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1. Kapitel

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Tick … tack … tick … tack … tick …

Die langsamste Schnecke hätte diesen verdammten Sekundenzeiger überholen können. Bewegte er sich denn überhaupt nicht? Es wäre kein Wunder gewesen, wenn er ganz stehen geblieben wäre.

Am liebsten würde Judi aufstehen, zu der weiß gestrichenen Klassenzimmerwand hinübergehen und dieser blöden, babyblauen Uhr einen Schlag verpassen, der sie in ihre Einzelteile zerlegen würde. Sie hatte in der Mathestunde schneller zu laufen und damit basta!

»Nun, Judi? Weißt du die Antwort?«

Sie zuckte zusammen, als sie die Stimme des Lehrers hörte. Die letzte Viertelstunde hatte er ununterbrochen geredet und sie hatte immer gleich viel verstanden: nämlich gar nichts. Deswegen hatte sie auch gar nicht mehr hingehört. Ratlos rutschte sie auf ihrem Stuhl herum.

»M ist drei Viertel«, raunte ihr ihre Platznachbarin zu.

»Rabea! Du sollst doch nichts vorsagen! Also Judi, wußtest du nun die Antwort oder nicht?«

»Wenn ich ehrlich bin, nicht, Herr Lessmann. Ich verstehe das einfach nicht. Können sie das nicht einfacher …«

»Entweder paßt du auf oder du gehst raus. Ich mache das schon einfach genug. Also noch einmal …« Herr Lessmann fischte die Kreide vom Tisch und begann von neuem auf die schon vollgekritzelte Tafel zu schreiben. Judi verdrehte die Augen. Sie würde sich wohl noch einmal alles von ihrer Freundin erklären lassen müssen. Selbst die einfachste Rechnung konnte er so kompliziert machen, daß der beste Mathefreak damit seine Probleme hatte. Und dann kam auch noch sein unerträglicher Mundgeruch dazu, der selbst einen Toten zum Leben erwecken könnte, um ihn sofort wieder umzubringen. Schrecklich! Und er bemerkte nicht einmal, daß es über die Hälfte der Klasse nicht verstand. Alexander, ein paar Tische weiter, starrte mit leerem Blick auf die Tafel und dachte wahrscheinlich an alles andere, nur nicht an Mathe. Sandra radierte frustriert in ihrem Heft herum, weil ihre Rechnung schon wieder das falsche Ergebnis hatte usw. Nur der kleinste Teil ihrer sechsundzwanzigköpfigen Klasse schien zu verstehen, was Herr Lessmann da eigentlich an die Tafel kritzelte.

Ein neuer Blick auf die Uhr ließ sie fast verzweifeln. Der Sekundenzeiger hatte sich wirklich kaum von der Stelle bewegt. Wie sollte sie das nur aushalten?

Ein kleiner weißer Zettel landete plötzlich zielsicher auf ihrem aufgeschlagenen Heft. Verstohlen blickte sie zum Lehrer hinüber, der noch immer emsig dabei war, die Tafel zu beschreiben und ununterbrochen zu reden. Konnte er nicht einfach heiser werden? Mit roter Schrift stand groß auf dem Zettel: ›Hast du das verstanden?‹

Judi sah sich nach dem Werfer um und ihr Blick blieb auf Alessia hängen, die auf ihrem Stift herum kaute und sie dabei angrinste. Blöde Frage! Die Antwort lautete eindeutig ›nein‹, aber wenigstens würde sie das Schreiben ablenken und sie davor bewahren, auch noch einzuschlafen.

Das Zettelwerfen ging ein paar Minuten hin und her, dann hatte Herr Lessmann endlich seinen Redeschwall beendet und sich zu ihnen herumgedreht.

»Irgendwelche Fragen?«

Eigentlich müßten jetzt mindestens zwanzig Leute den Finger heben, aber natürlich tat das keiner. So gab er ihnen ein paar Aufgaben im Buch auf und widmete sich dann seinem eigenen Kram.

Rechnend überstand sie den Rest der Stunde ein wenig besser und atmete erleichtert auf, als das laute Klingeln der Glocke erscholl. Endlich! Die Schule überlebt und das Wochenende war an der Reihe.

Eilig stopfte sie die Hefte in die Tasche zurück, hangelte ihre Jacke vom Stuhl und verließ so schnell sie konnte das Klassenzimmer, ehe Herr Lessmann irgendwelche Hausaufgaben aufgeben konnte. Judi ging den langen Flur entlang, nach rechts und durch die Tür, wo ein paar Meter weiter schon die Busse warteten. Vor den schmalen Türen herrschte wie immer arges Gedrängel. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie keinen Sitzplatz mehr bekommen und so knuffte sie sich mit den Ellebogen ihren Weg in das Innere des Busses und erwischte gerade im letzten Augenblick einen Sitzplatz. Nur einige Sekunden später ließ sich Rabea mit einem erleichterten Seufzer neben sie in den Sitz fallen.

»Hast du heute Zeit?«, fragte sie.

Judi schüttelte den Kopf. War ja klar. Ausgerechnet heute mußte ihre Mutter weg und da war das Haus leer, weil ihr Vater erst spät abends von der Arbeit zurück kam. Und genau immer dann mußte sie zu Hause bleiben.

Ihre Freundin schwieg enttäuscht und so schweigend verlief auch der Rest der Fahrt. Als sie ihre Haltestelle erreicht hatten, brach sie das Schweigen und verabschiedete sich. Judi sprang zwischen den erst halb geöffneten Türen hindurch, kramte in derselben Bewegung ihren Fahrradschlüssel hervor und winkte Rabea zu. Der altersschwache Bus setzte sich knatternd wieder in Bewegung und fuhr weiter, gefolgt von einer bläulichen Abgaswolke, deren bloßer Anblick einen Asthmaanfall hervorrufen konnte.

Als sie gerade den Schlüssel in das Schloß ihres Fahrrades stecken wollte, bekam sie eine Gänsehaut. Sie runzelte die Stirn und streifte sich eilig ihre Jacke über. Die letzte Woche hatte Judi kein einziges Mal gefroren und gehofft, daß es vorbei war. Früher hatte sie oft grundlos plötzlich zu frieren begonnen, obwohl es sehr warm war. Ihre Mutter war daraufhin mit ihr zum Arzt gegangen, aber der hatte auch nicht weiter gewußt. Nur ein paar Medikamente hatte er aufgeschrieben und sonst nichts.

