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Probably“, „maybe“, „perhaps“: Die ethische Strenge und die Erfindungen von J. Hillis Miller

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Wie stellt man es an? Wie sagt man es? Ich würde diesen Text hier gern dem Gesetz der Gattung „Hommage“, und sei sie noch so ernst gemeint, und dem wohlbekannten akademischen Schauplatz entziehen: Ein langjähriger Freund und Kollege widmet einem berühmten Kollegen und Freund einen Essay, einem einflussreichen und ausgezeichneten Professor, dessen Werk er mit anderen zusammen grüßen will, eines der reichsten und eindrucks-vollsten Werke, die ihm im Laufe seines Lebens zu achten gegeben waren. Überdies fühle ich mich nicht fähig, auf wenigen Seiten hier meine Bewunderung und meine Dankbarkeit für Hillis Miller zu ermessen, und noch weniger fähig, eine miteinander geteilte Geschichte zu erzählen, ich würde sagen eine Gefährtenschaft – die außerdem in ihren großen öffentlichen Zügen meistenteils bekannt ist: dreißig Jahre schattenloser Freundschaft, gemeinsamer Arbeit, Seite an Seite gegangenen Weges – „teaching“ and „reading“, wie es in der Passage aus The Ethics of Reading heißt, die als Motto zitiert ist – in denselben Institutionen, John Hopkins, Yale, Universität von Kalifornien, Irvine, so viele private und öffentliche Begegnungen, so viele Tagungen und all dies durchzogen von einer so tiefen Übereinstimmung in dem, was Hillis Miller The Ethics of Reading nennt und vielleicht, wenn ich es zu sagen wagen würde, „Ethics“ kurzum. Daher hielt ich nach langem Kalkül schließlich die folgende Wahl für richtiger: Was ich Hillis Miller anbieten und von der Lektion inspiriert, die ich wie so viele andere von ihm erhalten habe, ihm zu lesen und zu beurteilen geben möchte, ist die möglichst anspruchsvolle, aber auch die zitterndste Interpretation einer gewissen „Geschichte“.

Diese „Geschichte“ ist nicht irgendeine. Sie war der unseren nicht fremd, ihr war eben das, ihr war eben der nicht fremd, der andere Freund, der „zwischen uns“ war, ich habe soeben Paul de Man genannt. Sie ist der indirekte Gegenstand eines récit, sagen wir einer Narration. Einer literarischen Narration, einer „Fiktion“, wie man allzu leicht sagt. Ja, behalten wir für den Augenblick das recht neutrale Wort Narration. Behalten wir es aus drei Gründen.

Einerseits sagt man mir, dass die in dieser Festschrift1 versammelten Texte die „Narrativität“ zum Leitmotiv machen sollen. Andererseits hat Hillis Miller, unter anderen Dingen, die Lektüre und das Denken der Narration meisterhaft erneuert – und zwar nicht nur als literarische Fiktion und nicht nur in der sogenannten Victorian Fiction. Und schließlich und vor allem, weil das Werk, das ich gleich als Beispiel nehmen werde, Le Parjure, zwar sicherlich in seiner Struktur narrativ scheint (auf dem Buchdeckel steht, ich erinnere daran, „Roman“), jedoch ernstzunehmende Probleme aufwirft, was sein Verhältnis zur „real“ genannten Geschichte angeht (diejenige von Paul de Man, die also die unsere, wenn man so sagen kann, von ganz Nahem durchquert haben wird, diejenige von Hillis Miller und die meine, unter anderen), was sein Verhältnis zur Fiktion, zum Zeugnis angeht, kurz, zu all den „Unbekannten“, die man heute unter den Worten Wahrheit und Wirklichkeit einschreiben kann, aber auch unter den Worten Ehrlichkeit, Lüge, Erfindung, Simulakrum oder Meineid, und so weiter.

