken erst in der Folge, indem sie vorzugsweise nachgeahmt und durch die Römer uns überliefert wurden. Und darunter herrschten nicht notwendig die schönsten vor, sondern diejenigen, welche in Marmor am ehesten zu erreichen waren49. Von der so viel freieren Komposition in Erz, Gold-Elfenbein, Akrolith haben wir bei weitem unbestimmtere Kunde, und Kopien höchstens in kleiner Bronze und auf Münzen.

Die wichtigste positive Quelle des Idealen aber bleibt es, daß man, um das Geistige als solches vollkommen geben zu können, die sinnliche Erscheinung mit größter Begeisterung als eine lebendige erfaßte und studierte. Die genaueste Ergründung der Körperformen verbindet sich mit einem immer sichereren Bewußtsein von dem, was die Schönheit des Anblickes ruhender und bewegter Gestalten ausmachen kann; man wurde aller Elemente des äußern Lebens mächtig, um das geistige Leben ganz frei geben zu können. Dahin gehört es, daß man das Schöne aus vielen einzelnen Individuen zusammensuchte50. Aber aus dem bloßen Durchschnitt oder Kanon wäre es noch nicht erwachsen, wenn nicht zu alledem das absolut Exzeptionelle hinzugekommen wäre: jener mächtige innere Zug zum Schönen, der uns ewig ein Mysterium bleiben wird.

Fördernd für die Annahme der idealen Kunst durch das Volk mag mittelbar die allgemeine Erhebung der Nation im V. Jahrhundert und hie und da auch das Pathos beim Ersatz für die im Perserkrieg untergegangenen Götterbilder mitgewirkt haben. Die Religion tat jedenfalls das wenigste dabei; der Zeus des Phidias und die andern großen Gebilde sind schon in einer relativ ungläubigen Zeit entstanden, als Anaxagoras lehrte. Die Hauptsache aber war, daß die damaligen großen Meister eine Überzeugung für ihre Neugestaltung der Götterwelt zu erregen, den Willen von Bevölkerungen dafür zu erwecken vermochten. Dies kann einem Phidias und Polyklet nur durch das Vorweisen von Modellen und von fertigen Arbeiten gelungen sein, die man mit den von der Perserverwüstung verschont gebliebenen Werken der älteren Kunst, welche dem bisherigen Bewußtsein genügt hatten, einer gewiß stattlichen Hera in Argos und einem Zeusbilde in Olympia usw. vergleichen konnte. Man konnte diese ältern Bilder nun offenbar nicht mehr schön finden, und nachdem man bisher das Kolossale gehabt, erkannte man jetzt das Große.

Dazu gehörte aber noch eine Nation, die sich nicht auf Altgeheiligtes kaprizierte, vielmehr das neugeborene Schöne nicht nur anzuerkennen, sondern tatsächlich anzunehmen imstande war.

Und diese Nation durfte es nun auch mit Staunen erleben, wie ihre Künstler immer höhere Kräfte entwickelten in der Verwirklichung der Götter, und wie die Götter immer schöner wurden. Und mit und durch die Griechen erlebten es seither alle andern Kulturvölker; die Griechengötter sind hinfort schön für alles darzustellende Göttliche und Erhabene aller Religionen, und die griechischen Götterideale sind daher ein welthistorisches Faktum.

Und nun bildete sich nicht ein ägyptisches System, sondern ein freier Usus von gewissen Formen, die uns als griechische Idealformen erscheinen, und wir stehen vor der bedeutenden Tatsache, daß bei völliger kirchlicher Freiheit ein Konsensus in Sachen des Idealen möglich war, nicht als religiöse Schranke, sondern positiv als Wille nach einem bestimmten Schönen.

Diese Idealformen aber sind nicht sowohl die allgemein wahren oder häufigen, als die allgemein ausdrucksfähigen für das geistige und sinnliche Leben, und deshalb sind sie, obwohl unter sich unendlich verschieden, die allgemein schönen.

Von einer Reihe feiner und ausgedehnter physiognomischer Beobachtungen und einer daraus abgeleiteten systematischen Lehre mit praktischem Zwecke, welche hier mitwirkten, gibt uns Aristoteles51 in den Physiognomika einen Begriff. In dieser Schrift wird alles: das Dauernde wie das Augenblickliche, Charakter und Leidenschaft, mit herbeigezogen, und Formen wie Farben, der Konsistenzgrad (die Weiche und Härte) der Haare wie des Fleisches gedeutet, unter beständigem Blick auf die bekannteren Tiergattungen, wo der Charakter, über den man im reinen zu sein glaubte, konstant ist, und das Individuelle nicht in Betracht kommt52. Kopf und Gesicht werden ganz besonders genau behandelt; für das geringste Überschreiten der normalen Form, das geringste Zuviel oder Zuwenig, wird sogleich ein Tier namhaft gemacht. Man lernt da eine Zeit und ein Volk kennen, welche ihrem Ursprunge noch näher waren, als wir jetzt sind. Zweitausend Jahre eines mehr oder weniger zivilisierten Lebens, große Mischungen der Völker und andere Ursachen mehr haben es mit sich gebracht, daß Knochenbau, Hautfarbe, Haarwuchs und Fleischkonstitution in ihrer verschiedenen Ausbildung mit dem Charakter des Individuums gar nichts mehr zu tun haben; die Physiognomik hat sich auf ein viel engeres Gebiet zurückgezogen, und auch hier wird zuletzt ein unwillkürlicher erster Eindruck mehr bedeuten als irgendeine systematische Betrachtung. Aristoteles aber konnte noch das ganze Äußere als Ausdruck des Innern in Anspruch nehmen.53

So ergibt sich beispielsweise die Behandlung des Gesichts aus dem Zusammenwirken von plastischen Notwendigkeiten, resp. Wünschbarkeiten mit dieser physiognomischen Überzeugung, während es zweifelhaft bleiben mag, wieweit dieses Gesicht wirklich in der Natur vorkam. Vor allem ist die Maske, im Verhältnis zum Ganzen betrachtet, größer als in unserm Typus. Klarheit, Ruhe, Leidenschaftslosigkeit, Intelligenz und Wille sprechen schon aus dem weiten Hervorragen der runden Stirn und des NasenrückensA1 (ris eyteia, tetragonos), der mit ihr in gerader Linie zusammen Ein Stück und Eine Lichtmasse bildet, über den Rest des Gesichtes54. Die Stirn55 mit ihrem scharfen unteren Superziliarbogen ist relativ niedrig; eine hohe Stirn würde bei der ohnehin großen Maske eine ganz andere Schädelform, besonders ein größeres Okziput nach sich ziehen, und die Griechen verschmähten die mandelförmigen Köpfe, die von der Stirnspitze bis zum Okziput gehen, wie sie Canova hat. Das Profil des Gesichtes gehört mit dem Profil des ganzen Kopfes in einer ganz anderen Weise zusammen als in unserm Typus. Die Augen sind tiefliegend und weit vortretend, besonders der innere Augenwinkel liegt tief; der Bulbus ist so gewölbt, daß er auch im Profil stark wirkt; das obere Augenlid scharf umrissen; Augapfel und Augstern waren in der älteren Kunst farbig, später wurde der Schatten eher plastisch hervorgebracht, und für den Ausdruck des Schmachtenden (ygron) diente noch eine spezielle Bildung der Augenlider. Auch der Mund ist tiefwinklig und für die Profilansicht weit vortretend, seine Öffnung sanft, die Oberlippe kurz (xeilh lepta), die Lippenbildung im Ganzen zeigt bei den Göttern starke Verschiedenheiten. Das Kinn ist rund und großartig, selten mit einem Grübchen versehen, das Ohr ist schön und fein.

Das Haar zeigt die verschiedensten Formen, von der alten assyrisierenden Art an bis zur höchsten Freiheit und Vielgestaltigkeit und der wunderbarsten Wirkung. Kraus ist es bei den Epheben, struppig bei unedleren Satyrn und Barbaren, freiwallend und aufs schönste gesammelt zeigen es die Aphroditen von der knidischen an, herabwallend hat es Hera, oft ist es feingewellt, oft in einen Krobylos zusammengefaßt, wie bei Eros, Apollon, der kapitolinischen Venus, in besonders reicher Fülle haben es Zeus und die Wassergötter; Diademe und Kränze von Blättern, Blumen, Trauben usw. schmücken es oft aufs zierlichste. Auch der Bart zeigt die ganze Entwicklung von der assyrisierenden Regelmäßigkeit an bis zur freien Großartigkeit des Zeusbartes. Weder gepflegtes noch ungepflegtes Haar nimmt sich in der Wirklichkeit je so aus. Überhaupt gehen die Alten mit den Formen sehr frei um, ohne daß doch deren höchster Lebensfähigkeit der geringste Eintrag geschieht.