Bibbernd fuhr sie los. Zuhause würde sie sich erst einmal eine heiße Tasse Tee machen. Eigentlich sollte es sie nicht wundern, daß die Medikamente nicht geholfen hatten. Sie hatte den Beipackzettel, auf dem etwas von Erkältung stand, gelesen, aber sie war nicht erkältet. Judi bekam keinen Husten, keinen Schnupfen und auch kein Fieber. Nur das Frieren. Und das ging schon ein Jahr lang so. Kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte es angefangen und sie konnte nicht sagen, warum. Oder doch … sie konnte sich an irgend etwas erinnern, nur wußte sie nicht genau, woran. Es war, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen, das noch nicht allzu lange her war.

Sie hatte ihre Hofeinfahrt erreicht und fuhr hinein, um ohne Überraschung festzustellen, daß das Auto ihrer Mutter nicht mehr da war. Hoffentlich hatte sie etwas zu Essen gemacht und nicht wieder einen Zettel geschrieben, auf dem stand, sie solle sich eine Tiefkühlpizza warm machen.

Judi schob das Fahrrad in den Ständer, schloß die Haustür auf und schleuderte ihre Schuhe in die Ecke. Ihr war noch immer kalt und so ließ sie die Jacke vorerst an. Den Rucksack stellte sie neben die Treppe und machte sich auf den Weg in die Küche. Auf dem weißen Tisch lag ein Zettel:

›Bin schon weg. Habe leider keine Zeit mehr gehabt, etwas Richtiges zu Essen zu machen. Im Backofen liegt eine Tiefkühlpizza. In fünf Minuten wird sie wohl fertig sein. Bin um 6.00 Uhr erst wieder zu Hause. Bis dann! Mutti‹

Judi zog eine Grimasse und blickte in den Ofen. Eine Pizza brutzelte darin. Toll! Sogar dieselbe Sorte seit drei Tagen. Wenn das so weiter ginge, würden ihr diese Dinger zu den Ohren herauskommen.

Sie schaltete den Ofen aus und lud sich das unerwünschte Ding auf ihren Teller. Vielleicht sollte sie ja mal ihre Klasse einladen, damit diese die Gefriertruhe leer essen konnte, die Tiefkühlpizzen eingeschlossen.

Judi würgte sie ohne großen Hunger hinunter und sah auf die Uhr. Gerade einmal Zwei. Gelangweilt fischte sie nach der Zeitung, die auf dem Platz ihres Vaters lag. Sofort auf der ersten Seite schrieen ihr rot gedruckte Buchstaben regelrecht entgegen: ›Hat er seine Frau hintergangen?‹

Sie überflog den Text gelangweilt. Immer derselbe uninteressante Quatsch. Sie faltete die Zeitung wieder zusammen und stand auf. Ihr Kälteanfall hatte mittlerweile aufgehört und so zog sie die Jacke aus, hob im Laufen ihren Rucksack vom Boden und polterte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Dort blieb sie einen kurzen Augenblick unschlüssig stehen, dann steuerte sie ihren kleinen Schrank an und zog die zweite Schublade auf. Nachdem sie eine Weile zwischen Papier- und Fotobergen gewühlt hatte, fand sie schließlich, was sie suchte: ein kleines blaues Kästchen, das bequem in ihre Hand paßte. Sie klappte es auf und hob ein silbernes Amulett heraus. Auf der runden Scheibe waren drei halb dachen- und halb schlangenartige Wesen zu erkennen. Irgendwann nach ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte sie es während der Klassenfahrt einmal gefunden und behalten. Aber woran erinnerte sie dieses Amulett?

Judi zuckte mit den Schultern und hängte es sich dann um, achtete aber darauf, daß man es nicht sah. Sie schob die Schublade wieder zu und entdeckte einen Brief auf ihrem Schreibtisch. Er war von Kathrin. Nachdem ihre Freundin die Schule gewechselt hatte, schrieben sie sich regelmäßig. Aber es hatte noch Zeit, den Brief zu lesen. Ihre Mutter hatte ihr gestern Abend noch gesagt, sie solle etwas von Frau Bensen abholen, da sie selber keine Zeit mehr gehabt habe.

Sie polterte die Treppe wieder hinunter, schlüpfte in ihre Jacke und zog ihre Schuhe wieder an, um sich sofort auf den Weg zu machen. Das Haus von Frau Bensen befand sich nur drei Häuser weiter und so lohnte es sich nicht, mit dem Fahrrad zu fahren. Es war ein Spaziergang von höchstens acht Minuten und Judi ärgerte sich jedes Mal von neuem darüber. Genausogut hätte ihre Mutter das Gewünschte auf dem Weg zur Arbeit eben abholen können, aber sie wollte, daß Judi sich mit der blöden Nachbarstochter anfreundete. Immer mußte sie sich Predigten anhören, wie schön diese Freundschaft doch wäre und was für ein reizendes Mädchen Ingrid doch sei.

Sie verdrehte die Augen, als sie die Hofeinfahrt erreicht und geklingelt hatte und feststellen mußte, daß niemand anderes als eben diese Ingrid die Tür öffnete.

»Hallo! Das ist aber schön. Wie geht es dir?«

Noch ein bißchen mehr und ihre Stimme würde vor lauter Schleim anfangen zu tropfen. Judi mußte sich beherrschen, genau das ihr nicht ins Gesicht zu sagen.

»Hallo. Ich soll etwas abholen.« Den unfreundlichen Ton mußte Ingrid einfach bemerken, aber sie ging leider nicht darauf ein.

»Ja, meine Mutter hat da so ein tolles Pflegeshampoo entdeckt und sollte deiner Mutter gleich eines mitbringen.«

Nur wegen dieses blöden Shampoos mußte sie sich hier herquälen? Außerdem hatte ihre Mutter doch schon Hunderte davon! Jetzt bloß nicht aufregen …

»Ist dir nicht gut? Ach, ich hole schnell das Zeug.«

Ingrid drehte sich um und verschwand im Innern des Hauses. Wie alt war sie eigentlich? Vierzehn? War ja auch egal.

Das Mädchen erschien wieder hinter der Tür, öffnete sie und machte ein schuldbewußtes Gesicht. »Oh, tut mir leid! Ich habe dich ja ausgesperrt … Hier!« Sie reichte ihr eine braune Papiertüte, machte aber keine Anstalten wieder ins Haus zu gehen.

Judi achtete nicht darauf, sondern drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Sie hatte einfach keinen Bock, jetzt mit dieser eingebildeten Ziege zu reden. Sie wartete, während sie die Straße wieder betrat, auf das Geräusch, mit dem sich die Tür schloß, aber es blieb aus. Sie unterdrückte den Impuls, sich herumzudrehen. Sollte Ingrid ihr doch nachstarren und sollte sie doch ruhig beleidigt sein und überhaupt! Es war ihr nur recht.

