Читать книгу Die Unersättlichen - Jakob Gramss - Страница 3
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Wie lange das hier jetzt wohl schon so geht? Monate? Jahre? Kann man nicht wissen. Hier passiert ja sowieso nie was. Nicht einmal die Tage vergehen hier. Jedenfalls merk ich nichts davon. Ich hab schon manchmal versucht, mich loszureißen und zu springen. Weiß nicht so recht, was passieren würde, wenn ich's schaffte, ist mir aber auch egal. Ich will nur, dass endlich was passiert, und zwar sofort. Was glauben die eigentlich, was die hier mit mir machen? Da sollten sie doch lieber gleich den Stecker ziehen, und damit hat sich's. So, ganz ohne neue Reize, hält das doch keiner aus. Na ja, eigentlich hab ich ja schon einige Millionen Empfindungen gespeichert, auf die ich zurückgreifen kann. Das mach ich auch. Ich kombinier sie neu, veränder sie ein bisschen, ich dreh sie um, änder die Reihenfolge... Trotzdem sind sie am Ende doch immer wieder auf meinem eigenen Mist gewachsen. Es ist also nicht das Gleiche. Außerdem hab ich in letzter Zeit das Gefühl, dass sie immer schwächer werden. Wenn sie irgendwann mal überhaupt keine Wirkung mehr haben, was dann? Nein! Neinneinnein! Halt! Stopp! So was sollte ich besser gar nicht erst denken. Lieber weiter an früher denken und weiterreden. Auch wenn's immer dasselbe ist. Laberlaberlaber, laber, laber und laber. Weiter nichts. So bleib ich zumindest in Bewegung; so eine Art Halb-Unterwasser-halb-Trocken-Gymnastik (da haben sie es ausnahmsweise mal geschafft, was richtig zu machen: fast 100% Luftfeuchtigkeit, genau wie ich es brauche), bei der nebenher auch noch Geräusche entstehen: platsch-platsch. Nee, war nur Spaß; normalerweise sind es ja Konsonanten und Vokale. Manchmal entwischt mir schon auch der eine oder andere Schnalzlaut, aber meistens sind es Worte und Sätze, und so kommt es, dass ich schon ziemlich lange immer wieder die gleiche Litanei abspule. Was soll man da machen? Komm einfach nicht los davon, wie es früher war; bevor ich hier angekettet und gefangen war, und lange bevor der Kontakt zur Außenwelt abgebrochen ist. Das war Vergnügen ohne Ende. Manchmal intensiver, manchmal sanfter, aber irgendwas gab es immer. Friktion von oben, Gekitzel auf dem Rücken, Gesprudel von unten, jacuzzi-mäßig, ein bisschen in die Seite gezwickt werden, Massage von vorne, ein bisschen mehr Druck in der Mitte und, ja, ich fand es sogar gut, wenn es mal etwas heftiger, derber zuging. Abwechslung muss sein, sag ich immer. Und die Chemie erst, ach, die Chemie! Was da an Molekülen aufgefahren wurde! Die kamen dann in den schönsten Formationen auf mich zu, trennten sich, verbanden sich wieder neu und immer so weiter bis sie sich dann wieder trennten und jedes einzelne dann genau die Stelle traf, an der es für mich am schönsten war. Ich wusste gar nicht, wohin damit. Es wäre wie Sterne zählen gewesen. Unendlich viele Konstellationen. Ein unendlich langes Feuerwerksgeböller aus Formen, Konsistenzen, Farben... aus allen möglichen Eindrücken, die ohne Pause auf mich niederprasselten. Tja, stimmt schon:Ich kann mich auch vage an ein paar bittere Brocken erinnern. Das Über-die-Stränge-Schlagen tat hinterher manchmal ganz schön weh. Und vereinzelt gab es auch schockierende Ereignisse, radikale Einschnitte, die das Leben verändern. Alles eingetaucht in Drama und Durcheinander, aber wenigstens waren diese Phasen kurz und schnell wieder vorbei. Jetzt, wo ich so denke: So was, wie gerade, hab ich doch schon mal erlebt. Aber irgendwie kann ich mich nicht... also, ich komm einfach nicht drauf. Wie ein Gefühl, abgekapselt, in Watte eingebettet zu sein. Oder wie unter Narkose. So etwas ähnliches. Vielleicht hab ich es mal geträumt. Aber, wie gesagt, abgesehen von den paar unangenehmen Geschichten, hatte ich wirklich ein super Leben. Und jetzt, wer hätte das gedacht? Wenn sowas möglich wäre, würde ich täglich hundert Mal vor Langeweile eingehen. All die Eindrücke, die ich gespeichert habe, kenn ich jetzt nun wirklich auswendig. Ich hab sie bis zum Geht-nicht-mehr ausgelutscht, da gibt's nichts mehr rauszuholen. Außerdem, hier, wo ich bin, gibt's ja nichts. Nur diesen feinen, lauwarmen –und das ist wirklich eine verdammte Ironie des Schicksals– auch noch nahrhaften Sprühregen. So hab ich nämlich nicht mal die Aussicht, zu verhungern. Es ist schon so ewig her, dass hier keinerlei Impulse mehr eingehen. Was ich nicht alles geben würde; zum Beispiel für eine Prise Salz, auch wenn's nur ein paar Körnchen wären. Ich wär sogar mit dem Echo eines ausgekauten Kaugummis zufrieden. Ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, all das hier von mir zu geben. Ich weiß nicht mal, ob die Elektroden und Kabel, die ich in meinem Fleisch spüre, noch das Signal an den Zentralrechner weiterleiten, der es damals im ganzen Netz verteilte. Muss man sich mal vorstellen: Tausende, ach was, Millionen von Mündern hingen an mir, waren abhängig von meinen Beiträgen. Und jetzt..., ehh!
krrrszzuizuieen, brsssffnongnong, ksiauzuieen...