Dasselbe läßt sich vom Leibe sagen, für den die verschiedenen Epochen ihren verschiedenen Kanon vom Derben bis ins Schlanke gehabt haben: alle Formen werden mit ähnlicher idealer Freiheit gehandhabt wie die des Kopfes und sind dabei doch völlig lebendig und von völliger Wahrheit.

Scheinbar spielend leicht ist die Abstufung von den Göttern zu den Satyrn und von diesen zu den Athleten durchgeführt. Von den Athleten wird später die Rede sein; mit der Satyrnwelt aber bildete sich eine Schönheit und Idealität zweiter Klasse aus, eine Welt des sinnlich Heitern, bis ins Mänadische, und dazu kam gleich auch ihr Gegenstück, die mehr ins Düstere gehende Welt der Seewesen. Und dies geschah erst im IV. Jahrhundert, als mit Skopas und Praxiteles die große Schlußredaktion der göttlichen Gestalten erfolgte. Die Kunst hatte allmählich eine völlige Untrüglichkeit in der Ausbildung von leiblichen Typen gewonnen.

Hier möge auch der Freiheit in der Darstellung der Personifikationen, der sog. Allegorien56 gedacht sein, mit der z.B. ein Skopas die Gruppe des Eros, Pothos und Himeros bildete. Noch weiter aber ging die künstlerische Freiheit in der Formenmischung: es entstanden die geflügelten Wesen (Eros, Nike usw.), die hier unendlich viel schöner sind als bei den Asiaten, ferner die Kentauren, Pane, Tritone, Greife. Diese Wesen stehen vollkommen lebensberechtigt vor uns; mit so harmloser Schönheit und Unbefangenheit setzen die menschlichen und die tierischen Formen aneinander an. Und eine andere, noch viel vollendetere Mischung, nämlich die völlige Verschmelzung von zwei Charakteren in eins zeigen die Amazonenstatuen, in denen die Aufgabe, männliche Kraft im weiblichen Leib darzustellen, aufs wunderbarste gelöst ist.

Dazu beachte man den Ausdruck des Momentanen in den Zügen des Kopfes, in Stellung und Bewegung der ganzen Gestalt – oft nur leise sprechend und dabei doch von höchster Wahrheit und Schönheit; man merke auch auf den Schimmer von Trauer in den schönsten Götterköpfen (denn die Götter sind ewig, aber doch nicht Herrn des Schicksals): Nie hat man das Gefühl der Motivjagd, des Präsentierens von Attituden um ihrer optischen Wohlgefälligkeit willen. Diese Gestalten sind um den Beschauer im höchsten Grade unbekümmert; abgesehen vom eigentlichen Kultbilde glauben sie sich alle ungesehen und unbelauscht. Wie bei der höchsten Kunst doch eine völlige Naivität bestehen kann, lehrt ein Blick auf die Giebelstatuen des Parthenon.

Die Gewandung ist "das tausendfache Echo der Gestalt" (Goethe)57. Frühe wurde auf alle Stoffpracht im Sinne der assyrischen Kunst verzichtet58; man hat es mit den vereinfachten Stücken der ohnehin einfachen männlichen oder weiblichen Tracht zu tun59, die äußerst frei nach dem Bedürfnis der schönen Erscheinung und der Verdeutlichung der Bewegung gestaltet wird, so daß oft der Gang des Gewandes bis in seine Enden gar nicht nachzurechnen ist. Der verschiedene Stoff ist oft vom Schwersten bis ins Feine vollkommen und doch ohne Raffinement in der Behandlung des Materials ausgedrückt, bei einzelnem aber (z.B. den Gewändern der Amazonen oder der parthenonischen Frauen) läßt sich, so gut wie von einer Idealität des Ganges und der Komposition, auch von einer besonderen Idealität des Stoffes sprechen, der so im Handel nie und nirgends zu haben gewesen wäre und aus einer höheren Ordnung der Dinge zu stammen scheint. An dem Gewande ist wenig Schneiderarbeit, nichts Genähtes oder Geknöpftes; es sind quadratische oder runde (oder in Form von Libellenflügeln gefertigte?) Tuchstücke, welche erst zum Gewande werden, wenn man sie anzieht. Dasselbe ist etwas Getragenes, das den Leib nicht parodiert, kein Futteral für ihn, wie die Röhren und Säcke, in welchen wir gehen; vielmehr drückt es in den aufliegenden glatten Teilen wie in den tiefen Schatten rein nur die Gestalt und ihre Bewegungen aus. Wie es heißt, wurde seine Dicke gar nicht gerechnet; man nahm an den glatten Stellen den Kontur des Leibes selbst; es erscheint deshalb gleich schwer, aber die Form des Leibes bleibt.

Ganz besonders ist an die Fülle von weiblichen Gewandstatuen zu erinnern, mögen es Tempelbilder von Göttinnen oder Darstellungen von Musen, von Priesterinnen usw. sein. Hier entfaltet sich ein Übereinander und in der schönen Folge der Gewänder, in dem bisweilen vorkommenden Durchscheinen des untern durch das obere, in der Halbverschleierung des Hauptes durch ein übergezogenes Gewand, in der manchmal doppelten Gürtung und in der Emporfassung des zu langen Chitons zum faltenreichen Kolpos ein wahrhaft wunderbarer Reichtum der herrlichsten Motive.

Die Bewaffnung der Götter ist oft, z.B. beim Ares-Achill des Louvre, auf den bloßen Helm beschränkt. Die Kunst stellt das Unorganische nicht gerne dar und rechnet darauf, auch mit einer bloßen Andeutung verstanden zu werden.

Vor allem aber durfte diese Kunst es sich zutrauen, das Nackte zur Herrschaft zu bringen. Aphrodite hatte in der früheren Dichtung ihren Gürtel und ihre von Chariten und Horen gefertigten Gewänder, welche in allen Frühlingsblumen gefärbt waren60 – jetzt verließ sich die Kunst auf die reine Gestalt allein. – Auch das frühere prachtbeladene Stirndiadem (stepanh) bleibt nun weg.

Bei aller Freiheit aber bewahrt die Kunst die größte Zurückhaltung gegenüber aller phantastischen Willkür. Diese bleibt völlig abwesend, und kein einziger Ausfall in das Genial-Wüste findet statt. Nachdem jene Schlußredaktion der Göttertypen im IV. Jahrhundert geschehen war, wurde das einmal errungene Treffliche in den Motiven und Typen wiederholt und festgehalten, nicht nur weil es höchst vorzüglich war, sondern weil man kaum mehr anders konnte. Die Kunst verzichtet auf materielles Neuschaffen, empfindet aber dafür das Vorhandene stets neu und hierin wird die Genialität erkannt, und auch hier ist für die Griechen, wie bei der Übereinstimmung in den Formen (vgl. S. 21 f.), der freiwillige Consensus bezeichnend; Ähnliches werden wir auch bei den Formen der Poesie kennenlernen.