Um meine Wahl, noch bevor ich anfange, zu begründen, rekonstituiere ich noch einige Prämissen. Mindestens drei, deren Konfiguration auch eine Zusammenfügung von datierten Ereignissen oder scheinbar irreversiblen Sequenzen ist. In allen drei Fällen handelt es sich darum zu wissen, was „sich erinnern“ heißt – und was es heißt, daran zu denken, sich zu erinnern: nicht vergessen, sich zu erinnern, nicht vergessen, im Gedächtnis zu behalten, aber auch nicht vergessen, daran zu denken, sich zu erinnern, was in französischer Syntax auch heißt: denken, weil, genauso wie, so lange wie, insofern als man sich erinnert: das Denken als Gedächtnis und zunächst als Gedächtnis von sich selbst, Gedächtnis des anderen in sich selbst. Ich denke an dieses englische Wort, rufe mir in Erinnerung „to re-mind“, dessen Rätsel mich stets fasziniert hat: nicht vergessen, ins Gedächtnis zurückzubringen; jemandem in Erinnerung rufen; daran denken, in Erinnerung zu rufen; aufmerksam machen, mit einem Zeichen, einem Zettel, einem Memento, einem reminder. Bereits eine Mnemotechnik, die dem Denken des Denkens inwendig und nicht auswendig ist, nicht außerhalb, sondern im Herzen davon, das Denken zu denken.

1. Erster reminder: ein Moment im Werk von Hillis Miller. Seit einigen Jahren hat Miller bekanntlich mit der Erarbeitung einer neuen Problematik begonnen: im bodenlosen Grund einer abgründigen Inszenierung, im schlagenden Herzen dessen, was man seelenruhig die literarische Fiktion nennt, die noch unsichtbare Ader einer für alterslos gehaltenen Frage zu entziffern, die große und unerschöpfliche Geschichte der Lüge, das heißt des Meineids. Jede Lüge ist ein Meineid, jeder Meineid impliziert eine Lüge. Eins wie das andere verraten sie ein Versprechen, das heißt einen zumindest impliziten Eid: Ich schulde dir die Wahrheit, sobald ich zu dir spreche. Davon zeugt eine gewisse Anzahl jüngerer Essays, die sich oft Proust widmen.2 Diese Problematik hat sich kühn auf den Weg dessen eingelassen, was Miller „polylogoly“, das ist sein Neologismus, zu nennen vorschlägt. Sie öffnet einer zumindest impliziten Vielzahl von Stimmen, narrativen oder narratorischen Ursprüngen den Raum, um dieser Vielzahl dann auch konsequent Rechnung zu tragen. Diese Stimmen sind lauter legitimierende Quellen, Quellen von Autorität oder von Legitimität („the implicit multiplicity of the authorizing source of a story“3). Sobald es mehr als eine Stimme in einer Stimme gibt, beginnt die Spur des Meineids, des parjure, sich zu verlieren oder uns in die Irre zu führen. Diese Zerstreuung bedroht selbst die Identität, den Status, die Gültigkeit des Begriffs. Insbesondere des Begriffs parjure. Und genauso des Wortes und Begriffs „ich“. Dieser Vielfalt von Stimmen oder „Bewusstseinen“ gibt Miller mehrere Namen. Er erkennt ihnen mehrere Figuren zu, ob er nun selbst den neuen Ausdruck dafür signiert und schmiedet (beispielsweise eben „polylogology“, oder sogar „alogism“), oder ob er ihn entlehnt und ihm ein anderes Schicksal beschert, ihn anders ins Werk setzt, wie beispielsweise, Friedrich Schlegel folgend, als „permanent parabasis of irony4. Ich möchte jedoch auf der ergreifendsten und wohl produktivsten dieser Figuren insistieren, auf derjenigen, die eine machtvolle allgemeine Formalisierung gewährleistet, während sie zugleich für immer der fiktionalen Singularität eines Corpus eingeschrieben, darin verwurzelt bleibt, das diese Figur bereits in sich selbst produziert, wie eine Art allgemeines Theorem, wie eine verallgemeinerbare theoretische Fiktion, wenn ich so sagen kann, wie eine Fiktion mit dem Wert einer theoretischen Wahrheit und mit ethischer Dimension: Es ist die des Anakoluths.

Das Anakoluth also: mehr als eine rhetorische Figur, allem Anschein zum Trotz. In jedem Fall weist sie zum Jenseits des Rhetorischen in der Rhetorik hin. Jenseits der Grammatik in der Grammatik. Mit einer Geste nun, deren Notwendigkeit und Eleganz ich stets bewundert habe, findet Miller im Text von Proust selbst das, was er erfindet, nämlich einen Namen und einen Begriff, die er dann arbeiten lassen wird, auf produktive, demonstrative, verallgemeinerbare Weise – die weit über diese einzigartige literarische Wurzel, weit über dieses Werk hinausreicht. In der Schwierigkeit, die sich anzukündigen schien, steckt man jedoch schon, sobald der theoretische Begriff selbst zur Fiktion gehört, sobald er sich im untersuchten Werk am Werk befindet. Er ist Teil der narrativen Fiktion, die ihn also in genau dem Moment begreift, wo er erlaubt, sie ihrerseits zu begreifen.