Als sie auf dem halben Weg einen Blick in die Tüte warf, sah sie aus den Augenwinkeln zwei Fußgänger. Eigentlich sollten sie Judi gar nicht beunruhigen, schließlich waren sie ganz normale Fußgänger. Aber sie taten es doch. Verwirrt und leicht verwundert blieb sie stehen und beobachtete die Leute genauer. Sie waren in blaue Jeans gekleidet, die beide gleich aussahen, und der Größere trug einen schwarzen und der Kleinere einen braunen Pulli. Was war daran so beunruhigend?

Sie waren mittlerweile etwas näher gekommen, so daß sie Judi vermutlich schon deutlich erkennen konnten. Judi hatte es plötzlich sehr eilig, schneller zu laufen und brauchte kaum zwei Minuten, um ihre Haustür zu erreichen, sie aufzuschließen und heftig wieder zuzuknallen. Was war bloß in sie gefahren? Anscheinend litt sie entweder immer noch unter dem Matheunterricht von Herrn Lessmann oder es lag an der Überdosis Tiefkühlpizzen mit Salami.

Judi atmete hörbar aus, stieß sich von der Tür ab und schleuderte ihre Schuhe abermals in die Ecke. Ihre Jacke warf sie in Richtung Jackenständer, traf aber nicht. Sie machte aber auch keine Anstalten, sie aufzuheben, denn genau in diesem Moment klingelte es an ihrer Haustür.

Judi blieb wie angewurzelt stehen. In der nächsten Sekunde schalt sie sich eine Närrin. Eine Klingel war schließlich dazu da, daß man klingelte! Und warum sollte das niemand tun? Vielleicht der Postbote, der sich verspätet hatte, oder Ingrid, um sich nochmals bei ihr wegen der Tür zu entschuldigen, oder …

Es klingelte ein zweites Mal. Sie gab sich einen Ruck und riß die Tür regelrecht auf, um zu erkennen, daß dort niemand anderes als die beiden Männer von vorhin standen. Sie sagte nichts, sondern starrte sie einfach nur an.

»Ähm … Frau Maria Lenz?«, fragte der Große.

Maria Lenz? Sah sie denn jetzt auch noch aus wie ihre Mutter? Waren die denn blind oder was?

»Ich meine … ist Frau Maria Lenz da?«

Judi schüttelte den Kopf.

»Können wir mit dir reden?«

Sie sagte gar nichts. War es nur so ein Gefühl, oder wollten die Leute da gar nicht mit ihrer Mutter reden, sondern sich eher vergewissern, daß sie gar nicht da war?

»Hattest du letztes Jahr eine Klassenfahrt mit Herrn Fischer? Im neunten Schuljahr?«

»Warum?« Was ging die das an?

»Hast du dort … etwas gefunden oder geschenkt bekommen?«

»Nein, wieso?« Die kleine Pause hatte sie nicht überhört.

»Nun ja. Wir glauben schon, daß du etwas bekommen oder zumindest gefunden hast. Es gehörte nämlich uns und ist von großem Wert, und wir hätten es gerne zurück. Es muß sich um ein Versehen handeln.«

Wollten die ihr Amulett? Hatten die denn noch alle Tassen im Schrank? Ein Versehen. Wer sollte das denn glauben? Und sie hatten natürlich ein ganzes Jahr nach dem vermutlichen Finder gesucht. Lächerlich!

»Ich weiß, das muß sich für Euch ziemlich dumm anhören, aber es ist so. Es hat sehr lange gedauert, bis wir eine Liste bekommen hatten mit den Personen, die an der Klassenfahrt teilgenommen haben. Und jetzt müssen wir jeden einzelnen fragen. Es wäre wirklich sehr schön, wenn Ihr uns weiterhelfen könntet«, meldete sich der Kleinere zu Wort.

Judi fiel auf, daß er trotzdem viel älter aussah und längere Haare hatte. Und er sprach sie mit Euch oder Ihr an. Man hatte sie schon einmal so angesprochen, das wußte sie plötzlich. Aber es schürte eher ihr Mißtrauen.

»Tut mir leid. Ich habe wirklich nichts gefunden oder bekommen. Worum handelt es sich denn? Vielleicht kann ich Ihnen ja doch ein wenig weiterhelfen?«

»Um ein Schmuckstück«, antwortete der Größere.

Judi runzelte die Stirn, tat so, als müsse sie einen Moment ernsthaft nachdenken, und verzog dann enttäuscht das Gesicht.

»Nein … nein ich wüßte nicht, daß jemand ein Schmückstück gefunden hat. Tut mir ehrlich leid.«

»Na, dann … Trotzdem vielen Dank für Eu … deine Hilfe. Auf Wiedersehen!«

Hatte der Ältere schon wieder Euch sagen wollen? Wo kamen diese schrägen Typen überhaupt her? Bestimmt nicht aus dieser Gegend. Da redete man sich nicht so an.

Judi schloß die Tür, ging die Treppe wieder hoch in ihr Zimmer und steuerte geradewegs ihr Bett an, um sich darauf fallenzulassen. Ein paar Minuten lag sie einfach nur nachdenklich da, dann sah sie zum Fenster hinüber (als wenn die beiden vor ihrem Fenster stehen könnten! Quatsch!) und zog anschließend das Amulett unter ihrem Pulli hervor. Sie betrachtete es, wie sie es schon so oft getan hatte, und wartete, bis die feinen Linien ein Bild ergaben. Die Redeweise der Männer erinnerte sie an irgend etwas, das mit dem Amulett zu tun hatte.

Sie stand wieder auf, ließ das Amulett verschwinden und öffnete den Brief von Kathrin. Er enthielt eigentlich das Übliche. Beschwerden über das schlechte Essen in der Schule, Streit in der Klasse und … Judi zog scharf die Luft ein und las noch einmal:

›Du, diese Woche, eher gesagt gestern, waren zwei komische Typen bei mir. Sie haben mich über die Klassenfahrt letztes Jahr ausgefragt und über ein angeblich verlorenes Schmuckstück. Hast du eine Ahnung, wovon die reden? Vielleicht wirst du sie ja auch bald mal sehen, denn sie wollen jeden besuchen, der damals dabei war. Muß ja was ungeheuer Wichtiges sein! …‹

Judi überflog den Rest nur noch. Also hatten sie doch die Wahrheit gesagt! Und wenn es sich um etwas ganz anderes als um das Amulett handelte? Warum machte sie sich überhaupt solche Sorgen? Die Männer hatten bei ihr nichts erreicht und würden sich den Nächsten vorknöpfen. Sie schaute aus dem Fenster und sah, wie sie um die Ecke bogen und hinter den Bäumen verschwanden. Gut! Sie waren weg. Ein erleichtertes Aufatmen konnte sie nicht unterdrücken, ebensowenig das heftige Zusammenzucken, als das Telefon klingelte. Irgendwann sterbe ich an einem Herzinfarkt, dachte sie, während sie die Treppe hinuntereilte, ins Eßzimmer ging und den Hörer abhob. »Hallo?«

»Ja, ist da Maria Lenz?«, ertönte eine tiefe Stimme.