Neben der Darstellung des Idealen entwickelt sich nun auch die des Individuellen. Auch diese war im Orient längst bekannt. Wie unendlich vieles Porträtmäßige findet sich nicht als kaum vortretendes Relief aus den Wänden von Ninive und Persepolis herausgemeißelt! Und dann haben wir die ägyptische Kunst mit ihren teils freien, teils angelehnten sitzenden und stehenden Königsbildern, ihren Grabstelen mit fast freier Rundskulptur und Werken, wie der ägyptische Schreiber im Louvre. Hier sucht und erreicht die Kunst oft das Scharfindividuelle61. Aber die ägyptischen Könige sind nur Könige, nicht Krieger, Redner usw., ihnen genügt eine ruhige, götterähnliche Stellung und Bildung, und die Privatleute oder etwa auch Beamten eines gewissen Ranges62 werden dargestellt, weil sie wohlhabend oder amtlich respektiert genug gewesen und hernach gestorben sind. Nirgends aber auf der Welt ist die Darstellung des Individuellen so entstanden wie bei den Griechen. Hier ist nämlich das Entscheidende für die Porträtbildung, daß sie mit dem Athletenbilden beginnt, mit der ersten Siegerstatue, die zu Olympia schon 558 v. Chr. aufgestellt wurde. Das Wesentliche dabei ist, daß das Individuelle hier nicht mit der Ähnlichkeit der Gesichtszüge, sondern mit der Verewigung der ganzen Gestalt in irgendeiner charakteristischen Bewegung, vielleicht im Momente des Sieges, zur Welt kommt. So wurde das Athletenbilden zum zentralen Faktum erstens für das Bilden des Individuellen überhaupt und zweitens für die Belebung des Idealen; denn ohne die stärkste Einwirkung dieser Studien auch auf das Götterbilden wären z.B. Hermes, die Dioskuren, Apoll, Dionysos in ihrer späteren Bildung so wenig denkbar als die weitere, nicht athletische Porträtbildung. Das Athletenbilden macht die ganze Kunst nicht bloß des lebendigsten Charakterisierens fähig, sondern überhaupt zu allen Aufgaben gelenk; auch die Amazone ist die ideale Athletin. Am Ende aber wurde die Athletenstatue selbst aus einem Denkmal zum freien Objekt der Kunst, und wir bewundern in der späteren, bloß um der Schönheit willen erfolgten Ausbildung und Wiederholung bestimmter Athletentypen, z.B. im Diskobol, den Athleten als solchen in seinen schönsten Erscheinungsweisen. Und dabei haben wir des Umstandes noch nicht Erwähnung getan, daß, nachdem die ältesten Athletenstatuen aus Zypressenholz waren gebildet worden, der kausale Zusammenhang, der zwischen dem Athletenbilden und dem Erzgusse bestand, eine der allerwichtigsten Techniken aufs mächtigste förderte.

Was die übrigen Porträtstatuen betrifft, so weiß man jetzt, daß schon frühe Statuen, welche irgendwie – wenn auch nicht eigentlich ikonisch – den Verstorbenen darstellten, an oder in Gräbern aufgestellt wurden. Am Grabe wird auch das Ikonische am ehesten begonnen haben. Wann aber hat zuerst eine Polis Ehrenstatuen für Krieger, Staatsmänner, Redner und Dichter dekretiert? Auch hier hat das Griechentum das Höchste erreicht. In der ganzen Kunstgeschichte gibt es keine Porträtstatue wie der lateranensische Sophokles. Prächtigere Statuen wird man aussinnen können, aber etwas von diesem vollendenten Einklange kommt nicht mehr vor.

Nur mit einem Worte möge schließlich hier auch der Genrefiguren, der Kinder usw. und der Tierbildungen Erwähnung getan werden, welche für sich wieder eine neue Welt der künstlerischen Darstellung ausmachen.

Und nun die plastische Darstellung des Vielen, die Komposition. Auch hier ist der Orient vorangegangen; aber Ägypten und Assur fehlt der Mythus und seine schöne Vielgestaltigkeit; stattdessen finden wir an Wänden, Pfeilern und selbst Säulen lauter Königschronik und Ritualien, d.h. es herrscht lauter Erzählen müssen, die Künstler sind an sachliche Vollständigkeit und ewige Wiederholung gebunden, und das Relief, das seinem Stil nach eigentlich ganz Teppich ist, fließt mit der Architektur zusammen und läuft wie eine Schrift oder wie ein Ornament darüber hin.

Den Griechen dagegen kommt hier, wie bei den einzelnen Gestalten, vor allem die große Vorarbeit zugute, welche die Poesie erledigt hatte. Daß bei den dargestellten Kämpfen nicht gottgleiche Sieger gegen Gestalten der Nacht streiten, sondern daß die Kämpfer, wer sie auch sein mögen, der Kunst als gleichberechtigt gelten, daß es hier ein pro und contra gibt, hat seinen Vorgang in der homerischen Schilderung. Wenn wir z.B. in der Ilias (IV, 457 ff.) lesen63, wie Achäer A den Troer B tötet, Achäer C die Leiche an sich reißen will, um sie zu plündern, Troer D sich an dessen Hüfte, wie er sich bückt, eine ungeschützte Stelle ersieht und ihn durchbohrt und endlich ein mächtiger Kampf um die Gruppe entsteht, so erweckt dies beinahe den Anschein, als hätte der Dichter bezweckt, der späteren Kunst64 eines des Sujets, die wir an ihr gewohnt sind, zu überliefern; werden doch auch bei ihr Hellenen und Troer, Lapithen und Kentauren, Helden und Amazonen, Götter und Giganten mit derselben Liebe dargestellt. Und nun hat die Kunst für diese Darstellungen auch Formen geschaffen, wie sie der Orient nicht kannte. Bestand schon frühe zwischen den figurenreichen Kampfesdarstellungen und dem fortlaufenden Relief (und schon dem bloß gemalten Friese) ein höchst segensreiches Verhältnis, so entwickelte sich nun das Relief auf allen seinen Stufen, bis zum Kampf aller Kämpfe, dem zwischen Göttern und Giganten auf dem Altare zu Pergamum; vor allem aber entstand, wovon der Orient keine Ahnung hatte, die Giebelgruppe und die Freigruppe aus mehreren Figuren (Farnesischer Stier, Laokoon usw.). Und dabei fühlte man sich von jedem ritualen Zwange frei und gestattete sich ruhig, etwa auch bloß andeutungsweise zu verfahren, indem man z.B. neben den Niobiden Apoll und Artemis wegließ, weil der Zuschauer sie ja von selbst schon ergänzte.

Und der Darstellungstrieb beschränkte sich nicht auf die Kampfszenen. Auch aus Homer ließen sich Darstellungen aus dem zartern Gebiete entnehmen; denken wir z.B. an die Gruppe, welche (II. VI, 370-498) Hektor, Andromache, Astyanax und die Dienerin bilden, oder daran, wie (I, 500 ff). Thetis sich zu Zeus setzt, mit der Linken seine Knie umfaßt und ihm mit der Rechten unter das Kinn rührt. Überhaupt aber schreit der ganze Götter- und Heroenmythus nach Verbildlichung, und eine ganze Welt von fertigen Szenen, zum Teil der höchsten Schönheit, ward gewiß schon frühe bildlich geschaut. Und dazu kommen noch die Gattungen idealer Wesen, welche Pluralbegriffe sind, die reihenweise dargestellt wurden, die Nereiden (Harpagosdenkmal), Danaiden (Tempel des Apollo Palatinus) usw.

Auch abgesehen vom Mythus aber ist die Kunst schon sehr frühe, und zwar laut Homer selbst, auf die Darstellung eines vielgestaltigen Lebendigen eingegangen und ist dabei (wie in den Gräbern von Beni Hassan) auf das Genrebild geraten. Wir erinnern hier wieder an den Schild Achills (I1. XVIII, 478-608), welcher lauter genrehafte Darstellungen enthält, während auf dem hesiodischen Schilde des Herakles solche mit mythischen wechseln.

Und endlich wagten die Griechen in großen Freigruppen außer dem Mythischen auch das Allegorisch-Politische, indem sie historische Individuen mit ihren allegorisch personifizierten Poleis oder mit den dieselben vertretenden Heroen zusammen darstellten oder, wie es Lysander in seinem kolossalen delphischen Weihgeschenke65 hielt, die Sieger mit den siegverleihenden Göttern zusammenbrachten, und dazu kommen noch die agonalen Gruppen, zumal der Sieger auf seinem Viergespann, und die gewaltigen rein historischen: das Granicusmonument Alexanders und zwei von den vier großen Gruppen des Attalidenmonuments in Athen66.

So strömen der Kunst von allen Seiten Gegenstände für die Massenerzählung zu, und die Volkstümlichkeit derselben ergibt sich schon aus deren frühem Vorkommen in kleinem Maßstabe. Die im VIII. Jahrhundert schon geschaffene Lade des Kypselos war mit erzählenden Darstellungen in lauter kleinen Figuren bedeckt, und wahrscheinlich waren auch die vielfigurigen Freigruppen aus sehr alter Zeit klein, welche Pausanias besonders in Delphi und dann auch an andern Weihestätten sah. Ihre Parallele aber hat die Vielskulptur in der Wandmalerei, und für uns spricht die Volkstümlichkeit des Vielen hauptsächlich aus der Vasenmalerei und der Übung, Umrisse auf Erz zu gravieren. Nach den Schöpfungen dieser Techniken hat dann wieder das Ausland, zumal Etrurien, mit besonderer Begierde gegriffen.