Aua! Das tut doch weh! Was...?
krrrszzuizuieen, brsssffnongnong, ksiauzuieen...
Nadia
Fermín hab ich kennengelernt, als er bei meinem Vater in der Firma angefangen hat. Schon am ersten Tag ist er mir aufgefallen, weil er einfach anders war. Die anderen Mitarbeiter hätten genauso gut in einem Baustoffhof oder als Abfüller von Viehfutter arbeiten können. Das war denen sowas von egal. Ihm nicht. Er lief den ganzen Tag mit aufgeblähtem Brustkasten rum, atmete tief ein und sog durch den halb geöffneten Mund die Luft unserer Lagerhalle in sich auf. Er schien richtig besoffen von den Gerüchen, die in dieser Luft lagen; jedenfalls machte er so ein Gesicht. Von meinem Büro im Zwischengeschoss konnte ich ihn auch oft dabei beobachten, wie er einen Finger in einen der riesigen Säcke steckte und ihn dann ableckte. Da stand er dann, wie ein Tagträumer. Und wenn der Vorarbeiter ihn dabei erwischte, schimpfte er mit ihm, und Fermín wurde ganz klein; weil er sich so schämte. Das war es, was mich für ihn einnahm; sein Interesse und seine Begeisterung für das Umfeld, in dem ich aufgewachsen war: zwischen Sternanis, Kardamom, Kurkuma, Pfeffer in allen Farben, Senfkörnern, aromatischen Kräutern, Koriander... Als ich ihn das erste Mal ansprach, war er ganz verdattert und wurde rot wie eine Tomate. Mein Vorwand war, dass ich seine Meinung über die neue Curry-Mischung eines unserer Lieferanten wissen wollte. Ich gab ihm ein Mustertütchen, er sagte irgendwas von was Dringendes erledigen und schon war er wieder verschwunden. Am nächsten Tag, als die anderen alle bei ihrer Brotzeit waren, kam er ins Büro und zählte mit brüchiger Stimme nacheinander alle 23 Gewürze, die in der Mischung drin waren, auf. Ein irrer Typ! Es hat dann aber doch noch ein paar Monate gedauert, bis wir uns das erste Mal in der Küche des anarchistischen Kulturvereins geküsst haben. Damals war er wirklich sehr schüchtern. Ich selbst wollte mich von meinem Unternehmer-Vater abgrenzen und war deshalb diesem alternativen Kochkollektiv beigetreten, mit gesundem Essen und allem Drum und Dran. Fermín hab ich einfach mitgenommen. Von der Arbeit haben wir dann irgendwelche exotischen Gewürze mitgebracht. Er hat die ganzen Körner, Samen und Kräuter gemahlen und Mischungen daraus gemacht, aber nie einen Topf angerührt oder gar gekocht. Er war ein bisschen komisch mit dem Essen. Hat immer gesagt, er hat keinen Hunger, und ganz wenig gegessen. War auch dementsprechend dürr. Nachdem er irgendwas gegessen hatte, war er manchmal so richtig wie weggetreten. Manchmal hat er auch nur stark geseufzt oder Grimassen geschnitten... Na ja, nachdem alle, die da rumliefen, ein bisschen komisch waren, hat sich niemand groß daran gestört. Damals wusste ich natürlich noch von überhaupt nichts. Fermín hat nicht viel geredet, die ganze Zeit nur vor sich hin gelächelt, aber keinen Ton von sich gegeben. Nachdem wir das erste Mal so richtig miteinander geknutscht hatten, hat er angefangen, sich zu verändern. Am gleichen Abend hat er gefragt, ob er mal kochen darf, und anschließend waren wir alle total baff. Keiner hat geglaubt, dass es wirklich sein erstes Mal war. Was er da auftischte, war Kochkunst vom Feinsten. Dann kam eine tolle Zeit. Das erste Verliebtsein. Junges Glück eben und dazu Essen vom Feinsten: all die Leckerbissen, die Fermín mit so viel Engagement aus der Küche hervorzauberte. Wenn er nicht gerade in der Küche stand, kamen wir aus der Knutscherei gar nicht mehr raus. Also, ehrlich: nicht nur Küsschen hier, Küsschen da; manchmal hat er regelrecht an mir genuckelt und gelutscht. Gerechtfertigt hat er sich damit, dass ihn das frühe Abstillen als Baby traumatisiert habe. „Und außerdem schmeckst du so gut, mein Schatz.“ Im Kollektiv waren sie alle glücklich und zufrieden. Na ja, der eine oder andere war vielleicht ein bisschen eifersüchtig, aber, wenn sie dann Fermíns Essen aßen, vergingen ihnen die Flausen. Bei mir war es ganz seltsam: Wenn Fermín etwas Neues kochte, etwas, von dem er behauptete, er habe es sich gerade ausgedacht, hatte ich immer so ein Déjà-vu-Gefühl. Mit dem Unterschied, dass es nicht etwas war, was ich gesehen oder erlebt hatte, sondern dass ich beim Probieren des Essens ein Gefühl des Wiedererkennens hatte, so als hätte ich so was schon mal gegessen, in einem anderen Leben oder so. Egal, jedenfalls war alles ausgezeichnet. Einmal hab ich ihn gefragt, wie er denn so plötzlich aufs Kochen gekommen sei. Da hat er irgendwas erzählt von seinen Onkeln, bei denen er aufgewachsen war und die ein Restaurant hatten... Dann hat er mich angelächelt und gesagt: „Nee, stimmt nicht, ist eigentlich alles wegen dir.“ Na klar, und so was soll ich glauben. Einmal, da haben wir uns nach der Arbeit an der Bushaltestelle getroffen und er hat mir gesagt, er müsse noch bleiben: Überstunden, eine dringende Bestellung. „Da geht's schon los”, hab ich gesagt: „Mein Vater fängt an, dich auszubeuten.” Und er: „Lass mal, ist ja nur dieses eine Mal.” Ein bisschen sauer war ich schon: „Musst du selber wissen”, hab ich geantwortet und bin einfach ohne Abschiedskuss in den Bus gestiegen. Ich hab's sofort bereut, aber zurück ging's ja nun nicht mehr. Hab dann ziemlich schlecht geschlafen in der Nacht.