Der Begriff ist machtvoller als das Werk, das machtvoller ist als der Begriff. Diese theoretische Verallgemeinerung taucht nicht erst nachträglich auf. Miller suchte sie. Weil er sie suchte, weil er sie antizipierte, dabei jedoch ihre Notwendigkeit verspürend, hat er sie bei Proust zugleich entdeckt und erfunden. Er hat sie da gefunden, wo sie sich befand. Er hat sie beim anderen er-funden, in beiden Bedeutungen des Verbs inventer: Er hat sie hervorgebracht und zum Vorschein gebracht, offenbart. Er lässt sie, in einer inauguralen Geste, da auftauchen, wo ihr Körper sich bereits befand, sichtbar und unsichtbar zugleich. Das lange Zitat aus The Anacoluthonic Lie, das ich wagen werde, setzt dasjenige fort, das meinem Text vorangestellt ist. Die hervorgehobenen Worte werden übersetzen, was ich für mein Anliegen hier auswählen muss, ohne eine andere Begründung, ohne eine andere Autorisierung als diejenige, die mir die Zusammenstellung der Konfiguration gibt oder auferlegt, von der ich vor einem Augenblick sprach. Es wird sich um die ethischen Einsätze einer Gedächtnisunterbrechung handeln. Die wesentliche Endlichkeit einer diskontinuierlichen Anamnese schreibt Ellipsen und Eklipsen in die Identität des Subjekts ein. Sie erlaubt jedem Beliebigen zu antworten, auf eine Weise, die zugleich verantwortungsvoll und verantwortungslos ist, so ernsthaft wie dreist, unentschieden zwischen provokanter Ironie und entwaffnender, vielleicht in Wahrheit entwaffneter Ehrlichkeit: „Das ist wahr. Stellen Sie sich bloß vor, ich dachte nicht daran. Danke.“

The passage in Proust has to do with storytelling (in the double sense of lying and of narration), with memory as a precarious support of narrative continuity, and with anacoluthon’s function in both storytelling and lying. Anacoluthon doubles the story line and so makes the story probably a lie. A chief evidence for the middle’s perturbation is small-scale details of language. This means that close reading is essential to reading narrative: „À vrai dire, je ne savais rien qu’eût fait Albertine depuis que je la connaissais, ni même avant. Mais dans sa conversation (Albertine aurait pu, si je lui en eusse parlé, dire que j’avais mal entendu), il y avait certaines contradictions, certaines retouches qui me semblaient aussi décisives qu’un flagrant délit, mais moins utilisables contre Albertine qui souvent, prise en fraude comme un enfant, grâce à ce brusque redressement stratégique, avait chaque fois rendu vaines mes cruelles attaques et rétabli la situation. Cruelles pour moi. Elle usait, non par raffinement de style, mais pour réparer ses imprudences, de ces brusques sautes de syntaxes ressemblant à ce que les grammairiens appellent anacoluthe ou je ne sais comment. S’étant laissée aller, en parlant femmes, à dire : ‚Je me rappelle que dernièrement je‘, brusquement, après un ‚quart de soupir‘, ‚je‘ devenait ‚elle, c’était une chose qu’elle avait aperçue en promeneuse innocente, et nullement accomplie. Ce n’était pas elle qui était le sujet de l’action.“5

Miller geht dem Zitat dieser Passage ausführlich nach, in der sein Urteil eine „admirably graceful subtlety“ sieht. Er richtet dann eine ihrerseits subtile und bewundernswerte Analyse an ihr aus, die gewissermaßen die „theoretische“ Reichweite dieses singulären Beispiels ausweitet und verallgemeinert. Indem die Analyse das Beispiel ausweitet und verallgemeinert, ist es, als erfände sie es gewissermaßen. Dieses Wort, Erfindung, invention, meine ich hier vorziehen zu müssen, weil es selbst vielleicht zögert zwischen der schöpferischen Erfindung, die hervorbringt, was nicht ist – oder zuvor nicht war –, und der offenbarenden Erfindung, die zum Vorschein bringt, die entdeckt oder enthüllt, was bereits zu finden ist oder sich da befindet. Eine solche Erfindung zögert also vielleicht, hält sich unentscheidbar in der Schwebe zwischen Fiktion und Wahrheit, aber auch zwischen Lüge und Wahrhaftigkeit, das heißt zwischen Meineid und Treue. Die diskrete, aber entscheidende Intervention dieser Markierung des Unentscheidbaren, des „Vielleicht“, scheint mir deshalb eine wesentliche Rolle in „The Anacoluthonic Lie“ zu spielen und zwar gerade in der Definition des Anakoluths. Zwei Beispiele:

1. A passage of an admirably graceful subtlety! The anacoluthon, or failure to follow a single syntactical track, for example in the shift from first to third person in the middle of a sentence, creates a narrative line that does not hang together. That shows, to anyone who notices it, that the story is – may be – a lie, a fiction. How could the same story apply at once to the teller and to someone else? The difficulty is in noticing the discrepancy, since memory, for Proust, far from being total and continuous, is intermittent and discontinuous. Our memories are out of our control. We remember only what our memories, acting on their own, happen to think it worthwile to save. Lying and fiction, as Albertine’s anacoluthons show, come to the same thing since both are forms of language that cannot be returned to a single paternal, patronizing logos or speaking source. […] Who is the liar here, Albertine as the example of the eternal feminine, evasive and unpossessable, in this case betraying Marcel in covert lesbian liaisons? Or is the prime liar Marcel Proust himself, who has displaced into a misogynist fiction his own experience of betrayal in a „real life“ homosexual liaison?6

2. Though we can notice that something has gone wrong with the narrative sequence, we can no longer remember the beginning well enough to see for certain the incoherence of the story and so perhaps discover the truth hidden behind the lie.

I say „perhaps“ because for Proust it is impossible ever to be sure whether or not someone is lying. This is because, contrary to what seems common sense, a lie is a performative, not a constative, form of language. Or, rather, it mixes inextricably constative and performative language.7

Abgesehen vom jüngsten „Fractal Proust“ beziehen sich Millers frühere Essays zu Proust nicht auf de Man und auch nicht explizit auf de Mans Proustlektüren. Aber es scheint mir in jedem Augenblick offensichtlich, dass diese Texte eine explication mit de Man verfolgen, im Sinne der *Auseinandersetzung. Zumindest implizit scheint es mir immer eine Debatte, eine aktive Lektüre, eine Interpretation und eine Diskussion von Paul de Mans Thesen zu sein: seiner Thesen über Proust und die Lektüre, gewiss, aber auch seiner Thesen über alles, was in der Frage der Lüge oder der Wahrheit ganz eminent ethisch ist, ethisch im Allgemeinen und ethisch im Sinne einer Ethik der Lektüre. Die Passage, die ich als Motto vorangestellt habe, entstammt einem Kapitel aus The Ethics of Reading, dem seinerseits ein langes Zitat aus Allegories of Reading vorangestellt ist. Man liest darin insbesondere provokante Aussagen wie diese :

The ethical category is imperative (i. e., a category rather than a value) to the extent that it is linguistic and not subjective. Morality is a version of the same language aporia that gave rise to such concepts as „man“, or „love“ or „self“, and not the cause or the consequence of such concepts. The passage to an ethical tonality does not result from a transcendental imperative but is the referential (and therefore unreliable) version of a linguistic confusion. Ethics (or, one should say, ethicity) is a discursive mode among others.8

Diese Aussagen halte ich nicht für indiskutabel, weder in meinen Augen noch in denen Millers. Ich rufe sie nur in Erinnerung, um die Konfiguration oder die Zusammenstellung zu rekonstituieren, in der ich mich anschicke, die eminent ethische Frage des Meineids (das heißt eine Art Lüge oder umgekehrt die Gattung, von der die Lüge eine spezielle Art ist) und des Buchs Le Parjure anzusprechen. Eine unauflösbar ethisch-literarische Frage der Zeugniserzählung und der Fiktion.