Neben der Darstellung der Götter selbst meldet sich bei allen polytheistischen und monumentalen Völkern sehr früh auch die Verewigung des einzelnen Kultaktes. Die Frömmigkeit des handelnden Königs, Priesters oder Volkes wird damit den Menschen und den Göttern anschaulich gemacht, den letzteren namentlich wohl, damit sie derselben eingedenk seien; der Mensch ist dem Gott in jeglichem Sinne am nächsten im Augenblicke und im Habitus des Kultus. So bilden denn, wie bereits gesagt, Ritualien schon in Ägypten und Assur eine der Hauptaufgaben der Vielskulptur. Aber auch hiebei hatten die Griechen große Vorteile. Zwar eines konnte in der Darstellung nicht in Betracht kommen: daß nämlich der Priester bei ihnen bisweilen in der Tracht des Gottes selbst auftrat67; denn in der Kunst mußte er vom Gott natürlich unterschieden werden. Dagegen ist es von höchster Bedeutung, daß sie nicht opfernde Despoten und nicht Priesterscharen, sondern einzelne, manchmal nur jährige Priester und Priesterinnen hatten, die oft nach Jugend und Schönheit gewählt und nie durch wüst-symbolische Tracht entstellt waren, und daß ferner die Erweiterung ihres Kultus durch Aufzüge (pompai), Chöre und dergl. die Sache von lauter auserlesenen Individuen war. Überhaupt stellte sich dieser Kultus der Kunst nicht als Knechtschaft und wüstes Tun, sondern als Freude zur Verfügung; auch aus dem Orgiastischen wählte die dionysische Skulptur das Schöne.

Wie aus dem eigentlichen Opfer ein Anathem dieser Art werden konnte, berichtet jene sehr eigentümliche Geschichte, die Pausanias68 von den argivischen Orneaten erzählt. Diese ersetzten ein allzu lästiges, im Kriege mit Sikyon getanes Gelübde, wonach sie dem Apollo täglich hätten Opfer und Prozessionen darbringen sollen, durch eine nach Delphi gestiftete eherne Darstellung69 von beidem. Pausanias erkennt hierin freilich nur einen klugen Kniff (sopisma); allein es handelt sich um eine tiefere, echt griechische Voraussetzung: ein täglicher Vorgang wird abgeschlossen und aus einem zeitlichen zu einem ewigen gemacht durch eine ideale, monumentale, ein für allemal geltende Darstellung70.

Groß war der Reichtum an Statuen von Priestern und Priesterinnen; noch von den jetzt vorhandenen Gewandstatuen mögen viele dahin gehören. Mochte das Tempelbild ein ungenießbares Xoanon sein, – die Reihe von solchen Statuen konnte alles gut machen. So war es vielleicht im Tempel der Eumeniden, in dem achäischen Kerynea71. Die Figuren derselben waren "nicht groß", vielleicht häßliche Puppen, aber am Eingange fanden sich weibliche Marmorstatuen, welche Kunstwert hatten, und die Einwohner erklärten sie für Priesterinnen der Göttinnen.

Wie frühe wurden wohl Festchöre in Reihen von Statuen verewigt? Die Agrigentiner nach einem Siege über die Libyer-Phönizier von Motye stifteten aus der Beute nach Olympia die ehernen Knaben, welche die "Hände vorhalten" und dargestellt sind, wie sie zu dem Gott beten72. Sie standen auf der Mauer der Altis und galten als Werke des Kalamis, – am ehesten werden sie eine Verewigung des Festchores gewesen sein, der zur Begleitung des Dankopfers nach Olympia gesandt war. Auch die Messenier von Messina stifteten nach Olympia die ehernen Bilder des in der Meerenge umgekommenen Knabenchors nebst Chordirigenten und Flötenbläser73.

Die höchsten Leistungen dieser Art haben wir auf der athenischen Akropolis zu suchen. Hier sind der Panathenäenzug des Parthenon, und an der Ballustrade des Nike-Apteros-Tempels die Niken, welche den Opferstier führen und die, welche das Siegeszeichen rüsten. Dies ist die höchste ideale Umdeutung einer Kultushandlung, die höchste Verklärung des Kultus überhaupt74.

Wollten wir nun noch die tönernen und ehernen Figurinen in größerem und kleinerem Maßstabe besprechen, in denen die Skulptur gewissermaßen ein zweites Leben lebt, wollten wir von der Reduktion des Reliefs in der Gemme, im Intaglio wie im Cameo und in der Münze handeln und dann auf die Gefäße und Geräte in edlem Metall, Erz, Marmor und Ton in ihren verschiedenen Metastasen und Umdeutungen, z.B. auf den Kandelaber und auf den Dreifuß in allen seinen Anwendungen kommen, so würden wir kein Ende finden. Man sieht in ein Kunstvermögen hinein, das keine Grenzen hat und oft das Trefflichste mit dem ersten Griffe trifft.

2. Die Malerei

Von der vorgriechischen Malerei sind nur die ägyptischen Überreste erhalten und hier meist nur Konventionelles und Geknechtetes, etwa mit Ausnahme der Darstellungen des gewöhnlichen Lebens in den Gräbern von Beni Hassan. Auch an Nachrichten über die Kunst des alten Orients fehlt es, von den figurierten Teppichen der mesopotamischen Wirkerei abgesehen, gänzlich. Von der griechischen Malerei dagegen haben sich, außer ihrer Nachwirkung auf den Vasen und in den Wandmalereien der Städte am Vesuv und einzelnen Gruftmalereien75, wenigstens noch zahlreiche Nachrichten erhalten, ja es ist von den berühmten Malern der Blütezeit, von Polygnot bis auf Apelles, in den Autoren mehr die Rede als von den Bildhauern. Athenäus (XI, 48) erwähnt eine an Antigonos gerichtete Schrift des Polemon "über die Maler" (peri zograpon), dergleichen es über die Bildhauer damals nicht gab. Jene müssen den Griechen individuell interessanter erschienen sein, was wir nur daraus zu erklären vermögen, das sie nicht auch, wie diese, für Banausen galten, wie denn auch das Zeichnen später in die regelmäßigen Erziehungsfächer für Freie aufgenommen wurde76.

Zunächst gab es nun in Stoen, Sälen, Hallen, Tempeln eine große monumentale Malerei im Dienste des Mythus und der politischen Ideen und Erinnerungen. Den Stil derselben77 mag man sich bei Polygnot etwa analog dem der Schule Giottos denken, bei den Späteren wohl noch vollendeter belebt. Von Polygnots Gemälden in der Lesche zu Delphi ist in diesem Werk früher die Rede gewesen78. In Athen befanden sich von ihm und seinen Nachfolgern, unter denen den größten Namen Protogenes und Euphranor haben, in der Stoa Basileios eine Darstellung der zwölf Götter, Theseus mit Demokratie und Demos, die Schlacht bei Mantineia und im anstoßenden Tempel der Apollon Patroos; im Buleuterion die Thesmotheten des Protogenes und ein spätes Feldherrnbild; in der Stoa Poikile, offenbar allmählich und von verschiedenen Meistern, frei von aller Zyklusknechtschaft entstanden, ein Schlachtenbild aus dem Peloponnesischen Kriege, eine Theseusschlacht gegen die Amazonen, eine Szene nach der Einnahme von Ilion und die Schlacht bei Marathon samt den hilfreichen Heroen; im Pompeion wahrscheinlich Prozessionsbilder, worin die einzelnen Köpfe, wie auf den florentinischen Fresken, bekannte Leute vorstellten79; in der Seitenhalle der Propyläen80 viele Szenen aus der Trojasage, zumal auch die beiden erlauchten Diebe: Diomedes mit dem Bogen des Philoktet und Odysseus mit dem Palladion, ferner die Gruppe Paralos und Hammonias des Protogenes und eine Anzahl von Bildnissen und Einzelfiguren: Alkibiades als nemeischer Sieger, Perseus, Musäos, auch die Genrefiguren eines Krugträgers und eines Ringers. – Schlachtenbilder gab es übrigens auch anderswo als in Athen. So besaß das Artemision von Ephesos eine Seeschlacht, worin auch eine Eris vorkam, und Pergamon einen Keltensieg81.