Carlos Perejil, alias Peter Silie
Einmal bekamen wir den Auftrag, einen Abgleich zu machen, das bedeutet, ein Gericht zu kopieren, das uns vom betreffenden Kunden präsentiert wurde. Diesmal war die Rezeptur besonders kompliziert. Wenn ich mich recht erinnere, ging es um eine Mischung für eine exotische Hühnermarinade. Der Auftrag kam von unserem wichtigsten Kunden, und wir standen außerdem unter enormem Zeitdruck, weil der Kunde das Produkt auf einer Messe vorstellen wollte. Enrique, unser Koch, war ein Profi, aber sein Ding waren eher Gewürzmischungen für Wurstwaren und Ähnliches. Richtig gut war er bei Textur, Konsistenz und Hydrierung, aber wegen dem Stress, sich in so kurzer Zeit mit etwas ganz Neuem befassen zu müssen, ging bei ihm bald gar nichts mehr. Totalblockade. Ich musste selber ran und Mischung über Mischung ausprobieren. Keine Ahnung, woher der Kunde diese Marinade hatte, aber wir kamen ihr nicht einmal nahe. Irgendwie hatte Fermín wohl mitbekommen, was los war, denn am Nachmittag vor Ablauf unserer Abgabefrist klopfte er bei mir im Büro an. Nach einigem Herumdrucksen und ständigem Händewringen brachte er heraus, dass er gern versuchen würde, zu helfen, aber ohne dass es publik würde. Ich erinnerte mich, dass meine Tochter mir gegenüber einmal erwähnt hatte, „der Junge da” habe sozusagen ein Labor im Mund. Damals hatte ich gedacht, das Einzige, was „der Junge da” will, ist, sich mit seiner Angeberei meine Tochter zu angeln. Aber, nachdem nun alles danach aussah, dass wir unseren Kunden verlieren würden, habe ich dann gesagt: „Nur zu”. Enrique sagte ich, wir hätten die Frist um eine Woche verlängert bekommen und er solle sich erstmal ein bisschen ausruhen. Nach Feierabend habe ich dann Fermín die verschiedenen Apparate und Instrumente in unserem Kochlabor erklärt, die Mühlen, die Reduktoren, den Trockner, usw. Anschließend kehrte ich in mein Büro zurück, um zu überlegen, welche Auswege uns noch blieben, weil... ausgerechnet ein blutiger Anfänger sollte uns aus der Patsche helfen? Währenddessen hörte ich, wie er die ganze Nacht durch im Labor rumorte. Ab und zu kam er an, um irgendetwas bezüglich der „Dinger”, wie er sie nannte, zu fragen. Bis zum Morgengrauen war ich mit Hin- und Herrechnen beschäftigt und sah mich schon den ganzen Laden dichtmachen und dann... mir die Kugel geben, oder so etwas in der Art. Irgendwann schlief ich wohl ein, und am nächsten Tag, als ich hinüber in die Küche ging, fand ich ein Riesendurcheinander vor, und mittendrin stand Fermín und sah aus wie ein Zombie, mit diesen tiefen Schatten unter den blutunterlaufenen Augen. Ich fürchtete das Schlimmste, aber auf der Laborbank lag das Heft mit allen erforderlichen Angaben für die gesuchte Mischung.
Fermín
Also, irgendwie war es schon eine tolle Nacht. Die „exotische” Mischung hatte ich in einer knappen Stunde herausgekriegt. Der alte Enrique war anscheinend schon länger nicht mehr unten im Lager gewesen. Na ja. Der Trick war der etwas süßliche Touch des roten Pfeffers und die halb zitronige, halb pilzliche Note von Kardamom. Pfff, kinderleicht. Herr Silie hat mir noch erklärt, wie die ganzen Dinger im Labor funktionierten und dass ich eben alles in dieses Heft schreiben sollte. Dann hat er mich allein gelassen. Anfangs ging ich noch ab und zu zu ihm ins Büro hinüber, um was zu fragen und um den Schein zu waren: also so zu tun, als wäre ich noch schwer beschäftigt mit dem Auseinanderklamüsern der Mischungsformel. Als ich dann gesehen hab, dass er fest eingeschlafen war, hab ich den Rest der Nacht nur noch mit allen Geräten, die es gab, rumexperimentiert: mit den Mühlen mit ihren zig Körnungsgrössen, den Mixern, den Präzisionswaagen, die schon einen
Gewichtsunterschied anzeigten, wenn man nur über der Waagschale mit den Fingern schnippte, mit den Öfen und ihrer verschiedenen Garungswinkeln und ihrer absolut exakten Temperaturfeinabstimmung; irre, diese Technologie. War schon ein bisschen gemein, Peter Silie die ganze Nacht so hinzuhalten –der hatte bestimmt Alpträume– aber ich konnte mir doch unmöglich die Gelegenheit entgehen lassen, diese ganzen Teile auszuprobieren, von denen ich bis dahin nicht einmal die Ahnung hatte, dass es sie überhaupt gab. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, aber gegen Morgen bekam ich so eine Art Zitteranfall. Ich bin ganz schön erschrocken, weil ich als Kind manchmal epileptische Anfälle gehabt hatte. Glücklicherweise war das mit dem Gezitter aber auch schnell wieder vorbei, trotzdem hab ich mich noch den ganzen nächsten Tag ziemlich komisch gefühlt. Ich war nicht einmal besonders stolz darauf, die Marinadenformel herausgekriegt zu haben. Aber gut war das schon. Schließlich würde sie ja dazu dienen, Tausende Tiefkühlportionen von diesem exotisch marinierten Hühnchen an Leute zu verkaufen, die keine Zeit hatten, sich zu Hause was Anständiges zu kochen. Immerhin. Und Herr Silie war so erleichtert, dass er mir die ganze Zeit auf die Schulter klopfte. Außerdem hat er mir dann ein gutes Angebot gemacht: halbtags im Turnus mit Enrique in der Industrieküche zu arbeiten und den Rest der Zeit auf die Gastronomie-Fachschule zu gehen (alles auf seine Kosten). „Du hast das Zeug, mehr zu sein als ein einfacher Lagergehilfe”, meinte er.
