Читать книгу KAIJU WINTER - Jake Bible - Страница 6
Kapitel 2
Оглавление»Wir müssen sofort jemanden hinschicken!«, ruft Dr. Probst vor Dr. Alexander Bartollis Schreibtisch. Klein, wie sie ist, schlank, dunkelhaarig und mit hellbraunen Augen sieht Dr. Probst alles andere als einschüchternd aus, aber der Ton ihrer Stimme macht ihren Vorgesetzten trotz allem in Sekundenschnelle nervös. »Wir haben einen ganzen Tag lang nichts mehr von Allison oder Bob gehört!«
»Das liegt wahrscheinlich nur an den Empfangsstörungen durch den Vulkan«, antwortet Dr. Bartolli und versucht, sie mit einer lockeren Handbewegung wegzuscheuchen, aber das lässt das Feuer in ihren Augen nur noch mehr auflodern.
»Funktionieren die Sensoren denn?«
»Nein«, antwortet Dr. Probst sofort. »Aber …«
»Haben Sie schon versucht, mit den Behörden vor Ort Kontakt aufzunehmen?«
»Es gibt dort keine Behörden vor Ort, und das wissen Sie auch!«, sagt Dr. Probst wütend. »Die gesamte Gegend ist bereits nach Mobile oder Galveston oder einem anderen dieser Orte evakuiert worden. Allison und Bob sind ganz alleine da draußen und es hörte sich nicht so an, als ob der Funkkontakt durch simple Frequenzstörungen ausgefallen ist. Ich habe gehört …«
»Wie jemand schrie, ja, das sagten Sie bereits«, erwidert Dr. Bartolli seufzend. »Und ich muss auch das wieder einer Frequenzstörung zuschreiben. Es war vermutlich einfach nur ein statisches Quietschen, das Sie gehört haben. Bei dem Stress, unter dem wir zurzeit alle stehen, ist das auch kein Wunder.«
Dr. Probst muss ihre ganze Willenskraft dazu aufwenden, nicht über den Schreibtisch zu springen und dem Mann eine Ohrfeige zu verpassen.
»Wenn wir bis morgen nichts von ihnen gehört haben, rufen Sie jemanden an und veranlassen eine Suche«, verkündet Dr. Probst. »Ansonsten werde ich mich selbst auf den Weg dorthin machen.«
»Und wie? Vielleicht mit Ihrem geheimen Spionageflugzeug?«, entgegnet Dr. Bartolli lachend. »Machen Sie einfach Ihre Arbeit, Cheryl. Lassen Sie sich das Militär um die Leute draußen vor Ort kümmern. Ich werde ganz nach Vorschrift eine Meldung einreichen, aber ich werde keine extra Anrufe deshalb machen. Ich gehe jede Wette ein, dass wir schon bald von den beiden hören werden, nämlich sobald sie ein funktionierendes Telefon gefunden haben.«
»Gut«, sagt Dr. Probst knapp, dreht sich abrupt um und stürmt aus dem Büro.
Dr. Bartolli sieht ihr kopfschüttelnd hinterher und widmet sich dann wieder der Arbeit auf seinem Schreibtisch. Er nimmt sich vor, nachher eine Meldung zu machen. Oder gleich am nächsten Morgen. Na ja, irgendwann morgen auf jeden Fall.
***
US-Marshal Lucinda »Lu« Morgan presst gerade ihre Hand gegen die Seite des Busses, als die Welt um sie herum zu beben beginnt. Ihre von einer Sonnenbrille bedeckten Augen suchen die Gegend ab und sehen, wie die anderen US-Marshals sich ebenfalls an den vier Bussen abstützen, auf deren Seitenflächen »Federal Bureau of Prisons« steht. Die Erde bebt gute zwei Minuten lang, bevor sie sich langsam wieder beruhigt.
»Hal! Alles Okay bei dir?«, ruft Lu einem kleinen Muskelpaket von Mann auf der anderen Seite der Tankstelle zu.
»Ich bin okay!«, antwortet US-Marshal Hal Stacks. »Und du?«
»Nur etwas wackelig auf den Beinen«, antwortet Lu. »Talley?«
»Alles prima«, antwortet US-Marshal James Talley vom Bus hinter dem von Hal. Talley, groß, schlaksig und mit tiefschwarzer Haut, rückt sich die Sonnenbrille zurecht, nimmt dann den Benzinschlauch aus dem Tank und hängt ihn wieder an die Pumpe zurück. »Ich bin abfahrbereit.«
»Super«, meint Lu. »Stevie?«
»Alles Eins A, Lu«, antwortet US-Marshal Steven LeDeaux vom Bus direkt hinter dem von Lu. Mit seinen dürren Beinen, über denen ein riesiger Bierbauch hängt, sieht Stevie aus, als würde er dank seines ungleichgewichtigen Körpers jeden Moment vornüberfallen. So manch ein flüchtender Sträfling hatte schon den Fehler begangen, die Geschwindigkeit dieser dürren Beine gewaltig zu unterschätzen.
»Weißt du überhaupt, was das bedeutet, Stevie?«, erkundigt sich Lu lachend.
»Keinen blassen Schimmer«, antwortet Stevie grinsend. »Ist bloß etwas, das meine Tante Jessie immer gesagt hat.«
Lu dreht sich um und sieht zu dem Bus, der vor ihrem steht. »Tony? Alles klar?«
»Alles Okay, Boss«, antwortet US-Marshal Anthony Whipple. Tony ist der Jüngste unter den Marshals und sieht mit seinen blonden Haaren, den blauen Augen und der glatten Haut eher wie ein erfolgreicher Quarterback aus. Er schiebt seine Sonnenbrille hinunter und zwinkert Lu zu.
Sie schiebt ihre Sonnenbrille ebenfalls runter und starrt zurück, während der Winterwind um die Tankstelle peitscht und die Asche und den Schnee durcheinanderwirbelt, der mittlerweile ganz Salt Lake City bedeckt. Tony zwinkert erneut, schiebt seine Brille wieder hoch, zieht dann den Benzinschlauch vom Bus und hängt ihn wieder an die Pumpe zurück. Lu hört daraufhin ein lautes Klicken und macht dasselbe mit ihrem Schlauch, bevor sie ihre Jacke enger um sich zieht und zu dem kleinen Geschäft der Tankstelle geht.
»Wo befinden sich die Toiletten?«, fragt Lu.
Der Kassierer zeigt nach hinten, wobei er wütend auf die Straße vor seiner Tankstelle starrt. Dutzende von Autos stehen an der Straße, wo National Guard Soldaten mit M-16s in der Hand vor dem Eingang der Tankstelle patrouillieren und den Zugang zu dem wertvollen Benzin blockieren.