Leider ist nicht bekannt, welche Behörden in den öffentlichen Gebäuden, z.B. im Saale der Propyläen, darüber verfügt hatten, wer noch dort und was er hinzumalen habe. Jedenfalls nahm sich die Malerei des historisch Wirklichen mehr an als die Skulptur; es gab ziemlich viele politische Malereien.

Neben der Wandmalerei kam in der Blütezeit des Dramas die Skenographie, d.h. die Theatermalerei, auf, die zunächst zum phantastischen Schmuck der Bühne diente, hernach aber in Häuser und Paläste überging. Für diese scheint sie einmal plötzlich Mode geworden zu sein, so daß ein Alkibiades sie in seiner Wohnung augenblicklich auch haben wollte. Er soll dies in seinem Übermut dadurch erzwungen haben, daß er den Maler Agatharchos mit Gewalt packte und in seinem Hause gefangen hielt, bis er es ihm ausgemalt hatte. Auch König Archelaos von Makedonien drang den Zeuxis um vierhundert Minen zur Ausmalung seines Palastes82.

Wie weit findet sich nun von diesem allem ein Nachklang in Pompeji? Von der historisch-politischen Malerei läßt sich hier nur das Unikum der Alexanderschlacht83 nennen; eher wird von der mythologischen die Rede sein können, und gewiß von der skenographischen: Die Einzelfiguren, Schwebegruppen usw. sind zum Teil unzweifelhafte Reminiszenzen an das Herrlichste dieser Kunstgattung und so auch viele Genreszenen. Diese sind hier nicht wie in Beni-Hassan dargestellt, weil sie im Leben vorkamen, sondern weil sie anmutig waren; an die Stelle der täglichen und jährlichen Verrichtung ist der anmutige Moment: das leise Gespräch weniger, das Meditieren, die Toilette, die Spiele, die Theaterprobe usw. getreten. In Griechenland selbst hatten vielleicht einst, wie uns die Vasen verraten, mehr die agonalen und gymnastischen Szenen vorgeherrscht.

Außerdem aber zog die Tafelmalerei (Tempera, auch Enkaustik), deren größte Meister Zeuxis, Parrhasios, Apelles, Protogenes, Timomachos, Theon sind, weit die lebhafteste Bewunderung auf sich84. Bei dieser Gattung, die, wenn wir sie wieder erhielten, unsre konventionellen Anschauungen von der griechischen Kunst aufs stärkste umgestalten würde, galt die Illusion, und einstimmig wird das gelungene Streben darnach gerühmt; die Maler müssen sie durch Farbe, Modellierung und Licht, sowie auch durch Verkürzung (Pausias) und delikate Ausführung erzielt haben85. In der modernen Kunst werden sich hiezu als Parallele wohl besonders die italienischen Realisten des XV. Jahrhunderts bis auf Lionardo darbieten. Charakteristisch ist, daß neben einzelnen figurenreichen Kompositionen dieser Meister, wie dem Opfer der Iphigenia von Timanthes, dem Bilde der Verleumdung von Apelles, der Hochzeit Alexanders und Rhoxanes von Aëtion und dergl., vorherrschend Einzelfiguren oder Bilder genannt werden, auf welchen nur eine Hauptfigur mit wenigen Zutaten dargestellt war; so von Zeuxis eine Helena und eine Penelope; von Parrhasios der athenische Demos, der geheuchelte Wahnsinn des Odysseus, ein Philoktet; von Protogenes der Ialysos (an dem er sieben Jahre malte), von Timomachos ein Aias, eine opferbereite Iphigenia und eine Medea vor dem Augenblick des Mordes; von Theon ein Hoplit86.

Die moralische Stellung dieser Art Malerei ist schon eine ganz andere als die der Skulptur: sie entsteht wesentlich für den Privatbesitz und gerät nur zufällig und nachträglich als Anathem in diesen und jenen Tempel; für sie war auch das griechische Haus geeignet, in dem größere Marmorskulpturen nicht leicht konnten aufgestellt werden. Hiemit, sowie mit der Richtung dieser Kunst auf illusionäre Einzeldarstellung, hängt das Verhältnis des Studiums zu den Hetären87 zusammen; man wählte von verschiedenen das Schönste aus, ein Verfahren, von dem bei der Skulptur nicht die Rede zu sein pflegt.

Nur bei den berühmten Tafelmalereien ist auch von Preisen und Einnahmen die Rede. Wir erfahren, daß Zeuxis sich für das Besichtigen seiner Helena einen Eintrittspreis zahlen ließ. In der späteren Zeit kamen dann vollends die enormen Liebhaberpreise. So kaufte nach Plinius (H.N. VII, 39) Attalos eine Tafel des Aristides von Theben um hundert Talente, Cäsar zahlte für die Medea und den Aias des Timomachos, um sie in den Tempel der Venus Genetrix zu weihen, deren achtzig. Dahin gehört auch, daß Demetrios Poliorketes Rhodos nicht anzündete, um ein Gemälde des Protogenes nicht zu zerstören, das sich in dem von ihm gefährdeten Stadtteile befand. Wenn aber Kennerschaft, Liebhaberei und Erwerbung anders als bei der Plastik waren, so wird es uns nicht wundern dürfen, wenn hier, anders als dort (wo höchstens bei den Amazonenstatuen des Polyklet, Kresilas und Phidias von so etwas die Rede sein kann), ein förmlich agonaler Betrieb stattfand. Von dem Maler Panänos, dem Bruder oder Neffen des Phidias, wird berichtet88, daß zu seiner Zeit zu Korinth und Delphi ein Wettkampf in der Malerei abgehalten worden sei, und daß er an den Pythien dem Timagoras von Chalkis unterlegen wäre, und ebenso soll Parrhasios89 bei einem Malkampfe auf Samos mit seinem Streit des Aias und Odysseus um Achills Waffen von einem Rivalen geschlagen worden sein. In beiden Fällen kann es sich doch nur um Tafelmalereien gehandelt haben.

In späterer Zeit nahmen Karikaturen und Genreszenen (wie die Barbier- und Schusterbuden des Peiraikos u.a. sog. Rhyparographien), sowie das Stilleben überhand. Das Mosaik scheint in der eigentlich griechischen Zeit noch wenig Figürliches enthalten zu haben; aus der Diadochenzeit wird von dem Prachtschiffe des jüngern Hieron90 gemeldet, daß auf dem Fußboden seiner Säle der ganze Mythus von Ilion dargestellt gewesen sei. Damals scheint überhaupt diese Form der Bodendekoration beliebt geworden zu sein. Von den linearen Künsten, der Vasenmalerei und der Gravierung auf Kisten und Spiegeln ist hier nicht weiter zu handeln. Genug, daß auch in ihnen die griechische Kunst die jeweiligen Grenzen überall erreicht und entsprechend der ihr eigenen hohen Sophrosyne auch respektiert hat.

3. Die Architektur

Mit Händen zu greifen ist diese künstlerische Sophrysyne der Griechen in der Architektur; denn hier finden wir bei ihnen eine in der ganzen Kunstgeschichte einzig dastehende willentliche Beschränkung auf einen höchst vollkommenen Typus: den Tempel, von welchem alles andre nur Anleihen und Teilaneignungen sind. Säle, Höfe, Hallen und vollends das so mäßige Privathaus ordnen sich völlig unter; das Motiv des Tempels ist das absolut einheitliche Motiv als solches. Wie aber ist die Nation zu dieser Form gekommen?

Das Wesentliche am griechischen Heiligtum ist nicht das Gebäude, sondern der Brandopferaltar im Freien. Die Höhenaltäre91 (meist dem Zeus geweiht), auf welchen die Asche von vielen Opfern her aufgehäuft liegen blieb, entbehrten jeder baulichen Zutat. Wo aber in alten Zeiten ein heiliger Bau entstand, kann er eine Form und Anlage gehabt haben, welche sich unsrer Ahnung völlig entziehen. Wenn z.B. etwaA2 Orakelstätten die frühesten allgemein besuchten Heiligtümer waren, an nicht gewählten, sondern vorgefundenen Stellen, so mag der ÜberbauA3 oder Umfassungsbau einer Erdspalte, einer Höhle usw. das Gegegebene gewesen sein. Die freie Wahl der Stelle und die Errichtung des Heiligtums frei vom Boden auf, die Vorbedingungen aller höhern Gestaltung, könnten dann eingetreten sein mit einer Wandlung in den Gedanken von den Göttern. In unbestimmbarer Zeit nämlich erhielt das Heiligtum den Namen "Wohnung", d.h.A4 der Gottheit (naos), und von da an kann ein geschlossener Bau, eine Cella, vorausgesetzt werden, anfangs laut der Sage bisweilenA5 nur aus hinfälligen Stoffen, als Zelt oder Hütte (skhnh) erstellt, bis die Kunst dem Gebäude eine monumentale Gestalt und endlich die herrlichste Verklärung verlieh.