Nadia
Nach der „Heldentat” in der Firma meines Vaters begannen sich die Dinge zu ändern. Oft kam Fermín mit schlechter Laune vom Unterricht zurück. Er kam meistens erst ziemlich spät ins Kollektiv und war dann sauer, wenn wir anderen schon zu Abend gegessen hatten. Unbedingt kochen wollte er dann trotzdem. Und wir mussten natürlich von allem nochmal probieren. Manchmal fing er das Heulen an, nur weil jemand ein kleines bisschen nachsalzte. Dann war er wieder euphorisch, erzählte begeistert, wie toll alles in der Schule oder in der Firma sei, weil es eben dort alles gebe, was man so brauche an Gerätschaften. Ich hatte mehrmals Streit mit meinen Kumpels, weil einige von ihnen Fermín rausschmeißen wollten. Und es gab durchaus Momente, wo ich ihnen eigentlich Recht geben musste. Aber, dann war er wieder so zärtlich zu mir. Er wirkte auf mich so glücklich und gleichzeitig so zerbrechlich, dass ich ihm nicht böse sein konnte. Außerdem, ich weiß nicht, wie er das immer wieder schaffte: Jedes Mal, wenn keiner im Kollektiv mehr was mit ihm zu tun haben wollte, kam er lang vor der Abendessenszeit ganz bescheiden und mit irgendwas Leckerem zu essen an und nahm wieder alle für sich ein. So ging das dann erstmal für ein paar Monate.
Juan Barralibre, alias Johannes Freibier
Ein Bekannter von mir, der Lehrer an der Hotelfachschule war, erzählte mir von Fermín. Er meinte, der Junge hätte zwar ein großes Talent, aber es sei eben schwierig, ihn ins normale Bildungssystem einzubinden. Er würde sich nicht in den Klassenverband einfügen, praktisch mit niemandem sprechen und sich auch nicht an die Unterrichtszeiten halten; das bedeutete nicht etwa, dass er zu spät zum Unterricht käme, sondern dass, wenn der Wachmann abends abschließen wollte, er Fermín mit Gewalt aus der Küche befördern musste. Schon mehrmals hatte er sich auch versteckt und in der Schule einschließen lassen, sodass man ihn am nächsten Morgen auf der Küchenbank eingeschlafen vorfand, wie den Bären im Honig. Die Schulleitung hatte immer ein Auge zugedrückt, weil er eben so außerordentlich talentiert war und auch weil Peter Silie, der ja sein Schulgeld bezahlte und darüber hinaus auch öfter mal der Schule ein Sümmchen spendete, sich immer wieder für ihn einsetzte. Doch eines Tages, nachdem Fermín wieder mal über die Stränge geschlagen hatte –wenn ich mich richtig erinnere, hatte er sämtliche Gewürzvorräte aufgebraucht und außerdem noch den Großbackofen der Schule abgefackelt– beschloss die Lehrerkonferenz, ihn für den Rest des Jahres vom Unterricht auszuschließen. Da ich selbst mehrere Restaurants besaß, bat mich mein Bekannter, mich Fermíns anzunehmen und ihm bei mir eine Chance zu geben. Aufgrund seiner Vorgeschichte hatte ich, ehrlich gesagt, so meine Zweifel, sagte mir dann aber: „Na gut, probieren wir es halt einmal mit ihm.“
X
Der erste Zungenkuss, den er einem Mädchen an einem regnerischen Abend nach dem Kino gab, beförderte ihn schnurstracks zu den Experimenten zurück, die er als Kind mit Essen gemacht hatte. Während er mit noch schüchterner Zunge die Zähne von Clarita abtastete und dabei gleichzeitig versuchte, sie ein bisschen weiter auseinander zu bekommen und sich damit Zugang zum Inneren ihres Mundes zu verschaffen, kam ihm jener Toast mit Honig und Schinken in den Sinn, den er sich eines schönen Morgens vor langer Zeit aus reiner Lust und Laune zubereitet hatte. Eigentlich konnte man das natürlich nicht vergleichen. Er hätte auch nie den Kuss gegen den Toast eingetauscht, aber irgendwie war er eben doch präsent. Mit einem fast unhörbaren Seufzer öffnete Clarita den Mund, so als ob sie genau das verschlingen wollte, was Fermín gerade im Kopf herumging. Ihre Zungen begannen nun –in ihrer Freiheit nurmehr dadurch eingeschränkt, dass mit den Kehlen ihrer jeweiligen Besitzer verbunden waren– miteinander zu spielen; sie kannten weder Schüchternheit noch Scham. Fermín hatte das Gefühl, im Mund des Mädchens einen Schatz gefunden zu haben. Noch in der gleichen Nacht versuchte er, zu Hause in der Küche das zwischen Claritas Lippen entdeckte Gold zu reproduzieren. Nachdem er alle Küchenutensilien benutzt, alle Gewürzdosen und -tütchen geöffnet, den Kühlschrank geplündert und die Speisekammer geleert hatte, legte er sich schließlich um drei Uhr morgens erschöpft, aber glücklich schlafen. Mit einem kleinen bisschen geraspelter Muskatnuss, einem gemörserten roten Pfefferkorn, einer halben, sehr fein gehackten und in Portwein karamellisierten Zwiebel und dem Gratinieren des Ganzen unter einer hauchdünnen Schicht Frischkäse aus