»Sind Sie da draußen mal langsam fertig?«, fragt der Kassierer wütend. »Ich muss die ganzen Leute auch noch tanken lassen, damit ich hier bald wegkann.«
»Wir haben für fast tausend Dollar getankt«, meint Lu daraufhin. »Das sollte Sie doch eigentlich entschädigen.«
»Es geht mir nicht ums Geld, Lady«, murrt der Kassierer. »Es geht ums Leben.«
Lu verdreht die Augen, geht zur Damentoilette und knipst dort das schwache Licht an. Dann verriegelt sie die Tür und macht ihre Jeans auf, nimmt vorsichtig ihre Pistole aus dem Halfter und legt diese auf das kleine Waschbecken neben der Toilette. Dann erledigt sie ihr Geschäft und geht anschließend zum Händewaschen vor den Spiegel.
Groß und rothaarig wie ihre Mutter und eine natürliche Schönheit, hätte sie, genau wie ihre Mutter ein Model sein können – nur ist ihre offensichtlich schon einmal gebrochene Nase schief zusammengewachsen, und Lu hat sich die Karriereleiter zu ihrem Posten in der Denver-Abteilung der US-Marshals hochkämpfen müssen. Niemand nimmt in ihrem Berufsfeld eine Frau mit ihrem Aussehen ernst. Sofort wird dann nämlich angenommen, dass sie eine Lesbe mit Lippenstift ist, die nur angeheuert worden ist, um der Frauenquote gerecht zu werden. Umso mehr weiß sie es zu schätzen, dass sie sich ihre Crew selbst hatte aussuchen dürfen, als sie den Auftrag erhalten hatte, fünfzig der gefährlichsten Bundesgefangenen vom Hochsicherheitstrakt in Florence, Colorado, quer durch den Westen nach Seattle zu transportieren.
Das Wissen, das die anderen Marshals sie respektieren und ihr vertrauen, hilft ihr angesichts der Tatsache, dass die auf die fünf Busse verteilten fünfzig Männer keinerlei Problem damit hätten, ihr sofort den Kopf abzuschlagen und in ihren Halsstumpf zu scheißen.
Sie bindet sich ihren Pferdeschwanz neu und holt dann einmal tief Luft. Nun ist sie bereit, wieder hinauszugehen und sich auf den Weg nach Coeur d'Alene zu machen.
»Wo ich gerade daran denke«, sagt sie lachend, denn in dem Moment, als sie die Damentoilette verlässt, klingelt ihr Handy. Sie nimmt es von ihrem Gürtel und ihr Herz schlägt ihr sofort bis hoch in die Kehle, als sie die Nummer sieht. »Mom? Mom, was ist passiert? Ist etwas mit Kyle? Ist er verletzt? Wieso rufst du mich auf dieser Nummer an?«
»Immer mit der Ruhe, Sweetheart«, antwortet Terri. »Kyle geht's gut. Wir hatten zwar gerade ein Erdbeben, das uns etwas nervös gemacht hat, aber wir sind beide okay.«
»Ihr habt das auch gespürt?«, fragt Lu alarmiert. »Verdammt, wenn das von Yellowstone kommt, sitzen wir mächtig in der Scheiße.«
Lu hört, wie ihre Mutter wegen der Schimpfwörter einmal tief durchatmet, aber sie wird nicht zurechtgewiesen – es ist nichts, über das sie jetzt noch streiten.
»Pass auf, Lu, der Plan hat sich etwas geändert«, sagt Terrie nun. »Kyle und ich fahren mit dem Bronco, bis wir euch treffen. Wir sind jetzt im Auto auf dem Weg zu Bonner`s Ferry und fahren dann gleich durch Champion.«
»Ihr fahrt?«, fragt Lu irritiert, während sie dem Kassierer zunickt und nach draußen in die kalte Winterluft tritt. »Ist denn einer der Busse kaputt? Oder sind die zu schnell voll gewesen?«
»Nein, an den Bussen liegt es nicht«, erklärt Terrie. »Da läuft alles pünktlich und glatt nach Plan.«
»Okay, woran liegt's dann, Mom?«, fragt Lu aufgeregt. »Du machst mir langsam Angst.«
Lu hebt eine Hand und wirbelt mit den Fingern durch die Luft. Hal sieht es, dreht sich um und pfeift laut. Alle Gefängniswärter, die die Busse zur Verstärkung begleiten, laufen jetzt mit den US-Marshals zu ihren Fahrzeugen.
»Ich will dir auf keinen Fall Angst einjagen, okay«, sagt Terrie. »Versprich mir, dass du keine Angst bekommst!«
Lu kann Kyles Stimme im Hintergrund hören, aber Terrie sagt ihm, dass er still sein und fahren soll.
»Verdammt noch mal, Mom! Jetzt spuck's endlich aus!«, ruft Lu entnervt.
Talley sieht sie an und runzelt die Stirn, aber Lu schüttelt nur den Kopf und zeigt auf seinen Bus. Er springt mit zwei Gefängniswärtern hinein, und die Bustüren schließen und verriegeln sich daraufhin hinter ihnen. Lu wartet darauf, dass ihre zwei Wärter ebenfalls in den Bus steigen, und folgt ihnen sofort hinein. Drinnen sitzt der Fahrer sicher in seinem Stahlkäfig, hinten noch zwei Wärter ebenfalls in einem Stahlkäfig am Ende des Busses, und zehn Insassen sind in der Mitte des Fahrzeugs mit Handschellen an ihre Sitze gefesselt. Lu setzt sich neben die zwei Wärter, die mit ihr den Bus bestiegen haben, und starrt durch den Stahldraht hindurch, der keine dreißig Zentimeter vor ihrem Gesicht hängt.
Alle Augen sind nun auf sie gerichtet und sie muss sich anstrengen, nicht unwillkürlich zu erschaudern.
»Er hat Champion gefunden«, sagt Terrie mit ruhiger und kühler Stimme. »Uns hat er zwar nicht aufgespürt, aber er ist definitiv hier.«
Lu verliert ihren Kampf gegen das Erschaudern und beginnt zu zittern. Einer der Insassen fängt ihren Blick auf und lächelt. Sie schiebt ihre Sonnenbrille hinunter, starrt ihn wütend an und zeigt ihm den Mittelfinger. Sein Lächeln wird daraufhin nur noch breiter.
Es hupt laut und der Fahrer sieht über seine Schulter zu Lu.
»Sind wir abfahrbereit, Marshal?«, fragt der Fahrer daraufhin.