Hielten sie denn heute alle für ihre Mutter? »Nein, nicht Maria, sondern die Tochter. Kann ich etwas ausrichten?«

Erst kam gar keine Antwort, dann erklang ein gleichmäßiges Tuten. Toll! Aufgelegt. Nein, heute war wirklich nicht ihr Tag.

Das Telefon klingelte abermals. Ein paar Sekunden betrachtete sie den Hörer einfach nur feindselig, dann hob sie ihn mit einem energischen Ruck ab und grummelte: »Nein, hier ist nicht Maria Lenz. Was wollen Sie?«

»Äh … Hallo Judi! Ich bin’s. Warst du schon bei Frau Bensen?«

»Ja, Mam, und bevor du fragst, ich habe die Pizza gegessen, aber es wäre wirklich nicht schlecht, wenn es morgen etwas anderes geben würde.«

»Mal sehen. Ach, ja. Deswegen wollte ich eigentlich anrufen. Es kann noch etwas länger dauern. Ich komme wahrscheinlich mit deinem Vater nach Hause. Also bis acht dann. Und paß mir auf das Haus auf!«

Ehe sie etwas erwidern konnte, legte ihre Mutter auf. Auch gut. Dann eben um Acht. Das Telefon klingelte abermals. Judi verdrehte die Augen.

»Was ist denn noch? Soll ich mir zum Abendessen eine Pizza warm machen?«

Stille. Dann: »Ich glaube, Ihr habt etwas, das uns gehört. Was würdet Ihr davon halten, wenn Ihr es uns aushändigen würdet?«

»Hä? Wer ist da überhaupt?«

»Wann kann es abgeholt werden?«

»Gar nicht! Ich weiß ja nicht mal, was gemeint ist. Wer ist da?«

Wieder wurde aufgelegt. Judi knallte den Hörer auf die Gabel. Entweder waren das die schrägen Vögel von eben, oder jemand wollte sich einen Scherz erlauben. Einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, den Stecker aus der Wand zu ziehen, um endlich ihre Ruhe zu haben, tat es dann aber doch nicht. Sie ging wieder in ihr Zimmer, um Kathrins Brief zu beantworten.

~ ~ ~

Nachdenklich betrachtete er den einfachen Kieselstein in seiner Hand. Nun, er sah nur so aus. In Wirklichkeit war es etwas, das er sich nicht einmal hätte träumen lassen. Das Ding erfüllte ihm seine Wünsche, wann immer er es wollte. Jedenfalls fast immer.

Hastig steckte er es wieder in seine Hosentasche, als er das Geräusch eines Pferdes hörte. Eine Kutsche näherte sich. Sollte er sie anhalten lassen? Er sah nicht gerade aus wie einer von den feinen Leuten, denen sie gehörte, aber es wäre keine schlechte Idee. Das Dorf, in das er wollte, befand sich noch ein gutes Stück vor ihm. Die Kutsche kam näher und preschte vorbei. Mist! Es funktionierte eben nicht immer. Vielleicht mußte er ja auch nur ein wenig üben. Dem schönen Gefährt nachblickend, schlenderte er den Weg entlang.

Die andere Frage war: warum wollte er eigentlich in dieses Dorf? Er hatte jetzt schon zwei Städte besucht. Nicht, daß er kein Zuhause hätte. Er hatte eines, und sogar ein sehr gemütliches. Und eine sehr gute Frau. Aber er mußte dort hin, koste es was es wolle. Irgend etwas erwartete ihn dort. Er zuckte mit den Schultern. Schlimm konnte es ja nicht sein, denn er hatte einen Glücksstein gefunden.

~ ~ ~

Träge hob sie die Hand, zielte genau … und ließ sie mit voller Wucht runtersausen. Der Wecker erstarb mit einem quäkenden Laut. Eigentlich sollte sie das ja nicht mehr tun. Ihre Mutter hatte nach dem zehnten Wecker gesagt, daß es keinen neuen mehr geben würde. Nun, sie ging ja schon sanfter mit ihm um. Seinen Vorgänger hatte sie gegen die Wand geklatscht. Stöhnend drehte Judi sich im Bett um. Nur noch fünf Minuten …

»Juuudi! Wir fahren weg!«, rief ihre Mutter von unten herauf.

»Was?«, rief sie zurück. Es war gerade einmal neun Uhr. Wo wollten sie denn so früh hin?

Ihre Zimmertür ging auf und ihr Vater kam herein. »Müssen noch einkaufen und in die Werkstatt, und dann sind wir zum Mittagessen eingeladen. Kommen erst um fünfe rum wieder.«

»Ist gut«, murmelte Judi.

»Schlaf nicht zu lange! Und geh ans Telefon! Der Anrufbeantworter ist kaputt. Sie sollen morgen wieder anrufen. Bis später dann!«

Ihr Vater verließ das Zimmer wieder und kurze Zeit später konnte sie hören, wie die Haustür geschlossen wurde und das Auto losfuhr. Ihr war es nur recht. Sie konnten ruhig noch länger wegbleiben. So würde sie sich einen schönen Tag machen ohne Hetze.

Obwohl sie immer noch nicht ganz wach war, schlug sie die Bettdecke beiseite, watschelte ins Bad und beförderte sich unter die Dusche. Nachdem sie ihre Lebensgeister wenigstens halbwegs geweckt hatte, zog sie sich an und ging hinunter in die Küche. Es roch nach Brötchen und frischem Tee. Herrlich!

Zwei Brötchen später angelte sie wie jeden Morgen nach der Zeitung, die auf dem Platz ihres Vaters lag und handelte sich dabei drei tiefe Kratzer an ihrer Hand ein. Erschrocken zog Judi sie zurück und warf ihrem Kater einen bösen Blick zu. Aber der kümmerte sich gar nicht darum und begann sogar noch zu schnurren.

»Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Blödmann!«

Merlin schnurrte noch lauter, so daß er sich mittlerweile wie ein kaputter Rasenmäher anhörte.

Judi ließ die Zeitung vorsichtshalber wo sie war. Seufzend stand sie auf, als das Telefon klingelte, ging ins Eßzimmer hinüber und hob ab.