Neben so vielen Vermutungen, an welchen die antike Kunstgeschichte stets einen großen Vorrat haben wird, möge hier eine folgen dürfen über die Entstehung des Peripteros, der von Säulen umgebenen länglichen Cella. Derselbe war zunächst eine Schöpfung des Volkes selbst und bedurfte keiner Entlehnung von Asien oder Ägypten und dessen Peripteraltempeln her. Er wird entstanden sein als vollständiger Holzbau, als Blockhaus mit einer Halle von Baumstämmen, in einer Zeit, da Griechenland noch ein waldreiches Land war. Von dieser letzteren Tatsache wenigstens gab es noch spät eine Tradition für Attika, und Plato redet davon92 durchaus nicht bloß als Dichter: das entwaldete, ausgewaschene, verkalkte Land ist nur noch das Skelett eines krank gewesenen Leibes; die einst so waldreichen Berge haben jetzt nur noch Nahrung für Bienen; Quellheiligtümer sieht man, nur sind die Quellen vertrocknet; aber auch gewaltige Dachbauten sind noch da, errichtet aus Bäumen, welche dort vor nicht gar zu langer Zeit gefällt worden.

Will man jedoch für die Cella schon von Anfang an den Steinbau voraussetzen, so war doch der ganze Hallenbau und das Dach von Holz. Die Säule oder Rundstütze hat überhaupt bei allen Völkern keinen andern denkbaren Ursprung als aus dem Baumstamm, bei den Griechen insbesondere aber konnte die Halle um die Cella nur entstehen in einer Zeit, da man die Säulen nicht erst meißeln mußte, ja vom Stein aus wäre die Halle gar nicht erklärbar in einer Periode, da der Steinmetz selten und noch sehr ungeschickt war. Die gemeißelten Grabstelen von Mykenä sind nur der rohste Nachklang einer weit vollkommeneren Kunst in Metall; Tirynth vollends (nach Schliemanns Entdeckungen) zeigt nebeneinander die mechanische Bewältigung riesiger Steinlasten und (für den innern Zierbau) hölzerne Säulen, deren rund eingekerbte Steinbasen noch erhalten sind. Wegen des Heraion von Olympia, dessen Holzsäulen anerkanntermaßen erst allmählich durch steinerne ersetzt worden sind, sowie wegen anderer Reste des Holzbaues mag auf die bekannten Nachrichten verwiesen werden.

Das Holzgebälk würde an sich eine weite Stellung der Säulen ermöglicht haben, und die großen Intervalle der etruskischen Ordnung beruhten wirklich hierauf. Allein bei den Griechen wäre es denkbar, daß schon die Holzsäulen dicht standen, ja daß bereits hie und da eine doppelte Holzsäulenreihe, eine Dipteralanlage vorkam, wenn man den Wald dazu hatte. Im allgemeinen aber möchte der Hexastylos, die sechssäulige Giebelseite zu etwa doppelter Säulenzahl der Langseiten, schon im Holzbau das Normale gewesen sein, wie es frisch aus einem Stück entstanden war. Prostylos und Amphiprostylos sind nicht Urformen, sondern Reduktionen, Abbreviaturen, Vereinfachungen hievon, während das templum in antis eine uralte Form für kleinere Heiligtümer gewesen sein kann. Frägt man nach einem besondern Zweck, einer Lebensursache der Halle, so wird am ehesten das Aufstellen der von jeher äußerst zahlreichen Weihgeschenke,A6 Anatheme, zumal der erbeuteten Waffen zu nennen sein, jedenfalls aber nicht das Unterstehen beimA7 Regen, wie Vitruv meint.

Der normale Holztempel enthielt die Möglichkeit aller künftigen Schönheit als verborgenen Keim bereits in sich durch die Einheit des Motivs: Die Cella ist der Kern, die Säulen und Gebälke sind dessen ideale Hülle; einem relativ kleinen Naos wird der Anblick des Großen und Feierlichen verliehen. Der Bau muß von Anfang an in ganzer Stattlichkeit und Fülle aufgetreten sein; nur als Hexastylos, sollte man denken, kann er die Kraft besessen haben, alles nach sich zu ziehen. Bloß ästhetische Entschlüsse haben hier freilich nicht entschieden, so einleuchtend auch der Wert dieser Anlage war. Dieselbe entstand und verbreitete sich auch nicht durch Einfluß eines Priestertums, welches nicht vorhanden gewesen ist; nicht auf irgendeinen Zwang hinA8, sondern vermutlich durch eine volkstümliche religiöse Hebung, von welcher wir keine Kunde mehr haben. Sie entstand und verbreitete sich auf eine solche Weise, daß hierauf dorisches und ionisches Formengefühl gleichmäßig an ihr emporwachsen konnten. Der Vorgang wird als einmaliger und plötzlicher aufzufassen sein, mit freiwilliger und rascher AnnahmeA9 bei einem in viele Staaten geteilten Volk; lautlos wichen vor der neuen Form des Heiligtums die bisherigen Anlagen, und kaum ein Rest mehr ist von ihnen vorhanden. Der Peripteros wurde dann zu einer jener griechischen Kunstsitten, welche, wenn einmal angenommen, gegen alle weitern Neuerungen gesichert waren, denn die Griechen vermochten es, sich in richtig gefundene Formen zu fügen und ihnen das Mögliche abzugewinnenA10. Freilich wird es nicht an Thersiten gefehlt haben, welche schonA11 etwas anderes und "Genialeres" gewußt hätten, allein man wird sie haben reden lassen. Hervorgegangen aus einer hohen, geheimen Volkskraft in einem feierlichen Augenblick, war er diejenige Form des Heiligtums, welche allgültig werden, ein säkulares Reifen erleben konnte. Es ist aber nicht die Sache jedes beliebigen Zeitraumes oder Volkes, dergleichen Formen zu schaffen.

Die erst teilweise, dann (mit Ausnahme von Decke und Dach) vollständige Umsetzung aus Holz in Stein muß frühe erfolgt sein; als die Griechen mit dem VIII. Jahrhundert sich in Kolonien ausbreiteten, scheint der steinerne Peripteros bereits als selbstverständlicher Typus mitgegangen zu sein; denn schon die ältesten Tempel auf Sizilien zeigen denselben in sehr ausgeglichener Gestalt. Es ist kein Grund vorhanden, am Pontus, in Kyrene, im südlichen Gallien, wo sich irgend Griechen ansiedelten, etwas anderes vorauszusetzen. Bei mäßigen materiellen Mitteln war ein solcher Steinbau die glücklichste Aufgabe; gesetzlich in den Proportionen, aber völlig frei in den Dimensionen, dabei übersehbar und berechenbar in Betreff des Aufwandes und der Bauzeit, so daß eine Generation damit fertig werden konnte.

So sehr aberA12 fühlten sich nun die Griechen an diese Form gebunden93, daß sie, sei es bei der Anlage einer neuen Stadt, sei es allmählich im Verlauf der Zeit viele einzelne Tempel, aber auch ganze Gruppen solcher von ähnlicher und fast gleicher Gestalt94 entstehen ließen, ohne an das Variieren zu denken. Wenn irgendwann und irgendwo, so hätte in dem siegreichen und gewaltig ehrgeizigen Athen beim Neubau nach den Perserkriegen der Übergang zu ganz neuen Tempelformen, zusammengesetzten Grundplänen und dergl. nahegelegen, allein stattdessen folgt die höchste Verklärung des schon vorhandenen Typus. Hier hatte der sonst so rücksichtslose Neuerungsgeist innehalten müssen.