»Ja«, antwortet Lu. »Wir sind bereit. Fahren Sie los.« Sie wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Telefonanruf zu. »Pass auf, Mom, ich werde dich zurückrufen müssen. In spätestens fünfzehn Minuten sollte es klappen. Ich muss nur sichergehen, dass wir zurück auf die I-15 kommen und zu euch unterwegs sind.«
»Ich verstehe, Sweetheart«, antwortet Terrie. »Ich kenne das ja. Mach du nur deinen Job und sei dir sicher, dass ich meinen mache. Ich werde den Mann niemals an unseren Jungen heranlassen, hörst du?«
»Ich höre«, erwidert Lu. »Danke, Mom.«
»Mir brauchst du nicht zu danken, dass ich diese Familie beschütze«, antwortet Terrie. »Das ist die Pflicht jeder Mutter, und genau dafür hat Gott mich auf diese Erde gesetzt.«
»Ich ruf dich in fünfzehn Minuten zurück«, sagt Lu und drückt das Gespräch weg.
Es kostet sie ihre ganze Kraft, die Tränen und einen Schrei zu unterdrücken. Sie kann es sich einfach nicht leisten, vor den Gefangenen Schwäche zu zeigen. Männer wie diese können Schwäche förmlich riechen, und selbst mit Handschellen würden sie noch einen Weg finden, diese Schwäche zu ihrem Vorteil auszunutzen.
Der Buskonvoi fährt jetzt auf die Straße und stoppt nur kurz, sodass die National Guard Soldaten ihn passieren lassen können, und ist dann auf dem Weg zur I-15 Auffahrt, und weiter nach Norden zur I-90 und Coeur d'Alene unterwegs.
Er hat sie gefunden, denkt Lu. Wie in aller gottverdammten Scheißwelt konnte er …? Scheiße …
Sie sieht auf ihr Handy und wird sich plötzlich bewusst, dass das einzige Mal, das sie je die Sicherheitsvorkehrungen gebrochen hatten, der Grund dafür sein musste. Lu hofft nur, dass die in Wochen, Tagen oder auch nur Minuten bevorstehende Eruption des Supervulkans den Mann auf seiner Jagd behindern wird.
Sie hofft es, aber sie macht sich nichts vor, denn dafür kennt sie den Mann leider zu gut.
***
Linder steigt gerade aus dem letzten Bus, als der Bronco die Straße heruntergefahren kommt. Er dreht sich um, wirft einen Blick auf das Auto und schaut dann den Fahrer kurz an: Ein Teenager, dessen riesiger Hund auf dem Beifahrersitz thront. In Montana vermutlich keine Seltenheit. Er wünscht dem Jungen gerade insgeheim Glück, es aus dieser Aschewüste herauszuschaffen, als er Sheriff Stieglitz dabei ertappt, den Bronco ganz genau zu beobachten.
Anschließend dreht sie sich um und sieht ihm intensiv ins Gesicht.
Linder zwingt sich, zu seinem Auto zurückzugehen, und keinen Blick mehr über seine Schulter auf den Bronco zu werfen. Wäre dies ein Pokerspiel, dann hätte Sheriff Stieglitz schon verloren, da sie ihren Bluff ganz offensichtlich verraten hat.
»Danke für Ihre Hilfe, Sheriff«, sagt Linder nun, während er die Asche vom Seitenfenster auf der Fahrerseite wischt, die Tür öffnet und einsteigt.
»Keine Ursache, Agent Linder«, erwidert Stephie. »Hoffentlich schaffen Sie's noch ohne Probleme nach Sacramento zurück.«
Für den Bruchteil einer Sekunde hält Linder inne, dann nickt er, lässt den Motor an und fährt los. Er lenkt den Wagen in die Richtung, aus der er gekommen ist, was dieselbe Richtung ist, in die auch der Bronco unterwegs ist, winkt Sheriff Stieglitz zu und fährt davon.
Sein erster Gedanke ist es, woher Sheriff Stieglitz wohl wusste, dass er für das Sacramento Office arbeitet, obwohl er es ihr nicht gesagt hatte. Er zieht sein Handy aus der Tasche und sieht, dass er inzwischen über dreißig Nachrichten hat, von denen die meisten in der letzten halben Stunde hinterlassen worden sind.
»Das Miststück hat mir hinterhergeschnüffelt«, sagt Linder lachend zu sich selbst. »Was sie sich wohl einbildet, damit zu erreichen? Mir eine Abmahnung einzubrocken? Dass ich gefeuert werde? Für so was ist es schon viel zu spät.«
Er macht die Stereoanlage an und beginnt, Hank Williams' Cold, Cold Heart mitzusingen.
***
»Er verfolgt euch«, sagt Stephie in der Sekunde, in der Terrie das Gespräch annimmt.
Terrie, die sich gerade in ihrem Versteck auf dem Rücksitz des Broncos aufrecht hinsetzen will, hält inne.
»Woher weißt du das?«, fragt Terrie.
»Ist alles okay?«, fragt Kyle vom Fahrersitz aus.
»Konzentrier du dich lieber auf die Straße«, entgegnet Terrie. »Mach dir um andere Sachen keine Sorgen.«
»Der Mann ist genauso paranoid, wie du gesagt hast«, antwortet Stephie. »Ich hab nur ganz kurz zu euch hingesehen, und das ist ihm sofort aufgefallen. Vielleicht liege ich falsch, aber mein Gefühl sagt mir das Gegenteil.«
»Okay«, erwidert Terrie seufzend. »Wir werden also auf Schleichwegen nach Bonner's Ferry fahren müssen. Vielleicht verpassen wir euch dann aber. Fahrt einfach weiter, wenn wir nicht da sind. Wir holen euch in Coeur d'Alene schon wieder ein.«
»Was, wenn er versucht, euch aufzuhalten? Bist du darauf auch vorbereitet?«, fragt Stephie.
Terrie wirft einen Blick auf die .45 Kaliber Pistole in ihrer Hand und lacht. »Wenn ich nach zehn Jahren als Grenzbeamtin und weiteren zwanzig Jahren bei den Marshals nicht darauf vorbereitet bin, verdient es der Mann zu gewinnen.«
»So'n Scheiß solltest du besser nicht laut sagen«, meint Stephie.
»Mäßige deine Sprache«, antwortet Terrie.
»Ach, halt doch die Klappe«, erwidert Stephie lachend. »Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch«, antwortet Terrie. »Und jetzt leg auf und widme dich wieder deinem Job. Du musst schließlich den Umzug für einen ganzen Ort über die Bühne bringen.«
Terrie wartet auf das charakteristische Klicken und steckt dann ihr Handy zurück in ihre Tasche.
»Bieg auf den Cedar Ridge Trail ab«, sagt Terrie.
»Was? Wieso denn das?«, fragt Kyle. »Das ist doch eine Sackgasse.«
»Ich weiß«, antwortet Terrie. »Aber die Straße ist dafür mit keinem Navi zu finden. Wir werden sie bis zum Ende fahren und dort warten. Sobald ich weiß, dass wir weiterkönnen, fahren wir wieder auf den Highway 37 und anschließend nach Bonner's Ferry.«
»Und verpassen wir dann wirklich die Busse aus Champion?«, fragt Kyle verängstigt.