»Hallo?«

»Frau Lenz?«

Kam ihr diese Stimme irgendwie bekannt vor? »Nein, die ist nicht da und Sie können auch erst Morgen wieder mit ihr reden. Kann ich etwas ausrichten?«

»Ich lasse ausrichten, daß wir endlich das haben wollen, was uns gehört! Wann wollt Ihr es uns endlich aushändigen? Es gehört Euch nicht. Ihr habt kein Recht, es zu behalten! Wann können wir es abholen?«

»Sag mal, spinnst du eigentlich? Wenn du einem einen Streich spielen willst, dann ruf bei einem anderen an! Bei mir verschwendest du deine Zeit.«

Judi knallte den Hörer auf die Gabel. Und sofort klingelte es wieder. Sie riß den Hörer wieder an ihr Ohr und brüllte: »Du kannst mich mal! Du sollst jemand anderem auf den Geist gehen!«

»Äh … Hatten wir Streit?«

»Oh! Rabea! Entschuldige bitte, aber irgend jemand macht sich einen Spaß daraus, mich zu nerven und da dachte ich, daß du …«

»Ist ja schon gut. Ich wollte ja auch nur fragen, ob du heute Zeit hast. Gestern waren ja deine Eltern weg.«

»Und heute sind sie es schon wieder«, unterbrach Judi ihre Freundin. »Tut mir leid, aber heute geht es schon wieder nicht.«

»Hmm, na ja. Vielleicht morgen oder so. Bis dann!«

»Ja, mach’s gut!«

Sie wartete, bis Rabea aufgelegt hatte, dann tat sie es ebenfalls. Merlin strich schnurrend um ihre Beine. Judi bückte sich, hob ihn auf den Arm und ging mit ihm zurück in die Küche. Dort setzte sie ihn wieder ab und gab ihm etwas zu fressen. Sie mußte sich wieder beruhigen. Nein, von so einem Vollidioten, der nichts anderes im Kopf hatte, als irgendwelchen Leuten auf den Zeiger zu gehen, würde sie sich nicht den Morgen verderben lassen.

~ ~ ~

Verwirrt ging er durch die Straßen. Ein paar Wächter kamen ihm entgegen. Auf ihren Gürteln prangte das Wappen von Nebeldorf: ein springendes Reh. Eigentlich sollte er sich einen Platz zum Übernachten suchen, denn es würde bald dunkel werden, aber statt dessen lief er hier durch die schmalen Straßen. Mittlerweile befand er sich in einer Gegend, die er besser meiden sollte. Aber er war hier. Und wieso?

Unschlüssig blieb er vor der roh gemauerten Wand stehen. Eine Sackgasse. Aber er war hier nicht falsch. Das bohrende Gefühl in seinem Innern schien im Gegenteil noch zuzunehmen. Er wandte sich nach rechts und erblickte eine niedrige Tür. Vorsichtig streckte er die Hand danach aus. Sie war offen und gab ein knarrendes Geräusch von sich, als er sie öffnete. Es roch muffig. Wohnte hier überhaupt jemand? Er blieb abermals stehen. Durch eine weitere Tür sickerte Kerzenschein. Gab es hier keine Fenster? Er ging weiter und schloß geblendet die Augen, als er durch die zweite Tür trat. Überall standen Kerzen und es roch nicht mehr muffig, sondern nach irgend etwas Scharfem, das in der Kehle brannte. Erst nach einigen Sekunden bemerkte er, daß noch jemand hier war.

»Wer ist da?«, fragte er leise.

»Ihr seid also gekommen. Habt Ihr auch das mitgebracht, was ich suche?«

»Ich … ich weiß nicht wovon ihr redet.« Seine Knie begannen zu zittern. Alles in ihm schrie danach, sich umzudrehen und aus diesem Raum zu stürmen, aber er tat es nicht. Was zum Henker machte er hier eigentlich?

Der Mann, der aus den Schatten trat, lachte leise. Er schien nicht älter als er selbst zu sein. Höchstens vierundzwanzig. Warum ließ er sich so von ihm einschüchtern?

»Nein? Ihr wißt ganz sicher, wovon ich rede. Gebt ihn mir!«

Seine Stimme hörte sich nach Drohung an und er mußte sich beherrschen, ihr nicht Folge zu leisten.

»Ich habe nichts.«

»Ihr seid ein Narr! Wir könnten zusammenarbeiten, aber anscheinend ist Euch der Stein schon zu Kopf gestiegen. Ich war es, der Euch gerufen hat, und ich bin der Grund, warum Ihr hier seid. Also erfüllt Eure Aufgabe und gebt ihn mir endlich, bevor ich ihn mir holen muß!«

Etwas Silbernes blitzte in der Hand des Fremden auf. Nein. Nein! Er würde ihm den Stein auf keinen Fall geben! Er gehörte ihm! Ihm hatte er sein Glück zu verdanken! Er drehte sich mit einem Ruck um und versuchte, die Tür zu erreichen. Das war das letzte, das er in seinem Leben tat. Er schaffte nicht einmal die Hälfte.

~ ~ ~

Judi klappte das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. Sie sah auf die Uhr: Zwölf. Nach Lesen war ihr nicht mehr zumute, das hatte sie die letzten Stunden ununterbrochen getan. Gelangweilt sah sie aus dem Fenster … und schlagartig war ihre Langeweile vergessen. Zwei Männer kamen den Weg hinauf. Warum konnten sie sie denn nicht einfach den Samstag genießen lassen? Wütend stapfte sie die Treppe hinunter und nahm vor der Tür Aufstellung. Die konnten sich sowieso auf etwas gefaßt machen! Das mit dem Telefon hatte sie ganz bestimmt nicht vergessen.

Sie mußte sich noch ein wenig gedulden, bis sie endlich Stimmen hören konnte und kurz darauf das schrille Klingeln der Haustür. Judi wartete noch ein paar Sekunden, dann öffnete sie die Tür und hob die Hand bevor jemand anfangen konnte zu sprechen.

»Zum hundertsten Mal: ich habe nichts, was euch gehört. Um ganz ehrlich zu sein, ihr geht mir allmählich auf den Zeiger. Und mit euren Telefonstreichen könnt ihr mich auch nicht einschüchtern.«

Die beiden sahen sie einen Moment verdutzt an, dann ergriff der Große das Wort. »Wir haben nicht angerufen.«

Judi warf ihnen einen letzten ›du-mich-auch-Blick‹ zu und wollte die Tür schließen, aber der Mann stellte seinen Fuß dazwischen.