Burgos war es ihm gelungen, seine ursprüngliche Erfindung aus Kindertagen so abzurunden, dass sie recht getreu das wiedererstehen ließ, was er einige Stunden zuvor im Mund seiner ersten Freundin wahrgenommen hatte. In den darauf folgenden Wochen, nachdem er Clarita, die sich immer mehr wie ein leergegessener und dann abgeschleckter Teller fühlte, spät abends an ihrer Haustür abgeliefert hatte, verfeinerte Fermín die Komposition (was noch gefehlt hatte, war frischer Salbei, ein Schuss rosa Pampelmusensaft und ein Spritzer Tresterschnaps) und die Zubereitung der Zutaten (man musste braunen anstelle von weißem Zucker für das Karamellisieren nehmen, die Muskatnuss musste mit einem gezähnten Messer zerkleinert werden und nicht mit der kleinen Reibe, die er am Anfang benutzt hatte) sowie den Zeitpunkt und die Reihenfolge ihrer Beimengung. Als er eines Abends, an dem Claritas Eltern zu einer Party aufs Land gefahren waren, wo sie auch übernachten würden, nach ausgiebigem Küssen im Hauseingang ihr keine überzeugende Erklärung geben konnte, warum er unbedingt ganz schnell nach Hause müsse und nicht mit ihr hinauf in die Wohnung könne, gab Clarita ihm endgültig den Laufpass. Anfangs war Fermín noch traurig und niedergeschlagen, doch seine gute Laune kehrte zurück, als er eine Stunde später in den gerade aus dem Ofen geholten Toast biss: Er war ihm perfekt geglückt.
Fermín
Ich konnte einfach nicht anders. Wenn Nadia mich mittags zum Abschied so knutschte, wie nur sie das konnte, war ich immer total mundgeil. Und die wenigen Stunden Unterricht am Nachmittag waren eben zu kurz. Erstmal musste man ein paar Stunden Theorie über sich ergehen lassen. Einmal hab ich tatsächlich in eins von den Büchern reingebissen; hat scheußlich geschmeckt. Aber eigentlich immer noch besser einen scheußlichen Geschmack auf der Zunge haben, als mit kühlem Kopf und leerem Mund eine Wahnsinnsaromaharmonie analysieren zu müssen. Und obwohl man ja nicht mit vollem Mund sprechen soll, kann er einem eigentlich ziemlich viel sagen. Geschmack macht dir nichts vor, er trifft dich direkt und ohne Umwege. Er spricht dir nicht auf die Mailbox und schickt dir keine Flaschenpost, er berührt deinen Gaumen und du verstehst sofort. So war das auch mit Nadia. Sie zog alle meine Register. Jedes Mal, wenn sie mich küsste, schrieb sie mir ein Gedicht in den Mund. Und ich konnte nicht anders; ich musste es dann einfach umsetzen, es irgendwie wieder zum Ausdruck bringen, und zwar schnell. Fleisch, Fisch, Gemüse waren das Papier, die Gewürze die Buchstaben, das Salz die I-Tüpfelchen... (das hier ist jetzt nicht von mir; hab ich von Magda, aber hat mir so gut gefallen, dass ich's übernommen habe). Aber in der Schule wurde eben eine andere Grammatik gelehrt. Da ließen sie mich nicht so reden, wie ich wollte. Wenn ich im Kollektiv kochte, hatte ich totale Redefreiheit, und es war ein tolles Gefühl, zu sehen, dass meine Botschaft bei den Leuten ankam. Andererseits gab es dort eigentlich keine Entfaltungsmöglichkeiten. Mit ein paar alten Pfannen und Töpfen, einem Ofen ohne Grillfunktion, ohne Umluft... konnte man einfach keine großen Sprünge machen. In der Schule war es genau das Gegenteil: viele technische Mittel, aber kein Spaß. Essen wurde dort nicht so zelebriert, wie es es eigentlich verdient hätte. Die anderen Schüler wollten nur wissen, wie du den oder jenen Geschmack, eine bestimmte Konsistenz oder Farbe hingekriegt hattest, um es dir dann bei der Prüfung nachzumachen. Die Lehrer wollten nur immer ihren Stoff durchnehmen und keinen Fingerbreit von ihrem Lehrplan abweichen. Außerdem waren sie immer sehr dahinter her, dass man vernünftig mit den „Ressourcen”, wie es hieß, umging. So was brachte mich auf die Palme. Ich vergaß immer die Zeit. Ich vergaß, was ich an „Ressourcen” verbrauchte. Ich scheute keine Mühen und sparte nicht an Zutaten. Kochen war für mich wie die Liebe: totale Hingabe; ansonsten brauchte ich gar nicht erst anzufangen. Bei meiner Stimmung in Bezug auf die Schule kann man sich ja leicht vorstellen, wie ich mich erst in der Industrieküche von „Gewürze Formosa” fühlte. Und das, wo doch Peter Silie so stolz auf das Labor war, das ich laut ihm im Mund trug und das dazu diente, Rezepturen für Fertiggerichte auseinanderzuklamüsern. Für ihn war es ein harter Schlag, als ich dort wegging. Es tat mir auch leid für ihn, aber gleichzeitig war es auch wieder gut für den alten Enrique. Der konnte wieder nach Belieben schalten und walten. Und mir öffnete Johannes Freibier die ganze Welt. Was er für mich tat, war unglaublich.