»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, entgegnet Terrie. »Aber selbst wenn, haben wir noch genügend Benzin im Reservetank, um es bis Coeur d'Alene zu schaffen und uns dort mit deiner Mom zu treffen.«
***
Der Wagen ruckelt und kommt schließlich ins Schlingern, und Linder muss sein ganzes Können einsetzen, damit sein Auto nicht von der Straße rutscht. Wieder ein Erdbeben – und zwar ein schlimmes.
Er schaltet von Hank Williams auf den örtlichen Nachrichtensender um, aber er kann außer statischem Rauschen nur ein paar einzelne Wörter ausmachen. Linder stellt das Radio daraufhin wieder ab und konzentriert sich stattdessen lieber auf die Straße. Er kommt aus einer langen Kurve heraus und kneift die Augen zusammen. Vor ihm liegt eine mindestens eine Meile lange gerade Strecke. Es gibt zwar ein paar Senken und Hügel, aber trotzdem sollte er eigentlich in der Lage sein, den Bronco zu sehen.
Doch er kann ihn nicht entdecken.
»Hinterhältiges Miststück«, brüllt Linder und kämpft um seine Beherrschung.
Nach über einem Jahrzehnt auf der Jagd ist er nun seiner Beute so nahe, dass er sie förmlich schmecken kann. Und trotzdem hat sich die Frau schon wieder aus seinem Griff gewunden. Er weiß, dass sie clever ist … er wäre ein Idiot, das nicht zu wissen … aber sie konnte ihn doch unmöglich entdeckt haben. Jemand musste sie folglich gewarnt haben.
Und Linder weiß ganz genau, wer das war.
***
»Das sind alle, die mitfahren«, sagt Mikellson nun, als die Türen des letzten Busses sich langsam schließen. »Zeit zur Abfahrt.«
»Wartet Shane denn auf uns?«, fragt Stephie, die jetzt zu ihrem Streifenwagen geht.
»Ja«, bestätigt Mikellson und steigt in seinen Wagen. »Er hat getankt und kann jederzeit losfahren. Fährst du vorneweg?«
»Nein, aber du kannst das gerne machen«, meint Stephie. »Ich fahre lieber hinterher. Shane kann sich hinter mir einreihen, sobald wir an ihm vorbei sind.«
»Hört sich gut an«, sagt Mikellson.
Er startet den Motor und schneidet eine Grimasse, als das Auto leicht stottert. Trotz der neuen Luftfilter macht die Asche den Motor langsam aber sicher kaputt. Die Dieselmotoren der Schulbusse kommen damit allerdings besser zurecht als die benzinbetriebenen Streifenwagen, aber Mikellson fragt sich, für wie lange noch. Wenn einer dieser Busse kaputtgeht, bevor sie Idaho erreichen, sitzen sie gewaltig in der Patsche.
Er zwingt sich, nicht daran zu denken, fährt los und hupt den Bussen als Zeichen zu, ihm zu folgen, und fährt schließlich die Straße hinunter, um so weit wie nur möglich vor der Asche zu fliehen.
***
Die nach Süden führenden Spuren der I-95 sind mit Autos, Bussen, Wohnmobilen, Lastzügen, Trucks der National Guard und Humvees verstopft. Alle sind zu den Hunderten von Schiffen im Golf von Mexiko unterwegs, die darauf warten, sie in die Länder zu bringen, die Amerikaner auf der Flucht vor dem Supervulkan einreisen lassen, der Wissenschaftlern zufolge mit seiner Eruption den Großteil von Nordamerika zerstören wird.
Aber die nach Norden führende Fahrbahn der I-15 ist fast leer, so weit das Auge reicht. Ein paar örtliche oder staatliche Polizeifahrzeuge sind noch unterwegs, aber insgesamt hat der Konvoi die Interstate fast für sich alleine.
»Kriegen wir unser eigenes Kreuzfahrtschiff?«, fragt ein Gefangener grinsend.
»Hier wird nicht geredet«, fährt ihn einer der Gefängniswärter neben Lu an.
»Frag mich nur, ob ich jetzt endlich Shuffleboard lernen kann oder nicht«, antwortet der Insasse laut lachend.
Ein paar andere kichern mit ihm, woraufhin der Wärter aufsteht und den Kolben seiner Repetierflinte gegen das Metallgitter knallt.
»Maul halten, hab ich gesagt!«, brüllt er. »Ich will's nicht noch mal sagen müssen!«
»Und was dann, Muldoon?«, fragt der Gefangene. »Kommst du dann her und bringst mich zum Schweigen?«
»Nein«, antwortet Muldoon. Seine kleinen Knopfaugen starren ihn durch die Lücken im Stahlgewebe an. Er tätschelt seinen Gürtel. »Dann bekommt ihr alle einfach eine gesunde Dosis Vitamin P.«
»Pissen willst du?«, fragt der Gefangene. »Ich hab gedacht, Tunten wie du müssen sich zum Pissen hinsetzen, Muldoon.«
Muldoon verzieht wütend das Gesicht und greift nach dem Pfefferspray an seinem Gürtel.
»Hören Sie doch auf, Officer«, sagt Lu leise und packt den Mann am Arm. »Wenn Sie sich jetzt schon von denen verrückt machen lassen, wird es eine ganz schön lange Fahrt werden. Setzen Sie sich wieder.«
»Ja, Muldoon, setz dich wieder«, wiederholt der Gefangene grinsend. Muldoon wirft einen Blick auf Lus Hand und dann auf ihr Gesicht. Sie trägt noch immer ihre Sonnenbrille, sodass der Wärter sie nicht richtig einschätzen kann. Schließlich schüttelt er ihre Hand ab und setzt sich hin.
»Braves Mädchen«, meint der Gefangene lachend.
»Du«, brüllt Lu, »hältst jetzt endlich deine gottverdammte Schnauze.«
Es ist der gleiche Insasse, der sie vorhin beobachtet hat, als sie mit ihrer Mutter telefoniert hat. Der Mann mit dem rasierten Kopf, dessen Gesicht von einem Dreitagebart überwuchert ist, grinst sie mit Augen wie finstere Kohleschächte an. Seine Augen scheinen förmlich in der Lage zu sein, die Dunkelheit von Lus Sonnenbrille zu durchbrechen und tief in sie hineinzusehen.
»Geben Sie mir die Liste«, sagt Lu nun zu Muldoon. Der Wärter zögert. »Sofort!«
Widerwillig greift der Mann nach dem Klemmbrett, das über ihm hängt, und gibt es Lu. Sie blättert kurz durch die ersten paar Seiten, bis sie schließlich zu der Sitztabelle kommt.