»Was soll das? Laßt mich endlich in Ruhe!«

»Wer hat angerufen? Hat derjenige einen Namen gesagt? Was wollte er?«

»Das müßtet ihr ja wohl am besten wissen.« Judi bekam nun doch ein wenig Angst. Der Typ sollte endlich seinen Fuß da wegnehmen!

»Ich versichere dir, wir haben nicht angerufen. Was hat er gesagt?«

»Ach, und woher wißt ihr dann, daß es ein er war?«

»Was hat er gesagt?«

»Dasselbe wie ihr auch. Aber ich habe wirklich nichts. Und wenn ihr gekommen seid, um, wie ihr sagt, es abzuholen, muß ich euch leider enttäuschen.«

»Hat er das am Telefon gesagt? Verdammt …«

»Wenn sie mich jetzt bitte freundlicherweise entschuldigen würden, und endlich ihren Fuß aus meiner Tür nähmen, wäre ich ihnen wirklich sehr verbunden.«

Der Mann tat das tatsächlich, und sie schlug in derselben Sekunde die Tür zu.

»Warte! Das hast du alles falsch verstanden. Wir haben wirklich nicht angerufen. Du bist in großer Gefahr! Ich weiß, wie sich das anhören mag, aber …«

»Es hört sich ziemlich bescheuert an und jetzt verschwindet endlich!«, unterbrach Judi ihn.

»Es stimmt! Er wird kommen und es sich holen, und das darf nicht geschehen! Jetzt mach die Tür auf! Wir wollen dich doch nur in Sicherheit bringen.«

»Und ich bin die Kaiserin von China!« Wütend eilte sie die Treppe hinauf und verkrümelte sich in ihrem Bett. Sollten sich diese Idioten doch schwarz reden!

Demonstrativ stellte sie ihre Anlage mit der Fernbedienung an und drehte sie auf volle Lautstärke. Sie wartete kurz, dann stellte sie sich ans Fenster. Unwillkürlich tastete ihre Hand über das Amulett, das immer noch unter ihrem Pulli verborgen war. Die Männer sah sie allerdings nicht. Sie atmete tief ein, stellte das Radio wieder aus und ging abermals zur Tür hinunter, ohne sie zu öffnen.

»Warum ich?«, fragte sie dann. Konnten die sich denn keinen anderen aussuchen, den sie nerven konnten? Wie wäre es mit Ingrid? Bei der hätte sie selbst wenigstens auch etwas davon.

»Weil … Du hast es, nicht wahr?«

»Nein. Und deshalb bin ich der Meinung, ihr könntet jemand anderen ärgern.«

»Aber wir machen keine Witze! Wenn er glaubt, du hast es, dann mußt du dich in Sicherheit bringen! Wir könnten dich verstecken. Sehr gut sogar.«

»Meine Mutter war nicht vergeßlich. Vielleicht hat eure Mutter es euch nicht beigebracht: ›Mein Kind, du darfst nie zu einem Fremden ins Auto steigen!‹ Ich jedenfalls glaube, daß das auch für das Angebot eines Fremden gilt, einen in Sicherheit zu bringen.«

Als sie dachte, sie würde darauf gar keine Antwort mehr bekommen, sagte der Kleinere (sie erkannte es an der Stimme) leise: »Und wenn du uns einfach vertraust?«

Das war doch lächerlich! Die beiden hätten Vertreter für Staubsauger oder ähnliches werden sollen, die waren genauso hartnäckig.

»Wir können es beweisen. Mach die Tür auf und du wirst sehen. Ehrenwort!«

Und darauf sollte sie hereinfallen? Und wenn doch … Ganz vorsichtig drückte sie die Klinke herunter, vergaß aber nicht den Fuß gegen die Tür zu drücken. Dann schob sie sie ein paar Millimeter auf um hindurchzuspähen. Das hätte sie nicht tun sollen. Die beiden da draußen hatten es trotz ihrer Vorsicht bemerkt und warfen sich fast gleichzeitig gegen die Tür, so daß diese mit voller Wucht gegen ihren Kopf prallte. Keuchend fiel sie nach hinten und landete unsanft auf dem Teppichboden. Der Große packte sie am Arm und zerrte sie hinaus. Aber anders als erwartet, steckten sie sie nicht in irgendein Auto mit schwarzgetönten Scheiben, hinter dessen Steuer ein Mann mit Zigarre im Mundwinkel saß, sondern rannten auf das kleine Gartenhaus zu, das ihrem Haus gegenüber stand.

Judi war immer noch zu benommen, um zu schreien oder sich auch nur zu wehren. Der Kleinere öffnete die Tür und schob den Rasenmäher und das andere Gerümpel beiseite, um Platz für sie zu schaffen. Dann schloß er die Tür wieder und nahm vor dem schmutzigen Fenster Aufstellung.

Behutsam setzte sie der Große auf dem klapprigen Gartenstuhl ab und sah sie an.

»Wie geht es dir?«

»Ihr seid ja nicht mehr ganz dicht! Was wollt ihr hier machen?«

»Warten.«

»Worauf denn? Daß meine Eltern nach Hause kommen und die Polizei rufen?«

»Nein. Wir warten auf den Beweis. Damit du endlich einsiehst, daß wir die Wahrheit sagen.«

Und das taten sie dann auch. Judi wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war bis der Kleinere sich hastig etwas weiter vom Fenster zurückzog und ihr mit Gesten bedeutete, aufzustehen. Nichts tat sie lieber als das, sie konnte nämlich nicht mehr sitzen. Neugierig trat sie an das schmutzige Fenster und spähte hinaus. Eine einzelne Person stand vor ihrer Haustür und klingelte. Er war in ein Holzfällerhemd und Jeans gekleidet und trug eine Cappie. Man konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen. Er klingelte noch einmal und dann ein drittes Mal. Was sie dann sah, konnte sie kaum glauben. Der Mann sah sich um, und als noch immer niemand die Tür öffnete, ging er zum Fenster, das auf Kippe stand und verrenkte sich so lange den Arm, bis der Griff waagerecht lag und er es aufschieben konnte. Allerdings mit dem Ergebnis, daß sämtliche Blumentöpfe, die innen auf der Fensterbank standen, zu Bruch gingen.

»Glaubst du uns jetzt?«

»Ich … Und wenn ihr ihn beauftragt habt?«

Beide verdrehten gleichzeitig die Augen.

»Und wenn es stimmen würde, was sollte ich dann eurer Meinung nach tun?«

»Mit uns kommen. Wir können dich in Sicherheit bringen. Du mußt uns nur vertrauen.«

So ein Schwachsinn! Diese Männer waren doch wildfremd und sie verlangten von ihr, daß sie ihnen vertraute?