Über die Einzelformen des ursprünglichen Holzbaues, über seine vermutliche Farbigkeit, über die Anwendung von Tuch und Teppich usw. erlauben wir uns keine Vermutung und vollends nicht über die Umdeutung solcher einzelnen Elemente in den Stein. Empfindungen und Sachgründe werden einander in letzterm Punkte noch lange gegenüberstehen, und man wird weiter darüber streiten, was unmittelbare Formenübertragung, was bloße Reminiszenz, was freies Gleichnis sei, und wie die Schattierungen noch weiter heißen mögen. Die hier vorgetragene besondere Ansicht über die Entstehung des Typus als solchen hat vollends keine Aussicht auf baldige Billigung, vielleicht aber macht sie auf einzelne Leser einigen Eindruck. Wenn eine Gesamterscheinung, wie diese, jenseits aller Kunde liegt, wird sich die Vermutung – die hier gegebene oder eine andere – hörbar machen dürfen.

Als nun aber durch das untrennbare Zusammenwirken der Achtung vor der heiligen Gewöhnung, des Bewußtseins, daß man Vollendetes und in seiner Art nicht mehr zu Übertreffendes gebe und endlich des ehrfurchtsvollen Kunstkonservatismus, der auch in der Poesie nur so bedächtig von einer alten Gattung zu einer neuen übergeht, der Tempel in seiner festen Gestalt gegeben war, da hatte man an ihm auch eine Form, die nur ganz bestimmten Zwecken entsprach. Er war verschieden vom Heiligengrab, dem bei den Griechen das Heroon entspricht, war auch kein Erbbegräbnis von Vornehmen, so daß sich eine Anlage hätte bilden können, die den mittelalterlichen hohen Chören mit Umgang und Kapellenkranz zu vergleichen wäre; kein Kultakt für die Menge wurde darin begangen; alle großen Opfer fanden draußen statt, und darum befand sich von Altären auch nur der kleine Räucheraltar im Innern: er war, wie gesagt, nur die "Wohnung" der Gottheit, und da deshalb sein Inneres vielleicht nur klein war, war jeder Fortschritt ins Reiche zunächst dem Außenbau zugewandt. So wird die Halle, die eigentlich in ihrer Vollständigkeit, indem sie einladend und öffnend auf das Auge wirkt, die verklärte Erscheinung der Wand ist, durch Hinzutreten einer zweiten Säulenreihe erweitert, und es entsteht der Dipteros. Aber oblong und in der Grundform peripteral, mit einer Säulenzahl der Langseite, welche die der Front ungefähr95 um das Doppelte übertrifft, sind alle diejenigen Tempel, bei denen man frei über Raum und Mittel verfügte, und andere Anlagen, wie die des delphischen Tempels, der Tempel mit Grottenkult, der von zwei Gottheiten bewohnte Tempel sind exzeptionell96; besonders ist auch der Rundform wenig zugetraut worden; wir kennen sie nur an kleinern, mehr dekorativen Bauten, wie dem Monument des Lysikrates, und einigen wenigen andern Anlagen, wie der Tholos der Prytanen in Athen, dem Philippeion in Olympia usw.

Die Lage der Tempel war entweder durch ein Präzedens, resp. Ereignis aus der mythischen Zeit vorgeschrieben oder frei gewählt. Häufig befanden sie sich einsam auf Berggipfeln und Vorgebirgen oder in heiligen Hainen, öfter auf den Akropolen, auf der Agora, am Seehafen der Städte, und hier, wie schon gesagt, oft zu mehrern, womöglich mit einem nach außen hin abschließenden Hof (Peribolos). Stets sind sie auf ihren drei hohen Götterstufen, neben denen an den Frontseiten noch die Gebrauchstreppen für die Menschen vorhanden sind, wie ein Anathem emporgehoben; vor ihnen steht der als Requisit einfache, wenngleich bei reichern Mitteln oft höchst prachtvolle Brandopferaltar. Im Augenblicke des Opfers öffnet sich die eine große und feierliche Pforte, deren Flügel in Stoff und Form möglichst prachtvoll sind, und läßt das Licht auf die Requisite des Innern, das Tempelbild und den Räucheraltar fallen; bei nicht mehr ganz kleinen Dimensionen ist dann freilich noch eine Dachöffnung (opaion, potagogos, lumen) zur Beleuchtung nötig, und was direkt unter derselben ist, liegt unter freiem Himmel ( paitron), eine Einrichtung, welche ihre monumentale Ausbildung in einem Doppelgeschoß von Innenhallen findet. Vollendet wird die Pracht des Ganzen durch die Weihegeschenke, welche im Innern, im Pronaos, im Säulenumgang (Pteroma) ihren Platz haben, und mit denen bei prachtvollern und reichern Tempeln dann noch die Stoen und der Peribolos angefüllt sind, und schon zum Peribolos gelangt man hin und wieder durch herrliche Propyläen.

Der normale Tempel verzichtet auf jede Abweichung in der Anlage, auf jede Kombination des Verschiedenartigen; er will nur ein höchster Einklang des Gleichartigen sein; eine und dieselbe Art von Säulen und Gebälken und Götterstufen umgibt ihn, eine und dieselbe strebende und tragende Kraft, und eine und dieselbe Last wirkt gleichmäßig durch das Ganze; an beiden Frontseiten ist dann der Giebel die rituale Auszeichnung der Götterwohnung vor den Wohnungen der Menschen.

Aber dieses absichtlich wenige atmet ein vollständiges Leben. Der griechische Tempel ist im höchsten Grade wahr, und hierin liegt zum Teil seine Schönheit: er stellt die höchste Abrechnung dar zwischen einfachem Tragen und Getragenwerden einer horizontal liegenden und rein vertikal wirkenden (nicht durch Wölbung seitwärts drückenden) Last und drückt dies, wenn auch in zwei Dialekten, dem dorischen und ionischen, so doch in einer Formensprache aus.

Die betreffenden Formen deuten teilweise auf ägyptischen und assyrischen Ursprung; von der Umdeutung des Holzbaues in diesen beiden Ländern kann etliches, was an der architektonischen Formenwelt sekundär ist, entlehnt worden sein; allein in Griechenland sind diese Reminiszenzen an den Holzstil bis zu vollkommener Harmonie ausgeglichen, alle Knechtschaft ist völlig überwunden, statt aller hölzernen Wirklichkeit ist eine ideale Wahrheit entstanden. Und so haben wir es denn mit einem Quaderbau zu tun, bei dem jeder einzelne Block zu seinem vollen Rechte kommt. Im ganzen Reiche der Baukunst hat es so empfindliche Formen nicht wieder gegeben.

Die Säule ist vollendetes Leben, ein zylindrischer, seine Kraft gleichmäßig exzentrisch nach allen Seiten ausstrahlender, rein in sich abgeschlossener Körper; sie ist durch gleichmäßige Abstände von ihren homogenen Nachbarn getrennt, durch Verbreiterung nach unten und Verjüngung nach oben gewinnt sie eine zunehmende Stabilität; noch lebendiger spricht eine innere Elastizität aus der Anschwellung (entasis); zum größern Ausdruck des vertikalen Lebens dient ferner die Kannelierung (rabdosis); die Höhe und Stärke der Säule endlich steht im reinsten Verhältnis zu der Größe der Intervalle und der zu tragenden Last. So vereinigten sich die höchste ästhetische und die höchste mechanische: Wahrheit, das Struktive zeigt sich in völlig ideal gewordenem Ausdruck.

Das Gebälk erscheint in doppelter Lagerung, als Architrav und als Fries, und darüber kommt das Hauptgesims mit den Formen des Daches; hier symbolisiert die sanfte Neigung des Giebels den Rest von Strebekraft, welcher nach dem Kampf zwischen Säulen und Gebälk noch übrig geblieben sein mag.

Die besondere Ausprägung der architektonischen Formen erfolgt nun, wie gesagt, in zwei auf gemeinsamer Grundlage ruhenden, aber durchaus selbständigen Auffassungen: dem dorischen und dem ionischen Stil, deren allmähliche Ausreifung rätselhaft bleibt, indem wir nur wissen, daß sie schon um 650 nebeneinander existierten. Auch die Beziehung auf die beiden Stämme ist ja nicht zu eng zu fassen, und ebensowenig sind sie mit deren vermeintlichem Charakter zu parallelisieren.