»Anson Lowell?«, fragt Lu und schaut vom Klemmbrett hoch, um den Mann anzusehen. »Das sind Sie?«
»Das bin ich«, antwortet Lowell. »Und Sie sind …?«
»Diejenige, die hier das Sagen hat«, antwortet Lu barsch. »Das werden Sie sich merken wollen.«
»Wäre schwer zu vergessen«, antwortet Lowell. »So 'ne heiße Schnecke wie Sie mit einer Pistole? Sie haben ja keine Ahnung, dass Sie echt haargenau mein Typ sind.«
Lu greift unter ihren Sitz und holt ein Tablet hervor. Sie öffnet den Browser und scrollt sich durch die Seiten, bis sie die Akte findet, die sie haben will. Nach ein paar Minuten des Lesens pfeift sie leise.
»Sie sind ein ganz schön mieser Sack, Mr. Lowell«, sagt Lu.
»Einfach nur Lowell«, meint dieser grinsend. »Die Einzigen, die mich Mister nennen, sind Richter. Und denen bekommt es meistens nicht gut.«
»Nein, stimmt, das kann ich sehen«, bestätigt Lu und liest weiter in Lowells Akte. Sie schaut schließlich hoch und grinst Lowell auf die gleiche Art an, wie er sie. »Sie haben zwei Staatsrichter ermordet, bevor Sie achtzehn waren. Irgendwas an denen muss Sie offenbar irritiert haben.«
Das Grinsen auf Lowells Gesicht wird etwas unsicher, während sich das von Lu verbreitert.
»Ach, was denn? Haben Sie gedacht, dass die Akten längst versiegelt sind? Tatsächlich? Wenn ein Teenager zwei Richter umbringt, kann man das nicht geheim halten, Lowell«, erklärt ihm Lu, die sich wieder dem Tablet zuwendet und weiterliest. »Jugendknast bis zum achtzehnten Lebensjahr, dann ins Oregon State Penitentiary überwiesen. Da noch mal drei Jahre – und dann haben Sie offenbar rausgekriegt, wie man ausbrechen kann.«
»War nicht schwer.« Lowell zuckt mit den Achseln. »Ist nicht gerade von einem Genie gebaut worden.«
»Drei Monate lang auf der Flucht, bis ein State Trooper Sie in Enterprise entdeckt hat«, meint Lu. Sie hält inne und sieht zu Lowell rüber. »Wieso sind Sie denn in Oregon geblieben, Lowell? Drei Monate, und Sie sind nur von Salem bis nach Enterprise gekommen? Man braucht doch keine drei Monate, um über die Berge ins östliche Oregon zu kommen.«
»Ich gehe ziemlich langsam.« Lowell zuckt wieder mit den Achseln.
»Aber töten tun Sie offensichtlich schnell«, antwortet Lu.
Sie kann sehen, dass die anderen Gefangenen genau zuhören. Die meisten Männer im Konvoi sind für den Großteil ihrer Gefangenschaft im Staatsgefängnis von Colorado in Einzelhaft gewesen. Etwas anderem, als nur ihren eigenen Körpergeräuschen zuhören zu können, muss eine wahre Wohltat für sie sein.
»Sie haben vierundachtzig Mal auf den Trooper eingestochen«, fährt Lu fort. »Dreiundachtzig Mal hat wohl nicht gereicht?«
Ein paar Gefangene lachen.
»Zeigen Sie mal etwas Respekt«, brummt Muldoon. Lu starrt ihn verärgert an, und er dreht sich hastig weg.
»Dann haben Sie den Trooper umgebracht und in aller Ruhe gewartet, bis seine Verstärkung kam, bevor Sie diese ebenfalls getötet haben, eine Geisel nahmen und in Richtung Norden zur Grenze nach Washington State geflüchtet sind«, zählt Lu auf.
Sie liest weiter und sieht Lowell dann eine lange Zeit lang an. Der Mann weicht ihrem Blick nicht aus, aber sein Gehabe hat ganz offensichtlich etwas gelitten. Lu schüttelt den Kopf und legt das Tablet wieder weg.
»Wer war sie?«, fragt Lu nun ganz nebenbei. »Das kleine Mädchen, das Sie als Geisel genommen haben. Sie haben es über die Grenze nach Washington geschafft und sind dann weiter bis nach Lewiston, Idaho. Danach haben Sie sie in einem Denny's freigelassen und sich auf den Weg nach Kanada gemacht.«
Lowell schweigt.
»Die Grenze zwischen zwei Bundesstaaten zu überqueren, hat das FBI letztendlich auf den Plan gebracht, und plötzlich sind Sie der meistgesuchte Bösewicht du jour«, meint Lu. »Das ist Französisch und heißt …«
»Ich weiß, was du jour heißt«, sagt Lowell.
»Genau, das wissen Sie«, antwortet Lu. »Sie haben sich ja in der Haft schließlich Spanisch, Französisch, Italienisch, Chinesisch und Deutsch beigebracht. Sie haben einen IQ, der ungefähr hundertsechzig beträgt.« Lu wedelt mit der Hand in Richtung der anderen Gefangenen. »Die meisten dieser Jungs sind kaum clever genug, daran zu denken, sich den Arsch abzuwischen, nachdem sie geschissen haben – aber Sie nicht. Denn Sie sind ein Genie. Und trotzdem haben Sie das Mädchen, Ihr einziges Druckmittel, einfach so freigelassen. Wieso?«
Lowell antwortet nicht.
»Tja, genau diese Antwort haben Sie dem FBI auch gegeben«, stellt Lu fest. »Die haben Ihre Vergangenheit überprüft und konnten keinerlei Verbindung zwischen Ihnen und diesem Mädchen feststellen. Ihr Kind konnte sie ja nicht gewesen sein, weil sie wie alt war … vier Jahre?«
»Fünf«, erwidert Lowell.
»Fünf, genau«, meint Lu nickend. »Sie waren also folglich im Gefängnis, als sie geboren wurde. Die Eltern sind nicht mal aus Oregon gewesen, sondern waren nur Touristen – sind mit ihrem Kind im Urlaub gewesen. Und so ein gewalttätiger Mann wie Sie lässt die Kleine einfach so laufen. Sie hätten sie ganz bis zur Grenze bei sich behalten können, wären vielleicht sogar hinübergekommen, wenn Sie sie dabeigehabt hätten. Mit den Kanadiern lässt es sich nämlich bestimmt etwas leichter verhandeln als mit dem FBI.«
Lowell starrt Lu schweigend an.