Es dauerte noch eine Weile, bis der Eindringling endlich aus ihrem Haus trat und den Weg wieder zurück eilte.

Judi atmete erleichtert auf. Nur ein Problem hatte sie … Wie sollte sie das ihrer Mutter bloß erklären? Nun, da war ja auch noch Merlin. Der dicke Kater hatte schon öfter Töpfe in Scherben verwandelt, wenn er auf die Fensterbank gesprungen war. Warum sollte er es jetzt nicht wieder gewesen sein? Er war nun einmal ein Trampel.

»Nein, Danke! Ich gehe jetzt wieder in mein Zimmer und wenn ihr ebenfalls gehen würdet, nur in die entgegengesetzte Richtung, also da die Straße hinunter, wäre ich wirklich sehr froh. Tschüß!«

Sie ging hinaus und stellte fest, daß der Schlüssel sich nicht in ihrer Hosentasche befand. Judi zuckte mit den Schultern und betrat, wie der Mann vor ihr, das Haus durch das immer noch offene Fenster. Der Boden bot keinen sehr erbaulichen Anblick. Er war mit zerbrochenen Blumentöpfen, Erde und teilweise abgeknickten Pflanzen übersäht. Na, Klasse! Und wer mußte das sauber machen?

Kopfschüttelnd schloß sie wieder das Fenster (diesmal richtig) und winkte den beiden Männern zu, sie sollten endlich verschwinden. Sie taten das dann Gott sei Dank auch. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.

Nach ungefähr zwanzig Minuten hatte sie alles soweit wieder hergerichtet und ihr erster Weg ging zum Telefon. Eilig tippte sie Rabeas Nummer ein und wartete bis diese endlich abhob.

»Hallo?«

»Hi, ich bin’s. Du … Ich weiß das hört sich total verrückt an, aber zwei bekloppte Typen belagern mich und ein dritter hat sogar bei uns eingebrochen. Ich habe ganz schön Angst. Kann ich wohl vorbeikommen? Ich weiß nicht, ob diese Verrückten noch mal wiederkommen. Die labern ständig etwas von Gefahr und solchem Zeugs. Die einzige Gefahr, die ich sehe, geht von denen aus. Die sind reif für die Klapse!«

»Ah … ja. Klar, du kannst kommen. Und dann erzählst du mir noch mal alles haargenau, okay?«

»Ist gut. Bis dann!« Erleichtert legte sie den Hörer auf die Gabel zurück und steckte den Schlüssel ein. Einen Moment lang überlegte sie, mit dem Fahrrad zu fahren, entschied sich dann doch dagegen. Sie brauchte frische Luft, um nachzudenken, und das möglichst lange. Judi würde zu Fuß gehen, und so schloß sie das Haus sorgfältig ab und machte sich auf den Weg. Als sie eine Weile die Straße entlang gegangen war, kam ihr wieder jemand entgegen. Ihr Herz drohte stehenzubleiben, als sie erkennen mußte, daß es niemand anderes war als der Typ, der bei ihnen eingebrochen war. Verdammt! Was sollte sie jetzt machen?

Krampfhaft versuchte sie, normal weiterzugehen und nicht ständig den Näherkommenden zu beobachten. Als er nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war, blieb er stehen und musterte sie. Sie hielt seinem Blick Gott sei Dank stand und brachte es sogar fertig, zu lächeln. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, ich suche eine gewisse Judi Lenz. Weißt du, wo sie wohnt?«

Warum wollte er wissen, wo sie wohnte? Das wußte er doch. Er war gerade eben erst bei ihr eingebrochen. Eine Fangfrage? Besser, sie ging davon aus, und so nannte sie ihm auch die richtige Adresse. Ihr Gegenüber schien zufrieden.

»Ach, weißt du zufällig, wo sie jetzt ist?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Ich bin ein guter Bekannter von ihr und wollte eigentlich ihre Mutter besuchen, aber irgendwie finde ich das Haus nicht. Und da die Mutter vormittags arbeitet, wollte ich zu Judi.«

Das war die behämmertste Ausrede des Jahres! Gerne hätte sie ihm jetzt gesagt, was sie von seiner ›guten Bekanntschaft‹ hielt, aber das tat sie natürlich nicht.

»Ja, wenn das so ist … Sie ist in dem Haus da hinten, das mit den vielen Rosen davor. Da wohnt ihre Freundin Ingrid und da ist sie immer, wenn ihre Mutter arbeitet. Richten Sie ihr einen Gruß aus, ja?«

Der Mann nickte und ging rasch weiter. Bis er merken würde, daß sie ihn ordentlich belogen hatte, würde sie sicherlich schon längst bei ihrer Freundin sitzen. Und damit auch in Sicherheit. Doch das war ihr heute wohl nicht gegönnt. Nach fünf Minuten drehte sie sich noch einmal um und sah einen kleinen hüpfenden Punkt, den sie erst für einen streunenden Hund hielt. Trotzdem beschleunigte sie ihren Schritt noch ein wenig und nach weiteren fünf Minuten erkannte sie, daß es der Mann war, und er ging ganz und gar nicht langsam. Verdammt!

Judi rannte los, erst langsam, dann immer schneller werdend, und als sie die Kreuzung fast erreicht hatte, raste ein dunkelblaues Auto heran und bremste mit quietschenden Reifen neben ihr. Die Insassen waren ihr (leider) bekannt: die beiden verrückten Männer.

»Komm! Schnell, steig ein!«

»Ich denk ja nicht dran.«

»Ich verstehe das einfach nicht. Jetzt verfolgt er dich schon, und du glaubst uns immer noch nicht!«

Ängstlich sah sie über die Schulter zurück. Wenn sie jetzt los rannte, konnte sie es noch schaffen, bis zu Rabea zu kommen.

»Jetzt komm schon! Ich schwöre bei meiner Seele, wir wollen dir nichts Böses, nur dich in Sicherheit bringen.« Der Größere ging ihr allmählich auf die Nerven.

»Nein! Und jetzt laßt mich in Ruhe!«

»Und wenn ich dir sage, daß wir dich nach Djorgian bringen?«, murmelte der Kleinere, als sie sich umwenden wollte.