Dorisch ist die Säule ohne Basis mit stark geschwelltem und verjüngtem Schaft und Kanneluren, welche in scharfen Kanten zusammenstoßen; die Höhe beträgt ungefähr fünf und einen halben, der Abstand anderthalb Diameter; das durch eine bis drei Rinnen vorgedeutete Kapitäl besteht aus dem mit den Ringen ansetzenden Echinus, der als ein lebendiger elastischer Stoff mit sehr verschiedener Dehnbarkeit seiner Teile gedacht ist, und dem als Übergang zum Architrav dienenden Abakus; dieser ist offenbar der Nachklang eines Brettes, wodurch man ein unmittelbares Aufliegen der Fuge zweier Architravbalken auf der Säule selbst vermeiden wollte, und zugleich wird durch ihn die Tragkraft der Säule auf ein weiteres Feld ausgedehnt. Den Architrav bilden – abgesehen von den vordeutenden Plättchen mit Tropfen – bloße Steinbalken. Der über ihnen laufende Fries enthält die Triglyphen und ihre Zwischenfelder, die Metopen; jene sind, obwohl ursprünglich evident als das vor die Balkenenden genagelte Brett gedacht, fiktionsweise doch um alle vier Seiten des Tempels geführt, ihre Steilform hat ästhetisch den Zweck, noch einmal vertikal zu wirken. Über dem Fries endlich kommt das Kranzgesimse mit seinen Dielenköpfen und den übrigen abschließenden Gliedern. Wir erwähnen hier noch die an der Mauerstirn der Cella und am templum in antis erfolgte Ausbildung der dorischen Ante und die Ausbildung der Hallendecke mit Kassetten. Die weitere Ausdeutung der Formen war einer mäßigen Polychromie überlassen, indem die Triglyphen blau, der Abakus mit einem Mäander, die Wellenprofile mit Blättern, die Kassetten blau mit goldenen und roten Sternen bemalt waren; an Metopen und Giebelfeld war auch die Fläche farbig.

Im ionischen Stil haben die Formen mehr Selbständigkeit und vom Ganzen unabhängige Schönheit der Einzelerscheinung; manches, was im dorischen nur aufgemalt wurde: die Blätter der Wellenprofile, die Wulste, Kehlen, Einreifungen usw., ist hier plastisch gegeben. Die Säule ruht – außer in Attika – auf einer quadratischen Platte; stets hat sie eine reiche Basis, auf die sie wie auf eine Art weichen Stoffes gebettet ist; die schönste Lösung hat für dieses Glied die attische Kunst gefunden, indem sie ihm eine Hohlkehle und zwei Wulste gibt. Der Schaft ist schlank, seine Höhe beträgt acht und einhalb bis neun und einhalb, der Abstand der Säulen zwei Diameter. Die Kanneluren (bis 24) haben Stege zwischen sich und sind tiefer ausgehöhlt als an der dorischen Säule. Der Echinus, der über einem Perlband ansetzt, zeigt den Eierstab. Darüber kommt das Doppelpolster mit seinen Voluten, aus deren Winkeln Blumen gegen den Echinus gehen97; der Abakus ist zierlich geschwungen und mit einem Wellenprofil versehen. Der aus drei Streifen bestehende Architrav schließt mit Perlband und Welle und ebenso der fortlaufende Fries. Darüber kommt die Hängplatte mit den Zahnschnitten (die in attischen Bauten fehlen) und über dieser die Traufrinne (Sima) mit geschweiftem Profil. Auch die Antenprofile sind reicher und bewegter als im dorischen Stil, und ebenso die Profile an den Wandflächen. Diese Formen haben, wie namentlich der dreiteilige, nur durch Aufeinandernieten von drei dünnen Holzstämmen zu erklärende Architrav und die aus den Lattenenden einer horizontalen Decke von sehr leichtem und dünnem Holz hervorgegangenen Zahnschnitte zu beweisen scheinen, ihr Prius nicht wie die Formen des dorischen Stils in einem Bau aus starken, z.B. eichenen Balken, sondern sie setzen Stämme von viel geringerem Durchmesser, ursprünglich etwa gar Palmen und dergl. voraus und weisen vielleicht nach Mesopotamien. Wann aber und durch welche Kraft hat sich der Peripteros mit ihnen verbündet und sie zu seinem Ausdruck erkoren, so gut wie die dorischen? Wir können nur sagen, daß Orient und Okzident hier zu einer unvergleichlich schönen Form mysteriös zusammengewirkt haben.

Wesentlich die Formen des ionischen hat der korinthische Stil; nur hat er das reichere Kapitäl aus Blättern und Voluten oder Ranken. Sowohl die Akanthusblätter als die Stengel wachsen, wie sie hier gegeben werden, weder im Garten noch im Felde, sie gehören einer höhern Form als irgendeiner Naturform an und sind nur Gleichnisse einer solchen. In der Dekoration (an Stelen, Dreifüßen usw.) mögen sie lange vorhanden gewesen sein, bevor eine korinthische Ordnung für uns nachweisbar ist, und zwar bereits in ihrer idealen Gestalt; der Akanthus war von frühe her das sich Umlegende, der Stengel das Strebende, der Kelch oder Korb ist wohl eine alte Form für Stützen verschiedener Art gewesen, schon in Ägypten kommt er auch bei Säulen vor. Noch die letzte griechische Zeit hat dann das prachtvolle korinthische Kranzgesimse geschaffen.

Die dorische und die ionische, ja alle drei Ordnungen wurden für das Äußere und die zwei Säulenreihen des Innern unbefangen nebeneinander gebraucht. Daß die Innensäulen, z.B. der athenischen Propyläen, ionisch sein mußten, hat seinen Grund darin, daß hier die größere Höhe die schlankere Form bedingte. Am Tempel der Athene Alea zu Tegea sind die äußern Säulen dorisch, die innern ionisch und korinthisch.

Innerhalb des Feststehenden finden wir nun bei dieser Architektur eine endlose Variation der Verhältnisse. Jeder Tempel ist in den Proportionen anders gestimmt als der andere, und daneben ist doch wieder die Gesetzmäßigkeit so groß und die Proportion so gleichmäßig gut, daß für das rohe Auge die höchste Blüte des dorischen Stils an den athenischen Bauten von der sizilischen Formenbildung und Proportion nicht zu unterscheiden ist. Und nun haben noch jene merkwürdigen Verhältnisse eine starke Wirkung auf unsere Empfindung, die uns A. Thiersch zum Bewußtsein gebracht hat98: das Innere der Cella des Hexastylos ist im Grundplan dem Säulenhaus analog, ihre Diagonalen sind identisch oder parallel; die Fronte der Cella bis an den untern Architrav und die Fronte des ganzen Tempels samt Stufen bilden zwei ähnliche Rechtecke, d.h. Kern und Hülle sind auch im Durchschnitt analog, und daher verlangen Tempel mit weitem Abstand der Säulen von der Cella, also mit relativ kleiner Cella, hohe Gebälke und Stufenunterbauten und umgekehrt; je zwei Triglyphen samt ihrer Metope und Gesimsstück bilden ein Analogon des Gesamtbaues; in einem kombinierten Bau, wie das Erechtheion, haben die drei Gebäude parallele Diagonalen usw. Wieweit sich daneben die von Penrose entdeckten Feinheiten als bewußt und beabsichtigt erweisen lassen, mag dahingestellt bleiben99. Wenn wirklich aus optischen Gründen die Säulen am Peripteros eine leise Neigung einwärts haben, die Ecksäulen etwas verstärkt und ihre Intervalle etwas schmaler sind, der Stufenbau und ebenso die große Horizontale des Gebälkes leise aufwärts geschwellt ist, so wäre hier ein Analogon zu den feinsten Künsten der griechischen Metrik gegeben, und es würde sich fast buchstäblich das Wort des Astrologen im zweiten Teil von Goethes Faust bewähren:

"Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt,

Ich glaube gar, der ganze Tempel singt."

Bei den profanen Gebäuden zeigt sich eine vereinfachte Anwendung der nämlichen Formen. Schon mit den nur wenig einfachern Propyläen der Akropolis beginnt die leise Abstufung. Die Anlagen dieser Bauten bestehen bis auf die Diadochenzeit, welche reicher zu kombinieren begann, nur aus Sälen, Höfen, Hallen mit Säulen, Gebälk, Pfeilern und Mauern; ein neues struktives Prinzip tritt hier nicht in Tätigkeit.

Griechische Kulturgeschichte, Band 3

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