»Sie haben also zwei Richter ermordet, einen State Trooper erstochen und danach noch ein paar Leute umgebracht«, fasst Lu zusammen. »Aber das kleine Mädchen haben Sie freigelassen. Unverletzt und unberührt. Sie hatte zwar Hunger und war etwas dehydriert, aber vollkommen unversehrt.« Lu schaut zu den anderen Gefangenen. »Sie haben sie also besser behandelt, als so manch einer hier, das getan hätte.«
Einige der Insassen weichen Lus Blick aus, während andere sie mit Augen voller Gewalt und Lust anstarren. Sie wendet sich nun wieder dem Tablet zu.
»Innerhalb von nur einem Monat haben Sie bereits vier Mitgefangene ermordet«, erklärt Lu und schaut wieder zu Lowell hoch. »Einen nach dem anderen. Sie sind in der Cafeteria einfach die Schlange entlanggegangen und haben sie hingerichtet. Die erste Leiche war noch gar nicht zu Boden gefallen, als Sie schon den Vierten umgebracht hatten. Die Wärter wussten gar nicht, was passiert war, bis die Insassen plötzlich zu schreien anfingen.«
Lowell zuckt mit den Schultern. »Es waren nicht genügend Fischstäbchen für alle da“, antwortet Lowell kalt. »Da musste ich die Nachfrage halt etwas ausdünnen.«
»Checkpoint, Marshal«, sagt der Fahrer jetzt, als der Konvoi langsamer wird. »Sieht so aus, als ob die Verbindung zur I-90 gesperrt ist.«
»Wir wussten ja, dass das auf uns zukommt«, meint Lu und steht auf. Sie nimmt sich wieder das Klemmbrett und geht zur Tür, als der Bus anhält.
Den ganzen Konvoi entlang stehen die US-Marshals mit ihren Klemmbrettern in der Hand vor den Bussen und warten darauf, dass ein Wachposten vom Checkpoint zu ihnen kommt. Langsam, so als hätte er alle Zeit der Welt, schlendert ein Soldat von Marshal zu Marshal, sieht sich in aller Ruhe die Papiere an, besteigt jeden Bus, kommt wieder raus und sieht noch einmal die Papiere durch. Anschließend nickt er und geht zum Nächsten.
»Macht's Ihnen Spaß?«, fragt Lu, als der Soldat sie erreicht.
»Ich mach nur meinen Job«, antwortet der Soldat knapp.
»Werden Sie vielleicht pro Stunde bezahlt? Ich nämlich nicht, und ich muss mich an einen Zeitplan halten«, fährt Lu ihn wütend an. »Bringen wir's also hinter uns, Sergeant.«
Der Sergeant hält beim Einsteigen in Lus Bus kurz inne und dreht sich um, um sie anzusehen. »Ich denke, Sie sollten besser Ihren Boss holen und mir zum Checkpoint folgen. Mir gefällt dieser Bus nämlich ganz und gar nicht.«
Lu starrt den Mann ein paar Sekunden lang an und muss sich bemühen, nicht laut lachend herauszuplatzen. »Du bist ein Arschloch, Bolton.«
»Du musst es ja wissen, Lu«, sagt der Sergeant grinsend und wird schnell wieder ernst. »Weiß deine Crew denn, wer ich bin?«
»Keine Ahnung«, erwidert Lu. »Wie viele Männer hast du denn dabei?«
»Vier«, antwortet Bolton. »Soll ich deinen Leuten mal einen kleinen Schrecken einjagen?«
»Nein«, sagt Lu. »Aber vielleicht wäre eine kleine Kostprobe nicht schlecht.« Sie betrachtet ihn von oben bis unten. »Die National Guard Uniform gefällt mir.«
»So fällt man nicht weiter auf.« Bolton zuckt mit den Achseln. »An was für eine Kostprobe hast du denn gedacht?«
»Vielleicht etwas von oben?«, antwortet Lu.
»Kein Problem«, entgegnet Bolton grinsend.
Er ist über zwei Meter groß, hat einen breiten Brustkorb und Arme, die fast so dick wie seine Beine sind, aber er bewegt sich mit einer versteckten Eleganz, die Lu schon immer gewundert hat. Er drückt zwei Finger auf einen fleischfarbenen Draht um seinen Hals und fängt leise an zu reden.
»Hey, Jungs? Lasst uns unsere Mitfahrgelegenheiten mal nett willkommen heißen«, flüstert Bolton. »Vielleicht mit einem freundlichen Winken von oben?«
Bolton nickt Lu zu und sie stehen Nase an Hals da, als ob sie einander jeden Moment angreifen und sich prügeln wollen. Die anderen Marshals beobachten sie genau und wundern sich über die plötzliche aggressive Haltung. Hal wirft sein Klemmbrett auf die Stufen seines Busses und greift nach seiner Waffe. Er betrachtet Lu und Bolton noch für ein paar Sekunden und kommt dann auf sie zu.
»Am besten bleiben Sie da, wo Sie sind, Marshal«, ruft nun eine Stimme von oben.
Hal blickt hoch und das Erste, was er sieht, ist ein auf ihn gerichtetes M-4. Als Nächstes sieht er einen grinsenden Soldaten. Schließlich senkt der Soldat den Karabiner wieder und zwinkert Hal zu. »Buh.«
»Was zum Teufel?«, ruft Hal, dreht sich um und schaut zu den anderen Bussen. Soldaten sind jetzt auf allen Bussen außer auf Lus aufgetaucht. »LU!«
Lu dreht sich um, sieht Hal an und beginnt dann zu lachen. »Sorry, Hal. Ich konnte einfach nicht widerstehen.«
Sie winkt den Marshals zu und alle kommen jetzt auf sie zugelaufen. Die Gesichtsausdrücke variieren von Verwirrung bis Wut. Hal sieht eindeutig wütend aus.
»Jungs, das hier ist Sergeant Connor Bolton«, erklärt Lu. »Bolton, das sind Hal Stacks, James Talley, Steven LeDeaux und Tony Whipple. Bolton und ich kennen uns schon sehr lange.«
»Highschool-Abschlussball», bestätigt Bolton. »Ich war ihr Erster.«
»Halt dein verdammtes Maul«, fährt Lu ihn an und verpasst Bolton einen Hieb gegen die Schulter. »Warst du gar nicht!«
»War ich nicht?«, fragt Bolton ehrlich überrascht. »Heilige Scheiße, Lu, wann hast du denn mit dem Sex angefangen?«
»Geht dich einen verdammten Scheißdreck an«, meint Lu und sieht die anderen Marshals an. »Bolton und seine Männer brauchen eine Mitfahrgelegenheit nach Seattle.«
»Seid ihr ein Sonderkommando oder so was in der Art?«, fragt Tony.