2. Zweiter reminder, eine Erinnerung. Gegen Ende der 70er-Jahre sagte mir Paul de Man in Yale eines Tages ungefähr dies (ich erinnere mich nicht, welcher Gedankengang diese Äußerungen herbeigeführt hatte, aber wir dürften, wie oft, von Paris gesprochen haben, vermutlich auch von Henri Thomas, einem Freund meiner Freundin Paule Thévenin): „Wenn Sie einen Teil meines Lebens kennenlernen wollen, lesen Sie ‚Hölderlin in Amerika‘. Henri Thomas, den ich nach dem Krieg hier in Amerika kennengelernt habe, hat diesen Text im Mercure de France veröffentlicht und er wurde dann in einem Roman wiederaufgenommen oder dazu erweitert, Le Parjure, bei Gallimard.“ Ich bekenne, dass ich mich nicht Hals über Kopf auf die Suche gemacht habe. Ich habe die Nummer des Mercure de France nie gefunden. Doch Jahre später stieß ich im Urlaub bei einem Antiquar in Nizza auf Le Parjure. Ich las es sehr schnell, sehr schnell jedoch begriff ich, dass die Hauptfigur der Fiktion, Stéphane Chalier, in einigen Zügen dem realen Paul de Man nicht fremd war und dass es sich, um es noch einmal allzu schnell zu sagen, um die Geschichte einer zweiten Ehe handelte, in den USA, obwohl es von einer ersten Ehe in Europa keine legale Scheidung gegeben hatte. Daher die Anklage auf Bigamie und Meineid. Der Zeuge-Gestalt-Erzähler-Romanschriftsteller erzählt die bewegende und bewegte Geschichte eines jungen belgisch-amerikanischen Paars: „Hölderlin in Amerika“, im Krankenhaus und fast blind, wird mit seiner jungen neuen Frau gerichtlich belangt oder ist von Strafverfolgung bedroht. Sowohl durch die erste Gattin als auch durch die amerikanischen Behörden. Nach meiner Lektüre habe ich, daran erinnere ich mich, an Paul de Man mit einem Wort, das so diskret wie möglich war und dem gewohnten Ton unseres Austauschs entsprach, geschrieben, dass es mich „erschüttert“ habe, „bouleversé“. Wir haben nie wieder davon gesprochen. Genauso wenig habe ich mit Henri Thomas darüber gesprochen, den ich damals noch nicht kannte und mit dem ich indes Jahre später, 1987, telefoniert habe (er lebte in der Bretagne), um sein Zeugnis über das zu hören, was Freunde (darunter Hillis Miller) und ich selbst gerade über die Vergangenheit des jungen belgischen Journalisten, der de Man während des Kriegs gewesen ist, entdeckt hatten und was wir, so hatten wir umgehend beschlossen, öffentlich und der Diskussion zugänglich machen wollten. Manche erinnern sich vielleicht noch an das, was ein paar Zeitungen, die nach dieser Art von Ware gieren, und ein paar seit langem von der Ohnmacht des Ressentiments vergiftete Universitätsleute eilig die „de Man-Affäre“ genannt hatten. Das war ihre Angelegenheit und ihre Affäre, ich komme hier nicht auf die heute im Überfluss „dokumentierte“ Episode zurück, über die ich für meinen Teil ausführlich und öffentlich gesagt habe, was ich davon halte [mon sentiment].9 Ich erinnere nur daran, dass Henri Thomas’ Zeugnis damals dasjenige eines vertrauensvollen und bewundernden Freundes war, ohne den geringsten Vorbehalt.10

3. Dritter reminder. Es trifft sich, dass ich im letzten Jahr in einem Seminar über Meineid und Vergebung, Le parjure et le pardon11, das Buch von Thomas aufmerksam und wie zum ersten Mal gelesen habe, um daran ein paar Schemata und Hypothesen auf die Probe zu stellen. Hillis Miller war in diesem Seminar anwesend. Er teilte also diese sonderbare Erfahrung, deren einzige oder zumindest privilegierte Zeugen wir in mehrfacher Hinsicht waren: der Versuch, um seine eigenen Worte wiederaufzunehmen, einer „response to the text that is both necessitated, in the sense that it is a response to an irresistible demand, and free, in the sense that I must take responsibility for my response and for further effects, ‚interpersonal‘, institutional, social, political, or historical, of my act of reading, for example as that act takes the form of teaching or of published commentary on a given text. What happens when I read must happen, but I must acknowledge it as my act of reading, though just what the ‚I‘ is or becomes in this transaction is another question12.

Denn so zitternd und unentscheidbar sie auch blieb, so sehr auch heute noch die Referenz des Romans und der fiktionalen „Gestalt“ auf unseren Freund Paul de Man in der Schwebe bleibt, wir konnten nicht nicht von der Erinnerung, die wir von ihm bewahren, heimgesucht werden. Wir konnten uns nicht nicht in gewisser Weise innerlich von ihm, von der gespenstischen Wachsamkeit seines Blicks beobachtet wissen, selbst wenn diese Quasi-„Präsenz“ unsere Freiheit in nichts entschärfte. In Wahrheit verschärfte sie sogar unsere Verantwortung.

Der Meineid, vielleicht

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