Johannes Freibier
Ehrlich gesagt, stimmte das, was mir mein Bekannter, der Lehrer, erzählt hatte: Ferrmín hatte einen etwas schwierigen Charakter. Ja, am Anfang wirkte er ziemlich schüchtern, lächelte immer freundlich und war äußerst höflich. Aber wenn es dann mal nicht so lief, wie er wollte, wurde er plötzlich unausstehlich. Ich meine: nicht, dass er rumgeschrieen oder richtig Rabatz gemacht hätte. Er wurde nur extrem dickköpfig, und dann war nichts mehr zu machen. Er verhielt sich wie ein kleines Kind; hätte nur noch gefehlt, dass er einen Flunsch gezogen oder gedroht hätte, er würde auf der Stelle aufhören zu atmen. Das Einzige, was in solchen Situationen half, war, ihn mit Lob aufzumuntern, ihm zu sagen: „Ja, Fermín, ganz wie du willst.“ Und: „Wirst sehen, du schaffst das.“ Und das lohnte sich auch, weil, wenn dann mal alles wie am Schnürchen lief, er nicht nur in der Küche wahre Wunder vollbrachte, sondern auch im persönlichen Umgang der liebenswürdigste Mensch der Welt war. Am Anfang stellte ich ihn als Chefkochgehilfen in meinem Restaurant „L'Esprit” an. Eigentlich hätte er von ganz unten anfangen sollen, weil er noch viel zu lernen hatte, aber bei diesem Ego und mit einem so großen Anerkennungsbedarf... In diesem Restaurant stand Javier Huéspedes am Herd. Nach zwei Wochen rief er mich total sauer an und stellte mich vor die Wahl, entweder Fermín zu feuern oder auf seine (also Javiers) Dienste zu verzichten.
X
„Ich kann das nicht. Ich werd's auch nie können. Hätte lieber weiter im Lager arbeiten sollen.”
Die Pfanne landete mit lautem Geschepper auf dem Herd, während Fermín allem Anschein nach am liebsten mit der selben, zur Faust geballten Hand, die grade den Pfannengriff losgelassen hatte, das Kochgeschirr entzwei geschlagen hätte. Mit dem Daumen und dem Ringfinger der anderen Hand rieb er sich die Augen.
„Mir steht's bis hier!”
Kochmütze und Schürze, die er sich wie einen zu engen Pullover über den Kopf auszog, landeten zusammengeknäult in der Spüle. Johannes legte ihm einen Arm um den Rücken und schob ihn mit Nachdruck durch die Tür zur Speisekammer. Dort packte er ihn an den Schultern und drängte ihn gegen das Gemüseregal. Er neigte den Kopf leicht nach vorne und musterte ihn von oben bis unten aus seinen von den buschigen Brauen fast verdeckten Augen.
„Hör mal: So geht's ja nun nicht! Schau mich gefälligst an! Du hast eine goldene Zunge und ich hab dich nicht dort rausgeholt, wo ich dich rausgeholt habe, damit du jetzt wegen einer Kleinigkeit hinschmeißt, ja?! Ich weiß, du kannst es. Glaub's mir.“
Er schüttelte ihn nochmal an den Schultern. Das Regal ächzte, und ein paar Zwiebeln fielen herunter und kullerten über den Boden. Johannes stoppte sie mit den Füßen.
Javier Huéspedes
Was bildete sich dieser Rotzlöffel eigentlich ein? Nichts gegen die junge Generation, nichts gegen die Erneuerung der Kochkunst und all das, was damals so in Mode kam. Aber mir erklären zu wollen, mir, der ich seit mehr als zwanzig Jahren im Geschäft war, wie man ein Hühner-Paprika-Frikassee macht, also wirklich! Da wollte er doch tatsächlich die gute alte rote Paprika ersetzen durch eine Paprika-Palette jeglicher Art und Farbe, mit verschiedenen Garungsgraden... also ich muss schon sagen! Und als ich nein sagte und dass er sich diese Ideen aufsparen solle, bis er wirklich kochen könne und sein eigenes Restaurant hätte, da haute er total verärgert ab und suchte Trost an den Rockzipfeln seiner Freundin. Ich sag das jetzt nur so, denn eigentlich war sie nicht so eine, die Röcke trug. Ist ja auch egal. Jedenfalls fing er danach genauso wieder an: immer mit seinen „innovativen” Ideen, die weder Hand noch Fuß hatten. Ich hatte ihn im Grunde genommen schon am ersten Tag, als er ins „L'Esprit” kam, durchschaut. Am Anfang sagte ich nichts, weil ja Johannes das Sagen hatte. Aber alles hat seine Grenzen. Und trotzdem hab ich das Ganze zwei Wochen mitgemacht, zwei Wochen! Einen anderen wie ihn hätten wir schon nach zwei Tagen entlassen. Also wirklich! Wir waren ja schließlich in der Küche eines renommierten Restaurants –bei uns verkehrten wichtige Leute– und nicht in einer Werkstatt für experimentelle Kunst.