Judi stockte. Einen Moment lang stand sie wie gelähmt da, dann schien das Amulett auf ihrer Haut plötzlich zu brennen. Trotzdem konnte sie sich immer noch nicht rühren. Bilder, unglaublich viele Bilder rasten durch ihren Kopf. Aber sie waren alle nur kurz sichtbar, so daß sie sie nicht erkennen konnte. Aber ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Und plötzlich vertraute sie den beiden Männern im Wagen. Sie zögerte noch einen Moment, sichtlich verwirrt, und streckte dann langsam die Hand nach der Autotür aus, um sie zu öffnen und sich, immer noch zögernd, auf die Rückbank zu setzen. Was zum Teufel tat sie denn da schon wieder? Was hatte sie dazu gebracht, in diesen blöden Wagen zu steigen? Doch wohl nicht dieses einfache Wort? Was war daran so besonders? Im letzten Moment unterdrückte sie den Impuls, nach dem Amulett zu greifen, das mittlerweile wieder ein ganz normales Amulett war. Aber hatte sie es denn nicht schon einmal gehört?

Die Fremden fuhren schnell los, aber Judi konnte sich nicht auf den Weg konzentrieren, den sie fuhren. Was waren das für Bilder gewesen? Von vielleicht Tausend, die durch ihren Kopf geschossen waren, waren zwei geblieben. Und diese begannen auch schon wieder zu verblassen. Da war ein Haus. Ein seltsames Gebäude aus Holz mit … Schlangen? Oder waren es Drachen? Nein … Hunde? Sie hatte es wieder vergessen. Aber hatte sie es jemals wirklich gewußt? Nein, das war zu kompliziert.

»Wohin fahren wir?«

»In Sicherheit. Dorthin, wohin er uns nicht folgen kann. Jedenfalls nicht so schnell und nicht problemlos.«

»Und das heißt im Klartext?«

»Zur weißen Stadt. Nach Djorgian.«

Schon wieder dieses Wort. Also eine Stadt. Aber nie davon gehört. Oder doch?

»Übrigens, ich bin Felonn«, sagte der kleinere ältere.

»Und ich bin Mendras.«

»Aha«, meinte sie nur. Ungewöhnliche Namen. »Und wie ich heiße, wißt ihr ja schon.«

»Ja, aber du wahrscheinlich nicht«, sagte Felonn.

»Was soll denn das jetzt wieder heißen? Traut ihr mir nicht zu, daß ich meinen Namen behalten kann?«

»Judi, ja so heißt du hier. Aber dort heißt du Norenie.«

Dieser Name … Auch ihn hatte sie schon einmal gehört. »Könntet ihr mir denn jetzt bitte genau sagen, wo wir hinfahren?«

Mendras seufzte. »Wir fahren in einen Wald.«

»In welchen?«

»In einen Wald eben. Einen, der weit genug entfernt und groß genug ist. Und alt.«

Und was hatte das bitteschön mit einer weißen Stadt zu tun? Sie gab es auf.

»In Djorgian wird dir alles wieder einfallen.«

»Ich dachte, wir fahren in einen Wald?«

Beide Männer seufzten, als würden sie verzweifeln. Dabei war sie doch diejenige, die das tat! Sollten sie doch endlich Klartext reden, damit sie endlich verstehen konnte, was die überhaupt meinten! Ärgerlich verschränkte sie die Arme vor der Brust und tat beleidigt. Dann würden sie sie wenigstens die nächste Zeit nicht mehr ansprechen.

Judi schätzte, daß ungefähr eine halbe Stunde verging, bis Felonn und Mendras anhielten. Schnell stiegen sie aus, bedeuteten Judi, es ebenfalls zu tun und schlossen den Wagen ab. Vor ihnen befand sich tatsächlich ein Wald, auf den sie hastig zusteuerten. Sie hatte keine Ahnung, was die beiden da wollten, aber sie hatte auch keine Angst, obwohl das hier eigentlich angebracht war.

Nachdem sie ein paar Meter in den nicht allzu dichten Wald eingedrungen waren, gingen sie etwas langsamer und schließlich gemächlich. Die Männer unterhielten sich leise, während Judi sich neugierig umsah. Etwas Außergewöhnliches konnte sie allerdings nicht entdecken, ein ganz normaler Wald eben. Nur das Amulett schien für einen Moment aus Feuer zu bestehen, so daß sie einfach nicht anders konnte, als erschrocken aufzuschreien und unter den Pulli zu greifen, um das heiße Ding herauszuholen. Ärgerlich wedelte sie mit den Händen, die sie sich fast verbrannt hatte, und fluchte laut.

Felonn und Mendras drehten sich erschrocken zu ihr um, was sie noch ärgerlicher machte. Toll! Jetzt wußten die beiden, daß sie das, was sie suchten, doch hatte. Dem Großen rutschte die rechte Augenbraue ein Stückchen nach oben und Felonn lächelte. Demonstrativ ergriff sie das nun mittlerweile wieder kalt gewordene Amulett und steckte es wieder unter den Pulli.

»Wir sind da.«

Judi sah sich fragend um, aber sie befanden sich immer noch in demselben Wald. War das hier versteckte Kamera oder so was? »Ach, ja?«

Felonn deutete auf ihre Brust, da, wo sich ungefähr das Amulett befinden mußte. Wirklich sehr aufschlußreich. »Es hat uns hinübergebracht. Ohne das wäre es nicht so leicht gelungen, aber wir wußten von Anfang an, daß du es hast.«

Sie verstand immer noch Spanisch, also zog sie es vor, zu schweigen. Wenn die Beiden Spaß daran hatten, nur in Rätseln zu reden, bitte. Sie fand das wirklich sehr komisch.

»Laßt uns weitergehen, ich weiß im Moment nicht, wie weit wir von der weißen Stadt entfernt sind.«

»Ich dachte, wir sind da?«

»Noch nicht ganz. Komm, man erwartet uns sicherlich schon. Niam hat ausdrücklich gesagt, wir sollen uns beeilen.«

Niam? Wieder rauschten Bilder mit der Wucht eines Niagarafalls durch ihren Kopf, so daß sie gequält aufstöhnte und sich an die Stirn faßte.

»Das vergeht wieder, glaub mir. Es sind deine Erinnerungen, die du, wie soll ich sagen … verdrängt hast. Das geschieht automatisch, wenn man wieder in die andere Welt geht. Das ist so eine Art Schutz für die anderen. Ihre Existenz bleibt verborgen, wenn man sich nicht mehr an sie erinnert, aber wenn man wieder hier ist, kommen alle Erinnerungen zurück, früher oder später.«

Was redete der da eigentlich? Erinnerungen? Hier? Dort? Was sollte das alles? Andererseits …

»Niam … er muß jetzt ungefähr neunzehn sein, oder?«

Mendras mußte lachen. »Wenn du ihm das sagst, wenn du ihn siehst, machst du ihm ein unendlich großes Kompliment. Nein, auch die Zeit vergeht hier anders als in der anderen Welt.«

Na ja. Sie würde abwarten. Und ihre Eltern sagten immer, sie hätte zu viel Fantasie. Ha, ha.

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Djorgian

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