»Wenn ich das beantworte, werde ich dich leider umlegen müssen«, gibt Bolton zurück. »Nein, ich mach nur Spaß. Ich würde dich natürlich bloß verwunden.«
Die anderen Marshals lachen allerdings nicht über seinen Witz.
»Wir müssen jetzt weiter«, antwortet Lu. »Müssen wir uns eigentlich auch bei den richtigen Checkpoint-Wachposten melden?«
»Nein, ist schon alles geregelt«, sagt Bolton. »Willst du einen Mann pro Bus oder hast du in einem Bus Platz für uns alle?«
»Wird leider einer pro Bus sein müssen«, antwortet Lu. »Es ist ziemlich eng da drin.«
»Alles klar«, meint Bolton nickend und gibt seinen Männern entsprechende Befehle.
Die anderen vier Soldaten klettern jetzt vom Dach der ihnen zugewiesenen Busse, hängen sich die Karabiner über die Schultern und steigen ein.
»Meine Jungs werden sich die ganze Fahrt über nicht einmischen«, meint Bolton. »So, als wären sie gar nicht da. Aber falls du Hilfe brauchst, musst du's natürlich nur sagen.«
Die Marshals sehen Lu daraufhin an.
»Was denn?«, fragt sie. »Lasst uns endlich losfahren.«
Sie gehen zu ihren Bussen, steigen ein, und schon bald ist der Konvoi auf der Zufahrtsrampe und dann auf der I-90 nach Coeur d'Alene unterwegs.
»Wer ist dieser Typ?«, fragt Muldoon, als Bolton sich neben Lu in den Bus setzt. »Kommen die Marshals nicht klar und müssen jetzt schon die National Guard zur Hilfe rufen?«
»Ja, ganz genau, Muldoon«, antwortet Lu. »Sie sind wirklich sehr clever.«
Von hinten im Bus kommt dreckiges Gelächter von Lowell und ein paar anderen Gefangenen.
»Ich tippe mal darauf, dass das ein Insiderwitz ist«, erwidert Bolton.
»Nur ein paar Scherze«, lächelt Lu. »Stimmt's, Muldoon?«
»Ja, klar«, brummt dieser.
Der Bus ruckelt und rattert, und alle suchen nach einem Halt, um nicht aus den Sitzen zu rutschen.
»Die Erdbeben kommen immer schneller hintereinander«, sagt Bolton beunruhigt. »Hoffentlich schaffen wir's bis Seattle, bevor alles in die Brüche geht.«
»Meinen Sie nicht eher, bevor er ausbricht?«, sagt Muldoon hämisch. »Das ist es nämlich, was Vulkane tun: Sie brechen aus.«
»Er ist tatsächlich clever.« Bolton nickt Muldoon zu. »Jawohl, Officer, genau das machen Vulkane. Ich habe aber eher von unserem Land geredet. Es wird alles noch viel schlimmer werden, bevor es wieder aufwärtsgeht.«
Nach einer Erklärung suchend sieht Lu Bolton an, aber der Sergeant schüttelt nur stumm den Kopf.
***
»Scheiße«, schreit Stephie, als sie vor sich in der Straße einen kleinen Riss aufbrechen sieht. Der Bus vor ihr bremst, und der gesamte Konvoi von Champion kommt mit quietschenden Bremsen zum Stehen.
»Eric, sag doch was«, ruft Stephie in ihr Funkgerät. »Ist die Straße vor dir sehr beschädigt? Stoppen wir deshalb?«
»Nein, Sheriff, die Straße ist in Ordnung«, antwortet Mikellson. »Aber du wirst nie erraten, wessen Auto kaputtgegangen ist und gerade den Highway blockiert.«
»Du machst Witze«, knurrt Stephie, während sie das Lenkrad herumreißt und ihren Streifenwagen an den Bussen vorbei zu Mikellson lenkt.
Mit der Hand an der Waffe steigt der Deputy aus seinem Wagen und geht langsam auf das Auto zu, das die Straße blockiert. Die Kühlerhaube ist geöffnet und Linder steht den Motor anstarrend da, während um sie herum weiterhin Asche herunterregnet.
»Haben Sie vielleicht vergessen, den Luftfilter auszutauschen?«, fragt Mikellson grinsend.
»Nein, Deputy, das habe ich nicht«, antwortet Linder. »Der neue, den ich installiert habe, muss defekt gewesen sein.«
»Tatsächlich?«, fragt Stephie, als sie hinter Mikellson auftaucht. Ihre Hand liegt auf der Waffe.
Linder sieht die beiden an und runzelt die Stirn.
»Gibt es ein Problem, Sheriff?«, fragt er. »Das ist eine recht aggressive Körpersprache.«
»Wie wär's, wenn wir den ganzen Bullshit lassen und einfach ehrlich miteinander sind?«, erkundigt sich Stephie. »Ich weiß genau, wer Sie sind, Agent Linder. Und nach meinem Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten weiß er jetzt auch, wo Sie sind, und weshalb Sie Ihren Posten verlassen haben, um bis nach Champion zu fahren. Das war's, Tobias.«
Linder sieht die Frau ein paar Sekunden lang an und schüttelt dann den Kopf.
»Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagt Linder unnatürlich ruhig. »Wir arbeiten schließlich beide für das Rechtsystem, und Sie hätten mir mehr Respekt zeigen sollen.«
Im Nu verändern sich sowohl der Klang seiner Stimme als auch seine Körpersprache. Der aalglatte FBI Agent, den er bislang verkörpert hatte, ist plötzlich wie weggewischt und der Jäger, den Mikellson sofort bemerkt hat, kommt wieder zum Vorschein.
»Alles funktioniert nur durch Respekt«, sagt Linder. »Respekt vor der Autorität, vor älteren Menschen, der Familie, Respekt vor der eigenen Verwandtschaft und Respekt vor Gott. Respekt! Ohne ihn sind wir nur Tiere, die sich im Matsch suhlen.«
»Sheriff?«, fragt Mikellson. »Was nun?«
»Bleib locker, Eric«, erwidert Stephie und geht am Deputy vorbei und auf Linder zu. »Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie da von sich geben, aber ich denke, Sie zeigen mir besser mal Ihre Hände. Sie können den Rest des Weges gerne bei mir hinten im Streifenwagen mitfahren.«
Linder lacht und schaut zu den Winterwolken hoch. Er blinzelt wegen der herunterrieselnden Asche und schließt dann die Augen.