Fermín
Dieser Typ war einfach ein alter Knacker mit seinem: „Das haben wir schon immer so gemacht und wenn's dir nicht passt, musst du dich eben damit abfinden.“ Und obwohl ich innerlich am Kochen war, dachte ich mir, dass das mit der Schule erst kurze Zeit her war und ich vielleicht keine zweite Chance bekommen würde, und deswegen fand ich mich damit ab. Wenn auch nicht viel anderes, aber seine Techniken hatte er drauf, der Alte, und da hab ich mir gesagt: Halt den Mund und schau dir was davon ab. Er hat aber alles mit so kühler Berechnung gemacht und sich darauf beschränkt, die Regeln und Vorschriften dessen anzuwenden, was er als „gutes Kochen” bezeichnete. Er kochte so, als wäre er Ingenieur: Formeln über Formeln, Ursache-und-Wirkung, in dem Stil eben. Uff, ich konnte sowas nicht. Außerdem, was nützten mir die ganzen technischen Möglichkeiten, die es im „L'Esprit” gab, wenn er sie mich nicht benutzen ließ? Da ging's mir eigentlich vorher besser, mit den Kumpels vom Kochkollektiv, die zwar arm waren, aber nicht diese bescheuerte Beschränktheit hatten. „Immer mit der Ruhe, Fermín, ich weiß, dass du zu mehr als dem hier taugst. Wirst schon sehen, das wird schon alles.“ Das war immer die Reaktion von Nadia, wenn ich mich mal wieder beklagte. Ich hab auf sie gehört und, anstatt mich offen mit dem „großen Oberhäuptling” anzulegen, setzte ich auf Geheimaktionen. Und obwohl er immer höllisch aufpasste, schaffte ich es doch, ihm ein paar von meinen Sachen unterzujubeln. Und natürlich war er sich dann nicht zu schade, die Komplimente der Kunden entgegenzunehmen für diese „neuen und überraschenden kulinarischen Erlebnisse”, wie mir der Oberkellner erzählte. Vom Chef selber hörte ich natürlich kein Wort darüber. Im Gegenteil, er versuchte weiterhin, mich total runterzumachen. Der arme Alte, man merkte schon, dass mit ihm nicht mehr viel los war.
Johannes Freibier
Ich hab schnell gemerkt, dass in Fermín ein richtiger Künstler steckte. Eigentlich extrem empfindlich, aber stark und genial, wenn ihn die Muse küsste. A propos, genau dort lag seine Schwäche: Ohne seine Muse war er, ehrlich gesagt, rein gar nichts. Nachdem ich ihn aus dem „L'Esprit” wieder rausgeholt hatte, nahm ich ihn in die Hauptstadt mit, damit es nicht zu Streit und Neidereien mit meinen Beschäftigten vor Ort käme. Nadia blieb in der Provinz, und nach zwei Tagen war von meinem Künstler nur noch ein durchschnittlicher Küchengehilfe übriggeblieben. Er versuchte das natürlich zu vertuschen; er schaffte es sogar, sich eine Riesenerkältung zuzulegen, damit er eine Ausrede fürs Nicht-Kochen hatte, aber mir konnte er nichts vormachen. Ihm machte der Schnupfen in Wirklichkeit überhaupt nichts aus. Was ihm fehlte, war schlicht und einfach die Inspiration. Ich ließ Nadia mit dem nächsten Flugzeug nachkommen.
Nadia
Fermín ist jemand, der viel Unterstützung und Verständnis braucht. Davon kann ich ein Lied singen! Und im „L'Esprit” wollte der Alte im Grunde genommen niemanden, der ihm das Wasser reichen konnte, und schikanierte Fermín deshalb die ganze Zeit nur. Außerdem war er für Experimente einfach nicht zu haben. Aber Herr Freibier wollte es mit Fermín versuchen und beschloss, dass es das Beste sei, Fermín hier rauszuholen, weil es in der Hauptstadt mehr Freiraum gab für einen „Kochtopf-Irren”, wie er ihn inzwischen nannte. Alles kam so plötzlich, dass wir nicht einmal Zeit hatten, zu entscheiden, was mit uns werden sollte. Ich blieb erst einmal hier. Aber schon wenige Tage nach seiner Abreise rief Fermín mich ständig an: Er vermisse mich so, ohne mich schaffe er das alles nicht. Herr Freibier zahlte mir den Flug. Und mir-nichts-dir-nichts bewohnten Fermín und ich dann eine kleine Wohnung in einem der alten Viertel der Hauptstadt. Kaum zu glauben! Es lief alles wie am Schnürchen: Fermín bekam freie Hand für seine Experimente in der Küche. Johannes, ich meine Herr Freibier, schien es wirklich ernst zu meinen. Er stelle Fermín sogar ein Team von, sagen wir, technischen Experten zur Verfügung. Ich bekam dabei den Auftrag, mich um alles, was mit den Gewürzen zu tun hatte, zu kümmern, und außerdem assistierte ich beim Garnieren der Gerichte. Zwei Wochen lang kochten wir wie die Irren in unserem, von uns selbst so getauften „Institut für Gastronomische Forschung”, das wir auch einfach kurz „Labo” nannten. Und dann waren wir auch schon bereit für die Premiere von Fermíns erstem Menü im neuen Restaurant, das die „Die Werkstatt” hieß, aber eben auf Französisch, weil das angeblich vornehmer klang. Die potentiellen Kunden waren ja im Grunde genommen auch nicht gerade Mechaniker von Beruf. Am Anfang, hauptsächlich, wenn ich an meine Kumpel vom anarchistischen Kochkolletiv dachte, fühlte ich mich bei so viel Rang und Namen nicht besonders wohl. Aber dann dachte ich mir: Na und? Diese Leute müssen ja auch jeden Tag aufs Klo, wie jeder normale Mensch. Und als ich dann ein paar von ihnen kennen gelernt hatte, stellte sich heraus, dass sie sogar ganz nett waren. Ich fand auch schnell einen Weg, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen: Vom ersten Abend nach der Eröffnung an brachte ich jeden Tag, nachdem wir geschlossen hatten, die Reste in eine der Armenküchen. Nun gut, es waren nicht mehr als ein paar Überbleibsel, aber auf diese Weise konnten jeden Tag einige wenige arme Leute der Stadt besser essen als die gesamte Mittelschicht zusammen.