»Sie war die ganze Zeit bei Ihnen, oder?«, sagt Linder leise mit noch immer geschlossenen Augen. »Ihr habt den Jungen in eurem lesbischen Liebesnest versteckt – ist das Ganze so abgelaufen? Habt ihr zwei Missgeburten ihn dazu gezwungen, euch dabei zuzugucken? Habt ihr ihn gezwungen daneben zu sitzen, wenn ihr euch gegenseitig die Muschis geleckt habt?«
»Heilige Scheiße«, flüstert Mikellson. »Sie sind noch wahnsinniger als die Leute sagen.«
Linder öffnet die Augen und schaut zu dem Deputy, lässt den Kopf aber weiter zum Himmel hochgeneigt. »Und Sie sind eine Schwuchtel, Deputy Mikellson?«, fragt er. »Arbeiten Sie deshalb für diese Kampflesbe? Lassen Sie's sich gerne in den Arsch rammen, Sie Schwanzlutscher? Ich gehe jede Wette ein.«
Bevor sich Sheriff Stieglitz oder Deputy Mikellson bewegen können, wirbelt Linder schon herum und drückt ab – eine 9mm Pistole ist plötzlich in seiner Hand. Stephies Hinterkopf wird aufgerissen, als die Kugel ihren Kopf durchschlägt. Mikellson schreit auf, als ihn plötzlich ein Schuss in seine rechte Schulter herumgewirbelt. Er lässt die Pistole fallen, die er gerade aus dem Halfter ziehen will. Der Deputy fällt zu Boden. Blut strömt aus seiner Wunde.
Aus dem ersten Bus ertönen Schreie, und der Fahrer gibt Gas. Linder kann gerade noch aus dem Weg springen, als der Bus sein Auto rammt, es von der Straße schubst und es den Highway herunterbraust. Die anderen Busse folgen und Linder lässt sie fahren. Die Bevölkerung von Champion interessiert ihn nicht. Im Moment ist ihm nur an zwei Menschen gelegen.
»Wie wär's, wenn Sie und ich jetzt mal ein wenig plaudern, Deputy«, meint Linder, während er von hinten eine Kugel in jeden von Mikellsons Oberschenkeln pumpt, als der Mann versucht aufzustehen. Mikellson schreit erneut auf und Linder schüttelt nur den Kopf. »Ich gehe jede Wette ein, dass Sie nicht damit gerechnet haben, dass sich der Tag so entwickeln wird, stimmt's?«
»Sie sind schon längst weg«, keucht Mikellson auf der Straße liegend. Linder ist nur ein Schatten vor dem Winterhimmel. »Sie werden sie nicht mehr einholen können.«
»Ach, das glaube ich nicht«, sagt Linder. »Ich schätze mal, jemand hat ihnen einen Tipp gegeben, dass ich ihnen auf der Spur bin oder? Und jetzt sind sie irgendwo in der Nähe und warten einfach, dass genügend Zeit vergangen ist, bis ich wieder weg bin.«
»Du … elendes Schwein«, ruft Mikellson und spuckt Linder an.
»Also, das ist aber ganz und gar nicht respektvoll«, entgegnet Linder und knallt seine Faust in Mikellsons verletzten rechten Oberschenkel.
Die Schreie des Mannes hallen laut über den Highway.
Linder presst die Mündung seiner Pistole nun gegen Mikellsons Kopf und dann den Daumen seiner anderen Hand genau in die Schusswunde in Mikellsons linkem Oberschenkel.
»Wie wär's, wenn du mir sagst, welche Seitenstraßen sie genommen haben können?«, schlägt Linder vor. »Du weißt, was ich meine. Die kleinen Straßen, die noch nicht einmal im Navi auftauchen.«
»Wie wär's, wenn du dich jetzt verpisst?«, knurrt Mikellson, schreit aber auf, als Linders Daumen in seinen Oberschenkel eindringt.
»Ich habe nicht den ganzen Tag lang Zeit, aber die Zeit, die ich habe, kann ich wenigstens dazu nutzen, dir deine letzten Minuten so grauenhaft zu machen, wie du's dir nicht mal in deinen schlimmsten Albträumen vorstellen kannst«, meint Linder lächelnd. »Also … was für Straßen gibt es hier?«
***
»Das ist nicht dein Ernst«, sagt Kyle mit großen Augen und starrt seine Großmutter erstaunt an. »Das kann doch gar nicht sein, dass der Typ mein …«
Ihm wird das Wort abgeschnitten, als die ganze Bergkette bebt und Biscuit auf dem Rücksitz aufheult, was er mit scharfem und lautem Gebell unterstreicht. Kyle sieht, wie sich das Gesicht seiner Großmutter vor Sorge und Verärgerung immer mehr verkrampft.
»Wir müssen weiter, Grandma«, ruft Kyle. »Wer auch immer er ist – inzwischen muss er längst weg sein.«
»Stephie geht nicht an ihr Handy«, stellt Terrie fest, als sie noch einmal die Nummer wählt und damit der Konversation ein Ende setzt.
»Vielleicht ist der Signalturm umgestürzt«, vermutet Kyle. »Diese Erdstöße werden schließlich immer stärker.«
»Möglich“, antwortet Terrie und steckt ihr Handy zurück in die Tasche. »Versuch es doch mal mit dem Funk.«
Kyle schaltet das CB-Funkgerät an, das am Armaturenbrett des Broncos befestigt ist, und nimmt das Mikrofon in die Hand. Aber ein ohrenbetäubendes statisches Quietschen zwingt ihn dazu, den Funk schnell wieder abzustellen.
»Zu viele atmosphärische Störungen«, sagt Kyle. »Es wurde ja gesagt, dass das passieren könnte, wenn der Vulkan aktiver ist. Glaubst du, das bedeutet, dass er kurz vor dem Ausbruch steht?«
»Ich weiß es nicht«, erwidert Terrie, schaut durch die Windschutzscheibe und beobachtet, wie die Asche fällt. »Aber diese Flocken sehen auf jeden Fall dichter aus.«
»Und was machen wir nun?«, fragt Kyle. »Bleiben oder fahren wir? Mom kann doch nicht ewig auf uns warten. Wenn wir zu spät kommen, muss sie uns zurücklassen.«
»Ich weiß«, sagt Terrie. »Sie hat einen Job und ich habe sie dazu erzogen, immer alles wie geplant zu erledigen.« Sie seufzt und reibt sich das Gesicht. »Fahr los.«
»Was?«
»Fahr los, Junge«, antwortet Terrie energisch. »Wir werden die Busse einholen und uns eben mit dem Mann auseinandersetzen, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.« Die Berge beben erneut, dieses Mal noch stärker, und Terrie lacht. »Gott sagt uns, dass wir uns lange genug versteckt haben. Es ist nun an der Zeit, ans Licht der Öffentlichkeit zu gehen und zu sehen, wie sein Weg enthüllt wird.«
»Heißt das, dass wir jetzt nach Bonner's Ferry fahren?«, erkundigt sich Kyle grinsend.
»Ja, du Klugscheißer«, sagt Terrie. »Wir fahren nach Bonner's Ferry.«