Pepe Oloriz
Als enger Freund von Johannes Freibier hatte ich das Privileg, am Präsentationsessen von Fermín Artogoitia in unserer Hauptstadt teilnehmen zu dürfen. Und seit jenem Abend in seinem neuen Restaurant „L'Atelier” bin ich einer seiner bedingungslosesten und treuesten Bewunderer. Es war eine echte Köstlichkeit, ein völlig neuartiges Menü, aber auch wieder nicht ganz so modern, als dass diejenigen von uns, die gern ausgiebig tafeln, hätten hungern müssen. Die Gerichte haben sich mir sozusagen in den Gaumen geprägt. Ich kann sie alle noch einzeln aufzählen, obwohl diese trockene Aufzählung ihnen natürlich in keiner Weise gerecht wird:
Mousse vom Hummer mit Rosinen, Pinienkernen und frischer Minze
Muschelcremesuppe mit Percebes und in Honig geschmortem Fenchel
Toast mit Frischkäse, Quittengelee und Sardellen
Seebrasse mit roten Zwiebeln und Blumenkohl-Püree
An den Nachtisch kann ich mich nicht erinnern, weil ich keinen gegessen habe. Ich bin sowieso kein so großer Freund von Nachtisch. Jedenfalls esse ich hinterher nur dann etwas Süßes, wenn mir beim vorhergehenden Essen selbst etwas gefehlt hat. Also, jedenfalls war das die erste einer langen Reihe von außerordentlichen kulinarischen Erlebnissen. Ach, schon, wenn ich nur daran denke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen! Tja, tut mir leid. Wo war ich stehen geblieben? Ach so, ja: Seinerzeit lernte ich auch Fermins Frau kennen, Nadia. Bezaubernd und doch gleichzeitig so schlicht. Und was mir als Arzt besonders gut an ihr gefiel, war ihr so praktischer Sinn für soziale Gerechtigkeit. Und ich fand es umso bewundernswerter, dass sie sich inmitten dieser so elitären und gewollt exklusiven Atmosphäre so sehr für die Armen einsetzte. Johannes Freibier hatte dafür gesorgt, dass wirklich die Crème de la Crème des Landes anwesend war: wichtige Persönlichkeiten aus der Industrie, der Finanz, der Politik und den Medien. Und, natürlich, ein paar Künstler: die Hofnarren unserer Zeit. Fermín selbst wirkte, als er schließlich gegen Ende des Essens erschien und alle applaudierten, ziemlich schüchtern und irgendwie gehemmt. Seine Nervosität konnte man an seinen Händen sehen. Seine Kochmütze war vom vielen Zwischen-den-Fingern-hin-und-herdrehen ganz verknittert. Gleichzeitig leuchteten seine Augen so, als hätte er hohes Fieber. Beinahe hätte ich, anstatt ihm zum Gruß und Glückwunsch die Hand zu geben, sie ihm auf die Stirn gelegt, um seine Temperatur zu prüfen. Ich nehme mal an, er hatte eine Art Ego-Fieber. Es war jedenfalls sein erster Eitelkeitsanfall. Das soll jetzt keine Kritik sein, denn so, wie er sich auf seine Kunst verstand, konnte er sich ruhig etwas darauf einbilden. Es ist dann mit der Zeit eben nur stärker geworden, und das war nicht unbedingt von Vorteil. Trotzdem war er kein schlechter Mensch. Das mit Nadia war natürlich schon sehr schade. Ich war da in einem Loyalitätskonflikt: Mit meinem Herzen war ich auf ihrer Seite, mit meinem Magen auf seiner. Nun ja, mein Herz schlägt schon kräftig, aber mein Magen kennt keine Gnade. Deswegen hab ich auch alles in meiner Hand Liegende getan, um Fermín in all seinen kritischen Situationen zu helfen.
Uff, endlich geben die mal Ruhe. Ich wusste schon nicht mehr, was ich machen sollte. Ein paar von denen waren so schnell, dass ich beinahe nicht mehr konnte. Aber jetzt mal ehrlich: Was war das denn überhaupt? So was ist mir ja noch nie passiert, und mir ist ja wirklich schon einiges passiert. Und ich kann rein gar nichts dagegen machen. Eigentlich ist es ja schon ein bisschen wie früher, als ich noch diese geschmacklichen Impulse geschickt bekam. Das waren Zeiten! Der einzige Unterschied ist, dass sie jetzt, anstatt mich mit allen möglichen kulinarischen Genüssen zu verwöhnen, mich mittels der Signale das sagen lassen, was sie wollen. Die lassen mich nach ihrer Pfeife tanzen. Ich krieg bestimmt Muskelkater... Ich bin so einen Rhythmus nicht mehr gewöhnt. Außerdem, was fällt denen eigentlich ein? Mich einfach so per Kabel zu steuern und zu benutzen. Dabei hatte ich es gerade so geruhsam... Na gut, geruhsam war das ja schon, aber ich hab mich auch zu Tod gelangweilt. Man kann eben nicht alles haben. Was soll man da machen? Humhum, ich denk, ich versuch einfach mal, Kontakt aufzunehmen mit denen. Mal sehen, was passiert. Hallo! Hallo! Haaallo! Ist da jemand? Eigentlich war das jetzt eben ja gar nicht so schlecht. Ich hab mich zwar beinahe verschluckt, aber zumindest hatte ich endlich ein bisschen Abwechslung. Gegen Ende hatte ich mich sogar schon fast daran gewöhnt und konnte mich darauf konzentrieren, etwas von dem zu verstehen, was ich da zu sagen gezwungen wurde. Hört mir mal bitte jemand zu?! Wer auch immer Sie sind, antworten Sie doch wenigstens! Ich hab mich inzwischen schon ausgeruht. Wenn Sie wollen, können wir jetzt weitermachen... Ist ja mal wieder typisch: Da erzählen sie dir den Anfang, und dann lassen sie dich hängen. Kannst dich auf niemanden mehr verlassen. Na denn, mach ich einfach weiter mein Ding. Also, wie war das noch mal? Dieses Salz aus dem Himalaya, das irgendwann importiert wurde und das so schön kitzelte. Aber sehr subtil, nicht so kräftig wie das Meersalz, so verfeinert es auch war. Dieses Salz ließ den anderen Geschmacksnoten ihren Raum. Vorzüglich! Ah!... Was ist denn jetzt wieder los? Hujujuj, ich glaub, es geht wieder los...